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German Pages 546 [548] Year 2013
Franz Knappik Im Reich der Freiheit
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 114
Franz Knappik
Im Reich der Freiheit Hegels Theorie autonomer Vernunft
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Agnes-Ament-Stiftung, München.
isbn 978-3-11-029892-5 e-isbn 978-3-11-029921-2 issn 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Meinen Eltern
Vorwort Bei diesem Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Oktober 2010 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht habe. Die Arbeit hätte nicht ohne die Unterstützung entstehen können, die ich von vielen Personen erfahren durfte. An erster Stelle möchte ich dem Betreuer der Arbeit, Herrn Prof. Axel Hutter, danken, der mich zu dem Thema ermutigt und die Arbeit stets wohlwollend begleitet und gefördert hat. Von seinen vielfältigen Anregungen habe ich sehr profitiert. Herrn Prof. Johannes Hübner gilt mein Dank für die Übernahme des Korreferats und für viele fruchtbare Diskussionen. Außerdem danke ich Herrn Prof. Wilhelm Vossenkuhl für die Übernahme des Drittgutachtens. Robert Brandom, für den magnanimity mehr ist als ein philosophisches Thema, war mir in vielen Gesprächen ein Lehrer und Freund. Ihm danke ich auch für die Erlaubnis, die in der Bibliographie angeführten unveröffentlichten Texte heranzuziehen und zu zitieren. Von den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden, mit denen ich hilfreiche Diskussionen im engeren und im weiteren Zusammenhang dieser Arbeit führen durfte, sei hier nur Erasmus Mayr genannt, dessen kritische Nachfragen mir stets eine große Hilfe waren. Ihm und Thomas Höwing, Christian Martin und Julia Peters gilt ferner mein Dank für die Lektüre einzelner Entwürfe und Kapitel der Arbeit und wertvolle Kritik daran. Dass ich die Freiheit zur Arbeit an diesem Projekt hatte, verdanke ich einem Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, der ich auch für die Finanzierung eines Forschungsaufenthalts in Pittsburgh zu Dank verpflichtet bin, sowie der Unterstützung durch die Stiftung Maximilianeum und die Agnes-Ament-Stiftung in der Anfangsphase des Projekts. Ferner danke ich den Herausgebern der Quellen und Studien zur Philosophie für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe. Meiner Frau, Marta Scarrone, danke ich für die Geduld, mit der sie die Entstehung der Arbeit begleitet hat, und für noch vieles mehr. Ich widme dieses Buch meinen Eltern in Liebe und Dankbarkeit. Berlin, im Oktober 2012 Franz Knappik
Inhalt Vorwort
VII
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.5 1.6
Einleitung 1 Moderne und Selbstbestimmung 1 Metaphysik der Freiheit 11 Drei Einwände 16 Zum Vorgehen 18 Aufbau der Arbeit 18 Methodologische Aspekte 25 Metaphysik, Kritik und Freiheit 32 Das Problem der epistemischen Freiheit
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.5.1 2.5.2 2.6 2.6.1
Freiheit ohne Wahl 60 Freiheit zwischen Erkenntnis und Wahl 60 Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitsbegriffen 75 Frankfurt über Freiheit ohne Wahl 86 Konsequenzen für epistemische Freiheit 88 Alternative Ansätze: Freiheit, Selbst und Gründe 93 Freiheit und das Selbst (Frankfurt) 94 Freiheit und Gründe (Fischer/Ravizza) 98 Freiheit als Autonomie 102 Die konstitutive Beziehung zwischen Selbst, Gründen und Freiheit 102 Kants Autonomie-Begriff und das „Formalismus-Problem“ Korsgaards Theorie der Selbstkonstitution 111 Brandom über Autonomie und das Problem bestimmten begrifflichen Gehalts 114
2.6.2 2.6.3 2.6.4
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2
3.2.3 3.2.4
41
105
Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik 119 Brandom über die semantischen und pragmatischen Grundlagen von Freiheit 121 Der Ansatzpunkt von Hegels Freiheitstheorie 135 Hegels Verallgemeinerung des Formalismus-Problems 135 Freiheit als rationale Persistenz: Die freiheitstheorische Bedeutung von Kants Transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 142 Hegel über immanente Begriffsbestimmung 149 „Reale“ versus „logische“ Freiheit 153
X
3.3 3.4 3.5
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5 4.6 4.6.1 4.6.2
4.6.3 4.6.4 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1
Inhalt
Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit 155 Das Subjekt der Wissenschaft der Logik 171 Die Wissenschaft der Logik zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik 177 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit 189 „Logischer Inhalt“: Zum Programm von Hegels Urteilslehre 191 Allgemeinheit und Notwendigkeit: Historische und systematische Perspektiven 202 Urteil des Daseins 214 Urteil der Reflexion 218 Das Prädikat im Urteil der Reflexion 219 Der Übergang vom singulären zum partikulären Urteil 221 Universelles Urteil und Induktion 224 Die „Äußerlichkeit“ des Urteils der Reflexion: Hegel über Rechtfertigung und Erklärung 226 Urteil der Notwendigkeit 232 Urteil des Begriffs 240 Allgemeine Kennzeichen und sachliche Schwierigkeiten 240 Hegel und die Tatsachen-Werte-Unterscheidung: Ein Modell zum Zusammenhang von Klassifikation und intrinsischer Evaluation 244 Die teleologische Struktur des Begriffs 253 Der systematische Stellenwert des Urteils des Begriffs 258
5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5
Freiheit und Idealismus 269 Freiheit und Metaphysik bei Brandom 269 Brandoms Metaphysikkritik 270 Brandoms Idealismen 280 Hegels Idealismus 288 Epistemologischer Realismus und metaphysischer Idealismus 288 Hegels Begriffsrealismus 294 Hegels schwacher ontologischer Holismus 300 Hegels starker ontologischer Holismus 304 Zusammenfassung: Vier Grade metaphysischer Festlegung
6 6.1 6.2
Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes Der Geist als Befreiung von der Natur 317 Aspekte geistiger Identität 323
317
314
Inhalt
6.3 6.3.1
6.3.2 6.4 6.5 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3
8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.4.1 8.4.2
9 9.1 9.2 9.3
Die Realisierung von Freiheit durch rationale Transformation 330 Die inhaltliche Transformation unserer Einstellungen: Identifikation, rationale Kohärenz und GründeInternalismus 330 Die sozialen Voraussetzungen von Freiheit: Praktiken und Institutionen 344 Die interne Hierarchie des Geistes 348 Hegels Inkompatibilismus 356 Epistemische Freiheit 374 Der allgemeine Begriff der epistemischen Freiheit Hegels Monismus des Denkens 384 Die logische Charakteristik von Anschauung, Vorstellung und Denken 389 Formen der Freiheit und Unfreiheit in Anschauung, Vorstellung und Denken 393 Von der Anschauung zum Denken: Rekonstruktion als Befreiung 394 Denken und Notwendigkeit 396 Hegels Lösung für das Formalismus-Problem im epistemischen Bereich 403
374
Praktische Freiheit 405 Partikularität als Kennzeichen des Praktischen 406 Praktische Identitäten und die Allgemeinheit des Willens: Ein Modell im Ausgang von Brandom und Korsgaard 414 Notwendigkeit und Kontingenz im Praktischen 426 Soziale Institutionen und die Rationalität praktischer Identitäten 432 Das Verhältnis praktischer Identitäten und sozialer Institutionen 432 Vertrauen, Erfahrung und Kritik: Die Rechtfertigung von Identitäten und Institutionen 443 Freiheit und absoluter Idealismus 450 Ideale Freiheit bei Brandom: Verzeihung und „magnanimity“ 452 Hegel und die Metaphysik des „Reichs der Zwecke“ Die Struktur der „höchsten Freiheit“ 473
461
XI
XII
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.4 9.5
Inhalt
Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus 473 Pathologien des „natürlichen Menschen“ 477 Verzeihung und die Realität des Guten 482 Freiheit durch Philosophie 489 Fazit 501
Bibliographie
505
Personen- und Sachregister
523
1 Einleitung 1.1 Moderne und Selbstbestimmung Wichtige Problemstellungen der neuzeitlichen Philosophie sind an ein Verständnis von menschlicher Freiheit als Selbstbestimmung geknüpft. Selbstbestimmt sind wir dann, wenn wir uns selbst durch unsere eigene Vernunft die Regeln auferlegen, denen wir folgen – wenn wir also durch keine äußere Autorität bestimmt werden. Wenn es für den Menschen wesentlich ist, in diesem Sinne selbstbestimmt zu sein (oder sein zu können), hat dies zwei besonders wichtige Konsequenzen für die Philosophie. Erstens muss sie ein Selbstverständnis des Menschen formulieren, das seiner Selbstbestimmung Rechnung trägt. Bereiche wie die Moralphilosophie, die Naturrechtslehre und die politische Philosophie sind in der Neuzeit dadurch gekennzeichnet, dass sie diese Bedingung zu erfüllen suchen. Zweitens resultieren neuartige Anforderungen an das Weltverständnis, das die Philosophie entwickelt. Dies wird historisch in verschiedenen Zusammenhängen deutlich. Einmal ist für die Neuzeit eine methodologische Besinnung charakteristisch, die großes Gewicht auf epistemologische Fragestellungen legt; dadurch soll nicht zuletzt verhindert werden, dass der Mensch in seinen Überzeugungen über die Welt vorgegebenen Autoritäten unterworfen und mithin nicht selbstbestimmt ist. Hiermit hängt die weitere Tatsache eng zusammen, dass in der neuzeitlichen Philosophie weltanschauliche und institutionelle Autoritäten in Frage gestellt werden. Die modernen Naturwissenschaften gelten der Philosophie dabei oft als Paradigma für intellektuelle Selbstbestimmung. Schließlich geht mit diesen Aspekten von Selbstbestimmung häufig auch auf der inhaltlichen Ebene eine Sichtweise einher, die vorgegebene normative Ordnungen in Frage stellt; solche Ordnungen, etwa teleologische Zusammenhänge in der Natur, werden zugunsten eines – mit Max Weber zu reden – „entzauberten“ Naturverständnisses negiert. Diese Entwicklungen setzen freilich auch Tendenzen in Gang, in denen die Vernunft durch die Kritik an aller heteronomen Gesetzgebung und Autorität letztlich ihre eigenen Voraussetzungen untergräbt. Hier können drei Punkte genannt werden. Erstens sind unter dem Eindruck der modernen Naturwissenschaften philosophische Weltauffassungen formuliert worden, die keinerlei Platz für genuine Ansprüche der Vernunft lassen, sondern die Vernunft an die Natur angleichen. Hierzu zählen Hobbes’ Materialismus und der Positivismus der Aufklärung ebenso wie der heutzutage populäre Naturalismus. Zweitens richtet sich die kritische Vernunft zwangsläufig auch gegen sich selbst. Die Vernunftkritik, die bei Kant der Rechtfertigung selbstbestimmten Vernunftgebrauchs innerhalb legitimer Grenzen diente, hat, u. a. bei den Romantikern, bei Marx und Nietzsche, im
2
1 Einleitung
Historismus, der Psychoanalyse und in der Postmoderne zu Positionen geführt, die die Möglichkeit vernünftiger Selbstbestimmung überhaupt leugnen und stattdessen irrationale, ökonomische, politische und sonstige Triebkräfte als reduktionistische Erklärungsinstanzen einführen. Kant, der die Rolle von Selbstbestimmung für die neuzeitliche Philosophie in seiner Terminologie und seinem Philosophieverständnis in besonders umfangreichem Maße reflektiert (vgl. O’Neill (1989), Kap. 1 und 2), beschreibt die Selbstelimination der Vernunft, für die die beiden genannten Punkte stehen, als „Anarchie“ (KrV A IX) und bemerkt, „daß, wenn die Vernunft dem Gesetze nicht unterworfen sein will, das sie sich selbst giebt, sie sich unter das Joch der Gesetze beugen muß, die ihr ein anderer giebt“ (AA 8/145). Werden alle rationalen Geltungsansprüche außer Kraft gesetzt, führt dies also nur zurück zu der Despotie (KrV A IX), von der uns die Kritik eigentlich befreien sollte. – Der von Kant beschriebene Rückfall in Heteronomie kennzeichnet zugleich eine dritte einschlägige Tendenz, nämlich die Tendenz, sich neuen Autoritäten zu unterwerfen, die nur vermeintlich besser sind als die zuvor in Frage gestellten. So hat die Suche nach einer selbstbestimmten Rechtfertigung unserer Wissenssysteme Rationalisten und Empiristen in der frühen Neuzeit ebenso wie im 20. Jahrhundert dazu geführt, bestimmten Episoden des erkennenden Subjekts (z. B. Wahrnehmung, klares und distinktes Einsehen) eine unmittelbare Gewissheit und rechtfertigende Autorität1 zuzuschreiben. Tatsächlich handelt es sich hier aber wieder nur um Heteronomie, weil die Autorität, die jenen Episoden zugewiesen wird, ex hypothesi selbst keiner weiteren Rechtfertigung fähig ist. Die vermeintliche Selbstbestimmung, die hier in der Gewissheit des erkennenden Subjekts gesucht wird, ist somit doch nur eine neue Gestalt der von Kant beschriebenen „Despotie“. Aus dem Gedanken, dass der Mensch wesentlich durch Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung ausgezeichnet ist, ergibt sich so ein doppeltes philosophisches Desiderat. Einerseits ist eine kohärente theoretische Ausformulierung eines Selbstverständnisses des Menschen als wesentlich selbstbestimmt erforderlich. Andererseits sind auch zumindest die Grundzüge eines theoretischen Weltverständnisses nötig, welches die Wirklichkeit so auffasst, dass in ihr selbstbestimmte Wesen (und nicht etwa nur vernunftlose natürliche Entitäten) einen Platz haben. Sowohl das Welt- als auch das Selbstverständnis müssen dabei so konzipiert sein, dass sie nicht die Grundlagen selbstbestimmter Vernunft unterlaufen, wie es
1 Den Begriff der „Autorität“ gebrauche ich hier und im Folgenden so, dass er für sich genommen wertneutral ist. Autorität ist nur dann mit Selbstbestimmung inkompatibel, wenn es sich um nicht legitimierte äußere Autorität handelt. Dagegen erfordert Selbstbestimmung, wie wir sehen werden, dass wir die rationale Autorität von selbstgegebenen Normen anerkennen.
1.1 Moderne und Selbstbestimmung
3
die geschilderten Tendenzen tun. Das skizzierte Desiderat können wir als „Freiheits-basiertes Selbst- und Weltverständnis“ bezeichnen. Die vorliegende Untersuchung hat das Ziel, einen Beitrag zu der so umrissenen Problematik zu liefern, indem sie relevante Aspekte der Freiheitstheorie Hegels rekonstruiert und dabei Standpunkte der analytischen Philosophie, insbesondere den des „Neohegelianers“ Robert Brandom, zu Hilfe nimmt. – Dass ich gerade diese Autoren wähle, um die geschilderte Thematik anzugehen, ist durch die folgenden Erwägungen begründet. Wie die Beispiele von Postmoderne und Naturalismus zeigen, ist die Frage nach einem Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnis heutzutage so aktuell wie schon in der frühen Neuzeit. Nichtsdestotrotz tragen die Debatten über den Freiheitsbegriff in der modernen Philosophie dem grundlegenden Stellenwert dieses Begriffs gewöhnlich nicht ausreichend Rechnung, sondern beschränken sich auf speziellere und untereinander isolierte Fragen wie die nach der Kompatibilität von Willensfreiheit und Determinismus oder nach der Natur politischer Freiheit. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in den letzten Jahren Autoren, die mit den Mitteln der analytischen Philosophie ein auf Begriffen wie „Vernunft“ und „Freiheit“ basierendes Selbst- und Weltverständnis konzipieren und verteidigen, damit für Aufsehen gesorgt haben. Eine zentrale Rolle spielen hier die Pittsburgher Philosophen Robert Brandom und John McDowell, die sich ihrerseits in vielen Punkten am Denken von Wilfrid Sellars (1912–1989) orientieren. Als Slogan, der den Geist des philosophischen Unternehmens der Sellarsianer2 zum Ausdruck bringt, wird häufig das folgende Diktum aus Sellars’ Abhandlung „Empiricism and the Philosophy of Mind“ zitiert: [I]n characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says.3 (Sellars (1991b), 169 (§ 36))
Sellars bezieht sich hier speziell auf epistemologische Kontexte, weil diese im Vordergrund der Thematik von „Empiricism and the Philosophy of Mind“ stehen; es fällt aber nicht schwer, seine Pointe so zu verallgemeinern, dass jegliche rationale Aktivität, sei sie epistemischer oder praktischer Art, dem „logischen Raum der Gründe“ zugewiesen wird. Dessen Eigenständigkeit, die Sellars hier
2 Ich beziehe mich hier und im Folgenden stets auf die sogenannten „Links-Sellarsianer“ wie v. a. Brandom und McDowell. Die sogenannten „Rechts-Sellarsianer“ – diejenigen von Sellars’ Schülern, die eine stark naturalistische und szientistische Ausrichtung verfolgen (z. B. Ruth Millikan, Paul Churchland) – lasse ich dagegen für meine Zwecke unberücksichtigt. 3 Hier und im Folgenden stehen kursive Hervorhebungen in Zitaten im Original. Eigene Hervorhebungen sind durch Unterstreichung markiert.
4
1 Einleitung
betont, wird von ihm selbst, aber auch von Brandom und McDowell in einer Weise verstanden, die direkt für den eingangs beschriebenen Problemzusammenhang relevant ist. Sellars betont, dass jeder Versuch einer Reduktion dieses logischen Raums auf den komplementären logischen Raum der Ursachen einen Kategorienfehler darstellt: Now the idea that epistemic facts can be analyzed without remainder – even ‚in principle‘ – into non-epistemic facts […] is, I believe, a radical mistake – a mistake of a piece with the socalled ‚naturalistic fallacy‘ in ethics. (Sellars (1991b), 131 (§ 5))
Der logische Raum der Gründe ist demnach kategorisch von dem der Ursachen oder Naturgesetze unterschieden und deshalb irreduzibel, so dass Sellars eine naturalistische Reduktion von rationalen auf naturwissenschaftlich beschreibbare Sachverhalte ausschließt. Aus demselben Grund ist auch diejenige radikale Vernunftkritik unzulässig, die andere Formen der Reduktion von Vernunftansprüchen, etwa auf politische Machtverhältnisse oder wirtschaftliche Interessen, verfolgt. Schließlich berücksichtigt Sellars auch die oben geschilderte Gefahr eines Rückfalls in „Heteronomie“, und zwar in Form der bekannten Kritik am „Mythos des Gegebenen“. Diese Kritik, die Sellars u. a. am Beispiel des modernen, sinnesdatentheoretischen Empirismus ausführt, richtet sich im Kern gegen die Auffassung, es könne Zustände oder Episoden geben, die rechtfertigende Kraft in Bezug auf Überzeugungen haben können, ohne aber selbst einer Rechtfertigung zu bedürfen.4 Sellars beschreibt nun die kategorische Eigenständigkeit des logischen Raums der Gründe u. a. dahingehend, dass er durch eine irreduzible Dimension der Normativität ausgezeichnet ist. Alle natürlichen Tatsachen und Ereignisse lassen sich in rein deskriptiven Begriffen erfassen; rationale Kontexte dagegen, so Sellars’ Gedanke, erlauben stets eine Differenz von Sein und Sollen: Begriffsgebrauch, propositionale Einstellungen, intentionale Handlungen usw. sind wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie normativ bewertbar sind – wir können Fehlverhalten (linguistische Fehler, falsche Überzeugungen, irrationale Handlungen usw.) kritisieren, nach Rechtfertigungen fragen, uns korrigieren usw.5 Die
4 So lautet die Interpretation von deVries/Triplett (2000), xxv f.; vgl deVries/Triplett (2000), xv– xlxi zur allgemeinen Thematik und der Diskussion alternativer Interpretationen. Zum Zusammenhang der Kritik am Mythos des Gegebenen und der kategorischen Unterscheidung von logischem Raum der Gründe und logischem Raum der Ursachen oder der Naturgesetze vgl. McDowell (2009b), 5. 5 Vgl. Sellars (1991c), 6: „To be able to think is to be able to measure one’s thoughts by standards of correctness, of relevance, of evidence“; Sellars (1991c), 39: „To think of a featherless biped as a person is to think of it as a being with which one is bound up in a network of rights and duties.
1.1 Moderne und Selbstbestimmung
5
hierbei zugrunde liegende logische Differenz von Sein und Sollen geht aber in jedem Versuch einer Naturalisierung automatisch verloren. Auf der Grundlage von Sellars’ Ansatz versuchen Brandom und McDowell, die Struktur des logischen Raums der Gründe und sein Verhältnis zu anderen Aspekten der Wirklichkeit weiter zu explizieren. Für unsere Zwecke ist dabei zunächst besonders interessant, dass beide Autoren den Begriff der Freiheit heranziehen, um den Sellarsschen Begriff des „logischen Raums der Gründe“ zu konkretisieren und das Geistige vom Natürlichen, das Normative vom NichtNormativen kategorisch abzugrenzen. So identifiziert Brandom schon in einem frühen Aufsatz die Unterscheidung von logischem Raum der Gründe und logischem Raum der Ursachen mit der Kantischen Unterscheidung zwischen dem Reich der Freiheit und dem Reich der Natur6; in seinen späteren Arbeiten entwickelt er eine Theorie, nach der vernünftige Fähigkeiten nur im Rahmen von sozialen Praktiken entwickelt werden können, die ihrerseits wesentlich eine Realisierung von Freiheit darstellen (vgl. unten Abschnitt 3.1). Und McDowell schreibt in Mind and World: [T]he topography of the conceptual sphere is constituted by rational relations. The space of concepts is at least part of what Wilfrid Sellars calls ‚the space of reasons‘. When Kant describes the understanding as a faculty of spontaneity, that reflects his view of the relation between reason and freedom: rational necessitation is not just compatible with freedom but constitutive of it. In a slogan, the space of reasons is the realm of freedom. (McDowell (1996), 5)
Der Freiheitsbegriff dient also Brandom und McDowell als wichtiges Instrument, um die Demarkation zwischen den beiden logischen Räumen – dem der Gründe und dem der Ursachen – zu formulieren und systematisch zu entfalten.7 Wenn aber Freiheit eine spezifische Differenz zwischen dem Geistigen und dem Natürlichen ausmacht, dann kann sie nicht – wie es sonst in Diskussionen über Willensfreiheit und politische Freiheit oft geschieht – als eine Eigenschaft oder Fähigkeit betrachtet werden, die für einzelne Kontexte unseres Denkens und Handelns
From this point of view, the irreducibility of the personal is the irreducibility of the ‚ought‘ to the ‚is‘“. 6 Brandom (1979), 187: „[…] I will examine one way of developing Kant’s suggestion that one is free just insofar as he acts according to the dictates of norms or principles, and of his distinction between the Realm of Nature, governed by causes, and the Realm of Freedom, governed by norms and principles“. Vgl. Kant, AA 6/82. 7 Zu Brandom vgl. unten Abschnitt 1.2; zu McDowell vgl. u. a. McDowell (1996), xxiii: „‚Responsiveness to reasons‘ is a good gloss on one notion of freedom. So the puzzlement in its general form is how freedom, in that sense, fits into the natural world“; ferner McDowell (2009c).
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1 Einleitung
wichtig ist. Vielmehr ist Freiheit für McDowell und Brandom eine grundlegende Eigenschaft von Rationalität überhaupt. Vernunft ist nach diesem Ansatz ganz und gar durch Freiheit bestimmt, und umgekehrt ist auch Freiheit wesentlich vernünftig. Dem Freiheitsbegriff wird so eine fundamentale Rolle für unser Selbstverständnis als Vernunftwesen eingeräumt. Darüber hinaus entwickeln Brandom und McDowell die Position Sellars’ auch dahingehend weiter, dass sie dem Freiheitsbegriff eine zentrale Rolle für unsere Weltsicht zuschreiben: Unsere Annahmen über die Grundbestimmungen des Wirklichen – also unsere metaphysischen Überzeugungen – müssen in Einklang mit unserem Verständnis von Rationalität und Freiheit stehen. Entsprechend fragen Brandom und McDowell danach, welche metaphysische Verfasstheit die Wirklichkeit als ganze haben muss, damit wir uns in ihr als vernünftige und freie Wesen bewegen und uns auf sie beziehen können.8 Teil ihrer Antwort ist, dass die natürliche Wirklichkeit selbst eine Struktur besitzt, die in rein naturwissenschaftlichen Beschreibungen nicht restlos aufgeht; vielmehr ist diese Struktur begrifflicher Art und erklärt, warum die Natur unserem rationalen Zugang, und damit unserer Ausübung von Freiheit, offensteht (vgl. unten Abschnitt 1.2).9 McDowell redet hier treffend von einer „teilweisen Wiederverzauberung“ („partial reenchantment“) der Natur (McDowell (1996), 97). Wie schon Sellars, der sich nicht nur intensiv mit Kant auseinandersetzt, sondern auch Hegel, „that great foe of ‚immediacy‘“ (Sellars (1991b), 127 (§ 1)), als Vorbild für die Kritik am Mythos des Gegebenen nennt, stellen nun auch Brandom und McDowell zahlreiche Bezüge zu Projekten der philosophischen Tradition und besonders der klassischen deutschen Philosophie her, in denen es gerade darum geht, ein kohärentes Gesamtbild von Geist, Welt, Vernunft und Freiheit zu entwickeln. Mit diesen Bezugnahmen tragen Brandom und McDowell zu einer neueren Tendenz der analytischen Philosophie bei: Während die analytische Philosophie in ihrer ersten Phase, der des logischen Empirismus, durch die Opposition zum britischen Hegelianismus und eine allgemeine Distanzierung von der Philosophiegeschichte geprägt war, sind um die Mitte des 20. Jahrhunderts Gegenbewegungen zum logischen Empirismus dominant geworden, die sich teils wieder auf Kant berufen (z. B. Strawson), teils durch Positionen wie Quines
8 McDowell lehnt in diesem Zusammenhang die Rede von „Metaphysik“ ab, weil er, ähnlich wie Wittgenstein und Rorty, ein therapeutisches Philosophieverständnis vertritt (vgl. z. B. McDowell (1996), 85 f.). Wie aber dennoch zahlreiche Einsichten Wittgensteins auch im Rahmen von Projekten „konstruktiver“ Philosophie rezipiert werden konnten, so können wir auch für unsere Zwecke diese metaphilosophische Einstellung ausklammern, wenn wir uns auf McDowells Arbeiten beziehen. 9 Sellars teilt diese Ansicht nicht: vgl. deVries (2009), 236.
1.1 Moderne und Selbstbestimmung
7
semantischen Holismus und Sellars’ Kritik an fundamentalistischen Erkenntnistheorien auch der hegelianischen Tradition wieder annähern; dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass zunächst Kants und später auch Hegels Werke innerhalb der analytischen Tradition immer stärker rezipiert wurden.10 Gerade in Bezug auf die Deutung des logischen Raums der Gründe als „Reich der Freiheit“ und die damit verbundene allgemeinere Frage nach einem Freiheitsbasierten Selbst- und Weltverständnis ist die klassische deutsche Philosophie in der Tat ein besonders geeigneter historischer Bezugspunkt. Wie wenige andere Autoren der neuzeitlichen Philosophie haben sich nämlich Kant und die nachkantischen Idealisten um theoretische Lösungen der eingangs genannten Probleme im Rahmen ganzer Systemkonzeptionen bemüht. Bei Kant wird Freiheit besonders in der Moralphilosophie zum Schlüsselbegriff im Hinblick auf unser Selbst- wie unser Weltverständnis. In ihren Versuchen, die Kantische Philosophie weiterzuentwickeln, messen auch die nachkantischen Idealisten dem Freiheitsbegriff eine zentrale, wenn nicht sogar die wichtigste Rolle zu. Fichte schreibt 1795, sein System sei das erste „System der Freiheit“ (Gesamtausgabe III 2, 298). Im selben Jahr schreibt Schelling an Hegel, die Freiheit sei das „A und O aller Philosophie“ (Schelling an Hegel, 4.2.1795, in: Briefe von und an Hegel, Bd. 1, 22 (Nr. 10)); und Hegel charakterisiert in seiner Antwort das gemeinsame philosophische Vorhaben so: Man wird schwindeln bei dieser höchsten Höhe aller Philosophie, wodurch der Mensch so sehr gehoben wird; aber warum ist man so spät darauf gekommen, die Würde des Menschen höher anzuschlagen, sein Vermögen der Freiheit anzuerkennen, das ihn in die gleiche Ordnung aller Geister setzt? (Hegel an Schelling, 16.4.1795, in: Briefe von und an Hegel, Bd. 1, 24 (Nr. 11))
Bei diesen programmatischen Äußerungen handelt es sich nicht allein um einen Ausdruck der revolutionären Aufbruchsstimmung, die jene Denker in der Frühzeit des deutschen Idealismus teilen. Vielmehr bestimmt der Freiheitsbegriff auch in der Folgezeit ihre systematischen Bemühungen. Neben dem Kantischen Erbe ist dies ideengeschichtlich insbesondere dadurch motiviert, dass durch Jacobis Kritik an Spinoza die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft, Freiheit und Natur gegenüber Kant noch einmal radikalisiert wurde. In der Folge von Jacobis Vorwurf, jedes philosophische System laufe auf den Spinozismus hinaus und leugne daher die Freiheit, muss sich alles systematische Philosophieren gegen den Verdacht verteidigen, de facto keinen Raum für Freiheit zu lassen (und so der ein-
10 Zur analytischen „Hegel-Renaissance“ vgl. Bernstein (1977); Halbig/Quante/Siep (2004); Rockmore (2007); Redding (2007); Nuzzo (2009).
8
1 Einleitung
gangs beschriebenen Gefahr der Selbstelimination autonomer Vernunft anheim zu fallen) (vgl. u. a. Peetz (1995), 15–76; di Giovanni (2005), Kap. 4). Fichte, Schelling und Hegel teilen in dieser Situation bei allen sonstigen Differenzen die Auffassung, dass wir unserer Freiheit philosophisch nur in einem System vernünftigen Erkennens gerecht werden können. Dabei ist Hegel ohne Zweifel derjenige Idealist, der den Gedanken eines „Systems der Freiheit“ am konsequentesten ausgeführt hat. Im enzyklopädischen System beschreibt Hegel Freiheit als das Wesen des Geistes, und damit auch als das wichtigste Kriterium für dessen Abgrenzung von der Natur: „Das Wesen des Geistes ist […] formell die Freiheit, die absolute Negativität des Begriffes als Identität mit sich“ (Enz. § 382, 10/25). Die unterschiedlichen Aspekte und Ausprägungen des Geistes stellen für Hegel dabei verschiedene Stufen und Weisen der Realisierung geistiger Freiheit dar. Da Hegels Theorie dieser Ausprägungen u. a. seine philosophische Psychologie, Erkenntnistheorie, Moralpsychologie, Ethik, Rechts- und Sozialphilosophie, Geschichtsphilosophie, Ästhetik, Religionsphilosophie sowie seine Theorie der Philosophie und ihrer Geschichte umfasst, hängen seine Positionen und Argumentationen in all diesen Bereichen direkt mit dem Freiheitsbegriff zusammen. Daneben spielt der Freiheitsbegriff, wie wir sehen werden (vgl. Kapitel 3), auch schon in der Wissenschaft der Logik mit ihrer logisch-metaphysischen Grundlegung des Hegelschen Systems eine zentrale Rolle. Das adäquate System logischer und metaphysischer Kategorien in deren drittem Teil, der sogenannten „Begriffslogik“, bezeichnet Hegel sogar ausdrücklich als das „Reich der […] Freiheit“ (WdL 6/240). Auch Hegels Positionen in metaphysischen und logisch-semantischen Fragen hängen demnach mit seinem Freiheitsverständnis zusammen. Hegel entwickelt also ein Selbst- und ein Weltverständnis, die beide durchgehend auf dem Freiheitsbegriff basieren. Er tut dies überdies in einer Weise, die für das aktuelle Interesse an einem Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnis besonders relevant und aufschlussreich ist. Hegel entwickelt sein System nämlich in ausführlicher kritischer Auseinandersetzung mit genau denjenigen eingangs skizzierten philosophischen Tendenzen der Moderne, in denen das philosophische Denken seine eigene Freiheit missversteht und deshalb zu Resultaten gelangt, die seine Freiheit unterminieren. Dabei bezieht er sich zum einen auf die radikale Erkenntnis- und Vernunftkritik, in der er schon bei Kant und Fichte und mehr noch bei den Romantikern den Ausdruck einer bloß negativen, zu keiner positiven Festlegung fähigen Freiheit erblickt. So beschreibt er etwa Kants Ding an sich als „caput mortuum“, das „selbst nur das Produkt des Denkens ist, eben des zur reinen Abstraktion fortgegangenen Denkens, des leeren Ich, das diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstande macht“ (Enz. § 44 A, 8/121). Kants Erkenntniskritik unterminiert demnach den objektiven Geltungsanspruch des Denkens: Übrig
1.1 Moderne und Selbstbestimmung
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bleibt infolge dieses Objektivitätsverlustes die leere Freiheit eines ungebundenen, da nur auf sich selbst bezogenen Denkens, das eine bloße Abstraktion seiner selbst als unerkennbare objektive Realität aus sich hinaus projiziert. Ganz ähnlich grenzt in der neueren Diskussion McDowell die rationale Freiheit des Denkens von einem ungebundenen „Kreisen“ des Denkens „im luftleeren Raum“ („spinning in the void“) ab, das er als Implikation subjektiv-idealistischer Positionen (konkret Davidsons Kohärentismus) beschreibt (McDowell (1996), 11).11 Nicht weniger vehement richtet sich Hegel zum anderen gegen den entgegengesetzten Fehler des empiristischen Mythos vom Gegebenen, den auch Sellars und seine Anhänger kritisieren. Die Empfindungsepisoden, auf die sich Sinnesdatentheorien und andere Ausprägungen dieser Tradition stützen, weisen für Hegel die „Form der selbstischen Einzelheit“ auf, damit aber die „unterste und schlechteste“ Form, in der der Geist „nicht als Freies, als unendliche Allgemeinheit, – sein Gehalt und Inhalt vielmehr als ein Zufälliges, Subjektives, Partikuläres ist“ (Enz. § 447 A, 10/247). Und in einem Zusatz ist die folgende pointierte Bemerkung zum Empirismus überliefert: „Indem nun dies Sinnliche für den Empirismus ein Gegebenes ist und bleibt, so ist dies eine Lehre der Unfreiheit, denn die Freiheit besteht gerade darin, daß ich kein absolut Anderes gegen mich habe, sondern abhänge von einem Inhalt, der ich selbst bin“ (Enz. § 38 Z, 8/111). Schließlich verwirft Hegel auch jegliche naturalistische Reduktion des „logischen Raums der Gründe“, indem er die Differenz von Geist und Natur zu einem Grundprinzip des ganzen Systems macht und dabei stets die Irreduzibilität, ja sogar eine ontologische Priorität (s. 5.2.4) des Geistes gegenüber der Natur verteidigt. Ein „System der Freiheit“ ist Hegels philosophische Theorie, ebenso wie die Theorien Fichtes und Schellings, allerdings auch insofern, als sie sich konsequent jeglichen Rekurs auf gegebene Voraussetzungen oder scheinbar selbstverständliche Grundannahmen verbietet.12 Hieraus resultieren bei Hegel wie auch bei den anderen Idealisten sehr weitreichende Erklärungs- und Rechtfertigungsansprüche, die wesentlich mit dafür verantwortlich sind, dass die idealistischen Posi-
11 Einschlägig ist hier auch Jacobis Kritik von Fichtes subjektivem Idealismus; Jacobi vergleicht bekanntlich im Sendschreiben Jacobi an Fichte (1799) das Denken des Fichteschen Ich als Stricken eines „Strickstrumpfs“ „ohne empirischen Einschlag, oder sonst eine Beymischung oder Zuthat“ (Werke 2, 1, 204) und nimmt damit McDowells Bild des „spinning in the void“ vorweg. – Freilich werden wir sehen, dass für Hegel eine Alternativkonzeption, die den subjektiven Idealismus vermeiden will, nicht – wie Jacobi und McDowell meinen – bei der empirischen „Reibung“ mit der Wirklichkeit, sondern bei der internen Gebundenheit des Denkens ansetzen muss. 12 Eine Ausnahme hiervon bildet in gewisser Weise Schellings späte „positive“ Philosophie, die aber dadurch gerade kritisch auf die beanspruchte Voraussetzungslosigkeit der anderen idealistischen Positionen (einschließlich Schellings eigener früherer Ansätze) reagiert.
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1 Einleitung
tionen im 20. Jahrhundert vielfach für obsolet gehalten wurden. Entsprechend blenden auch die analytischen Aneignungen idealistischer und v. a. hegelianischer Theorien diejenigen Aspekte solcher Theorien in aller Regel aus, die dem common sense widerstreben. Hier riskieren die analytischen Exegeten aber selbst, dogmatisch zu werden und Voraussetzungen unhinterfragt anzunehmen, von denen die Idealisten glauben, dass sie dem Anspruch des freien, voraussetzungslosen Denkens nicht standzuhalten vermögen. Insbesondere wird in der analytisch geprägten Rezeption Hegels häufig die metaphysische Dimension seiner Theorien ausgeklammert oder auf eine bloße Metapher reduziert. Brandom ist dagegen u. a. deshalb für die Frage nach dem Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnis besonders interessant, weil er in seiner Hegel-Deutung wichtige metaphysische Aussagen Hegels durchaus ernst nimmt (hierauf werde ich im nächsten Abschnitt zurückkommen).13 Doch auch Brandom lässt in seiner Deutung wichtige metaphysische Festlegungen Hegels unberücksichtigt, und zwar auf Grund einer Skepsis gegenüber bestimmten Formen metaphysischer Aussagen, von der wir noch sehen werden, dass sie selbst auf durchaus fragwürdigen Gründen beruht (vgl. Abschnitt 5.1.1). Auf Grund derartiger Einseitigkeiten in der aktuellen, von der klassischen deutschen Philosophie und besonders von Hegel inspirierten Auseinandersetzung mit der Frage nach einem Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnis empfiehlt es sich, zu den Texten der Idealisten selbst zurückzugehen und ihre systematischen Potentiale im Hinblick auf die dargelegte Fragestellung genauer zu prüfen. In der vorliegenden Untersuchung rekonstruiere ich die einschlägigen Elemente von Hegels Freiheitstheorie im Lichte dieser Zielsetzung. Auf der Seite der analytischen Philosophie beziehe ich mich in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Arbeiten Brandoms: Auch hier wird sich zeigen, dass Brandoms eigenes, in großem Umfang und Detail ausgearbeitetes System wie auch bestimmte seiner Vorschläge zur Deutung Hegels für unsere systematische Fragestellung in besonderem Maße von Interesse sind, wenngleich die Untersuchung von Hegels Texten in vielen Punkten auch wichtige Differenzen aufzeigen wird. Ich habe in diesem Abschnitt die systematische Leitfrage dieser Arbeit, die Frage nach einem Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnis, eingeführt und die Wahl von Hegel und Brandom als Bezugsfiguren der vorliegenden Untersuchung begründet. Im folgenden Abschnitt werden wir in vorläufiger Weise einige wichtige Spezifika des von Hegel und Brandom geteilten Ansatzes in dieser
13 Teilweise wird auch Brandoms Hegel-Interpretation von Kommentatoren als rein semantisch oder anti-metaphysisch eingestuft, doch handelt es sich dabei um eine Fehleinschätzung; vgl. Kap. 5, Fußnote 6.
1.2 Metaphysik der Freiheit
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Frage kennenlernen: Sie betreffen diejenige „Metaphysik der Freiheit“, die für beide Autoren im Mittelpunkt des Freiheits-basierten Weltverständnisses steht, sowie die epistemische Freiheit, die eigene Freiheitsform der theoretischen Vernunft, die in diesem Zusammenhang besonders wichtig ist.
1.2 Metaphysik der Freiheit Ein Freiheits-basiertes Weltverständnis muss eine Antwort auf die Frage bieten, wie die Welt beschaffen sein muss, damit es in ihr freie Wesen geben kann.14 Es muss also die metaphysischen Voraussetzungen von Freiheit klären. Eine solche Klärung können wir als „Metaphysik der Freiheit“ bezeichnen. Wenn von metaphysischen Fragestellungen im Umfeld des Freiheitsbegriffs die Rede ist, so meint man damit gewöhnlich die Frage, ob Freiheit mit dem Determinismus kompatibel ist, und damit zusammenhängende Fragen wie die, ob Freiheit alternative Möglichkeiten erfordert, wenn ja, welcher Art diese alternativen Möglichkeiten sein müssen usw. Diese „klassischen“ Fragen zu den metaphysischen Voraussetzungen von Freiheit spielen sowohl bei Hegel als auch bei Brandom nur eine untergeordnete Rolle – und zwar nicht etwa deshalb, weil die beiden Autoren eine Freiheitstheorie vertreten, die ganz ohne metaphysische Festlegungen auskommen will.15 Vielmehr sind sich beide darin einig, dass eine Theorie der metaphysischen Voraussetzungen von Freiheit zunächst ganz andersartige Fragen zu stellen hat, während die klassischen Probleme der Willensfreiheit teils Scheinprobleme sind (weil sie auf einer falschen Auffassung von Freiheit beruhen), teils weniger wichtig sind, als gemeinhin angenommen wird. So schreibt Hegel: „In dem zur Zeit der Wolffischen Metaphysik vornehmlich geführten Streit, ob der Wille wirklich frei oder ob das Wissen von seiner Freiheit nur eine Täuschung sei, war es die Willkür, die man vor Augen gehabt“ (GPhR § 15 A, 7/66). „Willkür“ steht hier für ein unangemessenes Verständnis von Freiheit, das Freiheit mit der Fähigkeit zu arbiträren Entscheidungen identifiziert. Zudem legt Hegel durch die – historisch eigentlich ungerechtfertigte – Einschränkung der Debatte über Willensfreiheit auf die „Zeit der Wolffischen Metaphysik“ nahe, dass er diese Debatte für philosophisch relativ unbedeutend hält.16
14 Vgl. zum Folgenden auch Knappik (im Ersch.a). 15 So versteht Pippin (2008), 35, 38, 128 u. a., Hegels Freiheitstheorie. 16 Vgl. daneben z. B. auch Enz. § 503 A, 10/312 f.; Enz. § 145 Z, 8/285 f.; s. dazu Pippin (2008), 36 ff. – Dagegen nimmt nach Yeomans (2012), Kap. 1 und passim, Hegel das klassische Problem der Willensfreiheit sehr wohl ernst und stellt es sogar in den Mittelpunkt der Wissenschaft der Logik. Um diese Deutung vertreten zu können, muss Yeomans aber Begriffe wie „Bestimmung“,
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1 Einleitung
Auch Brandom kritisiert die gängigen Debatten über Willensfreiheit und argumentiert sogar, dass Fragen wie die, welche Art von alternativen Möglichkeiten für Freiheit erforderlich ist und inwieweit solche alternativen Möglichkeiten mit dem Determinismus kompatibel sind, ganz verfehlt sind, weil sie auf einer falschen Auffassung von Freiheit beruhen. Laut Brandoms Diagnose handelt es sich dabei um eine Auffassung, die Freiheit in Begriffen der alethischen Modalität deutet (z. B. kann jemand anders handeln?) und nicht in Begriffen der deontischen Modalität (z. B. soll jemand so und so handeln?), wie es nach Brandom erforderlich wäre (RiPh 58 f.).17 Entsprechend halten sowohl Brandom als auch Hegel in Bezug auf eine Metaphysik der Freiheit andere Fragestellungen für substantieller und relevanter als die klassische Problematik der Willensfreiheit. Wir werden diese alternativen Fragestellungen im Verlauf der Untersuchung noch genauer entwickeln; vorläufig können einige Hinweise genügen. Sowohl Hegel als auch Brandom deuten Freiheit als vernünftige Autonomie im Anschluss an Kant, glauben aber, dass die Kantische Position nicht erklären kann, wie wir uns im Rahmen der Selbstgesetzgebung auf rationale Weise bestimmten Normen unterwerfen können. Für Hegel ist Kants Autonomie-Konzeption von Freiheit nur in der Lage, sehr abstrakte normative Vorgaben für vernünftige Selbstbestimmung zu begründen. Wie wir ein konkretes Selbst mit bestimmten normativen Festlegungen (Überzeugungen, bestimmte Begriffe, Handlungsziele usw.) gewinnen können, ohne entweder auf willkürliche Entscheidungen oder auf ein nicht zu rechtfertigendes Gegebenes rekurrieren zu müssen, kann Kant demnach nicht erklären. Ähnlich kritisiert Brandom Kant dahingehend, dass er die Verfügbarkeit von begrifflichen Normen mit bestimmtem Gehalt ohne Erklärung voraussetzt.18
„Selbstbestimmung“ usw. in der Logik direkt auf die Thematik der Willensfreiheit beziehen; dagegen spricht, dass die Logik nach Hegel ausdrücklich die Grundstruktur der ganzen Wirklichkeit zum Thema hat (vgl. unten Abschnitte 3.4 und 3.5). Ferner macht Yeomans durch seine Deutung die Möglichkeit von Wahlfreiheit zum zentralen Adäquatheitsmaßstab der logischen Kategorien. Dies widerspricht Hegels wichtigster methodologischer Kennzeichnung der Logik: der „Immanenz“ ihrer gedanklichen Entwicklung, die keinen äußeren Maßstab zulässt (vgl. unten Abschnitt 3.3). Der Gedanke der Wahlfreiheit – der Hegel auf dieser Stufe noch nicht zur Verfügung steht, sondern erst in der Willenstheorie der Philosophie des subjektiven Geistes eingeführt wird – wäre aber ein solcher äußerer Maßstab. 17 Diese Sicht teilt Hegel allerdings nicht: In Abschnitt 6.5 werde ich dafür argumentieren, dass er eine inkompatibilistische Position vertritt, der zufolge kausale Spontaneität und deshalb auch die Verfügbarkeit alternativer Möglichkeiten im alethischen Sinn notwendige Bedingungen von Freiheit sind (wenngleich sie nicht deren Wesen ausmachen). 18 In den Abschnitten 2.6, 3.1. und 3.2 werde ich die jeweilige Interpretation dieser Problematik bei Hegel und Brandom genauer untersuchen.
1.2 Metaphysik der Freiheit
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In Reaktion auf dieses Problem entwickelt Brandom eine semantische und eine pragmatische Theorie, die die Genese bestimmten begrifflichen Gehalts erklären soll. Hegel hingegen versucht, das genannte Problem (neben anderen Problemen) dadurch zu lösen, dass er in der Wissenschaft der Logik (im Folgenden: „WdL“) diejenigen grundlegenden Normen des Denkens ermittelt, denen wir folgen müssen, um auf rationale Weise ein konkretes Selbst ausbilden zu können. Beide Lösungsansätze haben wichtige Implikationen im Hinblick auf eine Metaphysik der Freiheit. (a) Brandom argumentiert in diesem Zusammenhang folgendermaßen (vgl. unten Abschnitt 5.1.2). Aus der pragmatischen Theorie der Genese bestimmten begrifflichen Gehalts, die Brandom auf Grund des genannten Bestimmtheitsproblems entwickelt, folgt u. a., dass wir durch das Aufstellen von Behauptungen – nach Brandom die paradigmatische Form des Umgangs mit begrifflichen Normen (z. B. MIE 167 f.) – der Wirklichkeit, über die wir sprechen, in zweierlei Hinsicht normative Autorität über unsere Behauptungen zuweisen. Erstens müssen wir dem, worüber wir sprechen, Autorität über die Wahrheit und Falschheit unserer Behauptungen zuschreiben – wir müssen es als Maßstab für die Korrektheit des Behaupteten ansehen (RiPh 34 f.). Und zweitens stützen wir unsere Behauptungen auf Tatsachen, die als Gründe für sie dienen sollen (Brandom (unveröffentlichtb), 9; vgl. Brandom (2000b), 163 ff.). Wir können nur dann sinnvoll der Wirklichkeit diese beiden normativen Rollen in Bezug auf unsere Behauptungen zuschreiben, wenn wir gleichzeitig annehmen, dass die Wirklichkeit einen rationalen (und nicht nur kausalen) Einfluss auf unser Überzeugungssystem ausübt. Brandom bezeichnet einen solchen rationalen Einfluss im Anschluss an McDowell als „rationale Einschränkung“ („rational constraint“) unseres Denkens durch die Wirklichkeit. Damit etwas eine derartige rationale Einschränkung ausüben kann, muss es laut Brandom aber selbst bestimmte ontologische Eigenschaften besitzen: Um als Maßstab für die Korrektheit unserer Behauptungen sowie als Quelle für unsere Gründe dienen zu können, muss nach Brandom die Wirklichkeit selbst begrifflich strukturiert sein (vgl. Brandom (unveröffentlichtb), 9 ff.). Begrifflich strukturiert ist etwas für Brandom dann, wenn es in modal robusten – d. h. auch unter einer hinreichend großen Menge von kontrafaktischen Bedingungen bestehenden – Beziehungen der Implikation und der Inkompatibilität steht. Diese Kennzeichnung trifft nach Brandom nicht nur auf die Inhalte unseres Denkens zu, sondern auch auf die Wirklichkeit selbst. Begriffliche Strukturen haben demnach nicht nur psychologische oder linguistische Realität, sondern existieren in der objektiven Wirklichkeit: The conception of concepts as inferentially articulated permits a picture of thought and of the world that thought is about as equally, and in the favored cases identically, conceptually
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1 Einleitung
articulated. Facts are just true claims. Facts, like other claims, are conceptually articulated by their inferential and incompatibility relations to other claims. (MIE 622)
Die These, dass nicht nur unser Denken, sondern auch die Wirklichkeit selbst begrifflich strukturiert ist, bezeichnet Brandom als Begriffsrealismus („conceptual realism“) (vgl. HI 181; RiPh 97 f.; Brandom (unveröffentlichta), 29 f.; Brandom (unveröffentlichtb), 16). Bei der These des Begriffsrealismus handelt es sich um eine metaphysische These, die eine Aussage über grundlegende Aspekte der Wirklichkeit macht. Genauer stellt diese These für Brandom eine Form idealistischer Metaphysik dar, weil der Wirklichkeit eine (begriffliche) Struktur zugeschrieben wird, deren Paradigma die Struktur geistiger Gehalte und Prozesse ist.19 Der so verstandene Idealismus weist eine dualistische Auffassung zurück, nach der das Geistige und die geistunabhängige Wirklichkeit radikal heterogen sind, und nimmt stattdessen eine Homogeneität von Geist und Welt in Bezug auf ihre ontologische Struktur an. Da diese Struktur begrifflicher Art ist, kann der Gedanke einer solchen Homogeneität mit McDowell auch als die „Unbegrenztheit des Begrifflichen“ („the unboundedness of the conceptual“) ausgedrückt werden.20 Bei Brandom stehen also nicht alternative Möglichkeiten und Determinismus, sondern seine These des Begriffsrealismus und der Gedanke einer ontologischen Homogeneität von Geist und Welt im Zentrum der Metaphysik der Freiheit. Diese Revision der gängigen metaphysischen Debatte über Freiheit hat ferner auch Konsequenzen für das Freiheits-basierte Selbstverständnis. Denn die Form von Freiheit, die in der eben zusammengefassten Argumentation Brandoms thematisiert wird, üben wir im Aufstellen von Behauptungen und im Erheben von Wahrheitsansprüchen aus, also primär in Kontexten, die die theoretische Vernunft betreffen. Die hiervon unterschiedene Freiheit zu praktischen Entscheidungen und Handlungen kann demnach nicht die privilegierte Rolle spielen, die ihr in den gewöhnlichen Debatten zugewiesen wird; die epistemische Freiheit der theo-
19 Die verschiedenen Theorieelemente von Brandoms „Idealismus“ betrachten wir genauer in Abschnitt 5.1.2. 20 So der Titel der zweiten Vorlesung von McDowell (1996). McDowell kommt in diesem Zusammenhang zu ähnlichen Ergebnissen wie Brandom; vgl. z. B. McDowell (1996), 27: „[T]here is no ontological gap between the sort of thing one can mean, or generally the sort of thing one can think, and the sort of thing that can be the case. When one thinks truly, what one thinks is what is the case“. Auch McDowell stützt sich hierfür auf Hegel und zitiert eine Stelle aus der Phänomenologie des Geistes: „Im Denken bin Ich frei, weil ich nicht in einem Anderen bin […]“ (3/156; McDowell (1996), 44). – Allerdings handelt es sich bei der These von der „Unbegrenztheit des Begrifflichen“ für McDowell um eine triviale Aussage: vgl. McDowell (1996), 27. Vgl. auch Willaschek (2000), der zeigt, dass McDowells Behauptungen in diesem Kontext keineswegs unproblematisch sind.
1.2 Metaphysik der Freiheit
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retischen Vernunft muss ebenfalls eine wichtige Position im Freiheits-basierten Selbstverständnis einnehmen. Das entspricht auch ganz dem im vorigen Abschnitt eingeführten Gedanken, dass Freiheit wesentlich für Vernunft als solche ist: Nicht nur die praktischen, sondern alle Ausübungen von Vernunft, mithin auch deren epistemische Formen, sind demnach durch Freiheit gekennzeichnet. Entsprechend ist es eine wichtige Aufgabe für das Projekt eines Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnisses, eine Theorie epistemischer Freiheit sowie ihres Verhältnisses zu anderen Freiheitsformen zu entwickeln. (b) Zwar lassen sich bei Hegel nicht genau diejenigen Überlegungen nachweisen, die Brandom im Rahmen seiner Rekonstruktion entwickelt, um einen durch Hegel inspirierten Begriffsrealismus zu verteidigen. Aber aus Hegels eigener Lösung für das Problem normativer Bestimmtheit, das er in Kants AutonomieKonzeption von Freiheit identifiziert, ergeben sich ganz ähnliche Konsequenzen für eine idealistische Metaphysik der Freiheit und für die Thematik epistemischer Freiheit. Hegel zufolge stellen die normativen Grundbestimmungen des Denkens, die er in der WdL herleitet, zugleich ontologische Grundbestimmungen alles Wirklichen dar. Daraus folgt auch für Hegel die These einer ontologischen Homogeneität zwischen Geist und Welt bzw. Denken und Wirklichkeit, die er in Form einer idealistischen Metaphysik und speziell eines Begriffsrealismus ausbuchstabiert. Nur wenn nicht bloß das subjektive Denken, sondern auch die subjektunabhängige Wirklichkeit begrifflich strukturiert ist, können wir nach Hegel vernünftige Freiheit realisieren: Indem im Nachdenken ebensosehr die wahrhafte Natur zum Vorschein kommt, als dies Denken meine Tätigkeit ist, so ist jene ebensosehr das Erzeugnis meines Geistes, und zwar als denkenden Subjekts, Meiner nach meiner einfachen Allgemeinheit, als des schlechthin bei sich seienden Ichs, – oder meiner Freiheit. […] Die Gedanken können nach diesen Bestimmungen objektive Gedanken genannt werden, worunter auch die Formen, die zunächst in der gewöhnlichen Logik betrachtet und nur für Formen des bewußten Denkens genommen zu werden pflegen, zu rechnen sind. (Enz. §§ 23– 24, 8/80 f.)
Demnach sind wir im Denken gerade dann wirklich frei (und nicht mit etwas Heterogenem, Nichtbegrifflichem konfrontiert), wenn wir einen Gegenstand gemäß seiner eigentlichen Natur erkennen; und diese Natur ist selbst begrifflicher Art, bzw. sie wird durch „objektive Gedanken“ konstituiert, wie Hegel sich an dieser Stelle ausdrückt. Wie für Brandom besteht also auch für Hegel ein direkter Zusammenhang zwischen dem Freiheitsbegriff und einer begriffsrealistischen Metaphysik, und dementsprechend korrespondiert auch bei Hegel dieser Metaphysik die Annahme, dass es eine epistemische Form von Freiheit gibt. Brandom greift somit in seiner Hegel-Aneignung in Bezug auf die Revision der gängigen Freiheitsdebatten, die inhaltliche Bestimmung einer Metaphysik der
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1 Einleitung
Freiheit sowie die entsprechende Rolle epistemischer Freiheit wesentliche Aspekte der Hegelschen Position auf. Gleichzeitig stellt sich hier wieder die schon im vorigen Abschnitt angesprochene Frage, inwiefern Hegel durch den Anspruch auf ein voraussetzungsloses, auch gegenüber dem common sense kritisches „System der Freiheit“ eine Metaphysik der Freiheit möglicherweise konsequenter und kohärenter entwickeln kann als Brandom, der gegenüber zahlreichen metaphysischen Aussagen eine skeptische Haltung vertritt. In Kapitel 5 werde ich dieser Frage nachgehen, indem ich Brandoms Metaphysikverständnis und seine Rekonstruktion von Hegels absolutem Idealismus mit einer textnäheren Interpretation von Hegels Position konfrontiere. Dabei wird sich zeigen, dass Hegels Version einer idealistischen Metaphysik der Freiheit wesentlich stärkere Formen von Begriffsrealismus und Idealismus involviert, als es Brandoms Version tut.21
1.3 Drei Einwände Um die Fragestellung weiter zu präzisieren, formuliere ich nun drei Einwände, die gegen die bisherigen Überlegungen vorgebracht werden können. Die Sachprobleme, die mit ihnen verbunden sind, dienen mir zum einen als Hintergrund, vor dem ich im nächsten Abschnitt den Aufbau der Arbeit begründen kann; zum anderen werde ich auch im Laufe der Untersuchung auf sie Bezug nehmen. Da die ersten beiden Einwände komplexere Fragen ansprechen, werde ich sie in den Abschnitten 1.5 und 1.6 noch ausführlicher diskutieren. (1) Erstens kann argumentiert werden, dass Freiheit kein allgemeines Kennzeichen unserer vernünftigen Fähigkeiten sein kann, weil zu Freiheit nach gängiger Auffassung wesentlich ein Vermögen der willentlichen Wahl gehört, wir aber – so scheint es – in epistemischen Kontexten gerade keine Wahl haben: Wir können nicht Überzeugungen durch willentliche Entscheidungen annehmen, sondern wir sind von dem überzeugt, was am ehesten wahr erscheint. Dieser Konflikt zwischen der epistemischen Ausrichtung auf Wahrheit einerseits und der Bestimmung von Freiheit als Wahl andererseits steht also dem Gedanken einer Konzeption von Vernunft als Vermögen, das in all seinen Aspekten wesentlich durch Freiheit geprägt ist, entgegen. Ferner kann diesem Einwand zufolge der epistemischen Freiheit auch im Kontext einer Metaphysik der Freiheit nicht die Rolle zukommen, die Hegel und Brandom ihr zuweisen (s. den vorigen Abschnitt). 21 In diesem Zusammenhang wird auch der relevante Begriff der „Metaphysik“ deutlicher werden; vorläufig können wir ihn im Sinne der heute gängigen informellen Bedeutung bestimmen, der zufolge Metaphysik nach den grundlegenden Eigenschaften und Strukturen der Wirklichkeit fragt (vgl. z. B. van Inwagen (1998)).
1.3 Drei Einwände
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(2) Der zweite Einwand besagt, dass die Selbstbestimmung freier Vernunft mit der Möglichkeit metaphysischer Aussagen, wie sie im skizzierten Projekt eine zentrale Rolle spielen, inkompatibel ist. In der genaueren Diskussion dieses Punktes in Abschnitt 1.5 werden wir mehrere Strategien unterscheiden, die jeweils die Möglichkeit von Metaphysik einschränken oder ganz leugnen, um der Selbstbestimmung von Vernunft Rechnung zu tragen. Eine wichtige Option besteht hier in der Position Kants, dessen kritische Einschränkung der Möglichkeit von Metaphysik nicht zuletzt dazu dient, die illegitime, „despotisch[e]“ Autorität des Dogmatismus (KrV A IX) durch die Autonomie einer selbstkritischen Vernunft zu ersetzen. Wichtig ist in diesem Kontext aber auch der Gedanke, dass intellektuelle Selbstbestimmung wesentlich die freie und kreative Wahl zwischen verschiedenen theoretischen Ansätzen, Sprachen, Begriffsrahmen usw. einschließt und es deshalb nicht eine privilegierte Weise geben kann, wie die Wirklichkeit zu konzeptualisieren ist. Wie wir sehen werden, schränkt auch Brandom unter dem Eindruck dieses zweiten Punkts die Möglichkeit von Metaphysik in bestimmter Weise ein (5.1.1). Angesichts einer drohenden Inkompatibilität von Freiheit und Metaphysik stellt sich die Frage, wie eine Metaphysik der Freiheit entwickelt werden kann, die gerade die Möglichkeit vernünftiger Selbstbestimmung erklären soll – zumal wenn diese Metaphysik der Freiheit sehr starke Thesen umfasst, wie es bei Hegel der Fall ist. (3) Drittens kann schließlich eingewandt werden, dass die Begriffe von Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie, die wir bislang verwendet haben, zu unspezifisch erscheinen können, als dass konkreter philosophischer Nutzen aus ihnen zu ziehen wäre. Der Bereich von Phänomenen, den sie abdecken, ist nämlich – so dieser Einwand – zu groß und disparat, als dass ihnen klare Bestimmungen gegeben werden könnten: Praktische Freiheit in Wollen und Handeln zählt ebenso zu diesem Bereich wie alltägliche Überzeugungsbildung sowie intellektuelle Tätigkeit in komplexen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen. Selbst wenn ein einheitlicher Begriff von Freiheit gefunden werden kann, der all diese Bereiche abdeckt, ist doch wahrscheinlich, dass dieser Begriff nur sehr abstrakt sein kann und von verwandten Begriffen wie insbesondere „Vernunft“ nicht abgrenzbar ist. Damit wird dann freilich der Freiheitsbegriff auch seines spezifischen philosophischen Potentials beraubt. An diese Probleme werde ich im nächsten Abschnitt anknüpfen, wenn ich den Aufbau der Arbeit darstelle.
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1 Einleitung
1.4 Zum Vorgehen 1.4.1 Aufbau der Arbeit Das Ziel dieser Arbeit ist es, durch die Rekonstruktion wichtiger Teile von Hegels Freiheitstheorie in Auseinandersetzung mit Positionen der analytischen Philosophie und besonders mit den Arbeiten Brandoms die Grundzüge eines Freiheitsbasierten Selbst- und Weltverständnisses zu entwickeln, das auf die eingangs dargelegte systematische Problematik selbstbestimmter Vernunft antwortet. Es wäre allerdings kein aussichtsreiches Unterfangen, mit der Frage nach der Bestimmung von Freiheit direkt an Hegels Texte heranzutreten, relevante Passagen zu sammeln und zu versuchen, aus ihnen ein kohärentes Bild zu formen. Die Systematizität von Hegels Texten schließt ein solches Vorgehen ebenso aus wie die inhaltliche Natur seines Freiheitsverständnisses, das sich gegen viele gängige und scheinbar selbstverständliche Annahmen über Freiheit richtet. Auch eine rein historische Analyse der Genese von Hegels Freiheitsbegriff in der Auseinandersetzung mit Kant und den Positionen in der zeitgenössischen Freiheitsdebatte (C.C.E. Schmid, Reinhold, Jacobi, Fichte, Schelling usw.) könnte aus diesen Gründen keinen angemessenen Zugang zu den inhaltlichen Besonderheiten von Hegels Freiheitstheorie verschaffen. Um Hegels Freiheitstheorie verständlich und attraktiv zu machen, müssen wir vielmehr zunächst ein sachliches Problembewusstsein entwickeln, von dem her Hegels Perspektive auf das Thema Freiheit nachvollzogen werden kann. Hierzu dient mir das Sachproblem der epistemischen Freiheit, das ich im vorigen Abschnitt eingeführt habe und das ich in Abschnitt 1.6 noch genauer diskutieren werde. Das Ergebnis dieser Diskussion wird sein, dass epistemische Vernunft tatsächlich als von willentlicher Kontrolle unabhängig betrachtet werden sollte und daher der normativen, auf Freiheit basierenden Natur epistemischer Rationalität am besten dadurch Rechnung getragen wird, dass der Begriff der Freiheit vom Gedanken der willentlichen Kontrolle und Wahl entkoppelt wird.22 Wenn epistemische Freiheit unabhängig von willentlicher Wahl ist, hat dies zur Folge, dass der für ein Freiheits-basiertes Selbst- und Weltverständnis relevante Freiheitsbegriff auch insgesamt begrifflich von Wahlfreiheit getrennt werden muss. Willentliche Wahl kann dann lediglich ein spezifisches Kennzeichen praktischer Freiheit sein, statt zum eigentlichen Wesen von Freiheit zu gehören.
22 In Abschnitt 1.6 werde ich durch die Unterscheidung von deliberativer und dezisionistischer Wahl auch den relevanten Begriff von Wahl präzisieren.
1.4 Zum Vorgehen
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(Kapitel 2) Um den aus der Diskussion epistemischer Freiheit in Abschnitt 1.6 resultierenden Gedanken einer Freiheit ohne Wahl in sachlicher wie exegetischer Hinsicht weiter zu fundieren, betrachte ich in Kapitel 2 zunächst, wie Hegel die Freiheitsbegriffe sowohl der libertarischen als auch der kompatibilistischen Tradition als Varianten einer Wahlbasierten Identifikation von Freiheit mit „Willkür“ deutet (2.1) und kritisiert (2.2). In Abgrenzung von einem derartigen Freiheitsverständnis kann mit Hegel dafür argumentiert werden, dass Freiheit im Rahmen einer Konzeption von Autonomie erklärt werden sollte (2.5– 2.6). „Autonomie“ verstehe ich dabei als konstitutiven Zusammenhang von Freiheit, Selbst und Vernunft (bzw. Ausrichtung an Gründen oder vernünftigen Normen). Um die genauere Gestalt zu ermitteln, die eine solche Autonomie-Theorie von Freiheit annehmen muss, ziehe ich einen Einwand Hegels gegen Kant heran, nämlich das bereits in Abschnitt 1.2 angesprochene Problem der normativen Unterbestimmtheit bzw. das „Formalismus-Problem“, das Hegel in Kants Autonomie-Theorie von Freiheit identifiziert (2.6.2). Dieses Formalismus-Problem, das Hegel in Kants Konzeption praktischer und theoretischer Vernunft diagnostiziert, besteht darin, dass die Konstitution eines freien Selbst in der Ausrichtung an vernünftigen Normen nur dann nicht eine Sache willkürlicher Wahl oder zufälligen Gegebenseins ist, wenn auf rationale, nicht-willkürliche Weise ein Übergang von sehr abstrakten rationalen Normen (wie beispielsweise dem Kategorischen Imperativ) hin zu einem konkreten Selbst gemacht werden kann. (Kapitel 3) Eine verallgemeinerte Version dieses Formalismus-Problems bildet zugleich auch den positiven Ausgangspunkt, von dem her Hegel seine Freiheitstheorie entwickelt: Wie ist Selbstkonstitution auf rationale, nicht-willkürliche Weise möglich? In Kapitel 3 exponiere ich diese Problematik (3.2) und bestimme das Freiheitsverständnis, das hier bei Hegel zum Tragen kommt und für das er sich auf Kants Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe stützen kann, als „rationale Persistenz“ – als Fähigkeit zu kontrollierten rationalen Übergängen, die weder willkürlich noch zufällig sind. Die Frage nach der Möglichkeit dieser Persistenz und der Selbstkonstitution, die zu ihr führt, grenze ich von der verwandten, aber unterschiedenen Version des Problems normativer Unbestimmtheit bei Kant ab, die Brandom als die Ausgangsfrage von Hegels Freiheitstheorie und Metaphysik ansieht – nämlich das Problem der Genese bestimmten begrifflichen Gehalts (3.1). Aus der Fragestellung, die ich Hegel zu-
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1 Einleitung
schreibe, ergibt sich die Aufgabe der Identifikation von kategorialen Bestimmungen, die im Prozess rationaler Selbstkonstitution Anwendung finden können. Für Hegel erfordert dies einen weiteren Prozess der rationalen Selbstkonstitution auf einer abstrakten, theoretischen Ebene. Nach einer Interpretation, die ich in den Abschnitten 3.2 bis 3.4 entwickle, findet ein solcher Prozess im ersten Teil von Hegels System statt, der Wissenschaft der Logik („WdL“). Im Laufe der WdL wird im Ausgang von reiner, voraussetzungsloser Unbestimmtheit ohne Rekurs auf irgendeinen gegebenen Inhalt eine explizite Theorie der Grundbestimmungen des Denkens entwickelt. Diese Theorie identifiziert u. a. kategoriale Formen, die das Denken zu kontrollierten, transparenten Übergängen befähigen. Auf der Grundlage dieser Formen können in Hegels Sicht auch die kategorialen Bestimmungen von Prozessen der rationalen Selbstkonstitution auf der realen Ebene entwickelt werden. Neben der logisch-kategorialen Grundlegung des Denkens und damit indirekt auch der Freiheit konkreter Selbste beansprucht die WdL zugleich, die begrifflichen Grundstrukturen der Wirklichkeit zu identifizieren. Entsprechend sind in der WdL auch die Grundlagen von Hegels Metaphysik der Freiheit zu suchen. Damit kommt hier aber der zweite in Abschnitt 1.3 angesprochene Einwand zum Tragen, das problematische Verhältnis von Freiheit und Metaphysik: Der Anspruch, aus dem reinen Denken heraus die begrifflichen Grundbestimmungen der Wirklichkeit (und nicht etwa nur unseres Denkens, unserer Begriffsrahmen o. ä.) argumentativ zu entwickeln, entspricht offensichtlich einer stark metaphysischen Position, die in einem Widerspruch zu selbstbestimmter – mithin auch kritischer – Vernunft zu stehen scheinen kann. Dies hat viele der AutorInnen, die in den letzten Jahren Hegel aus analytischer Perspektive rezipieren (am prominentesten Robert Pippin), dazu gebracht, die metaphysische Dimension von Hegels Philosophie ganz zu leugnen und ihm stattdessen eine transzendentalphilosophische Kategorienlehre zuzuschreiben. Dagegen verteidige ich eine „metaphysische“ Interpretation von Hegels System und besonders der WdL (3.5); ich versuche zu zeigen, dass für Hegel der metaphysische Geltungsanspruch der WdL nicht im Widerspruch zur Freiheit steht, sondern vielmehr notwendig dafür ist, dass die WdL Ausdruck freien, selbstbestimmten und kritischen Denkens sein kann. – Auf der Grundlage dieser Deutung der WdL und ihres freiheitstheoretischen Stellenwerts betrachten wir anschließend einzelne Aspekte der WdL genauer, und zwar sowohl im Hinblick auf die
1.4 Zum Vorgehen
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logische Dimension der kategorialen Grundlegung von Freiheit (Kapitel 4) als auch im Hinblick auf die metaphysischen Konsequenzen, die sich daraus für die Grundbestimmungen der Wirklichkeit und des freien Geistes ergeben (Kapitel 5 und 6). (Kapitel 4) In Kapitel 4 gehe ich der Frage nach, welche Kategorien es genau sind, die für Hegel die logische Grundlegung von Freiheit bilden. Hier wird uns ein Hinweis Hegels in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (oder kurz: „Rechtsphilosophie“ bzw. GPhR) helfen: Die Erklärung des freien Willens, die er in der Einleitung zu diesem Text entwickelt, beruht auf einer logischen Bestimmung von Allgemeinheit, für die Hegel auf die Urteilslehre der WdL verweist. In Kapitel 4 untersuche ich daher, wie Hegel in der Urteilslogik verschiedene Formen von Allgemeinheit sowie – eng damit verbunden – von Notwendigkeit unterscheidet und in eine logische Hierarchie bringt. Dabei entwickelt Hegel eine nicht-traditionelle Auffassung davon, welche Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit paradigmatischen Charakter haben. Bei der Interpretation dieser Auffassung wird uns Brandoms These helfen, dass die Annahme eines Begriffsrealismus (im Rahmen einer Metaphysik der Freiheit, s. o.) die weitere These eines modalen Realismus impliziert – also eine Position, nach der modale Eigenschaften und Tatsachen objektive Realität haben und nicht nur, wie es der sowohl in der empiristischen als auch in der kantianischen Tradition sehr einflussreiche modale Antirealismus sieht, Eigenschaften unseres Urteilens ausmachen (4.2). Die Rekonstruktion von Hegels Argumentation in der Urteilslogik wird schließlich zu dem Ergebnis führen, dass die kategoriale Form, die uns in paradigmatischer Weise rationale Übergänge im Denken sowie das genuine Erkennen (für Hegel: das Verstehen bzw. „Begreifen“) einer Sache ermöglicht, eine teleologische Form von Allgemeinheit und Notwendigkeit ist (4.6). Im Sinne dieser teleologischen Allgemeinheits- und Notwendigkeitsform deute ich diejenige logische Struktur, die als „der Begriff“ (in Hegels terminologischem Sinne) eine zentrale Kategorie der WdL ausmacht. Um die teleologische Struktur des „Begriffs“ genauer zu verstehen, entwickle ich auf der Grundlage von Hegels Darstellung des „Urteils des Begriffs“ ein semantisches und metaphysisches Modell, dem zufolge sowohl natürliche Organismen als auch geistige Wesen sowie ihre Handlungen und Produkte durch „immanente“ Prinzipien bestimmt sind, die sich semantisch in einem Zusammenhang zwischen klassifikatorischer und evaluativer Rede äußern. Solche Prinzipien werden im Rahmen teleologischer
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Prozesse innerhalb eines „gleichgültigen“, dem Zweck „äußerlichen“ Mediums realisiert; sie ermöglichen eine intrinsische Bewertung sowie ein genuines Verstehen der jeweiligen Sache. Eine zentrale Rolle spielen hierbei explanatorische Beziehungen. Es ist eine weitere wichtige und fruchtbare Pointe der Hegelschen Urteilslogik, dass sie die Bedeutung solcher Beziehungen für das Urteilen (die häufig zu Gunsten der Rolle von Rechtfertigungsbeziehungen vernachlässigt wird) hervorhebt (vgl. 4.4.4). (Kapitel 5) Auf der Basis meiner Deutung der Urteilslogik entwickle ich in den folgenden beiden Kapiteln die metaphysischen Konsequenzen der Grundlegung von Freiheit in der WdL. Kapitel 5 untersucht dabei Hegels metaphysischen Idealismus. Ich beginne dabei mit einer kritischen Diskussion von Brandoms Einschränkung der Möglichkeit von Metaphysik (5.1.1), deren Motivation – gemäß dem zweiten der in Abschnitt 1.3 genannten Einwände – eng mit dem Freiheitsbegriff zusammenhängt. Hierauf baut meine Diskussion von Brandoms entsprechend abgeschwächter Deutung des Hegelschen Idealismus auf (5.1.2). In Abgrenzung zu Brandoms Interpretation entwickle ich eine alternative Interpretation des Hegelschen „absoluten Idealismus“, die insbesondere auf meiner Deutung der teleologischen Struktur des „Begriffs“ beruht (5.2). Ich unterscheide verschiedene „Grade“ von Hegels Idealismus, nämlich einen „Begriffsrealismus“, nach dem Begriffe als immanente, teleologische Erklärungsprinzipien innerhalb des „Mediums“ der anorganischen Natur objektiv existieren; einen „schwachen ontologischen Holismus“, nach dem diese objektiven Begriffe ihren Gehalt auf Grund ihrer Rolle in einem holistischen ontologischen System haben; und einen „starken ontologischen Holismus“, nach dem Aspekte der Wirklichkeit durch Rekurs auf einen das Ganze der Wirklichkeit umfassenden teleologischen Prozess, in dem das in der WdL entfaltete Kategoriensystem realisiert wird, erklärt werden. Nach Hegel umfasst eine konsequente Metaphysik der Freiheit alle drei Theorieebenen. (Allerdings wird sich in den Kapiteln 7 und 8 zeigen, dass wesentliche Aspekte von Hegels Freiheitstheorie auch ohne Rekurs auf seinen „starken ontologischen Holismus“ fruchtbar rezipiert werden können; die freiheitstheoretischen Implikationen des starken ontologischen Holismus untersuche ich in Kapitel 9.) (Kapitel 6) Ebenfalls auf der Grundlage meiner Deutung der WdL entwickle ich in Kapitel 6 allgemeine metaphysische Bestimmungen des Geistes und seines Verhältnisses zur Natur. Der Geist (und zwar zunächst im Sinne
1.4 Zum Vorgehen
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von individuellen endlichen Geistern; erst in Kapitel 9 thematisiere ich auch den „absoluten“ Geist) besteht für Hegel wesentlich in der Tätigkeit rationaler Selbstkonstitution. Derartige Selbstkonstitution erfolgt durch eine Befreiung des Geistes von der Natur. Diese Befreiung besteht in einem Prozess, in dem wir die ursprüngliche „natürliche“ Form unserer Zustände, Einstellungen usw. – nämlich eine Form der Vereinzelung und des Gegebenseins – in die vernünftige Form des „Begriffs“ mit seiner teleologischen Struktur transformieren (6.1). Wie dieser Transformationsprozess im Allgemeinen verstanden werden kann, betrachte ich zum einen in Bezug auf die normative Grundidentität, die allen vernünftigen Wesen gemeinsam ist und die selbst ein elementares Resultat dieses Prozesses darstellt (6.2); zum anderen identifiziere ich mehrere wesentliche Merkmale, die den Transformationsprozess insgesamt kennzeichnen (6.3), und bestimme die interne hierarchische Struktur des Geistes, die in diesem Prozess entfaltet wird (6.4). Schließlich wende ich mich der Frage zu, ob Freiheit in Hegels Sinn kompatibel mit dem Determinismus ist, und vertrete eine inkompatibilistische Deutung (6.5). (Kapitel 7) Nachdem ich somit Hegels logische und metaphysische Grundlegung von Freiheit rekonstruiert habe, wende ich mich spezifischen Freiheitsformen zu, um dem dritten der in Abschnitt 1.3 angeführten Einwände Rechnung zu tragen: der Gefahr, dass der Freiheitsbegriff in der Verallgemeinerung auf alle Phänomene von Vernunft seine spezifische Bedeutung verliert. Dieser Gefahr können wir entgegnen, indem wir die in den vorigen Kapiteln entwickelten allgemeinen Grundlagen von Freiheit auf spezifischere Phänomene der Freiheit zurückbeziehen. Die Aufgabe besteht dabei darin, jeweils zu verstehen, wie die teleologische Struktur des „Begriffs“ in den einzelnen Aspekten von Rationalität in Gestalt konkreter Prozesse der Selbstkonstitution zum Tragen kommt. In Kapitel 7 untersuche ich zunächst spezifisch epistemische Formen von Freiheit. Hegels Theorie unserer epistemischen Vermögen zeichnet sich durch pointierte Thesen aus, denen im Rahmen unserer Fragestellung ein plausibler Sinn verliehen werden kann. Hierzu zählt erstens die These, dass epistemische Vernunft „unmittelbar“ frei ist, weil hier die einzelnen Subjekte qua Träger der rationalen Grundidentität (vgl. 6.2) auftreten; diese normative „Gleichheit“ führt dazu, dass Potentiale für Konflikte und Unfreiheit, die im praktischen Bereich bestehen, im epistemischen Bereich kein Analogon haben (7.1). Zweitens zählt hierzu die These, dass alle epistemischen Vermögen (ins-
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1 Einleitung
besondere auch „Anschauung“ und „Vorstellung“) Formen des Denkens sind (7.2); und drittens die These, dass diese Vermögen in erster Linie durch logische, nicht etwa psychologische oder physiologische Eigenschaften voneinander unterschieden sind (7.3). Auf dieser Basis können den einzelnen epistemischen Vermögen verschiedene Formen von epistemischer Freiheit bzw. Unfreiheit zugewiesen werden. Das Denken im engeren Sinne wird dabei insgesamt als Prozess verständlich, in dem die in Anschauung und Vorstellung gegebenen Inhalte transformiert werden, was eine Leistung der epistemischen Befreiung und der Konstitution eines rationalen epistemischen Selbst darstellt (7.4). (Kapitel 8) Im Anschluss betrachte ich bestimmte Aspekte praktischer Freiheit. Dabei konzentriere ich mich speziell auf den Prozess praktischer Selbstkonstitution, in dem wir eine vernünftige, durch die teleologische Form des „Begriffs“ gekennzeichnete Willensstruktur herstellen müssen. Ich gehe von Hegels Behauptung aus, dass praktische gegenüber epistemischer Vernunft durch eine besondere „Partikularität“ gekennzeichnet ist (8.1). Um diese Partikularität zu erklären sowie die „Verallgemeinerung“ zu verstehen, in der nach Hegel die relevante Selbstkonstitution besteht, führe ich im Anschluss an Brandom und Korsgaard ein Modell ein, in dem ich pro-Einstellungen des Willens als inferentielle Festlegungen interpretiere (8.2). Im Rahmen dieses Modells können wir verschiedene Grade praktischer Allgemeinheit unterscheiden und praktische Identitäten als verallgemeinerte inferentielle Festlegungen interpretieren, die eine rationale Organisation der Willensstruktur ermöglichen (8.3). Dies führt aber zu der Frage, wie solche Identitäten ihrerseits rational gerechtfertigt werden können. Für eine diesbezügliche Erklärung stütze ich mich auf Hegels Theorie der „Sittlichkeit“, in der praktische Identitäten (Familienmitglied, Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, StaatsbürgerIn) auftreten, welche logisch von sozialen und politischen Institutionen abhängig sind. Ich bestimme diese Abhängigkeit genauer (8.4.1) und untersuche die Rechtfertigungsformen, die zum Tragen kommen, wenn die entsprechenden Institutionen – und mit ihnen auch die zugehörigen Identitäten – begründet werden sollen (8.4.2). (Kapitel 9) Das Schlusskapitel geht der Frage nach, inwiefern die zuvor behandelten Freiheitsformen auf Grund von prinzipiellen Defiziten durch eine höhere Form von Freiheit überwunden werden müssen. Brandom verortet eine solche ideale Form von Freiheit in einer balancierten Konstellation reziproker Anerkennung; diese hat einen Prozess
1.4 Zum Vorgehen
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der Verzeihung zur Voraussetzung, für dessen Analyse Brandom sich auf eine Schlüsselpassage der Phänomenologie des Geistes („PhG“) stützt (9.1). Ich diskutiere Probleme, mit denen Brandoms Theorie idealer Freiheit konfrontiert ist, und untersuche kontrastierend hierzu Hegels Theorie der „höchsten Freiheit“, die dem endlichen Geist zugänglich ist, indem er in Kunst, Religion und Philosophie sich selbst und seine Aktivität als Teilhabe an dem übergreifenden Realisierungsprozess des absoluten Geistes versteht. Wie wir sehen werden, expliziert Hegel diese Struktur in späteren Texten mit Hilfe einer religionsphilosophischen Deutung der Verzeihung (9.3). Diese Verzeihung kann, ebenso wie die spezifisch philosophische Gestalt von Freiheit, die wir zuletzt betrachten (9.4), als Schaffen einer höheren Form von „rationaler Persistenz“ verstanden werden. In ihr werden grundsätzliche Defizite von Freiheit überwunden, die in den niedrigeren Freiheitsgestalten die Kehrseite notwendiger Formen von Normalität sind.
1.4.2 Methodologische Aspekte (1) Das Verhältnis von historischem und systematischem Vorgehen. Auf Grund der komplexen Anlage von Hegels Texten und der differenzierten Struktur seiner Freiheitstheorie können wir Hegels Beiträge zu einem Freiheits-basierten Selbstund Weltverständnis nur angemessen interpretieren und in ihrem sachlichen Potential erschließen, indem wir Hegels Bestimmungen im Kontext des Systems sehen. Dies bringt freilich die Gefahr einer rein systemimmanenten Lektüre mit sich, die Hegel in erster Linie paraphrasiert.23 Ein solches Vorgehen, zu dem auch einige Abhandlungen zu Hegels Freiheitsbegriff tendieren24, trägt nichts zur argumentativen Beurteilung von Hegels Positionen bei; überdies erklärt es in Bezug auf Hegels Texte häufig nur obscurum per obscurius. Deshalb erscheint für die Interpretation Hegelscher Texte eine konsequente Orientierung an Sachproblemen nötig, die eine Perspektive für die Interpretation vorgeben. Freilich führt dies zur umgekehrten Gefahr, Hegel aus der Sicht von Fragestellungen und
23 Dies ist nicht die Bedeutung von „immanent“, in der Hegel von „immanenter Kritik“ spricht. Immanent ist eine Kritik, die eine Position auf Grund von deren eigenen Prämissen kritisiert. Wie Hegels Diskussionen anderer Autoren hinlänglich zeigen, bedeutet dies für ihn keineswegs, dass dafür nur die eigenen Begriffe und Argumentationsweisen dieser Position verwendet werden dürften. 24 Z. B. Roettges (1963); Reisinger (1967); Marx (1976); Angehrn (1977).
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Hintergrundannahmen zu lesen, die von seinen eigenen Positionen weit entfernt sind. So resultiert das entgegengesetzte Extrem eines Mangels an Sensibilität gegenüber Hegels Texten, der nicht nur zu exegetisch fragwürdigen Resultaten führt, sondern auch die Gefahr mit sich bringt, gerade diejenigen Punkte zu ignorieren, in denen Hegel interessante Alternativen zu heute gängigen Meinungen vertritt und von denen wir daher in besonderem Maße etwas lernen könnten.25 Offensichtlich ist es nötig, einen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen einer rein immanenten Paraphrase und einer Lektüre, die von unhinterfragten externen Prämissen ausgeht, zu beschreiten. Die Sachproblematik, die wir in diesem Kapitel relativ ausführlich entwickeln, soll einen Standpunkt bieten, der von Hegels Texten zunächst unabhängig, aber ihnen nicht fremd ist. Ferner bietet auch Brandom in seinen Arbeiten zu Hegel Ansätze zu einer Interpretation, die bei Hegel diejenigen Pointen sichtbar macht, welche der Paraphrase und der „äußerlichen“ Lektüre verschlossen bleiben müssen. In vielerlei Hinsicht stützt sich Brandom nämlich auf Gedanken bei Hegel, die gerade im Widerspruch zu geteilten Hintergrundannahmen innerhalb der analytischen Tradition stehen. Ein Beispiel ist die bereits angesprochene Thematik einer begrifflichen Struktur der Wirklichkeit (vgl. 1.2); ein weiteres Beispiel ist seine Einsicht in die Bedeutung modaler Bestimmungen und einer realistischen Deutung solcher Bestimmungen für die Annahme jener begrifflichen Struktur (vgl. 4.2, 5.1.2). Ferner ist Brandom, wie wir schon sahen, der Auffassung, dass die gängigen Fragestellungen in Sachen Freiheit oft irreführend sind, und dass alle Formen von Vernunft durch Freiheit gekennzeichnet sind. Derartige „heterodoxe“ Annahmen werden uns im Laufe der Untersuchung eine Hilfe sein, um sachliche Pointen bei Hegel herauszuarbeiten. – Nichtsdestotrotz sind auch Brandoms Arbeiten zu Hegel in vielerlei Hinsicht durch fehlende Nähe zum Text und durch ungeprüfte Hintergrundannahmen geprägt, die besonders in Bezug auf Hegels absoluten Idealismus (vgl. Kapitel 5) zum Tragen kommen.26 Wäh-
25 An diesem Problem kranken z. B. diejenigen Arbeiten, die für die Interpretation von Hegels Freiheitsbegriff allein auf die Rechtsphilosophie rekurrieren und die Rolle des Freiheitsbegriffs in den anderen Systemteilen – in der Logik ebenso wie in Hegels Theorie epistemischer Vernunft im „subjektiven Geist“ – vernachlässigen: vgl. die in Kap. 3, Fußnote 1 genannte Literatur. 26 Brandom rechtfertigt die Eigenheiten seiner Interpretation zwar durch eine eigene hermeneutische Theorie (vgl. Brandom (2002b), 90 ff.; RiPh 107 f.), die zwischen einer sachorientierten, durch die eigenen sachlichen Prämissen des Interpreten geleiteten „de-re-Interpretation“ und einer buchstäblichen „de-dicto-Interpretation“ unterscheidet. Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine erschöpfende Alternative, denn eine Interpretation kann auch sachorientiert verfahren und dennoch ein breiteres Spektrum an möglichen Prämissen als Deutungshorizont zugrunde legen als nur diejenigen, die der Interpret tatsächlich teilt.
1.4 Zum Vorgehen
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rend dies allerdings einige Kommentatoren dazu geführt hat, den exegetischen Ansatz Brandoms ganz zu verwerfen (z. B. Schnädelbach (2004)) oder lediglich Unterschiede zwischen Brandom und Hegel zu benennen (z. B. Wandschneider (2006); Houlgate (2007)), verfolge ich hier eine konstruktive Herangehensweise, die in erster Linie danach fragt, was wir jeweils von Brandom und von Hegel zur übergeordneten Fragestellung des Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnisses lernen können. Das Ziel, einen problemorientierten Mittelweg zwischen paraphrasierender und äußerlicher Interpretation einzuschlagen, bringt zwei wichtige Folgeprobleme mit sich. Erstens muss jede auch nur halbwegs kritische Hegel-Lektüre feststellen, dass Hegel gerade an entscheidenden Stellen zu wenig tut, um die Bedeutung und Tragweite des Dargestellten zu klären, die Argumentation in eine explizite und diskussionsfähige Gestalt zu bringen und jenseits der Verwendung technischer Termini die Verständigung mit anderen philosophischen Standpunkten und Begrifflichkeiten zu erleichtern. (Für unsere Fragestellung betrifft dies insbesondere Passagen wie die Einführung des Freiheitsbegriffes am Ende des zweiten Teils von Hegels WdL, der „Wesenslogik“; die Darstellung des „Urteils des Begriffs“ in der WdL; und die „offizielle“ Erklärung des freien Willens in §§ 21 ff. der Rechtsphilosophie mitsamt dem anschließenden Übergang zur Darstellung des „abstrakten Rechts“.) An solchen Stellen muss eine sachorientierte Interpretation in größere Distanz zum Text treten und eigene Begriffe, Thesen und Modelle einführen, vor deren Hintergrund das von Hegel Gesagte einen vertretbaren Sinn ergibt. In dieser Untersuchung mache ich von dieser Möglichkeit regelmäßig Gebrauch, ohne dass es möglich wäre, permanent den jeweiligen Grad von Nähe oder Distanz zum Hegelschen Text zu reflektieren oder gar exegetische Diskussionen und systematische Überlegungen säuberlich auf verschiedene Abschnitte zu verteilen. Ein zweiter Punkt betrifft den Umgang mit Hegels technischen Begriffen und Argumentationsformen. Dass Hegel ein eigenes philosophisches Vokabular und ein eigenes philosophisches Methodenverständnis entwickelt, ist eine direkte Konsequenz aus dem in Abschnitt 1.1 erwähnten Anspruch darauf, ein „System der Freiheit“ zu entwerfen, das nichts – nicht einmal seine eigenen Begriffe und Begründungsformen – als gegeben voraussetzt. Freilich hat diese Charakteristik des Hegelschen Systems in der Rezeption häufig die exakt gegenteilige Folge gezeitigt, dass Hegelsche Begriffe und Begründungsformen als gegeben vorausgesetzt wurden, ohne dass sie in explizierbarer Weise verstanden worden wären. In Bezug auf den Freiheitsbegriff betrifft diese Konsequenz besonders Hegels „offizielle“ Bestimmung von Freiheit als „Beisichsein im Andern seiner selbst“, die zur Lehrbuch-Formel für Hegels Freiheitsbegriff geworden ist. Was dieses „Beisichsein“ genau bedeutet und weshalb wir Freiheit ausgerechnet so verstehen
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sollten, wird dabei in der Regel nicht gefragt.27 Für unsere Zwecke empfiehlt es sich daher, andere und detailliertere Erklärungen von Freiheit bei Hegel heranzuziehen und auf diese Weise indirekt ein Verständnis der Formel vom „Beisichsein“ zu erarbeiten. Ferner ist jede Hegel-Interpretation mit Hegels Bestimmung der einzig angemessenen wissenschaftlichen Methode als Dialektik konfrontiert. Hier gilt gleichfalls, dass sich bei Hegel das, was er als dialektische Methode am Ende der WdL präsentiert, als das Resultat des Vollzugs freien, voraussetzungslosen Denkens ergibt. Stephen Houlgate betont daher zu Recht, dass die Dialektik keine Methode im gängigen Sinne ist, because it is not a manner of thinking that is applied by Hegel to a given subject matter, such as thought, and that could be applied by someone else (for example, Engels) to nature or human history. It is, rather, the manner in which concepts themselves develop and demand to be thought […]. (Houlgate (2006), 34 f.)
Entsprechend darf eine Hegel-Interpretation nicht so vorgehen, dass sie zuerst eine Deutung von Hegels Dialektik entwickelt oder annimmt, um dann die „Anwendung“ dieser Methode in Bezug auf den jeweils interessierenden Kontext zu betrachten. Vielmehr könnte Hegels Dialektik nur dadurch wirklich Rechnung getragen werden, dass die gesamte logische Struktur zunächst der WdL und dann der Realphilosophie im Detail offengelegt wird. Diese Aufgabe übersteigt nicht nur den Rahmen einer einzelnen Untersuchung bei weitem; es gibt auch in der Hegel-Forschung keinerlei Konsens zumindest über die groben Züge, die ein Verständnis dieser Struktur annehmen müsste. Angesichts der genannten Schwierigkeiten weise ich daher in dieser Untersuchung Hegels Dialektik nirgends eine begründende Rolle zu.28 Zur Argumentationsweise, die ich im Hinblick auf systematische Fragen gebrauche, sollte schließlich noch angemerkt werden, dass konkrete Fallbeispiele und Gedankenexperimente, wie sie in Diskussionen über einige der hier relevanten Themen – insbesondere epistemische Freiheit und Willensfreiheit – sehr großen Raum einnehmen, im Folgenden nur eine untergeordnete Rolle spielen werden. Daniel Dennett hat treffend dafür argumentiert, dass gerade die Debatten über Willensfreiheit am Gebrauch von „intuition pumps“ kranken, die einseitige
27 Eine Ausnahme bildet die hilfreiche Diskussion von „Beisichsein“ bei Wood (1990), 45 ff. 28 Entsprechend gehe ich auch nicht eigens auf Brandoms Versuch ein, die Hegelsche Dialektik und die mit ihr verbundene Theorie der Negation durch eine formale Inkompatibilitätssemantik zu rekonstruieren (vgl. insbesondere BSD Kap. 5 mit Appendix I). Dieser Versuch muss allerdings schon deshalb scheitern, weil er keinen Raum für die „immanente“ Bestimmung begrifflichen Gehalts lässt (vgl. 3.2.3).
1.4 Zum Vorgehen
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Intuitionen abrufen und eine differenzierte und ausgewogene Diskussion des komplexen Gebiets erschweren (Dennett (1984), 12 und passim). Auch Hegel wendet sich häufig explizit gegen besonders populäre Auffassungen von Freiheit (vgl. 2.1, 2.2) und erklärt pointiert: Über keine Idee weiß man es so allgemein, daß sie unbestimmt, vieldeutig und der größten Mißverständnisse fähig und ihnen deswegen wirklich unterworfen ist als [über] die Idee der Freiheit, und keine ist mit so wenigem Bewußtsein geläufig. (Enz. § 482 A, 10/301)
Eine kritische Herangehensweise an die Thematik der Freiheit, wie sie auch Brandom verfolgt, sollte daher skeptisch gegenüber dem sein, was Dennett das „Diktat der ‚Intuition‘“ nennt (Dennett (1984), 12), und sich nicht auf die Überzeugungskraft einzelner Beispiele und Gedankenexperimente verlassen. (2) Verwendete Texte. Gewöhnlich werden drei Entwicklungsphasen in Hegels Denken unterschieden: erstens die Phase der frühen Manuskripte zu theologischen und ökonomischen Fragen, der sogenannten „Jugendschriften“; zweitens die Periode der ersten Systementwürfe in der Frankfurter und Jenaer Zeit, der auch bekannte Abhandlungen wie „Die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie“ (1801), „Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie“ (1802) und „Glauben und Wissen“ (1802) angehören. Diese Periode gipfelt in der Phänomenologie des Geistes, die zugleich den Beginn von Hegels „reifer“ Phase markiert. In dieser Phase entwickelt Hegel mit dem Vorlesungskompendium Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (11817, 21827, 3 1830) die endgültige Form seines Systems; einzelne Systemteile führt Hegel in den Hauptwerken Wissenschaft der Logik und Grundlinien der Philosophie des Rechts genauer aus. Während die Hegel-Schule zunächst das reife System rezipiert – insbesondere die Rechtsphilosophie und die edierten Vorlesungsmanuskripte und -nachschriften zur Geschichts- und Religionsphilosophie –, erwacht zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neues Interesse an den „Jugendschriften“ und den Systementwürfen der Jenaer Zeit mit ihren theologischen (oder, je nach Deutung, anti-theologischen), ökonomischen und politischen Positionen. Im Zuge dieser Neubewertung rückt auch die PhG in den Mittelpunkt der Hegel-Rezeption. Erst etwa seit den 1970er Jahren ist dagegen wieder ein größeres Interesse am reifen Hegel und besonders an der WdL zu verzeichnen. Brandom stützt sich nun in erster Linie auf die PhG, und zwar mit gutem Grund: Wie wir an einigen Stellen der Untersuchung sehen werden, sind in diesem Werk für Hegel diejenigen intersubjektiven und pragmatischen Aspekte von Rationalität besonders wichtig, an denen Brandom vorrangig interessiert ist. Dagegen beziehe ich mich in dieser Untersuchung primär auf das reife System, das Hegel ab der WdL von 1812 entwickelt. Erstens wird nämlich erst hier der Freiheitsbegriff explizit zum Schlüsselbegriff, während in der PhG „Freiheit“ eher
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noch kritisch für defizitäre Phänomene von Willkür, Destruktion usw. steht.29 Zweitens ist auch Hegels Metaphysik der Freiheit im reifen System sehr viel expliziter entwickelt als in der PhG, die primär Bewusstseinsgestalten, nicht Grundstrukturen der Wirklichkeit thematisiert.30 Im Gegensatz zu den meisten neueren Interpretationen von Hegels Freiheitsbegriff, die sich auf die Rechtsphilosophie beschränken31, ziehe ich dabei das ganze reife System heran. Eine thematische Einschränkung nehme ich dabei nur insofern vor, als ich Fragen politischer Freiheit, wie Hegel sie in der Rechtsphilosophie erörtert, ausklammere. (Im Zusammenhang mit Hegels Texten stellt sich auch das Problem der „Zusätze“, die die Herausgeber der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie zu vielen Paragraphen aus Manuskripten und Nachschriften von Vorlesungen kompiliert haben. Da heute die Quellenlage und damit die Authentizität dieser Zusätze nicht mehr nachvollziehbar ist, zitiere ich sie nur in zwei Fällen: (a) in dem Fall, dass der jeweilige Gedanke auch in Originaltexten Hegels oder in Vorlesungsnachschriften nachweisbar ist; und (b) in dem Fall, dass der Zusatz eine hilfreiche Erläuterung bietet, bei der es nicht entscheidend ist, ob es sich bei ihr um eine Erklärung Hegels oder um eine plausible Interpretation aus „zweiter Hand“ handelt.) Ferner sollte ich auch kurz erläutern, auf welche Texte Brandoms ich mich im Laufe der Untersuchung beziehe. In Making It Explicit (1994) (und der Kurzfassung davon, Articulating Reasons (2000)) entwickelt Brandom eine Theorie, die eine inferentialistische Semantik mit einer normativen Pragmatik verbindet. Begrifflichen Gehalt deutet Brandom dabei als Funktion in inferentiellen Zusammenhängen; das diskursive Beherrschen solcher Zusammenhänge, das für ihn das Demarkationskriterium rationaler Wesen gegenüber der Natur bildet, erklärt Brandom als Partizipation an der normativen, wesentlich durch soziale Perspektivendifferenzen strukturierten Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen. Im Rahmen dieser Theorie interpretiert Brandom solche wichtigen begrifflichen Instrumentarien wie logisches Vokabular (z. B. logische Operatoren) und semantisches Vokabular (z. B. das Wahrheitsprädikat) als expressive Mittel, durch die wir begrifflich explizit machen können, was im Rahmen einfacherer Praktiken in Form von pragmatischen Fähigkeiten (z. B. Begriffsbeherrschung, Beherrschung inferentieller Verknüpfungen) implizit ist. Diesen Gedanken entwickelt Brandom in Between Saying and Doing, den Oxforder Locke Lectures von 2006, weiter; dort konstruiert er einen allgemeinen Theorierahmen, in dem semantische und prag29 Vgl. z. B. die Abschnitte über Stoizismus und über „Die absolute Freiheit und der Schrecken“. Eine ähnliche Rolle spielt Freiheit auch im Jenaer „System der Sittlichkeit“. 30 Zur Frage nach dem Stellenwert der PhG im reifen System vgl. Kap. 3, Fußnote 48. 31 Vgl. Kap. 3, Fußnote 1.
1.4 Zum Vorgehen
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matische Beziehungen zwischen einzelnen Vokabularen ausgedrückt werden können. Neben dem „analytischen Pragmatismus“ der Locke Lectures besteht eine zweite Weiterentwicklung der in Making It Explicit vorgelegten Theorie in Brandoms Aneignung von Hegel. In einer Reihe von Aufsätzen – darunter besonders „Holism and Idealism in Hegel’s Phenomenology“ und „Some Pragmatist Themes in Hegel’s Idealism“ – sowie den Woodbridge Lectures von 2007, „Animating Ideas of Idealism“ (veröffentlicht in Reason in Philosophy (2009)) entwickelt Brandom Teile einer Interpretation von Hegels Phänomenologie des Geistes, deren vollständige Darstellung das Buch A Spirit of Trust. A Semantic Reading of Hegel’s Phenomenology bieten soll.32 Im Mittelpunkt von A Spirit of Trust steht eine Theorie der Genese bestimmten begrifflichen Gehaltes; dass Begriffe bestimmte Bedeutungen haben, hatte Brandom in Making It Explicit unhinterfragt vorausgesetzt, während er nun im Anschluss an Hegel eine Erklärung hierfür entwickelt. Diese Erklärung umfasst eine differenziertere normativ-pragmatische Theorie der intersubjektiven Voraussetzungen von Rationalität, als Brandom sie in Making It Explicit geboten hatte; eine metaphysische Theorie im Sinne der in Abschnitt 1.2 angesprochenen Metaphysik der Freiheit, die in Making It Explicit nur am Rande skizziert wird; sowie eine hegelianische Handlungstheorie, die Brandom als Paradigma für die prozessuale Bestimmung begrifflichen Gehaltes dient. In diesem Kontext entwickelt Brandom ferner auch seinen Freiheitsbegriff. Ich beziehe mich in dieser Untersuchung daher vorwiegend auf A Spirit of Trust und die Zusammenfassung wichtiger Punkte daraus in „Animating Ideas of Idealism“, daneben aber auch auf die anderen genannten Werke sowie eine Reihe weiterer Aufsätze. – Nachdem ich nun die Fragestellung der Untersuchung und mein Vorgehen erläutert habe, wende ich mich in den letzten beiden Abschnitten dieses Kapitels einer vorbereitenden Diskussion von zwei der in Abschnitt 1.3 genannten Sachproblemen zu, die im Laufe der Untersuchung immer wieder eine Rolle spielen: das problematische Verhältnis von Freiheit und Metaphysik und das Problem der epistemischen Freiheit.
32 Zur Zeit der Veröffentlichung dieser Arbeit ist A Spirit of Trust noch nicht publiziert. Vier Kapitel aus dem Buch sind bereits als Aufsätze erschienen („Sketch of a Program for a Critical Reading of Hegel“; „Some Pragmatist Themes in Hegel’s Idealism“; „Holism and Idealism in Hegel’s Phenomenology“; „The Structure of Desire and Recognition“), die Rohfassung von vier weiteren Kapiteln hat Brandom im Internet zugänglich gemacht (vgl. Bibliographie).
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1 Einleitung
1.5 Metaphysik, Kritik und Freiheit Eine der in Abschnitt 1.3 skizzierten Schwierigkeiten für den Gedanken eines auf Freiheit gründenden Selbst- und Weltverständnisses besteht darin, dass wichtige Positionen der Metaphysikkritik die Möglichkeit von Metaphysik gerade mit dem Ziel ganz bestritten oder zumindest begrenzt haben, unserer Freiheit Rechnung zu tragen. Im Folgenden unterscheide ich drei für unsere Zwecke relevante Ausprägungen von Metaphysikkritik. (1) Der erste Ansatz argumentiert, dass Metaphysik eine Form von Unfreiheit darstellt und daher um der Möglichkeit von Freiheit willen durch Kritik begrenzt oder ganz als unmöglich erklärt werden muss. Für Kant ist einerseits die kritische Selbsterkenntnis der Vernunft ein Paradigma verantwortungsvollen, mithin selbstbestimmten Vernunftgebrauchs; die Freiheit der Kritik ist für ihn dem „Despotism der Schulen“ (KrV B XXXV) entgegengesetzt (vgl. O’Neill (1989), Kap. 1). Umgekehrt kennzeichnet Kant metaphysische „Schwärmerei“ als Form der intellektuellen Gesetzlosigkeit, die ihm zufolge einer degenerierten Form von Freiheit entspricht und, wie wir schon sahen, mangels anderweitiger Bestimmung erneut die Unterwerfung unter einen fremden Despotismus herbeiführt (AA 8/145). Die Notwendigkeit einer kritischen Begrenzung unserer Erkenntnisfähigkeit beruht dabei für Kant darauf, dass die menschliche theoretische Vernunft selbst nur unter der Bedingung einer rationalen Einschränkung, nämlich durch mögliche oder wirkliche Erfahrung, erkenntnisfähig ist. Kant drückt diesen Gedanken u. a. im folgenden bekannten Bild aus. Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Eben so verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseit derselben auf den Flügeln der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Widerhalt gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen und woran er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen. (KrV B 8 f.)
Menschliche Erkenntnis erfordert nach Kant eine Einschränkung des Denkens durch mögliche oder wirkliche Erfahrung; erkenntniserweiternde Urteile sind für Kant nur möglich, wenn wir uns neben den Begriffen von Subjekt und Prädikat auf ein Drittes außerhalb des reinen Denkens stützen können, nämlich entweder tatsächliche Erfahrung (synthetische Urteile a posteriori) oder die Möglichkeit von Erfahrung (synthetische Urteile a priori) (KrV B 194 f.; vgl. KrV B 13). Metaphysik ist deshalb nach Kants Auffassung nur kompatibel mit selbstbestimmter Vernunft, sofern sie auf den Bereich wirklicher oder möglicher Erfahrung eingeschränkt wird. Ohne eine solche Begrenzung, die die für Erkenntnis nötige
1.5 Metaphysik, Kritik und Freiheit
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rationale Einschränkung des Denkens – entsprechend Brandoms und McDowells Forderung des „rational constraint“ – bereitstellt, resultiert die unfreie „Anarchie“ der Schwärmerei. Während bei Kant diese Metaphysikkritik zu einer Neubegründung von Metaphysik führt, die freilich mit den Grundsätzen des reinen Verstandes nur einen deutlich eingeschränkten Bereich an metaphysischen Aussagen zulässt, vertreten im 20. Jahrhundert die Mitglieder des Wiener Kreises eine radikalere Form der Metaphysikkritik. Diese beruht auf dem Verifikationsprinzip der Sinnhaftigkeit und Bedeutung, das noch einen wesentlichen Schritt weiter als Kants kritische Theorie kognitiven Gehalts geht: Bei Kant kann nur Gegenstand von Erkenntnis sein, was entweder selbst in Erfahrung gegeben ist bzw. gegeben werden kann, oder aber durch Bezug auf die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt beweisbar ist. Nach dem Verifikationsprinzip dagegen ist die zweite Option, die des synthetischen Urteils a priori, ausgeschlossen, und Sätze erhalten nur durch Bezug auf einzelne Elemente von Erfahrung kognitiven Gehalt – und sogar (anders als bei Kant) erst Sinn und Bedeutung: Ob ein Satz überhaupt Sinn hat, und wenn ja, welche Bedeutung er hat, wird demnach durch die Methode seiner Verifikation festgelegt. Typischerweise können für metaphysische Aussagen keine allgemein akzeptierten Verifikationsmethoden angegeben werden, weil diese ex hypothesi den Bereich möglicher Verifikation übersteigen. Hieraus folgern Autoren wie der frühe Carnap und andere Philosophen im Umfeld des Wiener Kreises, dass metaphysische Aussagen insgesamt keinen Sinn haben. Die resultierende Ablehnung von Metaphysik begreifen die Vertreter des Wiener Kreises als Teil einer fortgesetzten Aufklärung, einer intellektuellen Befreiung von Mythologien und Illusionen (vgl. z. B. Carnap (1931), 239 f.). Bei aller sonstigen Verschiedenheit teilen Kant und die logischen Positivisten also zwei Thesen: Erfahrung ist die einzige Instanz, die dem Denken den für Erkenntnis nötigen, willkürliche Schwärmerei ausschließenden „Widerhalt“ (KrV B 9) bieten kann33; und: Die Einsicht in diese Begrenzung ist ein Akt der intellektuellen Befreiung. Beide Ansätze bleiben freilich eine hinreichende Rechtfertigung für ihre grundlegende Annahme schuldig, dass es außer denjenigen Quellen für Bedeutung und Gehalt, die sie jeweils anerkennen, keine weiteren derartigen Quellen geben kann. Dennoch hat die skizzierte Art von Metaphysikkritik gerade für die Auseinandersetzung mit Hegel eine besondere Bedeutung: Eine wichtige exegetische Frage ist nämlich die, wie er angesichts seines absoluten Idealismus gegen den Vorwurf verteidigt werden kann, in eine vorkantische, dogmatische Metaphy-
33 Vgl. Stroud (1968) zum Zusammenhang zwischen Transzendentalphilosophie, transzendentalen Argumenten und Verifikationismus.
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1 Einleitung
sik zurückzufallen. Wie ich im Laufe der Arbeit argumentieren werde (vgl. 3.5), sollte eine solche Verteidigung aber nicht so aussehen, dass Hegels Theorie selbst nur als kritisch begrenzte, transzendentalphilosophische Kategorienlehre gedeutet wird – wie es Vertreter sogenannter „nicht-metaphysischer“ Lesarten Hegels vorgeschlagen haben, am prominentesten Pippin (in Pippin (1989)).34 Vielmehr werde ich versuchen zu zeigen, dass Hegel über eine Theorie verfügt, nach der das Denken gerade keiner Einschränkung (Kants „Widerhalt“) von außen bedarf, um etwas erkennen zu können, sondern begrifflichen und kognitiven Gehalt durch einen selbstbestimmten gedanklichen Prozess zu entwickeln vermag. In kritischer Auseinandersetzung mit Kant sieht Hegel hierin die Möglichkeit einer Metaphysik gerechtfertigt, die nicht auf Erfahrung rekurrieren muss (vgl. 3.5). (2) Der zweite Gesichtspunkt, unter dem eine Inkompatibilität von Freiheit mit Metaphysik gesehen werden kann, ergibt sich, wenn die Autonomie der Vernunft als letztlich rein praktische Angelegenheit verstanden wird. Wenn unser Standpunkt als freie Vernunftwesen rein praktisch verstanden wird und unsere Vernunft zugleich autonom ist, dann kann dieser Standpunkt nicht den Rekurs auf eine in der Wirklichkeit vorgegebene normative Ordnung nötig machen; vielmehr muss es sich bei ihm um eine „mit völliger Spontaneität“ entworfene „eigene Ordnung nach Ideen“ handeln, wie Kant es ausdrückt (KrV B 576).35 Derartige autonom entworfene praktische Ordnungen sind aber selbst präskriptiver, nicht deskriptiver Art, weshalb kein Raum für eine metaphysische Selbstverortung der freien Vernunft im Ganzen der Wirklichkeit besteht. So hat für Kant der praktische Standpunkt – und damit der Standpunkt, von dem aus wir uns als freie Vernunftwesen interpretieren – zwar durchaus deskriptive Konsequenzen, Implikationen oder Voraussetzungen, doch handelt es sich für Kant hierbei dezidiert nicht um metaphysisches Wissen.36 Eine moderne Ausprägung einer derartigen praktizistischen Position hat Sellars bezüglich der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem logischen Raum der Gründe und dem naturwissenschaftlichen Weltbild vertreten. Sellars glaubt, dass der logische Raum der Gründe in ein naturwissenschaftliches Weltbild integriert werden kann, ohne reduziert zu werden; er beschreibt diese Integration als die
34 Ich diskutiere Pippins Interpretation in Abschnitt 3.5. 35 DeVries deutet diese Implikationen von Kants Konzeption autonomer Vernunft auch als Motivation für seine theoretische Metaphysikkritik: deVries (2009), 226 ff. 36 Und zwar weder in Kants spezifischem Sinne von Metaphysik noch allgemeiner als Wissenschaft von den Grundbestimmungen des Wirklichen. Stattdessen gebraucht Kant den Begriff einer „Metaphysik der Sitten“ und knüpft damit an eine Tradition an, die das Sein von Personen aus dem Gegenstandsbereich der Metaphysik im gängigen Sinne ausklammert: vgl. Kobusch (1993).
1.5 Metaphysik, Kritik und Freiheit
35
„Fusion“ des „manifesten Bildes“ – desjenigen Weltbildes also, in dem wir uns als freie, vernünftige Personen begreifen – mit dem „wissenschaftlichen Bild“ (vgl. Sellars (1991c)). Von den Naturwissenschaften haben wir nach Sellars die korrekte Beschreibung der gesamten Wirklichkeit einschließlich unserer selbst zu erwarten (Sellars’ Wissenschaftlicher Realismus), doch muss das wissenschaftliche Weltbild durch eine zusätzliche, irreduzible evaluative Dimension ergänzt werden. Diese Evaluation ist Ausdruck von eigenen sowie von kollektiven Intentionen, die die Gemeinschaft der Vernunftwesen definieren, die moralisch verbindlich sind und die Grundlage jeglicher (auch epistemischer) Normativität bilden (Sellars (1991c), 39 f.; vgl. Sellars (1968), Kap. 7). Der Standpunkt des logischen Raums der Gründe besteht in der evaluativen Perspektive, die hierdurch eingenommen wird. Eine „Fusion“ dieses Standpunktes mit dem der Naturwissenschaften ist für Sellars deshalb möglich, weil der Standpunkt des „manifesten Bildes“ nicht selbst eine alternative Deskription der Wirklichkeit enthält, sondern lediglich die aus dem „wissenschaftlichen Bild“ bezogene Deskription im Lichte der geteilten, moralisch verbindlichen Ziele betrachtet. Es liegt hier also kein Konflikt zweier miteinander inkompatibler deskriptiver Systeme vor: [T]he conceptual framework of persons is not something that needs to be reconciled with the scientific image, but rather something to be joined to it. Thus, to complete the scientific image we need to enrich it not with more ways of saying what is the case, but with the language of community and individual intentions, so that by construing the actions we intend to do and the circumstances in which we intend to do them in scientific terms, we directly relate the world as conceived by scientific theory to our purposes, and make it our world and no longer an alien appendage to the world in which we do our living. (Sellars (1991c), 40)
Dies bedeutet aber: In metaphysischer Hinsicht ist für Sellars die Naturwissenschaft das Maß der Dinge; was wir als existent ansehen und wie wir die Gesamtheit der Wirklichkeit theoretisch deuten, wird durch die jeweils besten wissenschaftlichen Theorien festgelegt. Das manifeste Weltbild dagegen hat keinen genuin deskriptiven Gehalt, sondern stellt lediglich eine durch unsere Vernunftnatur vorgegebene Bewertungsperspektive dar. Nach Sellars ist also keine metaphysische Verortung unserer selbst im Ganzen der Wirklichkeit möglich; es gibt lediglich auf der einen Seite die metaphysischen Annahmen der Naturwissenschaft, die inhaltlich vom Standpunkt der Freiheit ganz abstrahieren, und auf der anderen Seite die Annahmen des manifesten Weltbildes, die keine Erkenntnisfunktion haben.37
37 Vgl. dazu auch die hilfreiche Gegenüberstellung von Sellars’ Naturalismus mit Kants und Hegels idealistischen Positionen in deVries (2009), 230 ff.
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1 Einleitung
(3) Die dritte Ausprägung einer freiheitstheoretisch begründeten Metaphysikkritik ergibt sich aus einem bestimmten Verständnis von Autonomie. Dieses Verständnis ist historisch stark von einer Interpretation menschlicher Freiheit beeinflusst, der zufolge Freiheit im Wesentlichen die Fähigkeit zur ungebundenen Wahl zwischen verschiedenen Optionen ist. Jede vorgegebene Orientierung für das Handeln kompromittiert die so verstandene Freiheit. Auf der Grundlage dieses einflussreichen Freiheitsverständnisses, dessen Rolle für Diskussionen über den Freiheitsbegriff wir im folgenden Kapitel näher betrachten werden (vgl. 2.1), kann autonome Vernunft als selbstbestimmte Tätigkeit verstanden werden, die sich ihre Regeln selbst durch freie Wahl gibt. Nach einer derartigen Auffassung richtet sich autonome Vernunft nicht nur qua praktischer Vernunft, sondern per se nicht nach vorgegebenen Ordnungen, sondern entwirft sich spontan ihre eigenen Ordnungen. Insofern Metaphysik auf eine Erkenntnis vorgegebener Ordnungen zielt, ist sie nach dieser Konzeption Ausdruck von Unfreiheit. Metaphysikkritische Positionen dieser Art können einer pragmatistischen Tradition der Metaphysikkritik zugerechnet werden. Dieser Tradition gehören so unterschiedliche Autoren wie William James38, Hans Vaihinger39, der späte Wittgenstein, Rudolf Carnap und Richard Rorty an; auch bei Brandom spielt diese Form von Metaphysikkritik eine wichtige Rolle (vgl. 5.1.1). Der Grundgedanke der pragmatistischen Metaphysikkritik kann folgendermaßen genauer formuliert werden. Metaphysische Fragestellungen betreffen nicht einzelne Tatsachen, die empirisch zu klären sind, sondern die Begriffsrahmen, theoretischen Paradigmen, Kategoriensysteme usw., innerhalb derer wir einzelne Tatsachen feststellen. Metaphysik im herkömmlichen Sinne ist nur möglich, wenn wir sinnvoll danach fragen können, welcher Begriffsrahmen der Wirklichkeit am nächsten kommt – welche Begriffe die Grundstruktur der Wirklichkeit am ehesten erfassen. Nun besteht aber – so die pragmatistischen Kritiker – die Funktion von Begriffsrahmen, Sprachen usw. nicht einfach darin, die Wirklichkeit möglichst getreu abzubilden. Sprachen sind nach der pragmatistischen Auf-
38 Vgl. z. B. James (1911), 61 ff.: „Experience is a process that continually gives us new material to digest. We handle this intellectually by the mass of beliefs of which we find ourselves already possessed, assimilating, rejecting, or rearranging in different degrees. Some of the apperceiving ideas are recent acquisitions of our own, but most of them are common-sense traditions of the race. […] They [sc. abstrakte Begriffe wie „Raum“, „Zeit“, „Materie“, „Geist“] proved of such sovereign use as denkmittel that they are now a part of the very structure of our mind. We cannot play fast and loose with them. No experience can upset them. On the contrary, they apperceive every experience and assign it to its place. To what effect? That we may the better foresee the course of our experiences, communicate with one another, and steer our lives by rule. Also that we may have a cleaner, clearer, more inclusive mental view“. 39 Vgl. Fußnote 43 in diesem Kapitel.
1.5 Metaphysik, Kritik und Freiheit
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fassung vielmehr Instrumente, derer wir uns für unsere praktischen Ziele bedienen. Hieraus kann auf zweifache Weise eine metaphysikkritische Konklusion gewonnen werden. Erstens kann argumentiert werden, dass es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass die Grundstruktur der Wirklichkeit unseren praktischen Zielen entspricht und die für diese Ziele am besten geeigneten sprachlichen Instrumente in besonderem Maße objektiv sind. Zweitens sind unsere praktischen Ziele enorm vielfältig. Entsprechend gibt es eine pluralistische Vielfalt von Begriffsrahmen, die jeweils unterschiedlichen Zwecken dienen; die Frage danach, welcher dieser Begriffsrahmen der Wirklichkeit am nächsten kommt, kann nicht sinnvoll gestellt werden, weil sie unzulässigerweise von einer einheitlichen Funktion der Sprache, nämlich der Deskription, ausgeht. Metaphysik kann allenfalls in einem viel schwächeren Sinn betrieben werden, indem jeweils einzelne mögliche Begriffsrahmen untersucht und verglichen werden. Im Folgenden betrachte ich diese Strategie der Metaphysikkritik exemplarisch am Beispiel des späteren Carnap; dabei werden wir auch schon sehen, wie sich Brandom diesbezüglich der Position Carnaps anschließt. In Abschnitt 5.1.1 werden wir auf diese Variante der Metaphysikkritik zurückkommen und Brandoms Position genauer diskutieren. In seinem einflussreichen Aufsatz „Empiricism, Semantics and Ontology“ (Carnap (1967)) unterscheidet Carnap zwischen zwei zulässigen Interpretationen, die wir ontologischen Fragen über bestimmte Klassen von Entitäten geben können: Wir können sie entweder als Fragen behandeln, die die Wahl desjenigen Begriffsrahmens betreffen, in dem wir über jene Entitäten reden („externe Fragen“), oder als Fragen, die innerhalb dieses Begriffsrahmens angesiedelt sind („interne Fragen“). Während interne Fragen über die Existenz von Entitäten bestimmter Art trivial positiv zu beantworten sind40, können externe Fragen, so Carnap, nur an Hand von pragmatischen Kriterien entschieden werden. In welchem Begriffsrahmen wir die Wirklichkeit konzeptualisieren, hängt also davon ab, welche Bedürfnisse wir haben (welche internen Fragen uns interessieren, wie sehr uns an Faktoren wie Eleganz, Einfachheit usw. liegt). Demnach hat es keinen Sinn zu fragen, welcher Begriffsrahmen privilegiert ist und die logische Struktur der Wirklichkeit am besten wiedergibt. Diesen Pragmatismus vertritt Carnap mit einer spezifischen Motivation, die oft zu wenig beachtet wird. Es geht Carnap nicht etwa darum, die Möglichkeit genuinen Wissens zu negieren oder zu relativieren, indem er – im Sinne des klassischen Pragmatismus – Wahrheit und Wissen von instrumentell-praktischen
40 Indem wir einen Begriffsrahmen tatsächlich verwenden, legen wir uns darauf fest, dass relevante Begriffe in ihm nicht-leere Extension haben.
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Zwecksetzungen abhängig macht.41 Vielmehr verfolgt Carnap in seiner späteren Position ein Programm der Aufklärung, das allerdings von dem Aufklärungsgedanken seiner frühen, verifikationistischen Phase deutlich unterschieden ist. Wie die moderne Logik zeigt, so der späte Carnap, haben wir unbeschränkte Möglichkeiten in der Konstruktion neuer Vokabulare und Begriffsrahmen, die unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung tragen.42 Hierdurch können wir Hindernisse im Deuten, Verstehen und Kommunizieren von wissenschaftlicher Erkenntnis überwinden, die in tradierten Sprachen bestehen, und somit in idealer Weise von jener Erkenntnis profitieren (vgl. Carus (2007b), 38). Ein kreativer Pluralismus von Sprachen schafft daher für Carnap Aufklärung und intellektuelle Befreiung, während die traditionelle Philosophie daran krankt, dass sie die Diversität von Sprachen als Differenz ontologischer Standpunkte missversteht und dadurch ontologische Diskussionen in Gang setzt, die prinzipiell nicht entscheidbar sind. Diesen metaphilosophischen Standpunkt, der sein Denken ab Die logische Syntax der Sprache (1934) dominiert, fasst Carnap im sogenannten „Toleranzprinzip“ zusammen. Die „offizielle“ Formulierung dieses Prinzips lautet so: „[W]ir wollen nicht Verbote aufstellen, sondern Festsetzungen treffen“ (Carnap (1968), 44 f.). Was Carnap damit meint, wird in der folgenden Erläuterung klarer: In der Logik gibt es keine Moral. Jeder mag seine Logik, d. h. seine Sprachform, aufbauen wie er will. Nur muß er, wenn er mit uns diskutieren will, deutlich angeben, wie er es machen will, syntaktische Bestimmungen geben anstatt philosophischer Erörterungen. (Carnap (1968), 45)
41 Freilich ist es seit jeher Gegenstand einer Kontroverse, ob die klassischen Pragmatisten nicht selbst statt instrumenteller Zwecke aufklärerische und intellektuelle Ziele im Sinne haben, wenn sie – wie besonders James es tut – Wahrheit unter Rekurs auf Zwecke definieren. Vgl. hierzu etwa den Austausch zwischen Brandom (der den klassischen Pragmatisten die instrumentalistische Position zuschreibt und sie dafür kritisiert) und Putnam (der die entgegengesetzte Deutung verteidigt) in Conant/Zeglen (2002). 42 Vgl. Carnap (1963), 68: „Only later, when I became acquainted with the entirely different language forms of Principia Mathematica, the modal logic of C. I. Lewis, the intuitionistic logic of Brouwer and Heyting, and the typeless systems of Quine and others, did I recognize the infinite variety of possible language forms. On the one hand, I became aware of the problems connected with the finding of language forms suitable for given purposes; on the other hand, I gained the insight that one cannot speak of ‚the correct language form‘, because various forms have different advantages in different respects. The latter insight led me to the principle of tolerance. Thus, in time, I came to recognize that our task is one of planning forms of languages. Planning means to envisage the general structure of a system and to make, at different points in the system, a choice among various possibilities, theoretically an infinity of possibilities, in such a way that the various features fit together and the resulting total language system fulfills certain given desiderata“.
1.5 Metaphysik, Kritik und Freiheit
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Hinter Carnaps Toleranzprinzip stehen allgemeinere metaphilosophische und auch kulturpolitische Auffassungen, die sich durch verschiedene Phasen von Carnaps Schaffen ziehen.43 Ein Kommentator hat diese Auffassung treffend wie folgt charakterisiert: Philosophically, Carnap was a social democrat; his ideals were those of the enlightenment. His persistent, central idea was: ‚It’s high time we took charge of our own mental lives‘ – time to engineer our own conceptual scheme (language, theories) as best we can to serve our own purposes; time to take it back from tradition, time to dismiss Descartes’s God as a distracting myth, time to accept the fact that there’s nobody out there but us, to choose our purposes and concepts to serve those purposes, if indeed we are to choose those things and not simply suffer them. […] For Carnap, deliberate choice of the syntax and semantics of our language was more than a possibility – it was a duty we owe ourselves as a corollary of our freedom. (Jeffrey (1994), 847)
In dieser pointierten Paraphrase wird besonders deutlich, wie die pragmatistische Metaphysikkritik in der Variante, die Carnap vertritt, direkt an ein spezifisches Verständnis von Freiheit gebunden ist: Freiheit wird hier in der Tradition der Aufklärung als zentrales Gut einer aufgeklärten intellektuellen Kultur gesehen, aber speziell als die Fähigkeit interpretiert, uns eigene Ziele vorzugeben und die für sie am besten geeigneten Mittel auszuwählen. Ein passendes Beispiel für die verschiedenen Ziele, die dabei eine Rolle spielen, gibt Brandom. Mit Bezug auf die verschiedenen Konditionale, die in der modernen Logik formuliert werden können, schreibt er: [W]e assess the goodness of inferences along many semantically relevant dimensions, and different conditionals are needed to capture each. Thus asserting the two-valued (so-called ‚material‘) conditional is explicitly saying that it is good in the sense that it will not lead from a true premise to a false conclusion. Asserting an intuitionistic conditional is explicitly saying that it is good in the sense that there is a recipe for turning a proof of the premises into a proof of the conclusion. And so on, for the conditionals of strict implication, relevant implication, entailment, quantum logic, and so on. (Brandom (2005), 160)
Aus der Tatsache, dass in der modernen Logik beliebig neue Operatoren (wie z. B. Konditionale), Sprachen und Logiken konstruiert werden können, folgern Brandom und Carnap, dass es nicht eine privilegierte Logik gibt, und allgemeiner nicht einen privilegierten Begriffsrahmen (vgl. 5.1.1). Die verschiedenen Sprachen un-
43 Vgl. hierzu die umfassende Untersuchung von Carus (2007a). Carus identifiziert als zentralen Einfluss auf Carnaps relevante metaphilosophische Überzeugungen die „Philosophie des Als-Ob“ Hans Vaihingers. Nach Vaihinger, der selbst Kants Primat der praktischen Vernunft aufgreift und radikalisiert, sind Sprachen, Theorien usw. „nützliche Fiktionen“, mit Hilfe derer wir unsere praktischen Zwecke verfolgen.
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1 Einleitung
terscheiden sich in erster Linie danach, welche Aspekte und Sachverhalte sie ausdrücken können. Es hat dabei für Brandom und Carnap keinen Sinn zu fragen, welche Logik und welche Sprache absolut gesehen die richtige sei; Abwägungen zwischen verschiedenen Kandidaten können nur in Bezug auf spezifische Zwecke vorgenommen werden. Dies sind freilich für Carnap, wie für Brandom, nicht etwa instrumentell-praktische Zwecke, sondern intellektuelle Zwecke – wie das Interesse daran, einen bestimmten Aspekt des logischen Raums sichtbar zu machen. Die Freiheit, solche Interessen zu verfolgen und entsprechend eine kreative Vielfalt neuer Sprachen zu entwerfen, zwischen denen wir gemäß unseren Interessen wählen können, ist für Carnap Teil unserer vernünftigen Autonomie: unserer Fähigkeit zu einem selbstbestimmten intellektuellen Leben und zum Entwerfen eigener Bezugssysteme. Von diesem Standpunkt aus kann die Annahme eines einzigen privilegierten Begriffsrahmens, der unabhängig von allen Zwecksetzungen die Wirklichkeit am besten erfasst, nur als illegitime Einschränkung unserer geistigen Freiheit erscheinen. Metaphysik im traditionellen Sinn besteht aber gerade in der Suche nach einem solchen Begriffsrahmen: Deshalb ist Metaphysik gemäß Carnaps (und Brandoms) pragmatistischer Metaphysikkritik inkompatibel mit der Freiheit unserer Vernunft.44 Als Konsequenz aus dieser vorläufigen Diskussion von Positionen, die eine Inkompatibilität zwischen Freiheit und Metaphysik annehmen, können wir Folgendes festhalten. Zum einen muss eine tragfähige Metaphysik der Freiheit der ersten der genannten metaphysikkritischen Strategien (Transzendentalphilosophie, Verifikationismus) insofern Rechnung tragen, als sie ihre eigene Sinnhaftigkeit und Begründbarkeit einsichtig machen muss; andernfalls droht tatsächlich der Rückfall in dogmatische und damit unfreie Metaphysik. Zum anderen muss sich diese Metaphysik der Freiheit von rein präskriptiven Interpretationen des Standpunkts der Freiheit gemäß der praktizistischen Strategie distanzieren; ohne eigenen deskriptiven Gehalt kann sie nicht als Metaphysik zählen. Mit der dritten, pragmatistischen Strategie der Metaphysikkritik dagegen werden wir uns in Ab-
44 Das Bindeglied zwischen Carnaps und Brandoms methodologischen Standpunkten bildet Carnaps Schüler und Brandoms Lehrer Richard Rorty. Rorty gebraucht pragmatistische Überlegungen, wie Carnap sie angestellt hatte, um gegen die repräsentationalistische Auffassung zu argumentieren, nach der wir im Denken und Sprechen die Wirklichkeit abbilden können und die primäre Aufgabe von Sprache in einer solchen Abbildung besteht. Vielmehr ist auch nach Rorty die Bewertung eines Vokabulars nur relativ zu pragmatischen Zielsetzungen möglich; auch für ihn ist die Metaphysikkritik demnach an eine Auffassung von Freiheit als Fähigkeit zur Wahl von Zielen und Mitteln gebunden, die in einer modernen demokratischen Gesellschaft ein zentrales Gut darstellt. (Vgl. hierzu, mit Belegen, Brandom 2000b).
1.6 Das Problem der epistemischen Freiheit
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schnitt 5.1 noch ausführlicher auseinandersetzen. – Im folgenden Abschnitt wenden wir uns dem Problem der epistemischen Freiheit zu, das ich gleichfalls in Abschnitt 1.3 eingeführt hatte und das den Ausgangspunkt für den weiteren Gang der Untersuchung bieten wird.
1.6 Das Problem der epistemischen Freiheit Wenn Freiheit im Mittelpunkt unseres Selbstverständnisses stehen und der logische Raum der Gründe als Reich der Freiheit interpretiert werden soll, dann kann Freiheit nicht eine spezielle Eigenschaft sein, die manche Bereiche von Rationalität auszeichnet, in anderen dagegen fehlt. Vielmehr, so scheint es, müssen wir uns qua selbstbestimmte Vernunftwesen als durch und durch frei begreifen und somit auch die Existenz epistemischer Freiheit anerkennen. Überdies haben wir schon in vorläufiger Weise gesehen, dass sowohl Hegels als auch Brandoms Ansatz zu einer Metaphysik der Freiheit epistemischer Freiheit eine wichtige Rolle zuweisen. Tatsächlich spricht Hegel oft ausdrücklich im Zusammenhang mit epistemischer Aktivität von Freiheit; beispielsweise ist in einer Vorlesungsnachschrift die folgende Äußerung überliefert: Die Natur hat [die] Notwendigkeit in ihr, wir begreifen sie und geben uns daher die Freiheit, sie zu begreifen […]. […] In der Existenz ist [das] Feld der Notwendigkeit, aber indem wir die Natur begreifen, so sind wir darin frei. (VL 10/173 f.; vgl. z. B. Enz. § 12 A, 8/58; Enz. § 23 mit Anmerkung, 8/80)
Auch Brandom dehnt ausdrücklich den Gebrauch des Freiheitsbegriffs auf theoretische Kontexte aus (z. B. RiPh 58 ff., RiPh Kap. 5). Die Annahme epistemischer Freiheit lässt sich nun einerseits durch den Hinweis auf Phänomene wie das der intellektuellen Autonomie im theoretischen Bereich, also des aufgeklärten, selbstbestimmten Vernunftgebrauchs plausibel machen.45 Zum anderen kann darauf verwiesen werden, dass wir Begriffe wie „Rechtfertigung“ und „Verantwortung“, die im praktischen Bereich eng mit dem Freiheitsbegriff verknüpft sind, auch im epistemischen Bereich gebrauchen. Nach
45 Hier sind Kants Versuche, den (für ihn eigentlich praktischen) Autonomie-Begriff auf theoretische Kontexte zu übertragen, einschlägig: vgl. den Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ sowie AA 8/144 ff. und AA 5/294 f. (Allerdings behandelt Kant Autonomie hier nicht wie im praktischen Bereich als konstitutive Bedingung für Rationalität, sondern nur als Beitrag zum „zweckmäßigen Gebrauch“ unserer Fähigkeiten (AA 5/295).) – Vgl. auch Kap. 3, Fußnote 35 zu der von Kant teilweise vertretenen Annahme von transzendentaler Freiheit im theoretischen Bereich.
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Sellars, Brandom und McDowell, aber auch vielen anderen AutorInnen ist überhaupt Normativität auch für den epistemischen Bereich kennzeichnend. Überdies ist die sogenannte „deontologische“ Konzeption von epistemischer Rechtfertigung, der zufolge epistemische Rechtfertigung in der Erfüllung epistemischer Verpflichtungen besteht – für manche AutorInnen Normen, für andere Tugenden oder Pflichten –, in der Epistemologie der letzten Jahrzehnte allgemein sehr einflussreich gewesen.46 Die Rolle, die Begriffe wie „Verantwortung“, „Rechtfertigung“, „Norm“ etc. nach solchen Theorien auch für die epistemische Vernunft spielen, und die Verbindung, die im praktischen Bereich zwischen diesen Begriffen und praktischer Freiheit besteht, legen nahe, dass auch der epistemischen Vernunft Freiheit zukommen muss. – Die Annahme der Existenz epistemischer Freiheit ist aber mit einer Schwierigkeit konfrontiert, die ich bereits in Abschnitt 1.3 genannt habe und die wir nun genauer betrachten. Dass wir im praktischen Bereich frei sind, bedeutet in erster Linie, dass wir in unseren Absichten und Handlungen frei sind – also denjenigen Einstellungen und Akten, auf die der Gebrauch praktischer Vernunft gewöhnlich zielt. In Analogie dazu liegt es sehr nahe anzunehmen, dass die Freiheit, die wir eventuell im epistemischen Bereich haben, in erster Linie in einer Freiheit bezüglich unserer Überzeugungen bestehen muss, denn der Gebrauch unserer theoretischen Vernunft zielt gewöhnlich auf die Bildung von Überzeugungen. Wir können allgemein als epistemische Freiheit jede Freiheit bezeichnen, die die Vernunft in ihrem epistemischen Gebrauch hat, und als doxastische Freiheit die spezifische Form epistemischer Freiheit, die wir in Überzeugungen besitzen. Die Analogie mit dem praktischen Bereich macht somit die These plausibel, dass epistemische Freiheit primär in doxastischer Freiheit besteht. Ferner scheint, gleichfalls in Analogie mit dem praktischen Bereich, die Annahme unkontrovers, dass Freiheit willentliche Kontrolle erfordert. Wir sind in unseren Absichten und Handlungen nur dann frei, wenn sie direkt unserem Willen unterliegen – wenn sie Gegenstand unserer Wahl und Entscheidung sind. Epistemische Freiheit ist nach diesen beiden Annahmen nur möglich, wenn wir willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungen haben. Es ergeben sich so die folgenden drei Annahmen: (1) Wir sind im epistemischen Gebrauch unserer Vernunft frei. (= Annahme epistemischer Freiheit) (2) Epistemische Freiheit besteht primär in einer Freiheit, die wir hinsichtlich unserer Überzeugungen besitzen („doxastische“ Freiheit). (3) Die Möglichkeit willentlicher Kontrolle ist notwendig für Freiheit.
46 Vgl., mit weiterer Literatur, Alston (1988) und die Beiträge in Steup (2001).
1.6 Das Problem der epistemischen Freiheit
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Aus diesen drei Annahmen folgt eine These, die gewöhnlich als doxastischer Voluntarismus bezeichnet wird: nämlich die These, dass wir direkte willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungen haben. (Die Qualifikation „direkte Kontrolle“ werde ich gleich näher erläutern.) Der doxastische Voluntarismus ist eine kontroverse Position. Zwar haben zahlreiche AutorInnen in der Philosophiegeschichte47 ebenso wie in heutigen Debatten (s. u.) Versionen des doxastischen Voluntarismus vertreten, doch wird diese Position auch oft vehement kritisiert. Weder Hegel noch Brandom äußern sich zwar direkt zu dieser Kontroverse, doch geht aus den Ausführungen beider Autoren zu epistemischer Freiheit klar hervor, dass sie die epistemische Freiheit nicht im Sinne des doxastischen Voluntarismus interpretieren. Beide kommen vielmehr darin überein, dass nicht eine Wahlmöglichkeit, sondern die Gebundenheit des Denkens durch rationale Notwendigkeit charakteristisch für epistemische Freiheit ist. So schreibt Hegel etwa, dass wir in der philosophischen Rekonstruktion von Inhalten der empirischen Wissenschaften diesen Inhalten „die wesentlichste Gestalt der Freiheit (des Apriorischen) des Denkens und die Bewährung der Notwendigkeit“ geben (Enz. § 12 A, 8/58; vgl. unten Kapitel 7). Und Brandom versteht Freiheit insgesamt so, dass sie wesentlich in der Gebundenheit durch rationale Normen besteht (vgl. Brandom (1979); RiPh Kap. 2). – Unter den eben genannten Prämissen folgt aber aus der Leugnung des doxastischen Voluntarismus auch die Leugnung der epistemischen Freiheit. Hegel und Brandom müssen also mindestens eine der beiden anderen Prämissen ((2) oder (3)) leugnen, um trotz ihrer Ablehnung des doxastischen Voluntarismus epistemische Freiheit annehmen zu können. Wie wir im Folgenden genauer sehen werden, handelt es sich dabei sowohl bei Hegel als auch bei Brandom um die Prämisse (3). Beide Autoren bestreiten also, dass willentliche Kontrolle notwendig für Freiheit ist. Dabei handelt es sich um einen radikalen Schritt, denn der Freiheitsbegriff wird so entgegen sehr verbreiteter Annahmen vom Willen entkoppelt. Angesichts dieser Konsequenz können die Ansätze zu einem Freiheits-basierten Selbstverständnis bei Brandom und mehr noch bei Hegel leicht von vornherein als völlig unplausibel erscheinen. Um überhaupt einen sinnvollen Zugang zu diesen Positionen zu gewinnen, muss deshalb zumindest in vorläufiger Weise gezeigt werden, dass die Annahme von epistemischer Freiheit trotz Ablehnung des doxastischen Voluntarismus und die resultierende Entkopplung von Freiheit und Wille (bzw. willentlicher Wahl) argumentative Züge sind, für die es durchaus
47 Beispielsweise vertreten viele Stoiker und Kirchenväter (s. Barnes (2006)), Descartes (4. Meditation) und William James (in James (1917)) mehr oder weniger ausdrücklich Versionen eines doxastischen Voluntarismus.
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gute Gründe gibt. Dies wird freilich dadurch erschwert, dass weder Hegel noch Brandom ausführlicher für die fraglichen Annahmen argumentieren. (Lediglich für seine Zurückweisung einer Gleichsetzung von Freiheit mit Wahl bietet Hegel ein Argument, auf das ich im nächsten Kapitel zurückkommen werde.) Eine etwas genauere Betrachtung der relevanten Sachprobleme wird aber zeigen, dass die Ansätze Hegels und Brandoms durchaus nicht so unplausibel sind, wie es zuerst den Anschein haben kann.48 Zunächst ist eine Präzisierung nötig. Ich habe oben den doxastischen Voluntarismus als These von der direkten willentlichen Kontrolle über unsere Überzeugungen definiert. Es besteht allgemeiner Konsens darüber, dass eine indirekte willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungen möglich ist: So gibt es Handlungen wie z. B. das Sammeln und Prüfen von Evidenz, die zur Folge haben, dass wir bestimmte Überzeugungen bilden. Wir können entscheiden, ob und wann wir solche Handlungen ausführen, welche Ressourcen wir für sie investieren sollen etc.; von diesen Entscheidungen hängt es teilweise ab, welche Überzeugungen wir haben werden. Insofern haben wir eine begrenzte und indirekte willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungen (vgl. Alston (1988)).49 Die Frage ist, ob wir auch eine Kontrolle haben, die sich direkt auf unsere Überzeugungen, und zwar genauer deren Bildung bezieht. (Auf die Frage, ob nicht bereits eine indirekte Kontrolle des Willens ausreichend für epistemische Freiheit sein kann, werde ich im Folgenden noch zurückkommen.) Gegen den doxastischen Voluntarismus wurden zahlreiche Einwände formuliert, die zeigen sollen, dass wir keine direkte willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungen haben. Häufig wird zu diesem Zweck auf die Phänomenologie der Überzeugungsbildung verwiesen. In unzähligen Fällen, insbesondere in Wahrnehmungssituationen, gelangen wir unwillkürlich zu unseren Überzeugun-
48 Im Folgenden kann ich nur einige Aspekte der umfangreichen Debatten herausgreifen, die in den letzten Jahren über diese Gegenstände geführt wurden. Für eine sehr gründliche Klassifikation und Diskussion verschiedener einschlägiger Optionen und Positionen in Sachen doxastischer Voluntarismus und epistemische Verantwortung sei auf Nottelmann (2007b) verwiesen. 49 Die Unterscheidung gebraucht schon Kant: „Man pflegt sich oft der Ausdrücke zu bedienen: Seinem Urtheile beipflichten, sein Urtheil zurückhalten, aufschieben oder aufgeben. Diese und ähnliche Redensarten scheinen anzudeuten, daß in unserm Urtheilen etwas Willkürliches sei, indem wir etwas für wahr halten, weil wir es für wahr halten wollen. Es frägt sich demnach hier: Ob das Wollen einen Einfluß auf unsre Urtheile habe? Unmittelbar hat der Wille keinen Einfluß auf das Fürwahrhalten; dies wäre auch sehr ungereimt. […] Sofern aber der Wille den Verstand entweder zur Nachforschung einer Wahrheit antreibt oder davon abhält, muß man ihm einen Einfluß auf den Gebrauch des Verstandes und mithin auch mittelbar auf die Überzeugung selbst zugestehen, da diese so sehr von dem Gebrauche des Verstandes abhängt“ (AA 9/73 f.; auf die Stelle weist Nottelmann (2007b), 99 hin).
1.6 Das Problem der epistemischen Freiheit
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gen: Wir bilden sie, ohne dass wir reflektieren und deliberieren müssten oder in anderer Art und Weise mental aktiv wären. Doch auch dann, wenn wir in einer Frage abwägen und verfügbare Evidenz prüfen, gibt es viele Fälle, in denen die Phänomenologie unserer mentalen Zustände einen willentlichen Einfluss auszuschließen scheint: wenn nämlich die verfügbare Evidenz klar für eine bestimmte Option spricht und alle anderen Erwägungen überwiegt. Wenn wir uns z. B. einen gültigen mathematischen Beweis klar gemacht haben, können wir nicht mehr anders – so scheint es –, als die Wahrheit der bewiesenen Aussage anzuerkennen. Schließlich können wir offenbar auch nicht bereits bestehende Überzeugungen durch bloße willentliche Entscheidung ändern: Wir können nicht einfach die Überzeugung annehmen, dass der Mond aus Käse besteht – auch dann nicht, wenn uns jemand sehr viel Geld dafür bietet (Alston (1988), 263 f.). Doxastische Voluntaristen können aber auf derartige Beobachtungen entgegnen, dass auch in Handlungskontexten häufig ähnliche phänomenologische Situationen auftreten, ohne dass dies unsere Freiheit und willentliche Kontrolle in Frage stellen würde (S. Ryan (2003), 62 ff.). Einige Anti-Voluntaristen haben deshalb stärkere Einwände formuliert, die zeigen sollen, dass es aus begrifflichen Gründen unmöglich ist, Überzeugungen direkt willentlich zu kontrollieren.50 Den einflussreichsten Einwand dieser Art hat Bernard Williams in seinem Aufsatz „Deciding to Believe“ formuliert: One reason [sc. für die Nicht-Kontingenz der Unmöglichkeit, Überzeugungen willentlich zu bilden] is connected with the characteristic of beliefs that they aim at truth. If I could acquire a belief at will, I could acquire it whether it was true or not; moreover I would know that I could acquire it whether it was true or not. If in full consciousness I could will to acquire a ‚belief‘ irrespective of its truth, it is unclear that before the event I could seriously think of it as a belief, i.e. as something purporting to represent reality. At the very least, there must be a restriction on what is the case after the event; since I could not then, in full consciousness, regard this as a belief of mine, i.e. something I take to be true, and also know that I acquired it at will. With regard to no belief could I know – or, if all this is to be done in full consciousness, even suspect – that I had acquired it at will. But if I can acquire beliefs at will, I must know that I am able to do this; and could I know that I was capable of this feat, if with regard to every feat of this kind which I had performed I necessarily had to believe that it had not taken place? (B. Williams (1973), 148)
Williams streift hier mehrere Punkte, aber gewöhnlich wird die folgende Überlegung als Kern seines Arguments betrachtet.
50 Vgl. neben Williams (1973) besonders Scott-Kakures (1993). Zur kritischen Diskussion der anti-voluntaristischen Argumente vgl. besonders Winters (1979); Bennett (1990); Nottelmann (2007a), (2007b); Setiya (2008).
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(1) Überzeugungen sind intrinsisch auf Wahrheit ausgerichtet. (2) Wir können nicht zugleich von einem mentalen Zustand glauben, dass er eine Überzeugung ist, und dass wir ihn durch willentliche Entscheidung, also ohne Rücksicht auf die Wahrheit seines Inhaltes, erworben haben. (folgt aus (1)) (3) Wenn wir eine Überzeugung willentlich erworben haben, können wir im Nachhinein nicht von ihr glauben, dass wir sie willentlich erworben haben. (folgt aus (2)) (4) Wir können keine Fähigkeit haben, ohne zu wissen, dass wir sie haben. (5) Wir können nicht wissen, dass wir eine Fähigkeit haben, wenn wir in Bezug auf keine erfolgte Ausübung dieser Fähigkeit glauben können, dass sie stattgefunden hat. (6) Es ist nicht möglich, dass wir die Fähigkeit haben, Überzeugungen willentlich zu erwerben. (folgt aus (3), (4), (5)) Kritiker haben besonders die Punkte (2), (4) und (5) attackiert. Gegen (2) wurde eingewandt, dass wir nach der willentlichen Annahme einer Überzeugung noch Evidenz für sie finden können und deshalb durchaus zugleich von ihr glauben können, dass sie – qua Überzeugung – auf Wahrheit ausgerichtet ist und ursprünglich willentlich erworben wurde (Winters (1979), 253). (4) wurde als allgemeine Aussage über Fähigkeiten in Frage gestellt (Winters (1979), 255). Gegen (5) schließlich hat Bennett das Gedankenexperiment der Gemeinschaft „Credam“ entwickelt (Bennett (1990)) – einer Gemeinschaft, deren Mitglieder Überzeugungen willentlich annehmen können und im Einzelfall immer systematisch vergessen, dass sie die jeweilige Überzeugung auf diese Weise erworben haben. Die Situation in Credam ist kompatibel mit (1) bis (4), spricht aber dafür, dass wir Wissen von einer Fähigkeit haben können, auch wenn wir deren einzelne Ausübungen jeweils vergessen müssen: Es genügt, dass wir eine Ausübung der Fähigkeit jeweils ex ante als solche verstehen können. (Es gibt andere Fälle dieses Typs von Fähigkeit, z. B. die Fähigkeit, eine Tatsache für immer zu vergessen: Wenn ich glaube, dass ich für immer vergessen habe, dass p, habe ich p nicht für immer vergessen (Winters (1979), 254).) Williams’ Argument für die begriffliche Unmöglichkeit des doxastischen Voluntarismus und die genannten Einwände verdeutlichen exemplarisch folgenden Befund: Die Meinung, dass die willentliche Kontrolle von Überzeugungen tatsächlich notwendigerweise unmöglich ist, kann nur unter Rekurs auf recht spezielle Annahmen bezüglich der Metaphysik von Fähigkeiten, mentalen Zuständen und Handlungen gerechtfertigt werden.51 Dies macht die These, der doxastische
51 Dies betont zu Recht S. Ryan (2003), 67, 75.
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Voluntarismus sei begrifflich unmöglich, zu einer Position, die leicht anfechtbar ist. – Umgekehrt tun sich aber auch die doxastischen Voluntaristen schwer, positiv für ihre These zu argumentieren. Sie berufen sich in der Regel auf Beispiele, die zeigen sollen, dass wir durchaus Fälle direkter willentlicher Kontrolle von Überzeugungen kennen. Das folgende Beispiel Ginets, der den doxastischen Voluntarismus verteidigt, ist hier repräsentativ: We have started on a trip by car, and 50 miles from home my wife asks me if I locked the front door. I seem to remember that I did, but I don’t have a clear, detailed confident memory impression of locking that door (and I am aware that my unclear, unconfident memory impressions have sometimes been mistaken). But, given the great inconvenience of turning back to make sure and the undesirability of worrying about it while continuing on, I decide to continue on and believe that I did lock it. (Ginet (2001), 64)
Ich entscheide mich in dieser Situation, so Ginet, aus praktischen Gründen, eine bestimmte Überzeugung zu bilden, obwohl diese nicht ausreichend epistemisch begründet ist. In Fällen wie diesen scheinen wir tatsächlich in unserer alltäglichen Ausdrucksweise eine willentliche Kontrolle über Überzeugungen anzunehmen. Doch für doxastische Anti-Voluntaristen gibt es eine einfache Möglichkeit, derartigen Beispielen Rechnung zu tragen: Sie interpretieren sie als Fälle nicht von wirklicher Überzeugung, sondern von Hypothesen oder dem vorübergehenden Annehmen („acceptance“) einer Proposition (vgl. z. B. Alston (1988), 267). Hier liegt eine propositionale Einstellung vor, so argumentieren die Anti-Voluntaristen, durch die wir nicht die Wahrheit einer Proposition behaupten, sondern lediglich vorübergehend – sei es aus praktischen Gründen wie in Ginets Beispiel, sei es im Rahmen einer Untersuchung – buchstäblich „so tun“, als sei die Proposition wahr.52 Die Entscheidung zu Gunsten von einer der beiden Seiten in der Diskussion zwischen doxastischen Voluntaristen und Anti-Voluntaristen hängt also von relativ speziellen und leicht anfechtbaren Prämissen ab. Sowohl im Fall der Diskussion über phänomenologische Beobachtungen als auch im Fall der Diskussion über Williams’ Argument scheinen die diskutierten Punkte wenig zu einer Klärung grundlegender Fragen über epistemische Rationalität und Normativität beizutragen. Dieser Befund legt die Vermutung nahe, dass die Kritiker des doxastischen Voluntarismus nicht die richtige Strategie verfolgen. Statt in Abrede zu stellen, dass direkte willentliche Kontrolle von Überzeugungen möglich ist, wäre es fruchtbarer zu fragen, welche Rolle eine solche Kontrolle für unsere
52 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Überzeugung und Annahme Cohen (1992).
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epistemische Rationalität überhaupt spielen kann, und die diesbezüglichen Aussagen des Voluntaristen zu diskutieren.53 Die wichtigste Motivation für doxastisch-voluntaristische Positionen besteht nun in der zu Beginn des Abschnitts angeführten Überlegung, dass wir für unsere Überzeugungen verantwortlich sein müssen, Verantwortung aber eine Wahlmöglichkeit und damit willentliche Kontrolle voraussetzt (vgl. Nottelmann (2007a), 106, 123).54 So ist der doxastische Voluntarismus für die meisten seiner heutigen Vertreter eine Implikation der „deontologischen Konzeption“ von epistemischer Rechtfertigung – der Konzeption, nach der epistemische Rechtfertigung im Erfüllen epistemischer Verpflichtungen besteht.55 Diese Begründung für den doxastischen Voluntarismus ist keineswegs neu: Bereits die Stoiker und viele christliche Kirchenväter hielten den doxastischen Voluntarismus für nötig, um epistemische Verantwortung (Überzeugungen oder Urteile als „ἐφ’ ἡμῖν“) erklären zu können (vgl. Barnes (2006)).56 Wir können die Position, wonach (a) epistemische Verantwortung die direkte willentliche Kontrolle von Überzeugungen erfordert und (b) wir zu epistemischer Verantwortung (mithin auch zu direkter willentlicher Kontrolle über Überzeugungen) fähig sind, als „deontologischen doxastischen Voluntarismus“ bezeichnen. Nach der vorgeschlagenen alternativen Strategie sollten Kritiker des Voluntarismus primär die These (a) des deontologischen doxastischen Voluntarismus in Frage stellen, also die These, dass epistemische Verantwortung direkte willentliche Kontrolle über Überzeugungen erfordert. Diese These ist in der Tat recht unplausibel, und zwar unabhängig von den speziellen Hintergrundannahmen, die der doxastische Anti-Voluntarismus in der zuvor betrachteten Form machen 53 Diese Strategie verfolgt Nottelmann (2007b); vgl. auch Nottelmann (2007a), 123 sowie Engel (1999), der hinsichtlich der willentlichen Kontrolle von Überzeugungen zwischen einer normativen Frage und einer Frage nach der psychologischen oder begrifflichen Möglichkeit unterscheidet. Vgl. auch Alston (1988), 265 f. 54 Eine weitere wichtige Motivation für traditionelle doxastische Voluntaristen (etwa für James (1917)) besteht in der Suche nach einer Erklärung für die Möglichkeit, dass wir ohne hinreichende epistemische Rechtfertigung religiöse Überzeugungen annehmen. Zwischen beiden Punkten besteht in der christlichen Tradition ein enger Zusammenhang, weil nach traditioneller theologischer Auffassung der Mensch vor Gott für seinen religiösen Glauben verantwortlich ist: vgl. Barnes (2006). 55 Vgl. Steup (2000), Ginet (2001), S. Ryan (2003). Alston verwendet die Annahme, dass die deontologische Konzeption epistemischer Rechtfertigung den doxastischen Voluntarismus voraussetzt, um die deontologische Konzeption zu widerlegen (Alston (1988)). Vgl. dazu Nottelmann (2007a), 106. 56 Wie Barnes zeigt, ist diese Theorie für die Kirchenväter besonders im Zusammenhang mit religiösem Glauben wichtig, doch vertreten sie sie durchaus auch als verallgemeinerte epistemologische Theorie.
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musste. Um dies zu zeigen, stellen wir zunächst fest, dass der deontologische doxastische Voluntarismus auf eine starke Analogie zwischen dem epistemischen und dem praktischen Bereich festgelegt ist. Im praktischen Bereich erfordert Verantwortung offensichtlich willentliche Kontrolle; der deontologische doxastische Voluntarist schließt daraus, dass auch im epistemischen Bereich Verantwortung willentliche Kontrolle erfordert. (Es ist wichtig dies festzuhalten, weil auch andere Begriffe von Kontrolle möglich sind, die nicht zwangsläufig den Willen involvieren – beispielsweise die Fähigkeit, sein Verhalten an Gründen zu orientieren (vgl. 2.5.2).) Eine gängige Auffassung willentlicher Kontrolle besagt nun, dass wir dann willentliche Kontrolle über die Handlung φ haben, wenn gilt, dass wir φen können, wenn wir φen wollen, und dass wir φ unterlassen können, wenn wir nicht φen wollen. Willentliche Kontrolle erfordert demnach die Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten. Wenn der deontologische doxastische Voluntarist diesen Begriff von willentlicher Kontrolle auf den epistemischen Bereich überträgt, muss er annehmen, dass wir in Bezug auf jede epistemische Einstellung, für die wir verantwortlich gemacht werden können, stets auch eine andere Einstellung einnehmen können, wenn wir dies wollen. Die Beispiele, die doxastische Voluntaristen als Fälle willentlicher epistemischer Entscheidungen interpretieren, sind nun immer Fälle, in denen die verfügbare Evidenz nicht zwingend ist – wie etwa in Ginets oben zitiertem Beispiel unklarer Erinnerung, oder in Fällen komplizierter Überlegungen, bei denen wir „entscheiden“ müssen, ob sie für eine Konklusion hinreichend sind oder nicht. Doch selbst wenn wir dem Voluntaristen für den Zweck des Arguments einräumen, dass es sich hierbei um Fälle willentlicher Entscheidung handelt, genügt ihm dies nicht: Wenn Verantwortung Kontrolle erfordert und Kontrolle alternative Möglichkeiten voraussetzt, muss der Voluntarist auch in Fällen von zwingender Evidenz – etwa in Wahrnehmungssituationen und in einfachen, unmittelbar evidenten Überlegungen (z. B. einfache Rechnungen oder Beweise) – eine Entscheidungsmöglichkeit annehmen, denn auch in diesen Fällen wollen wir epistemische Verantwortung zuschreiben. Es scheint aber völlig unplausibel, dass wir in derartigen Fällen auch eine andere Einstellung haben könnten, wenn wir nur anders wollten (vgl. Alston (1988), 265 f.).57
57 Steup (2000) vertritt dennoch eine generalisierte Form von Kontrolle mittels alternativer Möglichkeiten im epistemischen Bereich, aber Nottelmann (2007b), 136 ff. argumentiert überzeugend, dass Steup den Begriff „Entscheidung“ hinsichtlich epistemischer und praktischer Kontrolle äquivok gebraucht. – Gegen die vorgebrachte Überlegung könnte eingewandt werden, dass uns im epistemischen Bereich doch immer die Möglichkeit der (willentlichen) Urteilsenthaltung offensteht. Dabei wird aber übersehen, dass die Urteilsenthaltung selbst (neben der
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Auf diesen Einwand kann der deontologische doxastische Voluntarist dadurch reagieren, dass er eine alternative Theorie willentlicher Kontrolle verwendet, die ohne alternative Möglichkeiten auskommt. Eine Theorie willentlicher Kontrolle, die keine alternativen Möglichkeiten impliziert, wird durch sogenannte „Frankfurt-style cases“ nahegelegt, also Gedankenexperimente wie diejenigen Frankfurts in „Alternate Possibilities and Moral Responsibility“, die zeigen sollen, dass es Verantwortung ohne alternative Möglichkeiten geben kann. In einem von Frankfurts Beispielen (Frankfurt (1988b), 7) wird einem Akteur ein Hirnimplantat eingesetzt, das in einer Entscheidung zwischen A und anderen Optionen seinen Willen manipuliert, wenn er sich nicht für A entscheidet. Wenn sich der Akteur in diesem Szenario für A entscheidet und entsprechend handelt, dann scheint er verantwortlich zu handeln, weil er de facto nicht manipuliert wurde; er hatte aber keine alternativen Möglichkeiten, weil ihm diese auf Grund des implantierten Mechanismus nicht offen standen. Angesichts solcher Beispiele kann ein Begriff willentlicher Kontrolle formuliert werden, dem zufolge es für Kontrolle hinreichend ist, dass ein Akteur ungehindert gemäß seinem Willen handelt und dieser Wille nicht manipuliert ist. Hierfür ist es nicht erforderlich, dass der Akteur auch eine andere Entscheidung treffen und ihr gemäß handeln kann.58 Gegen Vertreter eines deontologischen doxastischen Voluntarismus, die einen derartigen Begriff von willentlicher Kontrolle zu Grunde legen (wie z. B. S. Ryan (2003), 62 ff.), könnte bezweifelt werden, dass es sich hier überhaupt um willentliche Kontrolle handelt (z. B. Alston (1988), 264). Doch auch dann, wenn dem Voluntaristen der schwächere Begriff von willentlicher Kontrolle zugestanden wird, gibt es gute Gründe gegen die voluntaristische Position. So können Fälle beschrieben werden, in denen unsere epistemische Verantwortung nicht eingeschränkt ist, obwohl wir unsere epistemischen Einstellungen unserem Willen zum Trotz haben und wir daher keine willentliche Kontrolle über sie haben. Betrachten wir dafür das folgende Beispiel. Eine Großmutter A hat eine Katze, an die sie und ihr Enkel B emotional sehr stark gebunden sind. Die Katze ist von einem Spaziergang nicht zurückgekommen. A und B sind nervlich beide sehr sensibel. B weiß nicht nur genau, dass der
Affirmation und der Negation einer Proposition) eine epistemische Option ist, für die es Gründe geben muss. Die Meinung, dass wir uns im Fall eindeutiger Evidenz willentlich gegen die Annahme der entsprechenden Überzeugung entscheiden können, indem wir uns des Urteils enthalten, ist nicht weniger problematisch als die Meinung, dass wir uns willentlich zur gegenteiligen Überzeugung entschließen können. 58 Dieser abgeschwächte Begriff von Kontrolle entspricht in etwa Fischer/Ravizzas „guidance control“, für die es genügt, dass jemand etwas aus freien Stücken tut, und die keine alternativen Möglichkeiten erfordert (im Gegensatz zu „regulative control“): Fischer/Ravizza (1998), 30 f.
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Tod der Katze seine Großmutter in große gesundheitliche Schwierigkeiten bringen würde, sondern auch, dass es hierfür schon genügen würde, wenn seine Großmutter bemerkt, dass er die Katze für tot hält. Schließlich weiß B auch, dass er wegen seiner eigenen labilen Nerven die Überzeugung vom Tod der Katze der Großmutter nicht verbergen könnte; selbst wenn er sich darum bemühen würde, würde die Großmutter ihm dies anmerken und darauf schließen, dass er die Katze für tot hält. B will also partout nicht glauben, dass die Katze tot ist. Obwohl sich in der Nähe eine vielbefahrene Straße befindet und es daher wahrscheinlich ist, dass die Katze überfahren wurde, redet B sich erfolgreich ein, dass die Katze noch am Leben ist. Außerdem unternimmt er Schritte, um zu vermeiden, dass ihn eventuelle negative Informationen über die Katze erreichen. Dennoch stößt er plötzlich auf den Kadaver der Katze (die unverwechselbare Merkmale hatte, so dass hier keine Täuschungsmöglichkeit besteht). Nehmen wir nun an, dass B in dieser Situation die Überzeugung bildet, dass die Katze tot ist. Es scheint plausibel, dass dies überhaupt das einzige ist, was ihm hier psychologisch möglich ist; aber selbst wenn dem nicht so ist, scheint außer Frage, dass er die Überzeugung, dass die Katze tot ist, spontan bilden kann. In diesem Fall hat er aber die Überzeugung angenommen, obwohl er einen entschiedenen Willen hatte, genau diese Überzeugung nicht zu bilden. B hat also offensichtlich keine Kontrolle über die Überzeugung – noch nicht einmal in dem abgeschwächten Sinn von Kontrolle, von dem wir ausgegangen waren. Dennoch ist B für seine Überzeugung vom Tod der Katze verantwortlich; er kann dafür gelobt werden, weil es sich bei ihr um eine rationale Überzeugung handelt. Tatsächlich ist in diesem Fall das Fehlen der willentlichen Kontrolle sogar die Bedingung dafür, dass B eine rationale Überzeugung bildet: Wäre es ihm gelungen – falls das möglich ist –, der Evidenz zum Trotz an seiner früheren Überzeugung, die Katze sei noch am Leben, festzuhalten, hätte er sich in hohem Maße epistemisch irrational verhalten. Weder der gängige noch der abgeschwächte Begriff willentlicher Kontrolle lassen sich also global auf den epistemischen Bereich übertragen, wie es der deontologische doxastische Voluntarismus aber nötig machen würde. Der Voluntarist kann auf diese Schwierigkeiten nur reagieren, indem er eine Bedingung einführt, die die Problematik von willentlicher Kontrolle im Falle klarer Evidenz entkräftet – etwa indem er erklärt, dass man sich auch in diesen Fällen für eine andere Überzeugung entscheiden und diese annehmen kann, vorausgesetzt, man verfügt über entsprechende andere Evidenz. Ein derartiger Zug hat aber zur Folge, dass der Wille in der Theorie des Voluntaristen seine explanatorische Rolle verliert, weil die beschriebene kontrafaktische Kovarianz lediglich besagt, dass eine verlässlich ausgeübte rationale Fähigkeit vorliegt; es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der Wille an der Ausübung dieser Fähigkeit beteiligt sein müsste.
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Dieser abgeschwächte Voluntarismus ist also eigentlich kein Voluntarismus mehr. Es kann somit nicht die richtige Strategie für den Vertreter einer deontologischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung sein, die für epistemische Verantwortung nötige Kontrolle in der direkten Kontrolle des Willens über unsere Überzeugungen zu suchen, wie sie der doxastische Voluntarist annimmt. Der doxastische Voluntarismus kann daher auch nicht die richtige Weise sein, um epistemische Freiheit zu erklären, sofern diese Freiheit – als Fundament des „logischen Raums der Gründe“ – tatsächlich wesentliche Erklärungsarbeit für das Verständnis von Vernunft leisten soll und nicht nur die praktische, sondern auch die epistemische Vernunft „durch und durch“ frei sein soll. Ich hatte oben drei Prämissen eingeführt, um den Zusammenhang des doxastischen Voluntarismus mit epistemischer Freiheit zu erklären: (1) Wir sind im epistemischen Gebrauch unserer Vernunft frei. (= Annahme epistemischer Freiheit) (2) Epistemische Freiheit besteht primär in einer Freiheit, die wir hinsichtlich unserer Überzeugungen besitzen („doxastische“ Freiheit). (3) Die Möglichkeit willentlicher Kontrolle ist notwendig für Freiheit. Aus diesen Prämissen folgt, dass epistemische Freiheit primär in Wahlfreiheit in Bezug auf Überzeugungen besteht – also in der Art von Kontrolle über unsere Überzeugungen, die der doxastische Voluntarismus annimmt. Während wir offen gelassen haben, ob der doxastische Voluntarismus als Position hinsichtlich der Möglichkeit solcher Kontrolle wahr oder falsch ist – diesbezügliche Festlegungen setzen spezielle metaphysische Prämissen voraus und sind leicht anfechtbar –, haben wir gesehen, dass er jedenfalls nicht die Art von epistemischer Freiheit erklären kann, nach der wir suchen. Angesichts dieses Resultates bieten sich drei mögliche Strategien dar, die jeweils mindestens eine der genannten Prämissen aufgeben. Die erste Möglichkeit besteht darin, (1) (und mithin auch (2)) fallenzulassen und epistemische Freiheit ganz zu leugnen. Eine Abgrenzung des „logischen Raums der Gründe“ von der Natur und eine Anerkennung seiner normativen Dimension sind dann immer noch möglich: So haben viele Vertreter der deontologischen Konzeption epistemischer Rechtfertigung den doxastischen Voluntarismus abgelehnt und stattdessen Theorien von Verantwortung entwickelt, nach denen wir auch dann für etwas verantwortlich sein können, wenn es nicht unserer willentlichen Kontrolle unterliegt (vgl. z. B. Owens (2000) und Hieronymi (2008)). Gemäß der Prämisse (3) kann hieraus auch die Leugnung epistemischer Freiheit überhaupt gefolgert werden (Owens (2000)). Das Projekt, epistemische Verantwortung ohne Rekurs auf den Willen und auf Freiheit zu erklären, ist an sich plausibel, doch führt seine Akzeptanz dazu, dass der Gedanke vom logischen Raum der Gründe als „Reich
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der Freiheit“ und von einem Freiheits-basierten Selbstverständnis vernünftiger Wesen nicht mehr verfolgt werden kann. Die zweite Option besteht darin, die Prämisse (2) aufzugeben und epistemische Freiheit ohne doxastische Freiheit zu konzipieren – also statt der Überzeugungsbildung andere epistemisch relevante Handlungen und Vorgänge zu identifizieren, die selbst direkt dem Willen unterstehen. Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens kann auf die Möglichkeiten indirekter willentlicher Kontrolle über unsere Überzeugungen Bezug genommen werden, die wir bereits angesprochen haben. Wir können uns z. B. dazu bringen, eine bestimmte Überzeugung anzunehmen, die wir als rational geboten erkannt haben, aber irrationalerweise nicht gebildet haben – z. B. die Überzeugung, dass ein vor Gericht angeklagter und durch die Evidenz massiv belasteter Freund schuldig ist –, indem wir uns selbst die relevante Evidenz immer wieder verdeutlichen, bis wir tatsächlich die richtige Überzeugung haben. Ferner hängt, welche Überzeugungen wir haben, zu einem erheblichen Maß davon ab, welche praktischen Entscheidungen wir bezüglich Prozessen des Suchens nach Informationen und des Abwägens treffen. Gegen eine derartige Interpretation epistemischer Freiheit spricht aber, dass wir genau dieselbe Art von indirekter Kontrolle wie in den genannten Fällen auch bezüglich der Überzeugungen anderer Subjekte ausüben können. Wir können andere dazu bringen, eine bestimmte Überzeugung anzunehmen, die sie trotz besserer Einsicht nicht bilden, indem wir ihnen immer wieder die relevanten Gründe nennen; wir können ihre Überzeugungsbildung dadurch beeinflussen, dass wir ihnen einschlägige Evidenz aufsuchen und bereitstellen, dass wir sie durch hartnäckige Einwände daran hindern, ihre Abwägungen abzuschließen, usw. Ein Begriff epistemischer Freiheit, dem zufolge auch die Überzeugungen anderer Subjekte Ausdruck unserer Freiheit sein können, kann aber offensichtlich wenig zu einer Klärung eines Phänomens wie dem der epistemischen Verantwortung beitragen, das speziell das Verhältnis des rationalen Subjekts zu den eigenen Überzeugungen betrifft. Zweitens könnte epistemische Freiheit ohne doxastische Freiheit konzipiert werden, indem der Gegenstand epistemischer Bewertung neu bestimmt wird – nämlich so, dass statt Überzeugungen mentale und körperliche Handlungen Gegenstand epistemischer Bewertung werden, in Bezug auf die problemlos direkte willentliche Kontrolle angenommen werden kann. Überzeugungen würden hier also für die Frage nach epistemischer Freiheit und Verantwortung ganz ausgeklammert. Bei solchen Handlungen könnte es sich um diejenigen Handlungen des Recherchierens, Abwägens usw. handeln, die auch für die Konzeption der indirekten willentlichen Kontrolle über unsere Überzeugungen relevant waren. Epistemische Bewertung würde dann z. B. danach fragen, ob die Evidenz gewis-
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senhaft geprüft wurde, ob die Abwägung gründlich genug durchgeführt wurde usw.; hierfür können wir verantwortlich gemacht werden, weil die entsprechenden Handlungen der Freiheit unseres Willens unterliegen (vgl. Heil (1983)). Hiergegen spricht aber, dass Fälle denkbar sind, in denen ein Subjekt zwar in seinen willentlich kontrollierten epistemischen Handlungen die relevanten Standards erfüllt hat (z. B. die Evidenz gewissenhaft geprüft hat usw.), aber dennoch nicht die Überzeugung bildet, die seiner Einschätzung der Gründe-Bilanz entspräche (wie etwa der genannte Fall, in dem jemand die Schuld des Freundes nicht akzeptiert). In diesen Fällen können und müssen wir das Subjekt unabhängig von der Bewertung der genannten epistemischen Handlungen für seine Überzeugung kritisieren. Epistemische Bewertung und Verantwortung können also nicht auf willentlich kontrollierte Handlungen beschränkt sein, sondern müssen sich zumindest auch auf Überzeugungen beziehen. Wenn Verantwortung Freiheit und Freiheit willentliche Kontrolle erfordert, stellt sich hier somit erneut die Frage, wie wir in Bezug auf unsere Überzeugungen willentliche Kontrolle ausüben können. Es bleibt daher nur noch die Möglichkeit, die dritte der oben genannten Prämissen – „Die Möglichkeit willentlicher Kontrolle ist notwendig für Freiheit“ – in Frage zu stellen. Bei ihr handelt es sich aber, im Gegensatz zu den beiden anderen Prämissen, um eine scheinbar selbstverständliche Annahme. Kann sie überhaupt sinnvoll bezweifelt werden? – Für eine erste Annäherung an den Gedanken einer Freiheit ohne willentliche Kontrolle ist die folgende Passage hilfreich, in der Christine Korsgaard eine anschauliche Schilderung der elementaren Situation von Rationalität entwirft: [O]ur capacity to turn our attention on to our own mental activities is also a capacity to distance ourselves from them, and to call them into question. I perceive, and I find myself with a powerful impulse to believe. But I back up and bring that impulse into view and then I have a certain distance. Now the impulse doesn’t dominate me and now I have a problem. Shall I believe? Is this perception really a reason to believe? I desire and I find myself with a powerful impulse to act. But I back up and bring that impulse into view and then I have a certain distance. Now the impulse doesn’t dominate me and now I have a problem. Shall I act? Is this desire really a reason to act? (Korsgaard (1996), 93)
Unser Bewusstsein, so Korsgaard, bringt das Vermögen mit sich, uns von unseren unmittelbaren Impulsen zu distanzieren und sie in Frage zu stellen. So entsteht die normative Grundfrage: „Was soll ich tun?“. Diese Frage impliziert aber zwangsläufig, dass es verschiedene Optionen gibt – mindestens die beiden Optionen, dem Impuls nachzugeben oder ihn zu blockieren. In einer Überlegung müssen wir feststellen, welche dieser Optionen zu bevorzugen ist. Korsgaard beschreibt hier eine Situation, die sehr gut als Fall von Freiheit beschrieben
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werden kann, ohne dass dafür (wenigstens im epistemischen Fall) zwangsläufig eine Kontrolle durch den Willen angenommen werden müsste.59 Wenn so zumindest versuchsweise die Möglichkeit erwogen wird, epistemische Freiheit ohne Rekurs auf willentliche Kontrolle zu interpretieren, dann ergibt sich eine neue Perspektive für die Thematik des Verhältnisses von Freiheit und Vernunft überhaupt. Wie ich bereits angedeutet habe, folgt nämlich daraus, dass für epistemische Freiheit keine willentliche Kontrolle, mithin auch keine Wahl und Entscheidung seitens des Willens erforderlich sind, die Konsequenz, dass der Freiheitsbegriff überhaupt vom Willen und willentlicher Wahl und Kontrolle entkoppelt werden muss: Wenn eine wichtige Ausprägung von Freiheit unabhängig von willentlicher Wahl bzw. Kontrolle ist, kann willentliche Wahl bzw. Kontrolle kein notwendiger Bestandteil von Freiheit überhaupt sein. Der Wille und seine Fähigkeit zu Wahl und Kontrolle können dann nicht Teil einer generischen, allgemeingültigen Bestimmung von Freiheit sein, sondern dürfen lediglich eine Rolle für den Begriff spezifisch praktischer Freiheit spielen. Dies ist nun auch der Ansatz, den Hegel, ebenso wie Brandom, in der Frage nach einem Freiheits-basierten Selbstverständnis verfolgt. In den folgenden Kapiteln werden wir sehen, wie Hegel und Brandom jeweils einen generischen Begriff von Freiheit entwickeln, der ohne Bezug auf willentliche Wahl und Kontrolle auskommt. Ein Aspekt dieser Freiheit besteht dabei auch für Hegel in der Distanzierung von Impulsen. Während „das Tier […] nur die geistlose Dialektik des Übergehens von einer einzelnen, seine ganze Seele ausfüllenden Empfindung zu einer anderen, ebenso ausschließlich in ihm herrschenden einzelnen Empfindung“ darstellt (Enz. § 381 Z, 10/25), gilt für den Menschen als geistiges Wesen: „[W]as man so im Kopfe hat, ist im Bewußtsein überhaupt und der Inhalt demselben so gegenständlich, daß ebensosehr, als er in mir, dem abstrakten Ich, gesetzt ist, er auch von mir nach meiner konkreten Subjektivität entfernt gehalten werden kann“ (Enz. § 400 A, 10/98). Diese Fähigkeit zur Distanzierung führt Hegel auf das „Ich des Bewußtseins“ und die „Freiheit vernünftiger Geistigkeit“ zurück (Enz. § 400 A, 10/98).60 Auch Hegel scheint also in der Fähigkeit zur Distanzierung von gegebenen Impulsen, die wir auf Grund unseres Bewusstseins besitzen,
59 Die zitierte Passage könnte so verstanden werden, dass der entscheidende Unterschied zu nicht-rationalen Lebewesen in der Fähigkeit zur Lenkung der Aufmerksamkeit und somit doch in einem Akt willentlicher Kontrolle liegt; der Kontext zeigt aber, dass für Korsgaard nicht die Lenkung der Aufmerksamkeit entscheidend ist, sondern das Bewusstsein, das wir von unseren eigenen Wünschen und Wahrnehmungen haben. 60 Vgl. z. B. auch Enz. § 382, 10/25 f.; GPhR § 7 A, 7/55: „Jedes Selbstbewußtsein weiß sich als Allgemeines – als die Möglichkeit, von allem Bestimmten zu abstrahieren […]“. – In Abschnitt 6.2 werden wir diesen Aspekt von Hegels Freiheitstheorie genauer betrachten.
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ein Phänomen der Freiheit zu verorten, das zumindest nicht notwendigerweise willentliche Kontrolle involviert und das zugleich von grundlegender Bedeutung für Rationalität und Normativität ist. (Allerdings werden wir im Folgenden auch sehen, dass sich für Hegel unsere Freiheit keineswegs in dieser Fähigkeit erschöpft.) In Bezug auf den Ansatz zu einer Theorie der „Freiheit ohne Wahl“, der sich somit als bedenkenswerte Alternative zum doxastischen Voluntarismus und den anderen diskutierten Positionen in Sachen epistemische Freiheit ergeben hat, sollte nun ein wichtiger Punkt von vornherein klargestellt werden. In Korsgaards Beschreibung einer elementaren epistemischen Situation bieten sich, ebenso wie in der parallelen Beschreibung der praktischen Situation, mehrere Optionen dar. Warum sollte hier nicht von Wahl gesprochen werden und dann nach wie vor Freiheit mit Wahl verbunden oder gar identifiziert werden? Um die gewünschte Abgrenzung von der Prämisse (3) und den damit verbundenen Ansätzen wie insbesondere dem doxastischen Voluntarismus zu präzisieren, benötigen wir eine Unterscheidung von zwei verschiedenen Begriffen der Wahl. Der Typ von Wahl, den wir als deliberative Wahl bezeichnen werden, liegt dann vor, wenn es zwischen dem Vorliegen eines Impulses und der kognitiven oder praktischen Reaktion eine Lücke gibt, in die unsere Reflexion treten kann. Wie Korsgaard erläutert, umfasst diese Reflexion das Gewahrsein der Situation, das Infragestellen eines Impulses, das daraus resultierende Bewusstsein verschiedener Optionen und deren Abwägung. Deliberative Wahl in diesem Sinne muss – wie das Beispiel von Überzeugungsbildung in Wahrnehmungssituationen zeigt – nicht in jedem Fall der Überzeugungsbildung (oder des intentionalen Handelns) als konkreter mentaler Prozess stattfinden. Es ist aber unabdingbar für Rationalität, dass wir prinzipiell stets in Frage stellen können, was jeweils als richtig erscheint, offen für plausible Alternativen sind und solche Alternativen auch gezielt aufspüren oder kreativ entwerfen können. Diese Fähigkeit wird im expliziten Abwägen zwischen Alternativen am direktesten ausgeübt. Sie grenzt den freien Vernunftgebrauch zum einen vom Verhalten nichtrationaler Lebewesen ab, die vom Instinkt geleitet sind, und zum anderen von Indoktrination, fehlender intellektueller Flexibilität und anderen Formen von irrationaler Unfreiheit. Von dem deliberativen Sinn ist ein anderer Sinn von Wahl zu unterscheiden, den wir als den dezisionistischen Sinn bezeichnen können. Vereinfacht gesagt, ist Wahl in diesem Sinn ein Vermögen, Entscheidungen zu treffen, die nicht durch die verfügbaren Gründe festgelegt sind. Diese Kennzeichnung ist allerdings noch sehr ungenau. Um hier zu größerer Präzision zu gelangen, sollten wir zunächst den Terminus des „all-things-considered-Urteils“ einführen. Durch ein derartiges Urteil schätzen wir ein, welche Option (Handlung, Überzeugung) in einer Situation angesichts aller verfügbaren Gründe (im Sinne von pro-tanto-Gründen, also
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Gründen, die für oder gegen etwas sprechen, aber durch andere Gründe aufgewogen oder überboten werden können) richtig ist.61 All-things-considered-Urteile haben einen normativen Inhalt. Sie besagen in der Regel, dass eine oder mehrere bestimmte Optionen erlaubt oder rational zulässig sind. Wo nur eine einzige Verhaltensweise erlaubt ist und alle anderen relevanten Optionen nicht erlaubt sind, entspricht dies einer Verpflichtung. Unsere vorläufige Kennzeichnung dezisionistischer Wahl können wir nun dahingehend präzisieren, dass es sich bei dieser Wahl um ein Vermögen handelt, sich bei gleichbleibendem all-things-considered-Urteil gemäß einer bestimmten relevanten Option oder anders zu entscheiden. Eine solche Fähigkeit umfasst in jedem Fall die Fähigkeit zu einer Entscheidung, die durch die verfügbaren Gründe nicht hinreichend gestützt ist: Diese Entscheidung kann entweder darin bestehen, gemäß einer rational nicht erlaubten Option zu handeln (wenn man sich gegen eine gebotene Option oder gegen alle erlaubte Optionen entscheidet), oder darin, zwar gemäß einer rational erlaubten Option zu handeln, dadurch aber eine (oder mehrere) andere erlaubte Optionen zu verwerfen. (Der letztere Fall tritt auf, wenn zwei oder mehrere Optionen gleichermaßen zulässig sind und man sich für eine dieser Optionen entscheidet, ohne dass es hierfür weitere Gründe gäbe.) Zusätzlich ist nun noch eine genauere Klärung der Rede vom „Entscheidungsvermögen“ nötig. Diese Bestimmung muss einerseits weit genug sein, um Raum sowohl für inkompatibilistische als auch kompatibilistische Erklärungen von Wahl zu lassen. Anderseits muss sie eng genug sein, um Fälle auszuschließen, in denen jemand zwar die Fähigkeit hat, gemäß einer erlaubten Option zu handeln und anders zu handeln, aber die Fähigkeit zum Andershandeln nichts mit einem Beschluss zu tun hat. Dies ist erstens dann der Fall, wenn die Fähigkeit zum Andershandeln als die bloße Möglichkeit interpretiert wird, dass jemand auch andere Gründe haben kann. Um dies auszuschließen, haben wir bereits verlangt, dass in beiden möglichen Entscheidungen dasselbe all-things-considered-Urteil zugrunde liegt. Zweitens könnte die Fähigkeit zum Andershandeln darauf beschränkt sein, dass in einer Situation, in der mehr als eine Option erlaubt ist, der Charakter des Individuums, seine Gewohnheiten oder Dispositionen festlegen, welche Option es wählt.62 Auch ein Anders-Handeln-Können in diesem Sinn darf
61 Der Begriff stammt von Davidson (1980c). 62 Dies kann insbesondere auf epistemische Fälle der rationalen Unterbestimmtheit zutreffen, wo angesichts der verfügbaren Gründe die Annahme einer bestimmten Überzeugung ebenso zulässig ist wie die Suspension des Urteils; hier kann es von relevanten Charakterzügen (z. B. Gutgläubigkeit, Misstrauen) und ähnlichen Eigenschaften des Subjekts abhängen, welche Option es de facto ergreift. Der Rekurs auf solche Eigenschaften stellt eine Möglichkeit dafür dar, wie der doxastische Anti-Voluntarist derartige Fälle erklären kann: vgl. Raz (1999), 9.
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1 Einleitung
nicht schon hinreichend für das Vorliegen dezisionistischer Wahl sein, weil hier keine eigentliche Entscheidung stattfindet. Schließlich müssen wir auch Fälle ausschließen, in denen das Anders-Handeln-Können auf der Möglichkeit von Akrasie beruht; der akratische Akteur handelt nicht auf Grund einer Entscheidung, sondern auf Grund seiner Schwäche, an dem, was er entschieden hat, festzuhalten. Um den nötigen „aktiven“ Charakter der Verhaltensweise zu erfassen, können wir verlangen, dass sich das Subjekt mit ihr identifizieren muss. Wir können das relevante dezisionistische „Entscheidungsvermögen“ also als Fähigkeit bestimmen, die ein Akteur A ausübt, wenn in Bezug auf eine epistemische oder praktische Situation63 gilt: (1) A’s all-things-considered-Urteil ist U und basiert auf den pro-tanto-Gründen G={G1, G2, …, Gn}; (2) A hat die Charaktereigenschaften und Gewohnheiten F={F1, F2, …, Fn}; (3) A φt; (4) A identifiziert sich mit seinem φen; (5) ein alternatives Szenario ist möglich, in dem (1) und (2) gleich bleiben und außerdem gilt: (3*) A φt nicht; (4*) A identifiziert sich mit seinem nicht-φen. („φ“ kann für Überzeugungen und intentionale Handlungen bzw. Handlungsabsichten stehen, je nachdem, ob dezisionistische Wahl in Bezug auf epistemische oder praktische Kontexte betrachtet wird.64) Es ist „Wahl“ in diesem zweiten, dezisionistischen Sinn, um die es bei dem Gedanken der „Freiheit ohne Wahl“ geht. Die vorgeschlagene Präzisierung des Begriffs „dezisionistische Wahl“ macht deutlich, dass wir wohl jedenfalls im praktischen Bereich dezisionistische Wahl besitzen. Es gibt nämlich unzählige Situationen, in denen mehr als eine Handlungsoption rational erlaubt ist und wir (da im praktischen Bereich eine dauerhafte Suspension des Urteils nicht möglich ist: vgl. Raz (2009), 45) nicht umhin kommen, dezisionistische Entscheidungen zu treffen. (Libertarier nehmen in solchen Fällen typischerweise eine spontane Entscheidung zwischen den verschiedenen Optionen an. Dagegen haben Kompatibilisten die Auffassung vertreten, dass es in derartigen Fällen immer einen Unterschied in der motivationalen Kraft der jeweils relevanten Wünsche gibt, der dazu
63 Eine solche Situation sollte als zeitlich ausgedehnte Episode verstanden werden, die ein „Zeitfenster“ bildet, innerhalb dessen die relevante Verhaltensweise möglich ist. 64 Es kann hier dahingestellt bleiben, ob ein Akteur, der prinzipiell ein dezisionistisches Entscheidungsvermögen besitzt und in einer bestimmten Situation das tut, wozu er gemäß seinem all-things-considered-Urteil rational verpflichtet ist, sein dezisionistisches Entscheidungsvermögen in diesem Fall ausgeübt hat oder nicht.
1.6 Das Problem der epistemischen Freiheit
59
führt, dass wir uns gemäß einer der verfügbaren Optionen entscheiden – wenngleich uns dieser Unterschied im Rahmen unserer Deliberation und des auf sie gestützten „all-things-considered“-Urteils nicht bewusst war.65 Auch so verstandene Entscheidungen zählen nach der genannten Definition als Fälle dezisionistischer Wahl.) – Im epistemischen Bereich sind wir dagegen, wenn wir nicht doxastische Voluntaristen sind, keineswegs gezwungen, dezisionistische Wahl anzunehmen. Während die Diskussion epistemischer Freiheit eine erste Plausibilisierung des Gedankens der „Freiheit ohne (dezisionistische) Wahl“ geleistet hat, können die bisherigen Überlegungen zu verschiedenen Optionen in Sachen epistemischer Freiheit noch nicht hinreichen, um eine Revision der Verbindung von Freiheit, Wille und dezisionistischer Entscheidung zwingend erscheinen zu lassen. Um diese Option, die dem theoretischen Ansatz von Hegels Freiheitsbegriff entspricht, systematisch attraktiver zu machen, müssen wir zum einen die Rolle des Willens und der dezisionistischen Wahl für praktische Freiheit genauer betrachten und zum anderen fragen, wie ein generischer (für theoretische und praktische Vernunft gleichermaßen gültiger) Freiheitsbegriff aussehen kann, der nicht dezisionistische Wahl impliziert. Beiden Fragen gehe ich in Kapitel 2 nach. Auf der Grundlage einer kritischen Argumentation Hegels werde ich dabei zu dem Ergebnis kommen, dass die traditionell angenommene enge Verbindung zwischen dezisionistischer Wahl und Freiheit mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Die Betrachtung neuerer, „heterodoxer“ Position in der Debatte über Freiheit, die gleichfalls jener Verbindung gegenüber kritisch sind, wird zeigen, dass der Kern von Freiheit stattdessen in einem konstitutiven Zusammenhang zwischen dem Selbst und der Ausrichtung an Gründen gesehen werden sollte.
65 Vgl. z. B. Schopenhauer, Preisschrift 52, 83 f. (Schopenhauers Position in diesem Text ist zwar nicht klarerweise kompatibilistisch, entspricht aber in den meisten Punkten ganz der Tradition von Hobbes, Locke und Hume).
2 Freiheit ohne Wahl Die Aufgabe dieses Kapitels ist es, den theoretischen Ansatz verständlich und plausibel zu machen, von dem aus Hegel ein Freiheits-basiertes Welt- und Selbstverständnis entwickelt. Wer wie Hegel (und Brandom) zum einen Freiheit als Grundeigenschaft aller vernünftigen Vermögen versteht und zum anderen eine Deutung epistemischer Freiheit im Sinne des doxastischen Voluntarismus und im Sinne nicht-doxastischer Deutungen epistemischer Freiheit (vgl. 1.6) ablehnt, muss Freiheit begrifflich von der Fähigkeit der willentlichen Wahl entkoppeln: Dies war das Resultat unserer Diskussion der Problematik epistemischer Freiheit in Abschnitt 1.6. Die relevante Bedeutung von „Wahl“ hatten wir dabei genauer als „dezisionistische“ Wahl bestimmt, d. h. (vereinfacht gesagt) als Möglichkeit einer Entscheidung, die nicht durch ausreichende Gründe gestützt ist – im Gegensatz zur „deliberativen“ Wahl, die lediglich besagt, dass wir in einer Frage verschiedene Optionen zu berücksichtigen in der Lage sind. Zunächst rekonstruiere ich, wie Hegel sowohl das traditionelle libertarische als auch das traditionelle kompatibilistische Freiheitsverständnis als Identifikation von Freiheit mit dezisionistischer Wahl oder „Willkür“ interpretiert (2.1) und kritisiert (2.2). Anschließend ziehe ich Überlegungen von Harry Frankfurt heran, um den Gedanken von Freiheit ohne Wahl weiter plausibel zu machen (2.3), und betrachte Konsequenzen für die Deutung epistemischer Freiheit (2.4). Die letzten beiden Abschnitte werden der Prüfung von Perspektiven für alternative Freiheitstheorien gewidmet sein (2.5 und 2.6); mit Hegel argumentiere ich hier dafür, dass Freiheit grundsätzlich als Autonomie verstanden werden sollte. Die Betrachtung von Problemen, mit denen nach Hegel und Brandom eine Autonomie-Konzeption von Freiheit zunächst konfrontiert ist, wird den Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Hegels positiver Freiheitstheorie vom nächsten Kapitel an bieten.
2.1 Freiheit zwischen Erkenntnis und Wahl Die Annahme einer wesentlichen Verbindung zwischen Freiheit und (dezisionistisch verstandener) Wahl, die sich in Abschnitt 1.6 als Problem für die Interpretation epistemischer Freiheit und damit für ein Freiheits-basiertes Selbstverständnis erwiesen hat, ist für Hegel eine der Weisen, wie sich ein bestimmter Standpunkt in der Entwicklung unseres Freiheitsbewusstseins ausdrückt. Dieser Standpunkt, für den Hegel den Begriff der „subjektiven Freiheit“ gebraucht, ist spezifisch modern und stellt selbst einen epochalen Fortschritt gegenüber dem
2.1 Freiheit zwischen Erkenntnis und Wahl
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vormodernen Standpunkt der rein „objektiven Freiheit“ dar.1 Zugleich ist er selbst noch einseitig, weshalb Hegel ihn in unterschiedlichen Zusammenhängen kritisiert. Dabei richtet er sich ausdrücklich auch gegen die Annahme, Freiheit und dezisionistische Wahl seien intrinsisch verbunden. Hegels Kritik an dieser Annahme ist von großem sachlichem Interesse, doch sind einige Schritte erforderlich, um sein Argument genau zu erfassen. Insbesondere müssen wir, ehe wir Hegels Kritik im nächsten Abschnitt rekonstruieren können, zunächst seine Interpretation jener Annahme und ihre Einordnung in die genannte Abfolge von Standpunkten genauer verstehen. Diese Abfolge entwirft Hegel gemäß einem dreistufigen Modell der Geschichte von Normativität, das in seinen Grundzügen auch Brandom übernimmt.2 Im ersten Stadium der Entwicklung leben wir diesem Modell zufolge in sozialen Praktiken, in denen vorgefundene Normen unhinterfragt als gültig akzeptiert und befolgt werden; Hegels berühmtes Beispiel hierfür ist die griechische Polis, die er in der PhG analysiert. Das individuelle Bewusstsein in der Polis „weiß, was es zu tun hat“ (PhG 3/343); es treten keine Konflikte auf: „Das Ganze ist ein ruhiges Gleichgewicht aller Teile und jeder Teil ein einheimischer Geist, der seine Befriedigung nicht jenseits seiner sucht, sondern sie in sich darum hat, weil er selbst in diesem Gleichgewichte mit dem Ganzen ist“ (PhG 3/ 340).3 Dieser Zustand lässt sich sinnvoll als Form von Freiheit beschreiben, weil es hier keine (oder zumindest keine offen zutage tretende) Entfremdung gibt: Alle Individuen leben in Einklang mit dem Kollektiv, seinen Institutionen und Normen.4 Im späteren System gebraucht Hegel für diesen Aspekt von Freiheit und Normativität – das Befolgen objektiv gültiger Normen – den Begriff der „objekti1 Da für Hegel dieser Standpunkt mit dem der Moralität im weitesten Sinne (vgl. Siep (1992), 218 f.) zusammenfällt, gehört ihm strenggenommen auch Kants Autonomie-Konzeption von Freiheit an, die ich im weiteren Verlauf als Ansatzpunkt für Hegels eigene Freiheitstheorie deuten werde. In der Tat schreibt Hegel Kant hier eine ambivalente Rolle zu: Einerseits hat „die Erkenntnis des Willens erst duch die Kantische Philosophie ihren festen Grund und Ausgangspunkt durch den Gedanken seiner unendlichen Autonomie gewonnen“ (GPhR § 135 A, 7/252), andererseits kann Kant diesen Ausgangspunkt wegen der „Festhaltung des bloß moralischen Standpunkts“ (GPhR § 135 A, 7/252) nicht konsequent philosophisch umsetzen. 2 Vgl. zum Folgenden ASoT, Kap. 8 („From Irony to Trust: Modernity and Beyond“). 3 Das heißt nicht, dass es in dieser Phase nicht Normenbrüche und Sanktionen gäbe – andernfalls würde es sich nicht um eine lebendige normative Praxis, sondern ein physikalisches System handeln –, doch wird die Wiederherstellung der Ordnung nach einem solchen Verstoß nie als fremde Einwirkung und Begrenzung des eigenen Tuns erfahren (vgl. PhG 3/340 f.). 4 Diese Harmonie der Polis, die Hegel im Anschluss an Hölderlin diagnostiziert, erweist sich freilich als brüchig und instabil: Schon innerhalb der Polis tritt der Konflikt von menschlichem und göttlichem Recht – wie ihn Hegel an Hand von Sophokles’ Antigone rekonstruiert – zutage und bereitet die spätere Phase der Entfremdung vor.
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2 Freiheit ohne Wahl
ven Freiheit“ (vgl. z. B. GPhR § 258 A, 7/399). (Brandom beschreibt diesen Standpunkt auch so, dass hier Freiheit als einseitige Autorität der Normen über die Normenanwender interpretiert wird: Normen sollen unabhängig davon, welche Einstellungen die Individuen zu ihnen haben, Geltung für sie besitzen.) Allerdings ist auf der ersten Stufe die Konfliktlosigkeit nur deshalb möglich, weil hier noch keine wirkliche Konzeption des Selbst vorhanden ist. Diese tritt erst auf der zweiten Stufe auf und führt zum Zustand der Entfremdung zwischen dem Selbst und seiner Umwelt.5 Hier werden die zuvor als unmittelbar gültig hingenommenen Normen in Frage gestellt. In dieser Phase wird nämlich das Recht der individuellen Subjektivität vindiziert, nur das zu glauben und zu befolgen, was sie selbst als gültig anerkennt. „Freiheit“ besteht dementsprechend in erster Linie in der Fähigkeit des Individuums, Entscheidungen zu treffen, Normen zu setzen oder aufzuheben, zu befolgen oder zu missachten. Diese Fähigkeit kennzeichnet Hegel als „subjektive Freiheit“ oder als „Recht des subjektiven Willens“: „Nach diesem Rechte“, so erläutert er, „anerkennt und ist der Wille nur etwas, insofern es das Seinige, er darin sich als Subjektives ist“ (GPhR § 107, 7/205). Das Bewusstsein davon, dass jedes einzelne Individuum als solches, unabhängig von seinem sozialen Status, ein derartiges Recht hat, ist nach Hegel der entscheidende Beitrag, den das Christentum zur Entwicklung des Freiheitsverständnisses geleistet hat (vgl. Enz. § 482 A, 10/301 f.; GPhR § 124 A, 7/233).6 – Brandom interpretiert diesen Standpunkt als Umkehrung der Einseitigkeit, an der der Standpunkt der objektiven Freiheit krankte: Hier ist es allein das Subjekt, das Autorität ausübt; es entscheidet selbst, was es als gültig anerkennt, und ist daher unabhängig von objektiv gültigen Normen, wie zuvor die Normen unabhängig vom Subjekt waren. Eine einseitig subjektive Auffassung von Freiheit führt allerdings zu Pathologien wie dem Standpunkt der „Moralität“, der das moralische Gefühl, Gewissen usw. des einzelnen Individuums – als einer „sich als das Absolute behauptenden Subjektivität“ (GPhR § 140, 7/265) – zum Richter über Gut und Böse macht. Ebenso einseitig ist die naturalistische Reduktion von Normen auf kontingente nichtnormative Gegebenheiten, die gleichfalls dieser Phase angehört und die Hegel besonders in der PhG (Bildung, Aufklärung, das „niederträchtige Bewusstsein“) analysiert. (Hegel bezieht sich dabei v. a. auf die positivistische Aufklärung;
5 Vgl. PhG 3/361 f., wo Hegel auch den Begriff des „Selbst“ mehrfach gebraucht. 6 In Kapitel 9 werden wir sehen, dass diese für Hegel in der christlichen Religion enthaltene Einsicht selbst auch schon weit über die subjektive Freiheit hinausgeht und bereits ein Verständnis der „höchsten Freiheit“ (Enz. § 482 A, 10/302) umfasst. Unmittelbar historisch wirksam ist für Hegel aber der Gedanke subjektiver Freiheit geworden, der aus dem Wissen von dem unendlichen Wert des Individuums folgt und einen kategorischen Fortschritt gegenüber der paganen Antike darstellt.
2.1 Freiheit zwischen Erkenntnis und Wahl
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Brandoms Beispiele sind die großen „Demaskierer“ des 19. und 20. Jahrhunderts, Marx, Nietzsche, Freud und Foucault.) Diese Einseitigkeiten müssen überwunden werden, indem in einer dritten Phase das „Recht der Subjektivität“ mit der objektiven Geltung normativer Anforderungen versöhnt wird. Brandom sieht diese Epoche, die er als Phase des „Vertrauens“ oder der „Nach-Moderne“ bezeichnet, durch die nicht mehr einseitig unabhängige, sondern balancierte Anerkennungsstruktur der „Verzeihung“ charakterisiert, die Hegel am Ende des Geist-Kapitels in der PhG darstellt, und erblickt hierin eine zukünftige, erst noch zu realisierende Form der Intersubjektivität. Dagegen verortet zumindest der spätere Hegel die Versöhnung von subjektiver und objektiver Freiheit in der bereits (weitgehend) realen modernen Sittlichkeit, die die individuellen Rechte und Pflichten der BürgerInnen (Familie, bürgerliche Gesellschaft) mit dem Gemeinwillen (Staat) aussöhnt (vgl. GPhR § 260, 7/406 f.). Hegel entfaltet das skizzierte Dreistufenmodell in erster Linie im Hinblick auf die Dynamiken der hier involvierten normativen Praktiken. Er weist aber auch immer wieder andeutungsweise bestimmte philosophische Freiheitskonzeptionen einzelnen Phasen in der genannten Entwicklung zu. Die Ansicht, willentliche Wahl sei ein notwendiges Element von Freiheit, betrachtet er dabei als eine bestimmte Ausprägung des Standpunkts der subjektiven Freiheit. Allgemein gilt, dass die „subjektive oder moralische Freiheit“ die „Subjektivität des Willens“, den eigenen Willen des Individuums, als „Selbstzweck, schlechthin wesentliches Moment“ (Enz. § 503 A, 10/312 f.) betrachtet. Dies bedeutet: [D]ie sittlichen wie die religiösen Bestimmungen sollen nicht nur als äußerliche Gesetze und Vorschriften einer Autorität den Anspruch an ihn [sc. den Menschen] machen, von ihm befolgt zu werden, sondern in seinem Herzen, Gesinnung, Gewissen, Einsicht usf. ihre Zustimmung, Anerkennung oder selbst Begründung haben. (Enz. § 503 A, 10/312 f.)
Dieser spezifisch moderne Geltungsanspruch des Subjekts, den Hegel häufig als „Recht des subjektiven Willens“ bezeichnet, kann nun in unterschiedlicher Weise interpretiert werden. Ein Aspekt des subjektiven Willens ist die Fähigkeit zur dezisionistischen Wahl – für Hegel die Fähigkeit, „zwischen Neigungen zu wählen“, oder die „Willkür“ (Enz. § 477, 10/299). Wenn dieser Aspekt isoliert betrachtet und mit Freiheit schlichtweg identifiziert wird, dann resultiert die „gewöhnlichste Vorstellung, die man bei der Freiheit hat“, nämlich eben „die der Willkür“ (GPhR § 15 A, 7/66).7
7 Gemeint ist offensichtlich: die gewöhnlichste Vorstellung, die man heutzutage bei der Freiheit hat – in der Antike war eine derartige Konzeption Hegel zufolge noch keine Option.
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2 Freiheit ohne Wahl
Wie sehen nun die Freiheitskonzeptionen, die Hegel hier vor Augen hat, genauer aus, und was ist an ihnen problematisch? Auf die wenigen Andeutungen, die Hegel hierzu gibt, werden wir im weiteren Verlauf zurückkommen. Zunächst können wir Hegels Auffassung von der Abfolge der beiden Standpunkte rein objektiver und rein subjektiver Freiheit philosophiehistorisch dadurch konkretisieren, dass wir sie mit der Genese der neuzeitlichen Freiheitsdebatte in Verbindung bringen. Stark vereinfacht wird dieser Vorgang oft so beschrieben, dass an die Stelle des intellektualistischen Paradigmas im Verständnis von Freiheit, das in der paganen Antike vorherrscht, allmählich ein voluntaristisches Paradigma tritt, das sich aus der jüdisch-christlichen Tradition speist.8 Nachdem in der Hochscholastik beide Modelle in scharfe Opposition zueinander treten9, geht die moderne libertarische Tradition aus dem scholastischen Voluntarismus hervor. Die moderne kompatibilistische Tradition übernimmt zwar teilweise Elemente des Intellektualismus, doch werden wir sehen, dass Hegel selbst sie mitsamt dem traditionellen Libertarismus als Ausprägung der Deutung von Freiheit als Willkür bzw. dezisionistische Wahl ansieht (und insofern als Weiterführung des voluntaristischen Modells). Betrachten wir zunächst die intellektualistische Position, die ihre klarste Formulierung bei Autoren der Hochscholastik wie Siger von Brabant und dem frühen Thomas von Aquin (in De veritate und dem Sentenzenkommentar)10 gefunden hat. Für Intellektualisten ist die für Freiheit wichtigste Fähigkeit die Erkenntnis des Guten durch den Intellekt. Ihm gegenüber wird der Wille lediglich als passives, nicht selbstbestimmtes Ausführungsorgan verstanden. Zwar muss
8 Vgl. hierzu und zum Folgenden Lottin (1942); Dihle (1982); Irwin (1992); Kent (1995); Frede (2002); Pink/Stone (2004); Kobusch (2006); Irwin (2007 ff.), Bd. 1; Hoffmann (2010). 9 Die mittelalterliche Auseinandersetzung zwischen Intellektualisten und Voluntaristen umfasst im engeren Sinne Debatten, die sich an die Pariser Verurteilung von 1277 anschließen. In diesem Jahr hatte der Pariser Bischof Étienne Tempier 219 Lehrsätze als glaubenswidrig verurteilt. Manche von ihnen entsprechen der Philosophie des Thomas von Aquin; gegen den Thomismus und den sogenannten „lateinischen Averroismus“ des Siger von Brabant und seiner Anhänger macht die Verurteilungsakte besonders die augustinische Tradition stark. Die verurteilten Thesen umfassen u. a. solche, die den Willen dem Intellekt unterordnen, wie etwa Proposition 163: „Dass der Wille notwendig verfolgt, was von der Vernunft fest geglaubt wird; und dass er nicht unterlassen kann, was die Vernunft diktiert. Diese Nötigung ist aber kein Zwang, sondern die Natur des Willens“ („Quod voluntas necessario prosequitur, quod firmiter creditum est a ratione; et quod non potest abstinere ab eo, quod ratio dictat. Hec autem necessitatio non est coactio, sed natura voluntatis“ (Tempier, Opiniones condemnatae, 552)). In der Folge attackieren die – meist franziskanischen – Voluntaristen u. a. die Position des Thomas, während ihm dessen dominikanische Anhänger intellektualistische Positionen zuschreiben und verteidigen. 10 Zu Siger von Brabant vgl. C. Ryan (1983), zu Thomas von Aquin Hoffmann (2007) und (2010); dort auch weitere Literatur.
2.1 Freiheit zwischen Erkenntnis und Wahl
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der Intellektualist zugestehen, dass wir – sei es durch Fehler des Intellekts, sei es durch Fehler des Willens – auch falsch handeln können, doch ist die Fähigkeit zum Bösen für Intellektualisten kein positives Vermögen, sondern nur ein Scheitern in der Ausübung des Vermögens zum Guten. Die höchste Freiheit sehen Intellektualisten entsprechend in der Freiheit Gottes, der nicht sündigen kann. Das liberum arbitrium ist für Intellektualisten also ein Entscheidungsvermögen nur im Sinne der „deliberativen“ Wahl, der Verfügbarkeit von rationalen Alternativen, nicht aber im Sinne der „dezisionistischen“ Wahl, die sich auch gegen oder ohne hinreichende Gründe entscheiden kann. Sein Ort ist so auch nicht der Wille, sondern der Intellekt. Dezisionistische Wahl dagegen ist für Intellektualisten nicht eine wesentliche Voraussetzung, sondern eine Einschränkung von Freiheit. Da sie stattdessen die Erkenntnis des Guten als zentrales Element von Freiheit ansehen, können Intellektualisten auch alle vernünftigen Vermögen als solche, und insbesondere den Intellekt, als frei begreifen (vgl. Gouris (2005)). Es liegt auf der Hand, dass dem Erkenntnis-basierten Freiheitsmodell des Intellektualisten eine Konzeption von Normativität entspricht, wie Hegel sie dem Standpunkt der rein objektiven Freiheit zuschreibt: Die Normen sind uns vorgegeben, und wir sind frei, wenn wir sie richtig erkennen und dementsprechend handeln.11 Tatsächlich kann auch die Kritik, die Hegel gegenüber rein objektiver Freiheit übt, mit den Argumenten in Verbindung gebracht werden, die mittelalterliche Voluntaristen gegen die Intellektualisten ins Feld führen; für den Zweck der weiteren Rekonstruktion von Hegels Argumentation wird es hilfreich sein, wenn wir diesen Zusammenhang etwas genauer betrachten. – Hegel kritisiert am Standpunkt der rein objektiven Freiheit, wie er in der antiken Sittlichkeit realisiert ist, u. a. die Unmittelbarkeit der Normen, die hier ohne rationale Legitimation vorgegeben sind – teils als nicht hinterfragte soziale Autorität, teils als natürlich gegebene normative Ordnung: Der Geist ist das sittliche Leben eines Volks, insofern er die unmittelbare Wahrheit ist; das Individuum, das eine Welt ist. Er muß zum Bewußtsein über das, was er unmittelbar ist, fortgehen, das schöne sittliche Leben aufheben und durch eine Reihe von Gestalten zum Wissen seiner selbst gelangen. (PhG 3/326)
Eine derartige Unmittelbarkeit ist dem Wesen des Geistes zuwider, der auf Vermittlung, Prüfung und Rechtfertigung angewiesen ist (wie sie vom Standpunkt der subjektiven Freiheit dann ja gefordert werden), und ist eigentlich ein Kennzeichen der Natur. Im Anschluss an Sellars kann Hegels Einschätzung der rein objektiven
11 Für die mittelalterlichen Intellektualisten ist entsprechend auch Gottes Handeln durch vorgegebene Normen bestimmt.
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2 Freiheit ohne Wahl
Freiheit daher als Form einer Kritik am Mythos des Gegebenen gedeutet werden, die die Annahme von vermeintlich unmittelbar gegebenen Rechtfertigungsfundamenten und die damit einhergehende Nivellierung des Unterschiedes von Normativem und Nicht-Normativem, von Geistigem und Natürlichem ablehnt.12 Ganz ähnlich werfen auch schon die mittelalterlichen Voluntaristen ihren intellektualistischen Kontrahenten eine Naturalisierung des Willens vor. So unterscheidet Duns Scotus wie folgt zwischen natürlichen und nicht-natürlichen Vermögen13: Entweder ist nämlich ein Vermögen aus sich heraus zum Handeln bestimmt, so dass es, insofern es aus sich heraus existiert, nicht nicht handeln kann, solange es nicht von einer äußeren Ursache gehindert wird. Oder es ist nicht aus sich heraus bestimmt, sondern kann diese oder die entgegengesetzte Handlung ausüben; oder auch handeln oder nicht handeln. Das erste Vermögen wird gemeinhin ‚Natur‘ genannt, das zweite ‚Wille‘. (Quaestiones in libros metaphysicorum Aristotelis IX q. 15, n. 22, Op. phil. IV, 680 f.)14
Während Duns Scotus das Kennzeichen natürlicher Vermögen in der Notwendigkeit sieht, mit der sie ihre Funktion erfüllen, setzt er das unterscheidende Merkmal nicht-natürlicher bzw. rationaler Vermögen in die Fähigkeit zu alternativen Möglichkeiten – also in die Fähigkeit, zu handeln oder nicht zu handeln (die Handlung zu unterlassen oder eine entgegengesetzte Handlung auszuführen). Dadurch grenzt sich Duns Scotus von einer intellektualistischen Deutung rationaler Fähigkeiten ab, die etwa Anselm von Canterbury15 in seiner Definition rationaler Vermögen vertritt: Für die rationale Natur heißt es nichts anderes, rational zu sein, als dass sie das Gerechte vom nicht Gerechten, das Wahre vom nicht Wahren, das Gute vom nicht Guten, das Bessere vom weniger Guten unterscheiden kann. (Monologion c. 68, Op. omn. I, 78)16
12 Vgl. zu dieser Nivellierung als Aspekt des Mythos vom Gegebenen McDowell (2009b), 4 f. 13 Vgl. zum Folgenden King (2001); T. Williams (1998a). 14 „Aut enim potentia ex se est determinata ad agendum, ita quod, quantum est ex se, non potest non agere quando non impeditur ab extrinseco. Aut non est ex se determinata, sed potest agere hunc actum uel oppositum actum; agere etiam uel non agere. Prima potentia communiter dicitur ‚natura‘, secunda dicitur ‚uoluntas‘“. – Dieselbe Unterscheidung fasst Duns Scotus an anderer Stelle in die Begriffe „nicht-rationales“ vs. „rationales Vermögen“ (Quodlibet q. 16, n. 13, Op. omn. XXVI, 197; vgl. King (2001), 17). 15 Anselms komplexe Freiheitstheorie kombiniert lange vor der eigentlichen Kontroverse voluntaristische und intellektualistische Elemente; in dieser Hinsicht steht sie aber dem Intellektualismus näher. Vgl. zu Anselms Freiheitsbegriff, mit weiterer Literatur, Rogers (2008). 16 „Denique rationali naturae non est aliud esse rationalem, quam posse discernere iustum a non iusto, verum a non vero, bonum a non bono, magis bonum a minus bono“.
2.1 Freiheit zwischen Erkenntnis und Wahl
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Wir müssen das Gerechte vom nicht Gerechten abgrenzen können („discernere iustum a non iusto“), um auf rationale, nicht bloß instinktgeleitete Weise ihm gemäß handeln zu können; daraus folgt noch nicht, dass wir auch ihm entgegen handeln können.17 Für Duns Scotus erfordert Rationalität hingegen, dass wir tatsächlich alternative Handlungsmöglichkeiten haben. Nur durch eine Mehrzahl von Optionen, die zum Zeitpunkt der freien Entscheidung dem Akteur bedingungslos offenstehen, ist für Duns Scotus Möglichkeit im Gegensatz zur Notwendigkeit gewährleistet; so verstandene Möglichkeit ist nach Duns Scotus für Freiheit unabdingbar.18 Da also für Duns Scotus der Intellektualismus Freiheit mit rationaler Determination gleichsetzt, nicht mit Indetermination, fallen die Vernunft und der Wille, wie sie der Intellektualist deutet, innerhalb der Unterscheidung zwischen natürlichen und rationalen Vermögen auf die Seite der natürlichen Vermögen. Der Intellektualist naturalisiert de facto, so die voluntaristische Kritik, die rationalen Vermögen und gleicht menschliches Handeln dem instinktgeleiteten Verhalten von Tieren an; eine solche Naturalisierung kann für Duns Scotus nur dann vermieden werden, wenn Freiheit auf den Willen eingeschränkt und als Vermögen der unkonditionierten Wahl verstanden wird.19 In direktem Zusammenhang hiermit steht, dass die mittelalterlichen Voluntaristen eine strikte ontologische Unterscheidung zwischen dem Bereich dessen, was in der Natur als existent gegeben ist, und dem Bereich dessen, was durch (voluntaristische) Freiheit spontan hervorgebracht wird, vertreten. Für den letzteren Bereich verwenden v. a. franziskanische Autoren den Begriff des „esse morale“, der dem des „esse naturale“ – dem Seinsbereich natürlicher Substanzen – entgegengesetzt wird (vgl. Kobusch (1993), 23 ff.).20 Intentionale Handlungen, 17 Gott und die Engel beispielsweise können nur gut handeln, was aber für Anselm ihre Freiheit nicht einschränkt, sondern im Gegenteil erhöht (De libertate arbitrii, cc. 1, 9). 18 Vgl. Fußnote 27 in diesem Kapitel; Knuuttila (1993). 19 Die genaue Natur dieser Wahl ist dabei unter Interpreten umstritten. Während Duns Scotus nach manchen Deutungen einen radikalen Voluntarismus (ähnlich wie Pierre Jean Olivi oder Heinrich von Ghent) vertritt, besteht nach anderen Lesarten für Duns Scotus die eigentliche Freiheit in der Übereinstimmung des Willens mit seiner intrinsischen Ausrichtung auf das Gute. Vgl. hierzu, mit weiterer Literatur, Th. Williams (1998b). 20 Nach Kobusch ist diese Terminologie in der Hochscholastik allgemein verbreitet, doch vermutet er ihren Ursprung in der Christologie des Franziskaners Alexander von Hales (Kobusch (1993), 23). In der Folge sind es auch in erster Linie voluntaristisch orientierte Franziskaner wie Bonaventura von Bagnoregio, die die Unterscheidung ontologisch präzisieren (39 ff.). Der Hintergrund der Unterscheidung liegt nach Kobusch in Versuchen, Probleme der Trinitätsspekulation dadurch zu lösen, dass die substantiale Einheit Gottes als dessen natürliches, substanzhaftes Sein verstanden wird, die Dreizahl der göttlichen Personen hingegen als Gottes normative oder „moralische“ Seinsweise. Vorbild sind hier juristische Kontexte, wo gleichfalls Personen anders individuiert sind als natürliche Substanzen (29). – Die historische Genese dieser Begrifflichkeit
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2 Freiheit ohne Wahl
Normen, normative Status wie Verpflichtungen, Rechte usw. werden von den Voluntaristen als Produkte unserer freien Aktivität verstanden und ontologisch vom Natürlichen abgegrenzt; während natürliche Substanzen ihren wesensmäßigen Gesetzen folgen, bestimmen Wesen von der Seinsart des „esse morale“ ihr Wesen selbst (vgl. Kobusch (1993), 45). Dabei sehen die Voluntaristen bereits klar, dass die Seinsart des „esse morale“ nicht als quasi-natürliche Dinghaftigkeit verstanden werden darf, sondern die Rolle betrifft, die natürliche Gegenstände im Rahmen sozialer Interaktion und evaluativer Einstellungen erhalten.21 Indem sie die Unterscheidung von „esse naturale“ und „esse morale“ freiheitstheoretisch fundieren und ontologisch präzisieren, bereiten die Voluntaristen diejenige „Entzauberung der Welt“ entscheidend vor, die für das neuzeitliche Vernunftverständnis maßgeblich ist und – entsprechend Hegels Begriff der „subjektiven Freiheit“ – die Normen, nach denen wir uns richten, als Produkt von Freiheit statt als Teil der natürlichen Ordnung begreift (1.1).22 – Ebenso wie aus Hegels Sicht der Standpunkt der rein objektiven Freiheit u. a. an einer Form des Mythos des Gegebenen krankt, gegen die sich der Standpunkt der rein subjektiven Freiheit wendet, ist also auch in der Geschichte der philosophischen Freiheitsdebatten eine ganz ähnliche Kritik mit für den Übergang vom intellektualistischen, Erkenntnis-basierten Modell hin zum voluntaristischen Paradigma verantwortlich. Welche konkreteren Freiheitskonzeptionen entsprechen nun dem Standpunkt der rein subjektiven Freiheit, der auf die geschilderten Einseitigkeiten der rein objektiven Freiheit reagiert? Wie wir schon gesehen haben, ist für Hegel der Standpunkt rein subjektiver Freiheit u. a. dadurch gekennzeichnet, dass hier das „Recht des subjektiven Willens“ eingefordert wird: „Nach diesem Rechte anerkennt und ist der Wille nur etwas, insofern es das Seinige, er darin sich als Subjektives ist“ (GPhR § 107, 7/205). Dieser Anspruch des Subjekts, nur das zu
im Kontext des Rechtswesens und in der Anwendung juristischer Begriffe auf die Probleme der Trinitätsspekulation (29 f.) kann in Brandoms Begriffen sehr gut so verständlich gemacht werden, dass in zunächst spezifischen Kontexten auf Grund spezieller Fragestellungen ein geeignetes „normatives Metavokabular“ entwickelt wird. Da die in jenen Sachgebieten relevanten Aspekte (z. B. die Unterscheidung von Person und Naturding) unmittelbar mit Eigenschaften aller rationalen Praktiken zusammenhängen, bieten jene Fachvokabulare zugleich den Grundstock für ein allgemein anwendbares normatives Metavokabular. 21 So schreibt der Franziskaner Petrus Aureolus († 1322): „esse morale non consistit in re extra, sed in aestimatione hominum“. Zitiert nach Kobusch (1993), 50. 22 Die frühneuzeitliche Naturrechtstradition, auf die sich Brandom (MIE 46 ff.; RiPh 60 f.) und Schneewind (1998) für ihre Rekonstruktion der Genese des modernen Autonomiedenkens berufen, schließt direkt an die genannten Aspekte des mittelalterlichen Voluntarismus an. Beispielsweise deutet auch Pufendorf Normen als „moralische Entitäten“, weil andernfalls die Freiheit Gottes beschränkt sei; vgl. Schneewind (1998), 122.
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akzeptieren, was „das Seinige“ ist, bezieht sich nicht nur auf die Frage nach der Geltung von Normen, sondern auch auf die Verantwortung für Handlungen (vgl. u. a. GPhR § 121, 7/228 f.; Enz. § 503, 10/312). Freiheit wird hier also grundsätzlich als Eignerschaft des Individuums in Bezug auf Handlungen und Normen (sowie damit verbundene Faktoren wie z. B. soziale Status) interpretiert. Es gibt nun in der neuzeitlichen Philosophie zwei sehr einflussreiche Modelle dafür, wie eine derartige Eignerschaft philosophisch erklärt werden kann. Wichtige Elemente des ersten Modells haben wir schon in Bezug auf Duns Scotus und seinen voluntaristischen Freiheitsbegriff kennengelernt. Insgesamt verstehen Voluntaristen den freien Willen als Vermögen zu unbedingten Entscheidungen. Anders als im Intellektualismus muss das liberum arbitrium hier also stets auch die Möglichkeit haben, sich gegen den Ratschluss des Intellektes zu entscheiden. Zwar wird der Wille dabei selbst typischerweise als rationales, an moralische Normen gebundenes Vermögen betrachtet, so dass blinde Willkür nicht als angemessene Ausübung des Willens angesehen wird. Dennoch ist gemäß der voluntaristischen Konzeption der Wille dem Intellekt übergeordnet und kann uneingeschränkt darüber entscheiden, ob er die von jenem erkannten Güter realisieren will oder nicht.23 Diese Auffassung von Freiheit ist auch über die mittelalterlichen Debatten hinaus höchst einflussreich geblieben, weil sie die Grundlage der modernen libertarischen Tradition in der Diskussion um Willensfreiheit bildet.24 Nach traditioneller libertarischer Auffassung soll die unbedingte dezisionistische Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten dem Willen Freiheit im Sinne von unkonditionierter kausaler Spontaneität sicherstellen.25 In der frühen Neuzeit lässt sich 23 Neben Duns Scotus vertreten in der Scholastik Autoren wie Walter von Brügge, William de la Mare und Ockham eine derartige Auffassung; vgl. Lottin (1942). 24 Die Begriffe „Inkompatibilismus“, „Libertarismus“ und „Kompatibilismus“ für sich genommen stehen für bestimmte logische Optionen in Bezug auf die Frage, ob Freiheit und Determinismus kompatibel sind (Inkompatibilität, Inkompatibilität mit Bejahung von Freiheit und Verneinung von Determinismus, Kompatibilität). Hiervon müssen die konkreten Ausprägungen unterschieden werden, die diese Optionen in der Philosophiegeschichte traditionell erfahren haben. In Bezug auf die neuzeitliche Debatte haben sich dabei eine libertarische und eine kompatibilistische Tradition herausgebildet, die jeweils bestimmte handlungstheoretische, moralpsychologische und metaphysische Grundüberzeugungen teilen. Repräsentativ für die libertarische Position in diesem Sinn sind Bramhall und Reid, für die kompatibilistische Position Hobbes, Hume und Locke. 25 Diese Deutung von Freiheit ist schon bei Autoren des 13. Jahrhunderts wie dem Franziskaner Pierre de Jean Olivi vorzufinden (vgl. Pasnau (1999)). Olivi bestimmt den Willen gegen Aristoteles als kausal völlig unkonditionierte „totaliter potentia activa“, die, bevor sie sich selbst entschließt, vollkommen unbestimmt ist. Über Autoren wie Duns Scotus und Ockham werden ähnliche Positionen an spätscholastische Libertarier wie Molina und Suárez sowie protestantische Liberta-
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der anhaltende voluntaristische Einfluss u. a. daran ablesen, dass Libertarier häufig eine auf die voluntaristische Tradition der Scholastik zurückgehende Definition des freien Willens gebrauchen: Frei ist demnach der Akteur dann, wenn alle zum Handeln erforderlichen Bedingungen gegeben sind und er dennoch handeln und nicht handeln kann.26 Ganz ähnlich betrachten Libertarier im 20. Jahrhundert gewöhnlich die unkonditionale Verfügbarkeit alternativer Möglichkeiten als das zentrale Element von Freiheit: Frei ist der Akteur einer Handlung A nur dann, wenn er unter genau denselben Umständen, also ohne dass sich an der kausalen Vorgeschichte etwas ändern würde („all things being equal“), A auch unterlassen kann.27 Das Freiheitsverständnis im mittelalterlichen Voluntarismus und in der libertarischen Tradition der Neuzeit steht nun deshalb für ein Modell subjektiver Freiheit im Sinne Hegels, weil die Funktion des Entscheidungsvermögens in diesen Theorien darin besteht, uns Eignerschaft in Bezug auf unsere Absichten und Handlungen usw. zu sichern. Unsere Absichten und Handlungen gehören nach dieser Auffassung deshalb uns an, weil sie unter unserer unbedingten Kontrolle stehen bzw. ihr Ursprung allein in uns liegt: Ob sie herbeigeführt werden, hängt ganz allein von uns ab.
rier wie Arminius vermittelt. Die Freiheitstheorien Molinas, Suárez’ und Arminius’ bilden wiederum den direkten Bezugspunkt für spätere Libertarier bis ins 18. Jahrhundert (Chappell (2005); Sleigh u. a. (1998), 1206). Während dabei unter den prominenten Philosophen der frühen Neuzeit häufiger kompatibilistische Positionen auftreten, ist insgesamt der Libertarismus in der Nachfolge der Spätscholastik die Standardposition der katholischen Denker und auch vieler protestantischer Theologen und Philosophen in der frühen Neuzeit (Sleigh u. a. (1998), 1270). Diese frühneuzeitlichen Autoren vermitteln ihrerseits den mittelalterlichen Einfluss an Inkompatibilisten des 20. und 21. Jahrhunderts wie Chisholm und Kane weiter. 26 Vgl. z. B. Bramhall, „A Defence of True Liberty“, in: Hobbes and Bramhall on Liberty and Necessity, 62 f. 27 Dabei geht die Auffassung, dass der freie Wille zwischen Möglichkeiten wählen können muss, die ihm gleichzeitig zur Verfügung stehen, auf die modale Metaphysik des Duns Scotus zurück. Dieser hat als einer der ersten Autoren den Begriff der Möglichkeit im Sinne von alternativen Szenarien interpretiert, die zu einem bestimmten Zeitpunkt – in unserem Fall dem der Handlung – simultan zugänglich sein müssen, und nicht im Sinne von diachronen Verhältnissen (z. B. p ist möglich, wenn es manchmal der Fall ist, dass p). Duns Scotus’ Motivation für diese metaphysische Theorie der Möglichkeit war gerade das Bestreben, die Willensfreiheit kohärent als unkonditionierte Entscheidungsfähigkeit denken zu können; vgl. Knuuttila (1993). Dass die verfügbaren alternativen Möglichkeiten heute gewöhnlich als „mögliche Welten“ interpretiert werden, setzt eine modale Metaphysik voraus, die selbst – vermittelt durch Leibniz – in der Tradition von Duns Scotus’ voluntaristischer Metaphysik der Modalitäten steht. (Freilich impliziert die Akzeptanz einer möglichen-Welten-Metaphysik nicht zwangsläufig ein voluntaristisches Freiheitsverständnis).
2.1 Freiheit zwischen Erkenntnis und Wahl
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Daneben gehört für Hegel aber auch ein zweites sehr einflussreiches Modell von Eignerschaft dem Standpunkt der rein subjektiven Freiheit an, nämlich das Modell des traditionellen Kompatibilismus. Dies wird deutlich, wenn Hegel erklärt: Die gewöhnlichste Vorstellung, die man bei der Freiheit hat, ist die der Willkür – die Mitte der Reflexion zwischen dem Willen als bloß durch die natürlichen Triebe bestimmt und dem an und für sich freien Willen. Wenn man sagen hört, die Freiheit überhaupt sei dies, daß man tun könne, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freie Wille, Recht, Sittlichkeit usf. ist, noch keine Ahnung findet. (GPhR § 15 A, 7/66)
Hegel äußert sich hier bereits sehr kritisch zur Deutung von Freiheit als Willkür; wie er die Kritik argumentativ genauer entfaltet, werden wir später betrachten. Zunächst geht es nur um die Frage, welche Positionen Hegel hier im Blick hat. Zuvor hatte es von der „Willkür“ u. a. geheißen, dass in ihr „die freie von allem abstrahierende Reflexion“ enthalten sei (GPhR § 15, 7/66). Insofern verweist der Begriff der „Willkür“ klar auf das Freiheitsverständnis der libertarischen Tradition (wie es im mittelalterlichen Voluntarismus grundgelegt wird). Dagegen zitiert die Formulierung von Freiheit als der Fähigkeit, „daß man tun könne, was man wolle“, einen der bekanntesten Slogans der kompatibilistischen Tradition. Der erste wichtige Vertreter des traditionellen neuzeitlichen Kompatibilismus ist Hobbes, in dessen berühmtem Austausch mit dem Bischof Bramhall – einem Vertreter der traditionellen libertarischen Position in Fortsetzung der Scholastik – die Opposition zwischen traditionellem Libertarismus und traditionellem Kompatibilismus, die alle weiteren Diskussionen bestimmte, in exemplarischer Form ausgeprägt ist. Hobbes und seine Nachfolger (wie Locke, Hume und G.E. Moore) deuten Freiheit nicht als kausale Spontaneität des Willens, sondern als die Eigenschaft bestimmter Handlungen, durch kausale Routen verursacht zu sein, die über die relevanten mentalen Zustände des Akteurs (z. B. Wünsche und Überzeugungen) verlaufen. In diesem Sinne ist man frei, wenn man das tun und lassen kann, was man will. Was man genau will, hängt freilich von Faktoren außerhalb von einem selbst ab, und man hat keine kausale Kontrolle über den eigenen Willen (man kann nicht wollen zu wollen). Doch genügt für den Kompatibilisten die kontrafaktische Kovarianz zwischen den Handlungen und unseren mentalen Zuständen dafür, dass wir kausale Kontrolle über die Handlungen besitzen und sie deshalb unsere Handlungen sind. Indem Hegel hier die Freiheitsbegriffe der kompatibilistischen und der libertarischen Tradition unter dem Begriff der „Willkür“ vereinigt, will er offensichtlich ausdrücken, dass beide Traditionen trotz der großen sachlichen Differenz in ihren Positionen eine Grundannahme in Sachen Freiheit teilen, die Hegel auf-
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decken und kritisieren will. Die geteilte Grundannahme kann nicht darin bestehen, dass überhaupt jeweils die Eignerschaft von Handlungen bzw. Absichten erklärt werden soll, denn dieses Ziel verfolgt Hegel, wie wir noch sehen werden, auch mit seiner eigenen Theorie. Vielmehr kann die Tatsache, dass Hegel beide Positionen unter den Titel der „Willkür“ bringt, im Sinne unserer bisherigen Diskussion so verstanden werden, dass Hegel die Annahme der intrinsischen Verbindung von Freiheit und dezisionistischer Wahl als gemeinsame Grundannahme der beiden Traditionen herausstellen (und im Folgenden kritisieren) will. Hegel führt nämlich das Verständnis von Freiheit als Willkür ausdrücklich auf die Identifikation von Freiheit mit Wahl zurück, die er zuvor in § 14 der Rechtsphilosophie als „Möglichkeit, mich zu diesem oder einem anderen zu bestimmen“ (7/65) gekennzeichnet hatte. Die beiden entgegengesetzten Traditionen von neuzeitlichem Libertarismus und Kompatibilismus wären demnach für Hegel lediglich zwei Ausprägungen eines Wahl-basierten Modells von Freiheit. Dass der Libertarismus, der seinerseits auf dem mittelalterlichen Voluntarismus und seiner Abkehr vom Erkenntnis-basierten Modell von Freiheit beruht, als Wahl-basierte Freiheitstheorie im Sinne dezisionistischer Wahl interpretiert werden kann, liegt auf der Hand. Überraschend ist aber, dass Hegel auch den traditionellen Kompatibilismus als Ausprägung eines derartigen Ansatzes liest. Zwar haben wir am Ende des letzten Kapitels einen Begriff dezisionistischer Wahl formuliert, den auch ein Kompatibilist vertreten kann, doch ist keineswegs klar, weshalb für den Kompatibilisten so verstandene Wahl wesentlich für Freiheit sein sollte. Tatsächlich kann der Grundgedanke der kompatibilistischen Tradition für sich genommen auch ohne Rekurs auf dezisionistische Wahl formuliert werden. Die klarste Formulierung dieses Grundgedankens besteht in der sogenannten „Konditionalanalyse“ von alternativen Möglichkeiten. Demnach ist (1) A hätte anders handeln können äquivalent mit (2) A hätte anders gehandelt, wenn er anders ge____t hätte.28
28 Diese Analyse findet sich bereits bei Hobbes; vgl. Hobbes, English Works IV, 240: „I acknowledge this liberty, that I can do if I will; but to say, I can will if I will, I take to be an absurd speech“; De homine XI 1, Opera latina II, 95: „Quando dicimus liberum esse alicui arbitrium hoc vel illud faciendi vel non faciendi, semper intelligendum est cum apposita conditione hac, si voluerit; nam ut quis liberum arbitrium habeat faciendi hoc vel illud utrum velit necne, absurde dicitur“ („Wenn wir sagen, dass jemand eine freie Entscheidung hat, so zu handeln oder nicht zu handeln, dann muss dies immer mit der hinzugefügten Bedingung verstanden werden ‚wenn er es will‘; denn es ist absurd zu sagen, dass jemand die freie Entscheidung hat, dies oder jenes zu tun, gleich ob er es will oder nicht“). – Von den Komplikationen, die in der Debatte über die
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In die Leerstelle muss ein mentaler Zustand oder eine Einstellung des Akteurs eingesetzt werden, damit die gewünschte kausale Abhängigkeit der Handlung vom Akteur resultiert, doch ist zunächst offen, um welche Art von Zustand oder Einstellung es sich hier handelt. Eine Möglichkeit für den Kompatibilisten besteht darin, hier das „all-things-considered“-Urteil des Akteurs darüber, welche Handlung angesichts der verfügbaren Gründe richtig ist (vgl. 1.6), einzusetzen. In diesem Fall würden alternative Möglichkeiten so erklärt, dass der Akteur anders gehandelt hätte, wenn ihm in seiner rationalen Einschätzung der Situation andere Gründe zugänglich gewesen wären. So wird eine Kovarianz der Handlung mit dem „all-things-considered“-Urteil angenommen, die am ehesten so verstanden werden kann, dass der Akteur immer gemäß seinem „all-things-considered“Urteil handelt. Dann resultiert aber eine Position, nach der der Akteur stets gemäß seiner vernünftigen Einsicht handelt – also eine Version des Intellektualismus.29 Aus Hegels Sicht kann eine derartige Position deshalb nicht als Deutung von Freiheit als „Willkür“ zählen. Eher muss sie als Rückfall in den Standpunkt der rein objektiven Freiheit gelten. Allerdings haben naheliegende Einwände die meisten traditionellen Kompatibilisten dazu bewogen, eine andere Deutung der Leerstelle in (2) anzunehmen. Hier kommt z. B. Hobbes’ allgemeinere Kritik am Willensbegriff der Scholastik zum Tragen: „The Definition of the will, given commonly by the Schools, that it is a rational appetite, is not good. For if it were, then could there be no voluntary act against reason“ (Leviathan I 6, English Works III, 48). Um die Möglichkeit irrationalen Handelns zu erklären, müssen wir demnach annehmen, dass unsere Handlungen nicht mit unserer Einschätzung von Gründen oder mit dem „rationalen Begehren“, das dieser Einschätzung folgt, kovariieren, sondern – so lautet Hobbes’ eigene Alternative – mit der jeweils stärksten arationalen Begierde.30 Unsere Diskussion von dezisionistischer Wahl in Abschnitt 1.6 macht darüber hinaus einen weiteren Grund für eine derartige anti-intellektualistische Interpretation des Konditionals (2) sichtbar. Auch rationales Handeln ist sehr häufig
Konditionalanalyse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zutage getreten sind, können wir hier absehen. 29 Eine derartige Position vertritt Locke in der ersten Auflage des Essay (vgl. Sleigh u. a. (1998), 1244 ff.). Sie findet sich aber auch schon bei den lateinischen Averroisten des Mittelalters wie Siger von Brabant, die auf diese Weise ihren Intellektualismus mit dem von Averroes übernommenen Determinismus kombinieren konnten; vgl. C. Ryan (1983), 179. 30 Diese Position ist insofern bis in die heutigen Debatten wirksam geblieben, als Hobbes’ Moralpsychologie in dieser Hinsicht von Hume weitergeführt wurde und dessen Entgegensetzung von passiver Vernunft und aktiven Begierden eine bis heute sehr einflussreiche Auffassung von Rationalität und Motivation begründet hat.
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durch die verfügbaren Gründe unterbestimmt. In Situationen, in denen das „allthings-considered“-Urteil des Akteurs mehrere Optionen als zulässig betrachtet, müssen wir Entscheidungen treffen, die selbst nicht hinreichend durch Gründe gestützt sind. Während der Libertarier diese Entscheidungen als Ausübung unserer kausalen Spontaneität deutet, muss der Kompatibilist annehmen, dass die Stärke der motivationalen Wirksamkeit unserer jeweiligen Wünsche festlegt, welcher Wunsch sich durchsetzt und welche Option wir ergreifen. Es wird also auch vielen Fällen rationalen Handelns nicht gerecht, wenn der Kompatibilist in die Leerstelle von (2) ein rationales Urteil einsetzt; stattdessen, so scheint es, müssen hier die relevanten motivationalen Zustände eingesetzt werden. Beide Überlegungen führen dazu, dass traditionelle Kompatibilisten ihr Grundmodell, wie es am klarsten in der Konditionalanalyse formuliert ist, gewöhnlich in einer Weise interpretieren, die Hegel als Identifikation von Freiheit mit Willkür deuten kann. Zwar nimmt der traditionelle Kompatibilist nicht wie der traditionelle Libertarier eine im starken Sinne aktive, spontane Wahl zwischen Alternativen an. Aber er deutet unsere Eignerschaft in Bezug auf unsere Handlungen als eine kontrafaktische Kovarianz unserer Handlungen mit unseren motivationalen Zuständen (sowie evtl. mit weiteren mentalen Zuständen, wie unseren Überzeugungen), die keinerlei rationale Anforderungen an die Eignerschaft der Handlungen stellt: Frei sind wir demnach, wenn wir handeln können, wie immer wir es wünschen. Die Fähigkeit, je nach Wunsch anders zu handeln, auch wenn sich am rationalen „all-things-considered“-Urteil nichts ändert, hatten wir aber als Fähigkeit zur dezisionistischen Wahl bestimmt. Wenn Hegels Rede von der „Willkür“ an der fraglichen Stelle in der Rechtsphilosophie im Sinne der so verstandenen dezisionistischen Wahl interpretiert wird, dann wird verständlich, weshalb Hegel den traditionellen Libertarismus und den traditionellen Kompatibilismus (in seiner nicht-intellektualistischen Interpretation) als Fälle der Identifikation von Freiheit mit Willkür deuten kann: Bei beiden Positionen handelt es sich um Wahl-basierte Auffassungen von Freiheit. Der traditionelle Kompatibilismus stellt somit aus Hegels Sicht neben dem traditionellen Libertarismus (und seinen voluntaristischen Vorläufern im Mittelalter) eine weitere Ausprägung des Standpunktes rein subjektiver Freiheit dar, der auf die Einseitigkeiten der rein objektiven Freiheit (und der hiermit verbundenen intellektualistischen Auffassung von Freiheit) reagiert. Trotz ihrer Einseitigkeit, die Hegel schon in der zitierten Passage aus GPhR § 15 A hervorhebt und die wir im nächsten Abschnitt genauer betrachten, bauen also beide Positionen in je unterschiedlicher Weise auf der grundlegenden Einsicht in den absoluten Eigenwert subjektiver, individueller Selbstbestimmung und auf der resultierenden Differenzierung zwischen einer gegebenen natürlichen Ordnung und einer aus Freiheit erzeugten normativen Ordnung auf.
2.2 Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitsbegriffen
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Damit haben wir Hegels Einordnung Wahl-basierter Freiheitsbegriffe in die Entwicklungsgeschichte von Normativität ausreichend geklärt, um im nächsten Abschnitt die kritische Argumentation zu betrachten, in der Hegel Defizite Wahlbasierter Freiheitstheorien aufzeigt und Voraussetzungen für eine Versöhnung von subjektiver und objektiver Freiheit benennt.
2.2 Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitsbegriffen In der Passage aus § 15 A der Rechtsphilosophie, die wir im vorigen Abschnitt zitiert haben, beschreibt Hegel die Wahl-basierte Deutung von Freiheit (speziell in ihrer kompatibilistischen Variante) als „gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens“: In ihr findet sich, so Hegel, „von dem, was der an und für sich freie Wille, Recht, Sittlichkeit usf. ist, noch keine Ahnung“ (7/66). Hegel erklärt weiter: Die Reflexion, die formelle Allgemeinheit und Einheit des Selbstbewußtseins, ist die abstrakte Gewißheit des Willens von seiner Freiheit, aber sie ist noch nicht die Wahrheit derselben, weil sie sich noch nicht selbst zum Inhalte und Zwecke hat, die subjektive Seite also noch ein anderes ist als die gegenständliche; der Inhalt dieser Selbstbestimmung bleibt deswegen auch schlechthin nur ein Endliches. Die Willkür ist, statt der Wille in seiner Wahrheit zu sein, vielmehr der Wille als der Widerspruch. (GPhR § 15 A, 7/66)
Hegels Argumentationsziel ist hier offensichtlich der Nachweis dessen, dass Freiheit im Sinne des Wahl-basierten Verständnisses notwendig begrifflich instabil ist; sie ist „der Wille als der Widerspruch“. Dies bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt (pace Pippin (2008), 38), sondern nur, dass sie nicht der „Wille in seiner Wahrheit“ ist: Es handelt sich bei der Willkür um eine Fähigkeit, die nicht das eigentliche Wesen von Freiheit ausmacht, sondern nur eine notwendige Voraussetzung, und zwar speziell für die Freiheit des Willens. Der erste Schritt von Hegels Begründung hierfür besteht in der These, dass Wahl-basierte Freiheit Zufälligkeit bedeutet. So kommentiert Hegel im zugehörigen Paragraphen die Gleichsetzung von Freiheit mit Wahl (vgl. § 14) wie folgt: Die Freiheit des Willens ist nach dieser Bestimmung Willkür – in welcher dies beides enthalten ist, die freie von allem abstrahierende Reflexion und die Abhängigkeit von dem innerlich oder äußerlich gegebenen Inhalte und Stoffe. Weil dieser an sich als Zweck notwendige Inhalt zugleich gegen jene Reflexion als möglicher bestimmt ist, so ist die Willkür die Zufälligkeit, wie sie als Wille ist. (GPhR § 15, 7/65 f.)
Hegels Identifikation von Wahl-basierter Freiheit oder, wie Hegel zugespitzt formuliert, von Freiheit als Willkür mit Zufälligkeit kann in einem ersten Ansatz so begründet werden, dass in einer Wahl, die über die verfügbaren Gründe hinaus-
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geht, die Willensbildung durch Motivationen bestimmt ist, die nicht unter rationaler Kontrolle stehen, sondern zufällig gegeben sind. Hegels sehr verkürzte Darstellung legt nun zwei Missverständnisse der intendierten Argumentation nahe, die sie beide als recht oberflächlich erscheinen lassen. Das erste Argument, das Hegel hier zu verwenden scheinen kann, besagt, dass Wahl-basierte Freiheitsauffassungen Freiheit zwangsläufig zur Willkür im engeren Sinne machen, also jede Ausrichtung an Gründen leugnen. Dies ist aber kein starkes Argument, weil weder traditionelle Libertarier noch Kompatibilisten darauf festgelegt sind, dass Vernunft überhaupt keine Rolle für den Willen spielt. Wie wir sehen werden, ist Hegels Einwand wesentlich differenzierter als dieser pauschale Vorwurf der Willkür. Zweitens sollte Hegels Argumentation von einem gebräuchlichen anti-libertarischen Argument abgegrenzt werden, das oft als „Zufallseinwand“ oder „MindArgument“ bezeichnet wird.31 Häufig wird dieses Argument in Gestalt des folgenden Dilemmas formuliert. Das eine Horn dieses Dilemmas ist der Determinismus: Wenn er wahr ist, gibt es nach Überzeugung des Libertariers keine Freiheit. Wenn er dagegen falsch ist, ist die Welt indeterministisch. Doch auch eine indeterministische Welt – dies ist das zweite Horn des Dilemmas – schließt Freiheit aus. In ihr gibt es für kein Ereignis eine hinreichende Ursache. Was ohne hinreichende Ursache ist, ist zufällig; es könnte ebenso gut auch anders sein. Wenn Absichten und Handlungen aber durch den bloßen Zufall bestimmt sind, können sie nicht frei sein (vgl. u. a. Hobart (1934); van Inwagen (1983), 126–152; Kane (1996), 10 f., 54 f., 106 ff.; Watson (2003), 9 f.). Das durch das zweite Horn benannte Problem, die positive Möglichkeit freien Handelns unter indeterministischen Bedingungen zu erklären, ist in jedem Fall eine der größten Schwierigkeiten, mit denen Libertarier konfrontiert sind. Allerdings gibt es auch gute Gründe für die Einschätzung, dass dieses Problem per se keine Widerlegung des Libertarismus darstellt (vgl. van Inwagen (1983), 126–152; Kane (1996), 54 f., 106 ff.). Zwei Punkte sind hier besonders wichtig. Erstens wurden Beispiele formuliert, in denen im Laufe einer Handlung zufällige Ereignisse auftreten, ohne dass dies zur Folge hätte, dass es sich nicht mehr um eine freie, verantwortbare Tat handelt: Ein Karatemeister schlägt auf ein dickes Brett, und es hängt von minimalen, nicht kontrollierbaren Eigenschaften seiner Bewegung ab, ob er das Brett durchschlägt oder nicht. Wenn er das Brett durchschlägt, hält uns der Zufallsfaktor nicht davon ab, ihm das Durchschlagen als seine
31 Der Begriff „Mind-Argument“ stammt von van Inwagen (1983), 16; er nennt das Argument so, weil es mehrfach in Beiträgen in der Zeitschrift Mind formuliert wurde (zuerst von Hobart (1934)).
2.2 Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitsbegriffen
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Leistung zuzuschreiben (Kane (1996), 55).32 Zweitens ist es alles andere als klar, dass Kausalität deterministisch sein muss; deshalb kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass der Libertarier eine ausreichende Erklärung dafür bieten kann, wie ein Akteur in einem indeterministischen Szenario seine Handlungen kontrolliert und verursacht. Entsprechend wurden von Libertariern verschiedene Ansätze für Theorien indeterministischer Verursachung entwickelt, u. a. Theorien der Akteurskausalität.33 Dagegen kann Hegels Zufallseinwand im Sinne eines anders gelagerten Arguments rekonstruiert werden, das nicht (wie der eben genannte Zufallseinwand) nur den Libertarier treffen soll, sondern sich gleichermaßen gegen libertarische und kompatibilistische Wahl-basierte Freiheitstheorien richtet. Die Pointe dieses Arguments besteht darin, dass Hegel die Begriffe „notwendig“/„zufällig“ nicht auf Absichten oder Handlungen als determinierte oder indeterminierte Zustände bzw. Ereignisse bezieht, sondern auf die Willensinhalte. In dem oben zitierten § 15 der Rechtsphilosophie sagt Hegel die Zufälligkeit vom „innerlich oder äußerlich gegebenen Inhalte und Stoffe“ aus. Dem liegt eine Unterscheidung zwischen Freiheit hinsichtlich des Inhalts und Freiheit hinsichtlich der Form des Willens zugrunde. Zunächst liegt es nahe, die Freiheit hinsichtlich des Inhaltes des Willens so zu verstehen, dass wir etwas deshalb wollen können, weil wir wollen, dass wir es wollen. Damit wäre aber Willensfreiheit im Sinne der libertarischen Tradition gegeben, und Hegels Argumentation könnte nicht auch auf den Kompatibilisten bezogen werden. Stattdessen sollte die Unterscheidung von Form und Inhalt anders verstanden werden. Die „Form“ des Willens kann hier als diejenige Kontrolle über unsere Absichten und Handlungen gedeutet werden, die – entsprechend dem Wahlbasierten Verständnis von Freiheit – durch unsere dezisionistische Wahl gewährleistet wird. Im Fall des Kompatibilisten handelt es sich dabei um eine kausale Kontrolle, die darin besteht, dass unsere Absichten und Handlungen mit unseren motivationalen Zuständen kontrafaktisch kovariant sind. Im Fall des Libertariers handelt es sich hingegen um die spontane Entscheidung zugunsten bestimmter Optionen. Die Eignerschaft, die so in Bezug auf unsere Absichten und Handlungen resultiert, ist aber nach Hegels Kritik in beiden Fällen nicht hinreichend, um wirkliche Freiheit zu gewährleisten. Keine der beiden Ausprägungen des Wahl-basierten Ansatzes kann nämlich ausschließen, dass wir hinsichtlich der konkreten Inhalte, die wir wollen, entfremdet und unfrei sind.
32 Das Beispiel stammt von Anscombe. Vgl. auch Austin (1961); Kane (1999). 33 Vgl. Chisholm (2003); O’Connor (2002) und Mayr (2011) mit weiterer Literatur. Zu anderen nicht-deterministischen Theorien der Handlungsverursachung vgl. Clarke (2002).
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2 Freiheit ohne Wahl
Um diesen Punkt besser zu verstehen, müssen wir fragen, welche Art von Inhalten für den Wahl-basierten Willen kennzeichnend ist. Der argumentative Kontext, in dem § 15 der Rechtsphilosophie steht, und manche Bemerkungen Hegels legen es zunächst nahe, dass es sich hier um die Inhalte des von Hegel so genannten natürlichen Willens handelt, also um Triebe, Begierden und Wünsche, die einem gänzlich unkultivierten Willen zukommen. Dass Hegel aber auch dem instrumentellen Abwägen von Wünschen, das komplizierte voluntative Systeme erzeugen kann, Zufälligkeit zuschreibt (GPhR § 17), zeigt, dass auch komplexere Willensstrukturen das für die Zufälligkeit ausschlaggebende Defizit aufweisen können. Hilfreicher ist es, wenn Hegel bemerkt, der fragliche zufällige Inhalt des Willens weise die „Form der Unmittelbarkeit“ auf (§ 11, 7/62), er bestehe aus für den Willen „nach dieser Seite äußeren Bestimmungen“ (§ 14, 7/65); er sei in Bezug auf die formale „Gewißheit […] der abstrakten Selbstbestimmung“ ein Inhalt, „der als ein vorgefundener nicht in jener Gewißheit enthalten [ist] und daher ihr von außen kommt“ (§ 15 A, 7/66). Der Inhalt von dieser Art ist „nicht das Eigene der selbst bestimmenden Tätigkeit als solcher“ (§ 15 A, 7/66); er ist „noch nicht der Inhalt und das Werk seiner [sc. des Willens] Freiheit“ (§ 13, 7/64); er ist durch „Äußerlichkeit“ (§ 21 A, 7/72) gekennzeichnet, wie sie nach Hegel für die Sinnlichkeit charakteristisch ist; und er weist „die Unmittelbarkeit der Natürlichkeit und die Partikularität“ auf, „mit welcher ebenso die Natürlichkeit behaftet, als sie von der Reflexion hervorgebracht wird“ (§ 21 A, 7/72) Unmittelbarkeit, Gegebenheit, Äußerlichkeit und Partikularität sind also Kennzeichen des an Zufälligkeit krankenden Willens, der in Bezug auf seine eigenen Inhalte unfrei ist – sie sind „noch nicht der Inhalt und das Werk seiner Freiheit“, wie Hegel es ausdrückt. Hegel verortet Unfreiheit demnach nicht primär in äußerem Zwang und vergleichbaren Phänomenen, sondern in einer dem Willen internen Unfreiheit.34 Entsprechend besteht Hegels Strategie gegen das Wahlbasierte Freiheitsverständnis darin zu zeigen, dass ein nach Wahl-basierter Auffassung freier Wille zwangsläufig durch Inhalte gekennzeichnet ist, die nicht „der Inhalt und das Werk“ unserer Freiheit sind (§ 13) und von denen wir daher entfremdet sind oder sein können. Durch die „abstrakte“ Gewissheit oder Kontrolle, die der Wille durch sein Wahlvermögen in Bezug auf seine Inhalte besitzt, ist also nur eine schwache Form der Eignerschaft des Willens bezüglich seiner Inhalte gewährleistet. Dadurch ist aber noch nicht gesichert, dass der Akteur bezüglich ihrer die starke Form von Eignerschaft besitzt, die nur dann vorliegt,
34 Einer der ersten Autoren, der solche Formen von Unfreiheit in der analytischen Tradition betont hat, war Ayer (Ayer (1954)); später greift v. a. Frankfurt diese Thematik auf.
2.2 Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitsbegriffen
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wenn die fraglichen Willensinhalte das ausdrücken, was der Akteur wirklich will, oder womit er sich identifiziert. Diese starke Form von Eignerschaft ist es offenbar, auf die sich Hegel hier mit seiner Rede von den Willensinhalten als dem „Inhalt“ und „Werk“ unserer Freiheit bezieht. Was meint Hegel aber genau, wenn er das Fehlen der starken Eignerschaft durch Begriffe wie „Zufälligkeit“, „Unmittelbarkeit“ und „Partikularität“ kennzeichnet? Erneut ist hier zunächst eine Abgrenzung von einer Position nötig, mit der Hegels Gedankengang an dieser Stelle verwechselt werden könnte. Dabei handelt es sich um die Entgegensetzung von vernünftigem intellektuellem Wollen und unvernünftiger, sinnlicher Begierde. Zu allen Zeiten war der Gedanke einflussreich, dass Freiheit die Beherrschung unvernünftiger Begierden erfordert. Auch von unvernünftigen Begierden gilt, dass sie nicht „der Inhalt und das Werk“ unserer Freiheit sind; wenn wir uns von ihnen kontrollieren lassen, sind wir in unserer Freiheit eingeschränkt. Von dieser Tradition ist Hegels Gedanke aber deshalb unterschieden, weil für ihn die „unmittelbare“ Qualität von Begierden nicht durch ihren Ursprung in einem bestimmten psychologischen Vermögen (etwa dem System körperlicher Begierden oder „Leidenschaften“) bedingt ist, sondern durch die logische Form, in der bestimmte Inhalte des Willens auftreten: Mit der Form der „Partikularität“, so Hegel in einer der oben zitierten Passagen, ist „ebenso die Natürlichkeit behaftet, als sie von der Reflexion hervorgebracht wird“ (GPhR § 21, 7/72). Hegels Rede von der „logischen Form“ in diesem Kontext werde ich in Kapitel 7 ausführlicher interpretieren, wo ich Hegels parallelen Ansatz in seiner Theorie der epistemischen Vermögen erörtere. Vorläufig können wir den Begriff der „logischen Form“ in diesen Kontexten im Sinne der logischen Oberflächenform verstehen, in der die begrifflichen Inhalte präsentiert werden, die aus der Tätigkeit eines Vermögens (z. B. Entscheidung, praktische Deliberation, Anschauung, Denken usw.) hervorgehen. Die genannten Vermögen sind für Hegel in erster Linie durch diese logische Charakteristik individuiert, nicht durch physiologische, psychologische oder ähnliche Kriterien. Die „logische Oberflächenform“ besteht dabei in denjenigen rationalen Beziehungen – wie Beziehungen der Rechtfertigung und der Erklärung –, die die jeweiligen Inhalte artikulieren und die im Rahmen der Tätigkeit des jeweiligen Vermögens explizit gemacht werden. Beispielsweise ist die Anschauung für Hegel durch die logische Form der Einzelheit geprägt. Dies bedeutet, dass anschauliche Inhalte als ein Nebeneinander isolierter Gehalte auftreten, deren Beziehungen – z. B. Rechtfertigungsbeziehungen, modale Beziehungen, Kausalverbindungen, Zugehörigkeit zu natürlichen Arten usw. – nicht oder nur teilweise explizit gemacht werden. Parallel dazu kann im Fall des Willens die logische Form der „Unmittelbarkeit“ so verstanden werden, dass Gehalte präsentiert werden, ohne dass Raum für
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2 Freiheit ohne Wahl
eine Rechtfertigung dieser Einstellungen bestünde. Das trifft zum einen gemäß einer weitverbreiteten Auffassung auf Wünsche („desires“) zu. Wünsche können demnach als voluntative Prämissen in praktische Überlegungen eingehen, sind aber selbst keiner Begründung oder Legitimation fähig. In so verstandenen Wünschen sieht die nach wie vor sehr einflussreiche humeanische Tradition in der Moralpsychologie den zentralen Faktor der Handlungserklärung.35 Zum anderen weisen auch intrinsisch motivierende moralische Empfindungen (im Sinne der moral-sense-Theorien z. B. Shaftesburys und Hutchesons) und die intellektuelle Anschauung moralischer Normen (wie bei Cudworth, Clarke, R. Price und später bei G.E. Moore) die fragliche Unmittelbarkeit auf. Neben dem Begriff der Unmittelbarkeit verwendet Hegel auch den der Partikularität zur Kennzeichnung der logischen Oberflächenform von Willensinhalten. Diese Eigenschaft kann nach Hegel auch in Zuständen auftreten, die das Resultat von Deliberation („Reflexion“) sind, für die wir also (im Gegensatz zu Willensinhalten, die durch „Unmittelbarkeit“ charakterisiert sind) durchaus über eine Rechtfertigung verfügen können. Im Einzelnen können verschiedene Weisen unterschieden werden, in denen die Willensinhalte durch Partikularität geprägt sind. Erstens können Willensinhalte insofern partikulär sein, als ihre Geltung auf das Individuum eingeschränkt ist. Sie können dann z. B. mit Handlungen kontrastiert werden, die moralischen Normen folgen. Nach der Auffassung moralischen Handelns in der Tradition Kants erheben die darin wirksamen Intentionen einen Geltungsanspruch an alle anderen Subjekte. Wir werden aber in Kapitel 8 sehen, dass das Fehlen derartiger Allgemeingültigkeit für Hegel noch nicht dazu führt, dass eine pro-Einstellung willkürlich, egoistisch oder impulshaft ist. Wichtiger sind deshalb für ihn zwei andere Formen von Partikularität. Zum einen kann eine Absicht auch dann, wenn sie keine universalen Geltungsansprüche in Bezug auf andere Subjekte erhebt, nicht-partikulärer Art sein, insofern sie über die momentane Situation hinaus das Handeln des Akteurs längerfristig strukturiert. Rationale Akteure streben nach einer Vereinigung ihres Handelns, die eine unüberschaubare Menge von einzelnen Handlungsimpulsen mittels übergeordneter Ziele, Projekte und Pläne in eine Ordnung bringt (vgl. z. B. Bratman (1987); Bratman (2007a); Korsgaard (2009), Kap. 1; Millgram (1997), Kap. 3). Hegel beschreibt dies als „Bildung“, durch die unsere Wünsche eine instrumentelle Ordnung und eine (allerdings noch defizitäre) Form von Allgemeinheit erhalten (GPhR § 20, 7/71; § 187 mit Anmerkung, 7/343 ff.). Ein
35 Vgl. z. B. Michael Smiths einflussreiche Verteidigung des Humeanismus in Smith (1994) sowie Elijah Millgrams Kritik am Humeanismus in Millgram (1997).
2.2 Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitsbegriffen
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Willensinhalt, der nicht in eine derartige Strukturbildung eingebettet ist, kann dagegen als partikulär beschrieben werden. Zum anderen können für Hegel praktische Einstellungen auch dadurch trotz eines eingeschränkten Geltungsskopus nicht-partikulär sein, dass ihre Inhalte unabhängig von den sonstigen Wünschen und Bedürfnissen des Individuums objektiv vernünftig sind – wie für Hegel diejenigen Inhalte, die den Rollen eines Individuums in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat entsprechen. Die entsprechenden Einstellungen sind für Hegel gleich in dreifacher Weise nichtpartikulär oder „allgemein“: erstens, weil sie nicht (nur) auf das Einzelinteresse, sondern (auch) auf das allgemeine Wohl ausgerichtet sind; zweitens, weil sie durch ihren rationalen Charakter an der objektiven vernünftigen Ordnung der Sittlichkeit teilhaben, die Hegel auch als „allgemein“ (im Sinne der Allgemeinheit des Begriffs qua Form von Vernünftigkeit, vgl. 4.6) beschreibt – z. B., wenn er sie als den „an und für sich allgemeine[n] vernünftige[n] Wille[n]“ (Enz. § 513, 10/318) kennzeichnet; und drittens, weil derartige Einstellungen zwar keinen universalen, aber doch einen über das einzelne Individuum hinaus erweiterten Geltungsskopus besitzen (vgl. Kapitel 8). In all diesen Hinsichten können Einstellungen, die nicht den genannten objektiv vernünftigen Charakter besitzen, als partikulär oder „einzeln“ beschrieben werden. In Bezug auf die drei genannten Ausprägungen der Partikularität von Willensinhalten – Fehlen universaler Geltung, Fehlen der Einbettung in Planungen, fehlende objektive Vernünftigkeit – gilt, dass die jeweils nicht-partikulären Kontrastszenarien Formen der Überlegung und Rechtfertigung erfordern, die weit über einfache Strukturen rationaler Wahl im Rahmen individueller Entscheidungsprozesse hinausgehen36: Momentane motivationale Zustände müssen hier zum einen mit anderen pro-Einstellungen des Akteurs im Rahmen mittel- und langfristiger Planungen, zum anderen mit den Zielen anderer Subjekte und objektiven normativen Vorgaben koordiniert werden. Wo nur einfache Begründungsformen wie das Abwägen zwischen einzelnen Wünschen und instrumentellen Optionen in Bezug auf die gerade gegenwärtige Situation verfügbar sind, haben Entscheidungen auch dann, wenn sie das rationale Resultat einer Deliberation bilden, den Charakter der Partikularität: Sie beruhen allein auf dem Vorliegen individueller und momentaner Wünsche. Hegel vertritt also die Auffassung, dass die Inhalte unseres Willens, gleich welches ihre Herkunft ist (körperliche Bedürfnisse, seelische Triebe, moralische Gefühle usw.), zunächst in einer logischen Form auftreten, in der sie nicht oder
36 Speziell zu den für Pläne relevanten Begründungsformen und -anforderungen vgl. Bratman (1987), Kap. 3.
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2 Freiheit ohne Wahl
nicht ausreichend durch Rechtfertigungsbeziehungen geordnet sind und deshalb den Charakter von Unmittelbarkeit und/oder Partikularität und insofern auch von Zufälligkeit haben. Auch wenn wir durch unsere dezisionistische Wahl entscheiden, dass diese und nicht andere Inhalte unser Handeln leiten, ist hierdurch nur eine schwache Form von Eignerschaft gegeben; die resultierenden Einstellungen sind nicht selbst schon „der Inhalt und das Werk“ unserer Freiheit. Starke Eignerschaft in dem Sinn, dass ein Inhalt nicht nur den Akteur zum Handeln antreibt, sondern das ausdrückt, was er wirklich will, ist in Bezug auf Inhalte mit dieser logischen Form für Hegel nicht möglich; um eine derartige Eignerschaft zu gewinnen, müssen wir nach Hegel die logische Form der gegebenen Willensinhalte dahingehend verändern, dass sie die Form der Unmittelbarkeit, Partikularität und Zufälligkeit verlieren. Traditionelle Wahl-basierte Freiheitsbegriffe (das heißt für ihn: die Deutung von Freiheit als „Willkür“) verfügen nach Hegel prinzipiell nicht über die nötigen Ressourcen, um eine solche Aneignung der Willensinhalte zu erklären. In Bezug auf traditionelle kompatibilistische Positionen leuchtet dieser Einwand leicht ein. Für den traditionellen Kompatibilismus (in der nicht-intellektualistischen Interpretation, vgl. 2.1) ist nämlich tatsächlich einfach durch die gegebenen Wünsche festgelegt, was wir wollen. Eine inhaltliche Aneignung der relevanten Handlungsmotive wird hier nicht für nötig gehalten. – Eher könnte vermutet werden, dass der traditionelle Libertarismus die von Hegel geforderte starke Eignerschaft erklären kann. Denn infolge der vom Libertarier angenommenen unbedingten willentlichen Wahl sollen unsere Willensinhalte tatsächlich in bestimmter Weise das „Werk“ unserer Freiheit bilden.37 Hegels Einwand kann aber auch hiergegen verteidigt werden, indem das folgende Dilemma formuliert wird (vgl. Patten (1999), 48–51).38 Entweder produzieren wir für den Libertarier unsere Willensinhalte tatsächlich ohne irgendeine Bindung an vorgegebene Wünsche, Neigungen usw. In diesem Fall sind die Willensinhalte aber deshalb zufällig, weil wir sie ganz unabhängig von Gründen annehmen. Unsere Entscheidungen könnten hier ebenso gut anders ausfallen, so dass Kontrolle und Zufall nicht mehr unterscheidbar sind. Oder aber wir stützen uns in der Bildung unserer Willensinhalte auf die rationalen Beziehungen, in denen sie zu Gründen und somit (zumindest teilweise) zu anderen Willensinhalten wie Wünschen und Plänen stehen. In diesem Fall stellt sich aber die Frage, wodurch diese Gründe für
37 Besonders klar hat diesen Gedanken Robert Kane herausgearbeitet; vgl. Kane (1996), 33 ff. und passim über „ultimate responsibility“. 38 Ähnlich argumentiert z. B. Wolf (1990) gegen die libertarische Position, die sie als „autonomy view“ bezeichnet.
2.2 Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitsbegriffen
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uns rationale Kraft haben.39 Wenn die rationale Kraft der Gründe auf Präferenzen unsererseits beruht, für die wir uns in einem Akt der Wahl entschieden haben, sind wir zurück in der Ausgangssituation, so dass sich ein Regress ergibt: Eine Entscheidung wird durch eine andere Entscheidung begründet, die wiederum eine Entscheidung voraussetzt usw. Oder aber die rationale Kraft der Gründe resultiert nicht aus einer Entscheidung, sondern ist vorgegeben. Dann unterliegen diese Gründe aber nicht unserer Kontrolle, und die durch sie begründeten Entscheidungen sind aus libertarischer Sicht fremdbestimmt. Gegen Hegels Kritik könnte schließlich noch eingewandt werden, dass sie ein Defizit traditioneller Wahl-basierter Freiheitstheorien sichtbar macht, aber hieraus noch nicht folgt, dass das Wahl-basierte Paradigma ganz aufgegeben werden sollte. Sowohl der traditionelle Libertarier als auch der traditionelle Kompatibilist könnten nämlich prinzipiell weitere Elemente in ihre Theorien einbauen, die Hegels Anforderung einer inhaltlichen Aneignung unserer Wünsche und Absichten Rechnung tragen. Dagegen spricht aber folgende Überlegung. Da für Hegel die Zufälligkeit, die er am Inhalt des Willens im Rahmen Wahl-basierter Ansätze kritisiert, in der logischen Oberflächenform dieses Inhalts besteht, muss die erforderliche Aneignung durch eine Transformation der Willensinhalte mittels geeigneter Begründungsformen erfolgen, die die logische Oberflächenform der Willensinhalte verändert.40 Wie immer ein derartiger Aneignungsprozess genau aussieht, ist er doch jedenfalls einem Wahl-basierten Freiheitsverständnis prinzipiell entgegengesetzt, weil er durch das Stiften einer rationalen Ordnung innerhalb der Willensstruktur des Akteurs neue Handlungsgründe schafft und dadurch den Freiraum für dezisionistische Wahl verringert. Dezisionistische Wahl erscheint so nicht als Wesensmerkmal von Freiheit, sondern als Kehrseite der charakteristischen Bedingungen praktischer Vernunft – als eine Einschränkung von Freiheit, die aber durch die rationale Aktivität der Transformation und Aneignung von Willensinhalten vermindert werden kann und muss, damit vernünftiges Handeln möglich ist. – Wie sich gezeigt hat, krankt also nach Hegel das Wahl-basierte Freiheitsverständnis, das dem Standpunkt rein subjektiver Freiheit angehört, trotz seiner berechtigten Abkehr vom Erkenntnis-basierten Modell der rein objektiven Freiheit selbst an grundlegenden Defiziten. Diese Defizite können überdies als Ausprägung derselben Problematik verstanden werden, die wir in Bezug auf das Erkenntnis-basierte Modell vorgefunden hatten. Wie wir im vorigen Abschnitt gesehen 39 Vgl. Hegels Punkt, dass das Problem der Willkür nicht durch die Einführung eines Bewertungsmaßstabes für die Wahl gelöst werden kann, weil sich in Bezug auf diesen Maßstab erneut die Frage stellt, wie er begründet ist: GPhR § 17, 7/68. 40 Vgl. hierzu auch Wallace (2005), 6, 10 ff. und Honneth (2001), 26 ff.
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2 Freiheit ohne Wahl
haben, kann das Erkenntnis-basierte Freiheitsverständnis aus Hegels Sicht als Ausprägung des Mythos des Gegebenen beschrieben werden, weil Freiheit hier als das unhinterfragte Befolgen vorgegebener Normen interpretiert und so de facto naturalisiert wird. Auch Hegels Kritik an Wahl-basierten Konzeptionen von Freiheit, wie wir sie in diesem Abschnitt rekonstruiert haben, kann als Teil einer verallgemeinerten Kritik am Mythos des Gegebenen gedeutet werden41: Wahlbasierte Freiheitstheorien sind darauf festgelegt, die Inhalte unseres Willens – unsere pro-Einstellungen im weitesten Sinne – als Faktoren zu deuten, die eine rechtfertigende und rationalisierende Rolle in Bezug auf Handlungen spielen sollen, ohne dass es für sie selbst eine rationale Legitimation gibt.42 Entweder
41 Auch Wildenauer (2004) spricht in Verbindung mit Hegels praktischer Philosophie von der Kritik an einem Mythos des Gegebenen (Wildenauer (2004), 142 f., 150 f., 261 ff.). Dabei erwägt sie auch das Gegebensein von Präferenzen u. ä. als Teil dieses Mythos (Wildenauer (2004), 151), sieht aber die Grundgestalt des praktischen Mythos vom Gegebenen in dem Dualismus, den die Kantische Moralphilosophie zwischen dem unendlich wertvollen Willen des Individuums und der in moralischer Hinsicht nichtigen Wirklichkeit außer ihm herstellt (Wildenauer (2004), 143 ff.). Zweifelsohne identifiziert Wildenauer hier ein wichtiges Motiv der Hegelschen Kritik an Kants Moralphilosophie, doch ist unklar, inwiefern die verfehlten Auffassungen, die Hegel in diesem Kontext bei Kant feststellt, tatsächlich als Ausprägungen des Mythos des Gegebenen zählen können. Wildenauer tendiert hier ebenso wie in Bezug auf den epistemologischen Bereich dazu, jeden Geist-Welt-Dualismus und jede realistische Annahme einer unabhängig von uns bestehenden Wirklichkeit als Mythos des Gegebenen zu deuten (vgl. besonders Wildenauer (2004), 123, wo der realistische Gedanke einer unabhängig von uns bestehenden und insofern gegebenen Wirklichkeit offenbar als Teil des Mythos vom Gegebenen gedeutet wird, sowie die Zusammenfassung Wildenauer (2004), 3: „In der Idee des Erkennens werden zwei epistemische Einstellungen (‚Idee des Wahren‘ und ‚Idee des Guten‘) gedacht, die jeweils einen Grunddualismus zwischen einer erkennenden resp. wollenden Subjektivität und einer ihr entgegengesetzten, durch eigene Gesetze konstituierten Welt vertreten […]. Deshalb [!] vertreten beide eine Form des Mythos vom Gegebenen“). Zwar ist Sellars’ eigene Bestimmung des Mythos vom Gegebenen nicht sehr präzise und hat daher Anlass zu verschiedenen, häufig selbst sehr vagen Interpretationen gegeben (vgl. deVries/Triplett (2000), xv-xlxi). In Wildenauers Verallgemeinerung des Mythos ist aber nicht mehr ersichtlich, warum er auf jeden Fall falsch sein muss, so dass der Begriff seine kritische Pointe verliert. 42 Ähnlich hat Millgram (1997) überzeugend dafür argumentiert, dass die weit verbreitete neohumeanische, instrumentalistische Theorie praktischer Rationalität, nach der praktische Rationalität als bloßes Instrument zur Umsetzung gegebener Motive dient, an einer fehlenden Balance zwischen inferentiellen Einführungs- und Eliminationsregeln krankt (Millgram (1997), Kap. 2). Wünsche sind für Millgram in erster Linie durch ihren Einfluss auf praktische Inferenzen definiert. Dieser Einfluss besteht aber nach der instrumentalistischen Auffassung nur in Eliminationsbedingungen, während es keine Anforderungen dafür gibt, wie wir dazu kommen, die Wünsche zu haben. Nach einer plausiblen Theorie inferentieller Signifikanz kann es jedoch keine inferentiellen Folgebedingungen (Eliminationsregeln) ohne komplementäre inferentielle Ausgangsbedingungen (Einführungsregeln) geben (Millgram (1997), 25 f.). Die Konstellation, die
2.2 Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitsbegriffen
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sind sie – wie v. a. Wünsche – ohne Legitimation gegeben, oder sie sind vom Subjekt gesetzt, aber gleichfalls ohne Legitimation – sei es, weil sie willkürlich gewählt sind, sei es, weil sie nur instrumentell auf der Grundlage gegebener Motive gerechtfertigt sind. Tatsächlich hebt Hegel selbst die Analogie zur epistemologischen Kritik an mythologischen Formen von Gegebenheit hervor, indem er die Wahl-basierten Freiheitstheorien mittels der logischen Kennzeichnungen von Gegebenheit, Unmittelbarkeit, Partikularität und Zufälligkeit als Gegenstück zu Epistemologien der Unmittelbarkeit markiert.43 Das Erkenntnis-basierte und das Wahl-basierte Freiheitsmodell kranken demnach beide am Mythos des Gegebenen; indem er eine Aneignung der zunächst gegebenen Willensinhalte fordert, benennt Hegel die zentrale Voraussetzung für ein alternatives Freiheitsverständnis, das zwar die partiellen Einsichten beider Modelle beibehält, sie aber vom Mythos des Gegebenen löst. Hierfür ist nach Hegel insbesondere auch nötig, dass die Annahme einer intrinsischen Verbindung zwischen Freiheit und dezisionistischer Wahl aufgegeben wird, die infolge des immensen Einflusses des Wahlbasierten Modells den Status einer Selbstverständlichkeit erreicht hat. Angesichts dieses Resultats von Hegels Kritik kann man aber das folgende Bedenken haben: Handelt es sich bei dem Gedanken einer „Freiheit ohne Wahl“ nicht bloß um eine abstrakte Denkoption, die unserem gewöhnlichen Reden und Denken über Freiheit völlig zuwiderläuft? Dass dem nicht so ist, sondern der
Millgram hier kritisiert, ist exakt parallel zu dem von Sellars kritisierten epistemologischen Mythos vom Gegebenen. 43 Generell ist, wenn vom Mythos des Gegebenen bei Hegel die Rede ist, anzumerken, dass Hegel zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen von „Gegebenem“, „Unmittelbarkeit“ usw. nicht strikt unterscheidet. Erstens gibt es ein Gegebenes, das – im engeren Sinne von Sellars’ Mythos des Gegebenen – selbst rein kausal definiert ist und dennoch eine Rechtfertigungsfunktion ausüben soll. Davon unterschieden ist ein Gegebenes, das in einem gewissen Maße in rationale Strukturen integriert ist, aber nicht in ausreichendem Maße, damit die Autorität, Begründungsfunktion usw. dieses Gegebenen legitimiert wäre. Beispielsweise unterliegen Wünsche nach internalistischen Theorien von Motivation wie denen von Williams und Smith in einem erheblichen Maße unseren Revisionen und Transformationen; dennoch kann z. B. Millgram (1997) (s. die vorige Fußnote) plausiblerweise in solchen Theorien eine Form des Mythos des Gegebenen sehen, weil die Autorität jener Wünsche dadurch noch nicht legitimiert ist. Bei Hegel gehen beide Begriffe des Gegebenen ineinander über, doch ist dies kein größeres Problem, weil auch der zweite, weitere Begriff des Gegebenen die Anforderungen an Rationalität nicht erfüllt und deshalb auf ihm aufbauende Theorien als „Mythos des Gegebenen“ kritisiert werden können. – Ferner ist zu beachten, dass Hegel selbst mit der Rede vom „Gegebenen“ oft nicht auf Zusammenhänge der Rechtfertigung zielt, sondern damit Sachverhalte bezeichnet, die als facta bruta ohne Erklärung hingenommen werden müssen. Wie wir u. a. in Kapitel 7 sehen werden, kann ein solches Gegebenes für ihn gleichfalls eine illegitime Einschränkung von rationaler Freiheit darstellen.
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2 Freiheit ohne Wahl
Gedanke einer „Freiheit ohne Wahl“ durchaus auch an konkreten Phänomenen festgemacht werden kann, versuche ich im folgenden Abschnitt an Hand von Überlegungen Harry Frankfurts darzulegen.
2.3 Frankfurt über Freiheit ohne Wahl Harry Frankfurt hat in einflussreicher Weise die vermeintliche begriffliche Verbindung zwischen Freiheit und Wahl in Frage gestellt und dadurch wesentlich dazu beigetragen, dass in neueren Debatten besonders auf Seiten der Kompatibilisten verstärkt nicht-Wahl-basierte Ansätze vertreten werden (vgl. 2.5). Drei besonders wichtige Punkte, die Frankfurt in diesem Zusammenhang anführt, sind die folgenden. Erstens gibt es Phänomene von Absichten und Handlungen, in denen wir zwar keine Wahl haben, aber dennoch, oder sogar gerade deshalb, frei sind. Frankfurt schreibt hierzu: There are several kinds of actions that, in one sense or another, we must perform. These actions are not coerced; nor are the movements we make when we perform them spasmodic, or in any other manner beyond our physical control. What we do is neither compulsive nor compelled. The actions are wholly voluntary. Nonetheless, we have no real alternatives to performing them. One category of such actions is made up of the various things that we have to do because they are indispensable to the attainment of our settled goals. […] In a second category, there are the more peremptory imperatives of moral obligation. […] These two categories do not exhaust the significantly distinct kinds of actions concerning which we recognize that we have no choice. […] [T]here are in addition the necessities of love. (Frankfurt (1999), 129)
Frankfurt nennt also prudentielles Handeln, moralisch gebotenes Handeln und Handeln aus Liebe als drei Fälle, in denen die Abwesenheit einer Wahlmöglichkeit unsere Freiheit in keiner Weise beeinträchtigt. Im Anschluss an Kant geht er sogar noch weiter und schreibt: „[T]he most genuine freedom is not only compatible with being necessitated; as Kant suggests, it actually requires necessity“ (Frankfurt (1999), 131; vgl. Frankfurt (1999), 108 f.). Die Fälle, in denen Notwendigkeit unsere Freiheit erhöht, sind moralisches Handeln und Handeln aus Liebe. Als ein Beispiel, das diese Beobachtungen stützt, hat Daniel Dennett die Episode genannt, in der Luther auf dem Wormser Reichstag den geforderten Widerruf seiner Thesen ablehnt und schließt: „Hier stehe ich und kann nicht anders“ (Dennett (1984), 133). Luther tut, was ihm sein Gewissen gebietet; gerade weil er hier keine andere Wahl hat, kann seine Handlung als in besonderem Maße frei gelten. Das Beispiel Luthers ist auch deshalb aufschlussreich, weil das Gewissen hier eine Überzeugung betrifft, also die Freiheit eine epistemische Dimension hat.
2.3 Frankfurt über Freiheit ohne Wahl
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Auch Descartes beschreibt schon die Erkenntnis von Wahrheit – neben der Erkenntnis des Guten – als Fall, in dem die Notwendigkeit unsere Freiheit erhöht, statt sie zu beschränken (Meditationes de prima philosophia IV, AT VII, 57–59). Frankfurts Punkt lässt sich also direkt auch auf epistemische Freiheit beziehen.44 Eine zweite einschlägige Beobachtung Frankfurts betrifft den entgegengesetzten Fall, in dem wir nicht entschieden sind. Hierzu bemerkt Frankfurt: Moral and political theorists often emphasize how valuable it is for people to have extensive repertoires of worthwhile options from which they are free to choose. The actual value to people of possessing these options depends to a large extent, however, upon their capacities for wholeheartedness. After all, what good is it for someone to be free to make significant choices if he does not know what he wants and if he is unable to overcome his ambivalence? What is the point of offering a beguiling variety of alternatives to people who can respond to them only with irresolute vacillation? (Frankfurt (1992), 11; vgl. Frankfurt (1988d), 158 und Frankfurt (1999), 109)
Nach Wahl-basierten Freiheitstheorien sind wir umso freier, je mehr Optionen wir haben. Doch zumindest in vielen Fällen führt die Vermehrung der Optionen dazu, dass wir unentschieden sind und nicht wissen, was wir tun sollen. In solchen Fällen wird unsere Fähigkeit zur Selbstbestimmung eingeschränkt, nicht erweitert.45 Frankfurts dritter Einwand gegen die Verbindung von Wahl und Freiheit besteht schließlich in einem technischeren Argument, nämlich den als „Frankfurt-style cases“ bekannt gewordenen Gedankenexperimenten, auf die wir uns schon in Abschnitt 1.6 bezogen haben. In Fällen wie dem des Akteurs mit einem Hirnimplantat, das nur bei der nicht gewählten Option wirksam geworden wäre, scheint der Akteur verantwortlich und deshalb wohl auch frei zu sein46, obwohl er de facto nicht anders handeln konnte, als er es getan hat. Wenn aber für Freiheit keine alternativen Möglichkeiten erforderlich sind, folgt gemäß unserer Bestimmung von dezisionistischer Wahl (vgl. 1.6), dass wir für Freiheit auch keine dezisionistische Wahl benötigen. Frankfurts Kritik am Prinzip der alternativen Möglichkeiten hatte maßgeblichen Einfluss darauf, dass in den letzten Jahrzehnten v. a. von Kompatibilisten neue Ansätze zum Verständnis von Freiheit entwickelt wurden, die nicht Wahl-basiert sind. Einige dieser Ansätze, einschließlich
44 Diesen Zusammenhang stellt Frankfurt auch selbst her, wenn er uns Liebe zur Wahrheit zuschreibt (Frankfurt (2006b), 39 ff.). 45 Vgl. auch Dworkin (1988), Kap. 5, der unterschiedliche Kontexte diskutiert, in denen eine Mehrzahl von Optionen von Nachteil ist. 46 Nach John Martin Fischers „Semikompatibilismus“ fallen hier aber Verantwortung und Freiheit auseinander: vgl. J.M. Fischer (2002a). Vgl. auch Frankfurt (1988c), 23 f.
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2 Freiheit ohne Wahl
Frankfurts eigener positiver Theorie von Freiheit, werden wir in Abschnitt 2.5 diskutieren; zunächst betrachten wir aber die Konsequenzen unserer bisherigen Argumentation für die Thematik epistemischer Freiheit.
2.4 Konsequenzen für epistemische Freiheit Wenn Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitstheorien (vgl. 2.2) stichhaltig ist und kein intrinsischer Zusammenhang zwischen Freiheit und dezisionistischer Wahl besteht, ist ein zentrales Hindernis für einen integralen, Theorie und Praxis übergreifenden Freiheitsbegriff ausgeräumt; denn die Probleme, die sich für die Annahme dezisionistischer Wahl im epistemischen Bereich ergeben hatten (vgl. 1.6.), sprechen nun nicht mehr gegen die Annahme epistemischer Freiheit. Darüber hinaus hat die Kritik Hegels an Wahl-basierten Freiheitstheorien, die ich in Abschnitt 2.2 rekonstruiert habe, auch konkrete Konsequenzen hinsichtlich der Anforderungen, die eine Theorie epistemischer Freiheit erfüllen muss. Der Mythos des Gegebenen, der sich in Hegels Kritik als zentrales Defizit sowohl von Erkenntnis-basierten als auch von Wahl-basierten Freiheitsbegriffen erwiesen hat, besitzt nämlich auch in dem epistemologischen Kontext, in dem ihn Sellars ursprünglich beschrieben und kritisiert hat, eine freiheitstheoretische Dimension, die wir bereits in Abschnitt 1.1 angesprochen haben. Situationen, in denen wir tatsächlich unsere Überzeugungen auf der Grundlage von nicht rechtfertigbarem Gegebenen bilden, sind Kontexte epistemischer Unfreiheit – Kontexte, in denen wir die Kontrolle über unsere epistemischen Einstellungen vorgegebenen Autoritäten überlassen, und mithin Fälle der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, die Kant als Gegenbild zur Aufklärung beschreibt (AA 8/35).47 Diese freiheitstheoretische Tragweite, die der Mythos vom Gegebenen und die Kritik an ihm auch im epistemologischen Kontext besitzen, erläutert z. B. McDowell folgendermaßen: By way of an intuitive gloss on the theme of subjective self-determination, we might speak of rejecting dogmatism, or acquiescence in anything merely given, in respect of the question what is properly authoritative in thinking. It is incumbent on thought to be responsive to reasons recognized as such, and nothing can count as a reason for a thinking subject unless its authority as a reason can be freely acknowledged by the subject. (McDowell (2009c), 90)
47 Die freiheitstheoretische Deutung des Begriffs vom „Gegebenen“ hat ihrerseits ihre Wurzeln in der terminologischen Verwendung des griechischen δοθέν und des lateinischen datum für die Problemstellung, die in einem Schulgespräch behandelt wird: also für etwas, das der subjektiven Aktivität vorgegeben ist und von ihr – zumindest im jeweiligen Kontext – nicht in Frage gestellt wird.
2.4 Konsequenzen für epistemische Freiheit
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Das Sich-Zufriedengeben mit bestehenden, vorgegebenen Autoritäten48 – gleich ob in realen Situationen der Indoktrination und Unaufgeklärtheit oder innerhalb theoretischer Modelle wie dem der Sinnesdatentheorie – stellt somit nach McDowell eine Einschränkung von Selbstbestimmung dar. Vernünftige Freiheit erfordert auch im epistemischen Fall, dass wir uns an Gründen orientieren, deren rationale Kraft wir frei anerkennen. Da Hegel Wahl-basierte Freiheitstheorien de facto als eine Ausprägung des Mythos vom Gegebenen betrachtet, muss seine Kritik an diesen Theorien daher auch direkte Auswirkungen auf das Verständnis epistemischer Freiheit haben. Ebenso wie wir zunächst mit einer Mannigfaltigkeit gegebener praktischer Einstellungen konfrontiert sind, deren rationale Autorität wir rechtfertigen und die wir uns aneignen müssen, indem wir sie in rationaler Weise transformieren, so finden wir auch im epistemischen Bereich ein Mannigfaltiges von epistemischen Impulsen (insbesondere Wahrnehmungen) und darauf basierenden Überzeugungen vor. Diese Überzeugungen müssen zwar als solche bereits eine eigene Form von Allgemeingültigkeit und einen Anspruch auf Wahrheit enthalten (vgl. 7.1, 7.2), setzen also einen stärkeren rationalen Hintergrund voraus, als er für gegebene Handlungsimpulse nötig ist. Dennoch kann auch unseren Überzeugungen in ihrer anfänglichen Gestalt sinnvoll die logische Form von Zufälligkeit, Unmittelbarkeit und Partikularität zugeschrieben werden, die Hegel an den gegebenen Willensinhalten ausmacht: Wir durchblicken die gegenseitigen inferentiellen Beziehungen dieser Überzeugungen nur ansatzweise; sie entspringen subjektiven Standpunkten, die nicht ausreichend mit den Perspektiven anderer Subjekte abgeglichen sind; und wir nehmen in der Regel ihre Inhalte als gegebene Tatsachen ohne Erklärung hin. Derartige Überzeugungen, und mit ihnen auch die Gegenstände, auf die wir durch sie Bezug nehmen, sind uns fremd, weil ihre Intransparenz unsere rationale Kontrolle über sie einschränkt. McDowell spricht in der oben zitierten Passage davon, dass rationale Autonomie das freie Anerkennen der rationalen Autorität von Gründen erfordert. Wenn uns aber nicht aus-
48 Kant identifiziert in diesem Zusammenhang auch eine fehlgeleitete Auffassung von Freiheit, nach der jemand besonders frei ist, wenn er es nicht nötig hat zu arbeiten: „Es liegt nämlich nicht bloß in der natürlichen Trägheit, sondern auch in der Eitelkeit der Menschen (einer mißverstandenen Freiheit), daß die, welche zu leben haben, es sei reichlich oder kärglich, in Vergleichung mit denen, welche arbeiten müssen, um zu leben, sich für Vornehme halten“ (AA 8/390). In diesem Kontext – im Aufsatz „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ (1796) – steht „Arbeit“ als Metapher für rationale Arbeit und Begründungsleistung; Kant richtet sich in dem Aufsatz nämlich gegen Theoretiker der intellektuellen Anschauung, also gerade gegen eine Form des Mythos vom Gegebenen. Ähnlich notiert auch Hegel zu § 21 der Rechtsphilosophie: „mühelos wie Krösus – arbeitslos reich usf. – ist wider den Geist“ (7/73).
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reichend klar ist, was aus einem Inhalt, der ein Kandidat für einen epistemischen Grund ist, folgt und was nicht, gefährdet dies die Freiheit, mit der wir seine rationale Autorität anerkennen. Ähnlich hat Brandom Prozesse, in denen wir implizite Aspekte unserer Festlegungen explizit machen, als Prozesse der Befreiung beschrieben, in denen wir diese Festlegungen unter rationale Kontrolle bringen: Nur wenn wir genau wissen, was woraus folgt – wenn wir mit anderen Worten die inferentiellen Beziehungen beurteilbarer Gehalte explizit kennen –, können wir auf rational kontrollierte Weise Festlegungen eingehen (MIE 105 f.). In Analogie zum praktischen Bereich sollte deshalb auch im epistemischen Fall ein Prozess der rationalen Aneignung von epistemischen Einstellungen und ihren Inhalten für erforderlich gehalten werden, weil diese Inhalte andernfalls eine unsere Freiheit einschränkende logische Form (Unmittelbarkeit, Gegebenheit, Partikularität) aufweisen. Durch diese Aneignung müssen wir einzelne epistemische Einstellungen in unser Überzeugungssystem integrieren, sie in Rechtfertigungskontexten verorten, ihre Inhalte besser verstehen und explanatorisch mit anderen Inhalten verknüpfen. Wahl-basierte Theorien praktischer Freiheit sehen die Notwendigkeit der Aneignung unserer Willensinhalte nicht und begehen daher den Fehler, den McDowell als „acquiescence in [some]thing merely given“ beschreibt – den Fehler, sich mit dem Gegebenen und seiner ungerechtfertigten Autorität zufrieden zu geben. Entsprechend ignorieren auch Epistemologien des Gegebenen die Notwendigkeit jener Aneignung im epistemischen Fall und machen sich somit eines genau analogen Fehlers schuldig. Es ist also ganz folgerichtig, wenn auch Hegel epistemologische Ausprägungen des Mythos vom Gegebenen in einer Weise kritisiert, die direkt analog zu seiner Kritik an Wahl-basierten Konzeptionen praktischer Freiheit ist und die freiheitstheoretische Dimension des Mythos vom Gegebenen hervorhebt. Hierbei sind für Hegel verschiedene epistemologische Theorien relevant, insbesondere aber empiristische Erkenntnistheorien; die Epistemologie der rationalistischen Metaphysik, die nach Hegel kategoriale Bestimmungen ungeprüft als gegeben voraussetzt (vgl. 3.3); die Theorie der „intellektuellen Anschauung“ als philosophischen Erkenntnisorgans bei Fichte, Schelling und in Hegels eigenen frühen Schriften; Jacobis Theorie des unmittelbaren „Glaubens“ als Fundaments sowohl von empirischen als auch von religiösen Überzeugungen; sowie, besonders in der Berliner Zeit, religionsphilosophische Theorien der Unmittelbarkeit wie Schleiermachers Deutung von Religion als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“. Im Folgenden betrachte ich kurz Hegels Kritik am Empirismus, die für den gegenwärtigen Kontext besonders aufschlussreich ist. Hegel kritisiert in diesem Zusammenhang zum einen die Rolle, die Empiristen (in der frühen Neuzeit ebenso wie im logischen Empirismus) der Deixis als vermeintlich unmittelbarer „Schnittstelle“ zwischen Geist und Welt zugeschrieben
2.4 Konsequenzen für epistemische Freiheit
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haben: Die Bedeutung deiktischer Ausdrücke ist, so Hegels Argumentation, nur vor dem Hintergrund begrifflicher Bezugsrahmen festgelegt (vgl. 4.2). Deiktische Ausdrücke als Paradigma nicht-inferentiellen Begriffsgebrauchs setzen deshalb inferentielle Zusammenhänge voraus: Diese Pointe Hegels stellt eine klare Antizipation von Sellars’ Kritik am Mythos des Gegebenen im Rahmen von Sinnesdaten-Theorien dar. Zum anderen ist hier auch der folgende Einwand Hegels gegen den Empirismus relevant. Dem Empirismus zufolge konstruieren wir zwar auf der Grundlage von einzelnen Anschauungsinhalten allgemeine Begriffe, Gesetze etc. Die rationale Autorität dieser Abstraktionen soll aber allein auf ihrer Legitimation durch die Anschauung beruhen (Enz. § 38, 8/107 f.). Nach Hegel kann etwas jedoch, wie wir in Kapitel 4 sehen werden, nur dann ein begrifflicher Gehalt sein, wenn es in modal robuste Zusammenhänge eingeordnet ist, die als solche nicht in der Anschauung gegeben sind (Enz. § 39, 8/111). Der Empirismus kann also nur entweder die in der Abstraktion verwendeten begrifflichen Fähigkeiten ohne Rechtfertigung voraussetzen49 oder aber den kausal gegebenen Sinneseindrücken doch eine intrinsische rationale Ordnung und Autorität zuschreiben; beides sind aber wieder Ausprägungen des Mythos vom Gegebenen.50
49 Vgl. Enz. § 38 A, 8/108 f.: „Die Grundtäuschung im wissenschaftlichen Empirismus ist immer diese, daß er die metaphysischen Kategorien von Materie, Kraft, ohnehin von Einem, Vielem, Allgemeinheit, auch Unendlichem usf. gebraucht, ferner am Faden solcher Kategorien weiter fortschließt, dabei die Formen des Schließens voraussetzt und anwendet und bei allem nicht weiß, daß er so selbst Metaphysik enthält und treibt und jene Kategorien und deren Verbindungen auf eine völlig unkritische und bewußtlose Weise gebraucht“. 50 Vgl. Hegels Kritik empiristischer Abstraktionstheorien, Enz. § 455 A, 10/263 f.: „Die Abstraktion, welche in der vorstellenden Tätigkeit stattfindet, wodurch allgemeine Vorstellungen produziert werden – und die Vorstellungen als solche haben schon die Form der Allgemeinheit an ihnen –, wird häufig als ein Aufeinanderfallen vieler ähnlicher Bilder ausgedrückt und soll auf diese Weise begreiflich werden. Damit dies Aufeinanderfallen nicht ganz der Zufall, das Begrifflose sei, müßte eine Attraktionskraft der ähnlichen Bilder oder dergleichen angenommen werden, welche zugleich die negative Macht wäre, das noch Ungleiche derselben aneinander abzureiben“. Eine ähnliche Kritik an der Abstraktionstheorie des klassischen Empirismus übt Sellars, der sich allerdings nicht auf die Theorie von „determinable repeatables“ bezieht (nämlich hier die „general ideas“ der Empiristen, die Hegel als „allgemeine Vorstellungen“ übersetzt), sondern bereits auf der elementaren Ebene der „determinate repeatables“ ansetzt und die Vorstellung von gegebenen sortalen Bestimmungen und Ähnlichkeitsbeziehungen kritisiert – in Sellars’ Worten „the idea that the awareness of certain sorts – and by ‚sorts‘ I have in mind, in the first instance, determinate sense repeatables – is a primordial, non-problematic feature of ‚immediate experience‘“ (Sellars (1991b), 157 (§ 26)). Dem setzt Sellars die (von ihm als „psychologischer Nominalismus“ bezeichnete) These entgegen, „according to which all awareness of sorts, resemblances, facts, etc., in short, all awareness of abstract entities – indeed, all awareness even of particulars – is a linguistic affair“ (Sellars (1991b), 160 (§ 29)).
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Innerhalb von empiristischen Epistemologien ist daher keine rationale Aneignung von Anschauungsinhalten möglich, weil die Transformation jener Inhalte durch Abstraktion Gebrauch von ungerechtfertigten und daher unkontrollierten begrifflichen Mitteln (Kategorien, Inferenzmustern usw.) macht. Empiristische Epistemologien sind also insofern analog zu Wahl-basierten Freiheitstheorien, als nach Hegel in beiden Ansätzen gegebenen Zuständen des Subjekts eine nicht zu rechtfertigende rationale Autorität zugeschrieben wird. Deshalb ordnet Hegel auch den Empirismus derjenigen Stufe im Verständnis von Normativität zu, die allein die subjektive Freiheit anerkennt: Nach der subjektiven Seite ist ebenso das wichtige Prinzip der Freiheit anzuerkennen, welches im Empirismus liegt, daß nämlich der Mensch, was er in seinem Wissen gelten lassen soll, selbst sehen, sich selbst darin präsent wissen soll. (Enz. § 38 A, 8/108)
Da der Empirismus nach Hegel nur diese subjektive Freiheit kennt, wird unsere Freiheit in ihm – wie auch in Wahl-basierten Freiheitskonzeptionen – de facto durch die ungeprüfte Autorität des Gegebenen unterminiert. In einem Zusatz ist die folgende pointierte Bemerkung überliefert, von der ich einen Teil bereits in Abschnitt 1.1 zitiert habe: Indem nun dies Sinnliche für den Empirismus ein Gegebenes ist und bleibt, so ist dies eine Lehre der Unfreiheit, denn die Freiheit besteht gerade darin, daß ich kein absolut Anderes gegen mich habe, sondern abhänge von einem Inhalt, der ich selbst bin. Weiter sind auf diesem Standpunkt Vernunft und Unvernunft nur subjektiv, d. h. wir haben uns das Gegebene gefallen zu lassen, so wie es ist, und wir haben kein Recht danach zu fragen, ob und inwiefern dasselbe in sich vernünftig ist. (Enz. § 38 Z, 8/111; vgl. Enz. § 447 A, 10/247)
Aus dieser Kritik zieht auch Hegel selbst die oben erläuterte Konsequenz, dass ein Prozess epistemischer Aneignung angenommen werden muss, um den Mythos des Gegebenen in epistemologischen Kontexten zu vermeiden. In diesem Prozess transformieren wir – analog zum praktischen Bereich – gegebene epistemische Inhalte so, dass sie „der Inhalt und das Werk“ (GPhR § 13, 7/64) unserer Freiheit werden. Tatsächlich beschreibt Hegel gelingende epistemische Freiheit häufig so, dass sie vorliegt, wenn die eigentliche Natur der erkannten Sache zugleich das Produkt unserer Tätigkeit ist.51 (In Kapitel 7 werden wir Hegels Theorie dieses Aneignungsprozesses genauer betrachten.)
51 Vgl. z. B. Enz. § 23, 8/80; Enz. § 441 Z, 10/234: „Nichts ist in ihm [sc. dem Geist] ein nur Unmittelbares. Wenn man daher von ‚Tatsachen des Bewußtseins‘ spricht, die für den Geist das Erste wären und ein Unvermitteltes, bloß Gegebenes für ihn bleiben müßten, so ist darüber zu bemerken, daß sich auf dem Standpunkte des Bewußtseins allerdings vieles solches Gegebene findet, daß aber der freie Geist diese Tatsachen nicht als ihm gegebene, selbständige Sachen zu
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Wie sich gezeigt hat, ermöglicht es unsere Rekonstruktion von Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitstheorien (2.2) nicht nur, entscheidende Bedenken gegen die Möglichkeit eines Theorie und Praxis umfassenden Freiheitsbegriffs auszuräumen; aus ihr folgen auch positive Anforderungen sowohl für das Verständnis praktischer als auch epistemischer Freiheit. Diese Anforderungen werden wir in den späteren Kapiteln im Rahmen der Interpretation von Hegels Theorie der jeweiligen Freiheitsformen wieder aufgreifen. – Wie kann nun eine Konzeption von Freiheit aussehen, die nicht Wahl-basiert ist und daher auch epistemischer Freiheit Rechnung tragen kann? Ehe wir zu Hegels eigenem Vorschlag hierzu kommen, betrachten wir verschiedene andere Ansätze, die in neueren Debatten als Alternativen zu Wahl-basierten Freiheitstheorien vertreten wurden. Auf diese Weise werden wir Hegels Ansatz besser verstehen und in seiner Plausibilität beurteilen können. Im Einzelnen wird die Diskussion von Selbst-basierten und von Gründe-basierten Alternativansätzen (an Hand der Beispiele von Frankfurts und Fischer/Ravizzas Theorien in den Abschnitten 2.5.1 und 2.5.2) zu dem Ergebnis führen, dass Freiheit plausiblerweise in einem konstitutiven Zusammenhang zum Selbst einerseits und zur Ausrichtung an Gründen andererseits gesehen werden sollte und der für Freiheit nötige Prozess der Aneignung von Inhalten zugleich als Prozess der rationalen Selbstkonstitution zu verstehen ist (2.6.1). Dieser Ansatz stellt die Autonomie-Konzeption von Freiheit dar, auf der Hegels Position (ebenso wie die Brandoms) basiert. Die anschließende Diskussion des Grundgedankens einer Autonomie-Konzeption von Freiheit wird zeigen, dass die wichtigste Herausforderung für sie in einem Problem besteht, das ich als „Formalismus-Problem“ bezeichne: die Frage, wie ein rationaler, weder zufälliger noch willkürlicher Übergang von abstrakten rationalen Normen (wie z. B. Kants Kategorischem Imperativ) hin zu einem konkreten Selbst als Träger verschiedenster praktischer und epistemischer Einstellungen möglich ist. Dieses Formalismus-Problem wird den Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Hegels positivem Freiheitsbegriff ab dem nächsten Kapitel bieten.
2.5 Alternative Ansätze: Freiheit, Selbst und Gründe In diesem Abschnitt bespreche ich zwei Strategien, nämlich eine „Selbst-basierte“ und eine „Gründe-basierte“ Strategie, die beide in neueren Debatten als Alternativen zu Wahl-basierten Freiheitstheorien vorgeschlagen wurden. Der Ansatzpunkt
belassen, sondern als Taten des Geistes, als einen durch ihn gesetzten Inhalt, zu erweisen und somit zu erklären hat“.
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für beide Strategien ist das Problem der starken Eignerschaft, wie ich es in Zusammenhang mit Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitstheorien erläutert habe (2.2). Auch dann, wenn ein Akteur ungehindert seine Intention ausführen kann und diese überdies frei wählen kann, ist noch nicht garantiert, dass er hinter seiner Intention und Handlung steht und nicht vielmehr ihnen gegenüber unfrei ist und unwillkürlich oder zwanghaft handelt. Selbst-basierte Freiheitstheorien versuchen, Freiheit durch Rekurs auf den Begriff des Selbst zu erklären: Frei sind wir nach diesem Ansatz dann, wenn Überzeugungen, Absichten und Handlungen das Selbst des Subjekts zum Ausdruck bringen. Gründe-basierte Freiheitstheorien stellen eine Fortentwicklung dieses Ansatzes dar: Nach ihnen steht ein Subjekt dann ganz hinter seinen Überzeugungen, Absichten und Handlungen, wenn es sich an den ihm zugänglichen Gründen orientiert. Wie sich zeigen wird, sind beide Ansätze mit erheblichen Problemen konfrontiert; eine Autonomie-Konzeption von Freiheit, wie sie (auf jeweils unterschiedliche Weise) sowohl Hegel als auch Brandom vertreten, kann diese Probleme lösen, während sie die Einsichten der Selbst- und der Gründe-basierten Ansätze beibehält.
2.5.1 Freiheit und das Selbst (Frankfurt) Selbst-basierten Freiheitstheorien zufolge sind wir dann frei, wenn wir ganz hinter dem stehen, was wir glauben, beabsichtigen und tun – wenn unsere Überzeugungen, Absichten und Handlungen unser Selbst zum Ausdruck bringen und wir uns mit ihnen identifizieren. Selbst-basierte Freiheitsbegriffe spielen seit Harry Frankfurts einflussreichem Aufsatz „Freedom of the will and the concept of a person“ eine wichtige Rolle in neueren Debatten über Freiheit. Die zentrale Idee von Frankfurts Selbst-basiertem Freiheitsmodell – dem positiven Gegenstück zu seiner Kritik an Wahl-basierten Freiheitstheorien (vgl. 2.3) – besteht darin, die Situation, in der wir voll hinter unseren Absichten und Handlungen stehen und ihnen gegenüber Eignerschaft im „starken“ Sinn besitzen, durch eine strukturelle Harmonie innerhalb des Willens zu erklären. Im Unterschied zu sogenannten „historischen“ Theorien, die der Genese unserer Absichten (z. B. durch dezisionistische Wahl) und damit diachronen Eigenschaften des Akteurs eine wesentliche Rolle für unsere Freiheit zuschreiben, vertritt Frankfurt eine „current time-slice“Theorie, nach der allein die synchronen strukturellen Eigenschaften des Willens für Freiheit relevant sind.52 Die entscheidende strukturelle Eigenschaft der Harmo-
52 Vgl. zu dieser Unterscheidung Fischer/Ravizza (1998), 170 ff.; zur Einordnung von Frankfurt Fischer/Ravizza (1998), 184 sowie Frankfurts eigene Stellungnahme in Buss/Overton (2002), 27 ff.
2.5 Alternative Ansätze: Freiheit, Selbst und Gründe
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nie besteht dabei nach Frankfurt in einer Übereinstimmung zwischen erststufigen und höherstufigen Wünschen. Die für Willensfreiheit nötige Harmonie erfordert nach Frankfurts ursprünglicher Darstellung seiner Theorie in dem genannten Aufsatz, dass die folgenden beiden Bedingungen erfüllt sind: Erstens müssen wir von den unsere Handlungen leitenden Wünschen („first order desires“) wünschen, dass wir sie haben und dass sie handlungsleitend sind („second order volitions“). Zweitens darf diese Übereinstimmung selbst nicht durch höherstufige Konflikte (zwischen verschiedenen second order volitions oder zwischen der relevanten second order volition und noch höher angesiedelten Wünschen) beeinträchtigt sein, sondern muss Ausdruck einer rückhaltlosen Identifikation mit dem erststufigen Wunsch sein (Frankfurt (1988c), 15–17). Wo wir dagegen entweder von einem tatsächlich handlungsleitenden erststufigen Wunsch nicht wollen, dass wir ihn haben und dass er unser Handeln leitet – wie im Falle eines Drogensüchtigen, der seine Sucht ablehnt –, oder aber die Übereinstimmung zwischen erst- und höherstufigem Wunsch durch höherstufige Konflikte kompromittiert ist, ist der Wille nicht frei (Frankfurt (1988c), 20 f., 24). Frankfurts Ansatz kann ferner leicht so abgewandelt werden, dass er auch auf Überzeugungen angewandt werden kann. Dazu muss analog in Bezug auf Überzeugungen zwischen erst- und höherstufigen Überzeugungen unterschieden werden, wobei höherstufige Überzeugungen den Inhalt haben, dass es für uns richtig ist, eine bestimmte erststufige Überzeugung zu haben (weil sie aus unserer Sicht wahr ist und wir uns für gerechtfertigt halten, sie zu haben). Unsere erststufigen Überzeugungen sind dann nur in dem Fall freie Überzeugungen (im Gegensatz zu zwanghaften Überzeugungen), in dem es in unserem Überzeugungssystem keinen Konflikt zwischen erst- und höherstufigen Überzeugungen gibt. Das kann erstens so verstanden werden, dass wir zu jeder erststufigen Überzeugung auch eine höherstufige Überzeugung besitzen müssen, der zufolge es für uns richtig ist, die entsprechende erststufige Überzeugung zu haben; allerdings würde dies einem relativ starken internalistischen Modell rationaler Überzeugungsbildung entsprechen (sofern angenommen wird, dass das Haben einer Überzeugung frei sein muss, um rational sein zu können). Zweitens kann auch eine schwächere Version formuliert werden, nach der wir nur de facto keine mit der erststufigen Überzeugung konfligierende höherstufige Überzeugung besitzen dürfen. Gleich welche Version bevorzugt wird, bietet doch jedenfalls Frankfurts Modell von Freiheit einen geeigneten Ansatzpunkt auch zur Deutung von epistemischer Freiheit.53
53 Auch Frankfurt selbst verwendet im Kontext des Freiheitsbegriffs epistemische Beispiele und Analogien, z. B. eine mathematische Rechnung als Analogie zur Identifikation: Frankfurt (1988e), 167 ff.; vgl. 2.3.
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Seinen erläuterten Ansatz arbeitet Frankfurt nun in einer Weise aus, die auch der Hegelschen Kritik am Wahl-basierten Freiheitsverständnis – dem Vorwurf des „Gegebenseins“ der Willensinhalte in Wahl-basierten Freiheitstheorien (2.2) – Genüge zu tun scheint. In Reaktion auf den Einwand Watsons, dass uns höherstufige Wünsche ebenso fremd sein können wie erststufige Wünsche (Watson (1975), 217 f.), entwickelt Frankfurt eine Theorie der Identifikation, die erklären soll, unter welchen Bedingungen zweitstufige Wünsche als genuiner Ausdruck unseres Selbst betrachtet werden können, ohne dass wir in einem infiniten Regress auf immer weitere höherstufige Wünsche rekurrieren müssten. Identifikation findet nach Frankfurt durch Entscheidungen statt, mittels derer wir unser konkretes Selbst konstituieren (vgl. Frankfurt (1988e), 170). Durch Entscheidungen strukturieren wir das rohe Material unserer gegebenen Wünsche, akzeptieren manche von ihnen als Wünsche, mit denen wir uns identifizieren, und dissoziieren uns von anderen Wünschen54, um so insgesamt ein harmonisches Ganzes an Wünschen verschiedener Stufe zu schaffen: „It is these acts of ordering and of rejection“, so Frankfurt, „that create a self out of the raw materials of inner life. They define the intrapsychic constraints and boundaries with respect to which a person’s autonomy may be threatened even by his own desires“ (Frankfurt (1988e), 170 f.). Frankfurt nimmt also einen Prozess der Transformation von gegebenem motivationalen Material an, durch den wir ein kohärentes Selbst schaffen. Die dafür relevanten Entscheidungen versteht Frankfurt, wie wir gleich noch sehen werden, nicht als dezisionistische Wahl, sondern eher als eine Abwesenheit von Unentschiedenheit, die wieder als strukturelles Merkmal des Willenssystems gedeutet wird. Nachdem Frankfurt einen Prozess der Aneignung von Willensinhalten als Voraussetzung für Freiheit ansieht, scheint er Hegels Kritik an der Wahl-basierten Ausprägung des Mythos vom Gegebenen Rechnung tragen zu können. Dennoch ist Frankfurts Theorie nicht frei von Grundannahmen, die selbst dem Mythos des Gegebenen zuzurechnen sind. Diese Grundannahmen werden sichtbar, wenn genauer betrachtet wird, unter welchen Bedingungen im beschriebenen Prozess der Selbstkonstitution genau Identifikation erreicht wird. Ausschlaggebend dafür, dass die Entscheidung zu Gunsten eines Wunsches tatsächlich eine Identifikation mit ihm darstellt, ist nach Frankfurt, dass die Entscheidung rückhaltlos („wholehearted“) ist. Frankfurt hat im Laufe der Jahre verschiedene Erklärungsansätze für diese Rückhaltlosigkeit verfolgt und ist in seinen neueren Texten zu dem Ergebnis gelangt, dass die Rückhaltlosigkeit von 54 Vgl. Frankfurt (1988e), 170 ff.; Frankfurt (1999), 137: „The volitional attitudes that a person maintains toward his own elementary motivational tendencies are entirely up to him. Passions such as jealousy and craving merely provide him with psychic raw material, as it were, out of which he must design and fashion the character and the structure of his will“.
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Entscheidungen nur durch ein negatives Kriterium bestimmt werden kann – nämlich durch Zufriedenheit, verstanden als Abwesenheit von Unzufriedenheit, von jeglichem Interesse, die gegenwärtige Wunschstruktur zu ändern (Frankfurt (1992), 13). Ob dieses negative Kriterium erfüllt ist, hängt aber nicht von unseren Entscheidungen oder unserer Tätigkeit der Selbstkonstitution ab. Vielmehr stellt Frankfurt unsere Zufriedenheit mit erststufigen Wünschen als bloßes Ausbleiben einer ablehnenden Reaktion dar: When we consider the psychic raw materials with which nature and circumstance have provided us, we are sometimes more or less content. They may not exactly please us, or make us proud. Nevertheless, we are willing for them to represent us. We accept them as conveying what we really feel, what we truly desire, what we do indeed think, and so on. They do not arouse in us any determined effort to dissociate ourselves from them. (Frankfurt (2006a), 7 f.)
Der Vorgang, durch den wir uns selbst konstituieren, ist also nach Frankfurts Theorie selbst eigentlich passiver Natur: Er besteht in Entscheidungen, die lediglich Reaktionen sind, welche sich bei uns angesichts von erststufigen Wünschen einstellen oder nicht. Für Frankfurt ist das bloße Ausbleiben von Dissonanzen hinreichend dafür, dass wir uns die gegebenen Wünsche aneignen und sie insofern auch transformieren: This willing acceptance of attitudes, thoughts, and feelings transforms their status. They are no longer merely items that happen to appear in a certain psychic history. We have taken responsibility for them as authentic expressions of ourselves. (Frankfurt (2006a), 8)
Hier liegt aber, mit Hegel zu reden, Freiheit nur in Bezug auf die Form des Willens vor, weil zwar der jeweilige Wunsch tatsächlich unser Wunsch ist, sein Inhalt aber nichtsdestotrotz die Form von Gegebenheit und Unmittelbarkeit aufweist, die Hegel am Wahl-basierten Freiheitsverständnis kritisiert hatte. Das Fehlen einer inhaltlichen Transformation führt dazu, dass auch Frankfurts Theorie die Struktur des Mythos vom Gegebenen aufweist: Die letzte Autorität im praktischen Bereich weist Frankfurt nämlich ausdrücklich gegebenen Wünschen zu, und zwar genauer nicht-instrumentellen, sich selbst affirmierenden Wünschen, die er als „Liebe“ bezeichnet (Frankfurt (2006a), 40). Diese Wünsche bilden die Quelle aller praktischen Gründe und können selbst nicht gerechtfertigt werden.55 Hier liegt also genau die Struktur vor, die Sellars am Mythos des Gegebenen kritisiert.
55 „In my judgment […] the authority of practical reason is less fundamental than that of love. In fact, I believe, its authority is grounded in and derives from the authority of love. Now love is
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Hiermit hängt auch ein zweiter Einwand zusammen. Häufig wurde gegen Frankfurt argumentiert, dass die Willensstruktur, die er als notwendig und hinreichend für Freiheit ansieht, auch durch externe Manipulation hervorgerufen werden kann (z. B. J.M. Fischer (2002b)). Ebenso kann aber Frankfurt auch nicht ausschließen, dass der Zustand der rückhaltlosen Entscheidung und Identifikation durch die – bewusste oder unbewusste – Unterdrückung selbstkritischer Überlegungen und Einstellungen erlangt wurde. Wie besonders Kant und die Idealisten im Kontext ihrer Versionen der Kritik am Mythos des Gegebenen hervorgehoben haben, neigen wir stets dazu, uns mit der Geltung nicht legitimierter Autorität zufriedenzugeben und uns damit in eine „selbstverschuldete Unmündigkeit“ (Kant) zu begeben, die unserer Vernunftnatur widerspricht. Entsprechend muss eine Theorie, die Zuständen der Harmonie und Konfliktfreiheit eine wichtige Rolle für Freiheit zuschreibt, über Mittel verfügen, um genuine Harmonie, die als Resultat rationaler Arbeit gewonnen wurde, von scheinbarer Harmonie zu unterscheiden, die wir erzeugen, indem wir rationale Ansprüche zurücknehmen oder unterdrücken. Keine Eigenschaft, die (Frankfurts „current time-slice“-Theorie gemäß) einer momentanen volitionalen Struktur als solcher zukommt, kann jedoch als Kriterium dienen, um dieses Szenario auszuschließen.
2.5.2 Freiheit und Gründe (Fischer/Ravizza) Angesichts der geschilderten Schwierigkeiten, die für Frankfurts Selbst-basierte Freiheitstheorie vor dem Hintergrund von Hegels Kritik am Wahl-basierten Freiheitsverständnis bestehen, erscheint der Versuch naheliegend, Frankfurts Einsichten in die zentrale Rolle von Phänomenen wie Identifikation, Aneignung, Dissoziation etc. für die Thematik der Freiheit beizubehalten, aber erstens der Einschätzung von und Ausrichtung an Gründen eine wichtigere Rolle zuzuschreiben und zweitens einen Prozess der rationalen Selbstkonstitution und -transformation als notwendige Voraussetzung von Freiheit zu konzipieren (also den „current time-slice“-Charakter von Frankfurts Theorie aufzugeben). Die Grundintuition von Ansätzen, die diese Strategie verfolgen, besteht darin, dass wir dann ganz bei uns selbst sind und uns mit unseren Überzeugungen, Absichten und
constituted by desires, intentions, commitments, and the like. It is essentially – at least as I construe it – a volitional matter. In my view, then, the ultimate source of practical normative authority lies not in reason but in the will“ (Frankfurt (2006a), 3; vgl. auch die Antwort Frankfurts auf den Beitrag Morans, der nach der Rolle der Vernunft für Identifikation fragt, in Buss/Overton (2002), 218 f.).
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Handlungen identifizieren, wenn wir uns in ihnen nach den uns zugänglichen Gründen richten. Um zunächst eine zentrale Schwierigkeit deutlich zu machen, mit der sich diese Strategie auseinandersetzen muss, beziehe ich mich auf die Position Gary Watsons, der eine einflussreiche Theorie von Freiheit als Gründe-Sensitivität entwickelt hat (Watson (1975)). Watson knüpft an Frankfurts Gedanken der Harmonie des Willens an, deutet diese Harmonie aber so um, dass sie die Ausrichtung an Gründen erfordert. Nach Watson sind wir nämlich dann frei, wenn sich unser „Bewertungssystem“ – d. h. die praktische Vernunft als Fähigkeit, bewertende Urteile zu fällen – und unser „motivationales System“ – unser Wunschhaushalt – in Harmonie miteinander befinden; wenn dagegen die kausal stärkste Motivation nicht mit unserem praktischen Urteil übereinstimmt, sind wir unfrei. Demnach verortet Watson unser eigentliches Selbst im Bewertungssystem, in unserer praktischen Vernunft; freie Handlungen sind Ausdruck dieses eigentlichen Selbst. Was rechtfertigt aber die Annahme, dass unser vernünftiges Selbst unser eigentliches Selbst ist und wir dann, wenn wir im Einklang mit ihm wollen und handeln, frei und ohne Entfremdung sind? Wie David Velleman in Bezug auf Watsons Theorie bemerkt hat, können wir von unseren vernünftigen Wertungen ebenso entfremdet sein wie von unseren Wünschen: A person can be alienated from his values, too; and he can be alienated from them even as they continue to grip him and to influence his behaviour – as, for instance, when someone recoils from his own materialism or his own sense of sin. Hence the contribution of values to the production of someone’s behaviour cannot by itself be sufficient to constitute his contribution, for the same reason that the contribution of his second-order desires proved insufficient. (Velleman (1992), 472)
Dass die Orientierung an Gründen überhaupt zu unserer Freiheit beiträgt, ist deshalb plausibel, weil sie es uns erlaubt, über momentan gegebene Handlungsimpulse und äußere Einflüsse hinaus unserem Handeln eine selbstbestimmte Richtung zu geben. Doch wie Velleman argumentiert, können wir auch von unseren Gründen dissoziiert sein. Eine Theorie, die der GründeSensitivität eine wichtige Rolle für Freiheit beimisst, muss daher erklären können, weshalb wir im gründegeleiteten Handeln – sofern keine zusätzlichen „Störfaktoren“ auftreten – ganz hinter unseren Absichten und Handlungen stehen. Diese Herausforderung wird aber in zahlreichen Positionen, die Freiheit mit der Ausrichtung an Gründen identifizieren, nicht in befriedigender Weise erfüllt. Ein wichtiges Beispiel ist hier die derzeit am besten ausgearbeitete Theorie, die Freiheit als Gründe-Sensitivität deutet, nämlich die von John Martin Fischer und
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Mark Ravizza (Fischer/Ravizza (1998)).56 Fischer und Ravizza entwickeln zunächst eine detaillierte Theorie der Empfänglichkeit für Gründe. Ihnen zufolge besteht die für Verantwortlichkeit relevante Art der Empfänglichkeit für Gründe darin, dass unsere Handlungen Resultat eines für Gründe sensitiven Mechanismus sind. Diese Sensitivität ist dadurch gegeben, dass der Mechanismus zum einen Überzeugungen über Gründe bildet, die mit der tatsächlichen Gründesituation in Form eines verständlichen Musters zusammenhängen, und es zum anderen für einen tatsächlichen Handlungsprozess mindestens ein kontrafaktisches Szenario gibt, unter dem der Mechanismus zu einer anderen Handlung geführt hätte („moderate reasons sensitivity“) (Fischer/Ravizza (1998), Kap. 3). Diese Theorie ist im Detail kontrovers57, sie liefert aber zumindest ein ausformuliertes Bild dessen, was es bedeutet, gegenüber Gründen empfänglich zu sein. Überdies hat die beliebige Wahl zwischen verfügbaren Alternativen in diesem nicht-Wahl-basierten Modell keinen Platz; vielmehr streben Fischer und Ravizza eine Theorie der Verantwortung an, die an Frankfurts Kritik am Prinzip der alternativen Möglichkeiten und an Wahl-basierten Freiheitstheorien festhält. Die oben erläuterte Notwendigkeit einer Erklärung dafür, dass der für Gründe empfängliche Mechanismus tatsächlich dem Akteur angehört und ein Teil seines Selbst ist, mit dem er sich identifiziert, stellen Fischer und Ravizza explizit heraus.58 Sie versuchen diese Aufgabe dadurch zu erfüllen, dass sie als zweiten Teil ihrer Theorie einen Prozess konzipieren, in dem wir uns den für Gründe empfänglichen Mechanismus aneignen und Verantwortung für ihn übernehmen. Verantwortung für die Resultate von gründesensitiven Mechanismen setzt nach dieser Theorie einen Prozess des Übernehmens von Verantwortung für jene Mechanismen voraus; dieser Prozess besteht im Herausbilden eines Musters von Überzeugungen, die ein Selbstverständnis artikulieren, und ist Teil des Prozesses moralischer Erziehung (Fischer/Ravizza (1998), 208 ff.). (Obwohl Fischer und Ravizza dies nicht eigens ausführen, ist unschwer zu sehen, dass die genannten Elemente ihrer Theorie auch geeignet sind, um epistemische Freiheit zu erklären: Überzeugungen wären demnach dann frei, wenn sie zum einen das Produkt eines gründesensitiven Mechanismus in Fischer/Ravizzas Sinn darstellen und zum
56 Eine ähnliche Richtung verfolgen die weniger ausgearbeiteten Theorien von Pettit/Smith (1996) (die auch ausdrücklich epistemische Freiheit behandeln) und Raz (1999), Kap. 1. 57 Zur Diskussion vgl. u. a. Watson (2001). 58 Das Bedenken, das Fischer und Ravizza zu diesem Teil ihrer Theorie motiviert, ist erneut eine Anwendung des Punktes von Velleman: Ebenso wie von unseren Wünschen und Entscheidungen können wir von unseren Gründen und unserem für sie empfänglichen Vermögen entfremdet sein. Dies belegen Fischer und Ravizza, indem sie dieselben Gedankenexperimente gebrauchen, die schon gegen Frankfurts Theorie vorgebracht worden waren (Fischer/Ravizza (1998), 196 ff.).
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anderen Überzeugungen eines Subjekts sind, das sich den relevanten Mechanismus in einem Prozess der epistemischen Erziehung im erläuterten Sinn angeeignet hat.) Es ist nun sehr fraglich, ob das zweite Elemente von Fischer/Ravizzas Theorie, die Aneignung des gründesensitiven Mechanismus, geeignet ist, um die zur Debatte stehende Schwierigkeit zu lösen. Die zu unserem Selbstverständnis gehörigen Überzeugungen, die wir im fraglichen Prozess der Aneignung bilden, müssen selbst auf Evidenz gestützt sein, wie die Autoren betonen (Fischer/ Ravizza (1998), 213). Sie nehmen also bereits rationale Überlegungen in Anspruch, in denen auch praktische Gründe eine Rolle spielen müssen – etwa, wenn sich die Frage stellt, welche Manöver in unseren sozialen Praktiken als fair gelten können. Überzeugungen, die sich hierauf beziehen, haben einen normativen Gehalt: Das heranwachsende Kind muss sich ein Urteil darüber bilden, inwieweit die reaktiven Einstellungen anderer zu ihm fair sind. Die vom Kind im Lauf der Zeit gebildete deskriptive Erfahrung der reaktiven Einstellungen, die andere Personen auf Grund seines Verhaltens zu ihm de facto einnehmen, gibt alleine noch keine Auskunft darüber, ob diese Einstellungen fair sind. Um eine Einstellung als fair oder angemessen zu bewerten, müssen wir Gründe dafür in Betracht ziehen, die diese Einstellung rechtfertigen oder sie als unangemessen erscheinen lassen. Gründe, die in Frage kommen, um reaktive Einstellungen angesichts des moralisch relevanten Verhaltens anderer Personen angemessen zu machen, sind aber logisch unmittelbar an moralische Gründe für Handlungen gebunden, mit denen sich der Betrachter überdies identifizieren muss. Daraus folgt jedoch, dass die nach Fischer und Ravizza für unser Selbstverständnis als moralisch Handelnde erforderlichen Überzeugungen selbst schon auf eigene moralische Gründe rekurrieren müssen, um überhaupt auf rationale Weise zustande zu kommen.59 Dass eine nicht Wahl-basierte Freiheitstheorie die Ausrichtung an Gründen als Phänomen heranzieht, das wesentlich mit Freiheit zusammenhängt, ist naheliegend; für sich genommen kann dies jedoch nicht als Erklärung von Freiheit
59 Fischer und Ravizza könnten auf diesen Einwand reagieren, indem sie die Anforderung, dass die relevanten Überzeugungen auf Evidenz gestützt sein müssen, abschwächen. Die Überzeugung eines Kindes, dass es von anderen Personen fair behandelt wird, scheint eher ein Faktor zu sein, den das Kind unterschwellig als grundlegende Voraussetzung derjenigen Praxis internalisiert, in die es hineinwächst. Wenn das Bild in diesem Sinne relativiert wird, dann findet jedoch kein Prozess der Identifikation oder des Übernehmens von Verantwortung mehr statt. Das heranwachsende Kind verhält sich vielmehr passiv gegenüber der Erziehung; diese formt es so, dass als Resultat eine Person entsteht, die für Gründe empfänglich ist und Verantwortung dafür trägt, was sie als Resultat dieser Empfänglichkeit tut. Damit ist aber die Erklärungsleistung des gesuchten Prozesses aufgehoben, und dieselben Einwände, die Fischer und Ravizza eigentlich ausräumen wollten, stellen sich erneut.
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genügen, wie die Diskussion von Fischer/Ravizzas Gründe-basiertem Ansatz exemplarisch zeigt. Im Folgenden werden wir sehen, dass Autonomie-basierte Ansätze eine weitere Alternative bilden, die die Einsichten von Selbst- und von Gründe-basierten Ansätzen aufgreift und ihre Probleme zu lösen verspricht.
2.6 Freiheit als Autonomie 2.6.1 Die konstitutive Beziehung zwischen Selbst, Gründen und Freiheit In neueren Debatten spielen, wie wir gesehen haben, Theorien eine wichtige Rolle, die Alternativen zu Wahl-basierten Freiheitstheorien suchen. Dabei entwickeln Selbst-basierte Theorien wie die Frankfurts ein differenziertes Verständnis des Zusammenhangs von Freiheit und Selbst, das aber letztlich daran krankt, dass das Selbst unabhängig von rationalen Faktoren betrachtet wird und der Zusammenhang des Selbst mit Vernunft und Gründen ungeklärt bleibt. Gründebasierte Freiheitstheorien versuchen dieses Defizit auszugleichen, indem sie Gründe-Sensitivität als Schlüssel zur Freiheit betrachten und – wie im Falle von Fischer und Ravizza – durch ein weiteres Theorieelement erklären wollen, weshalb wir uns mit unserem vernünftigen Selbst und gründegeleitetem Wollen und Handeln identifizieren. Wie sich aber oben gezeigt hat, scheitert die vorgeschlagene Erklärung daran, dass sie auf Seiten des Subjekts bereits eine Identifikation mit bestimmten Gründen voraussetzen muss. Eine Theorie, die diesen Beobachtungen Rechnung trägt, muss daher offenbar einen engeren Zusammenhang zwischen dem Selbst und der Ausrichtung an Gründen herstellen, als es der Gründe-basierte Ansatz tut – einen Zusammenhang, der nicht erst dadurch entsteht, dass zwischen Selbst und Vernunft als zwei separat gegebenen Instanzen nachträglich durch einen Akt oder Prozess der Identifikation eine Verbindung hergestellt wird. Wird die Problemlage auf diese Weise formuliert, dann scheint die plausibelste Lösungsstrategie in der Annahme einer konstitutiven Beziehung zwischen dem Selbst, seiner Freiheit und der Ausrichtung an Gründen zu bestehen. Eine solche Beziehung liegt dann vor, wenn Freiheit, Selbst und Gründe-Sensitivität nur als drei einander gegenseitig bedingende Aspekte ein und derselben Sache (oder ein und desselben Prozesses) auftreten können. Brandom skizziert eine derartige Beziehung in der folgenden Passage, in der er Kants Begriff der Autonomie kommentiert: The difference between non-normative compulsion and normative authority is that we are genuinely normatively responsible only to what we acknowledge as authoritative. In this sense, only we can bind ourselves, in the sense that we are only normatively bound by the
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results of exercises of our freedom: (self-constitutive) self-bindings, commitments we have undertaken by acknowledging them. This is to say that the positive freedom to adopt normative statuses, to be responsible or committed, is the same as the positive freedom to make ourselves responsible, by our attitudes. (RiPh 62 f.)
Gründe – verstanden als normative Gründe: Gründe, die es richtig oder falsch machen, etwas zu denken oder zu tun – sind demnach durch Normen festgelegt, nach denen wir uns richten. Diese Normen erhalten ihre Autorität über uns nur dadurch, dass wir sie anerkennen. Sie sind Produkte unserer Freiheit, durch die wir uns aber selbst verpflichten und binden. In dieser Selbstbindung konstituieren wir uns selbst als Träger und Gegenstand von Einstellungen wie der Zuweisung von Verantwortung und dem Beanspruchen von Berechtigungen – Einstellungen, die ihrerseits die Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen konstituieren. Die Einheit zwischen Selbst, Freiheit und Gründen bzw. Normen, die Brandom hier entwirft, kann als konstitutive Einheit beschrieben werden. Selbst, Freiheit und Gründe sind Aspekte ein und derselben Sache, die nur in ihrer Wechselbeziehung überhaupt existieren können: Es gibt kein Selbst ohne Freiheit und Gründe, keine Freiheit ohne Gründe und Selbst, und keine Gründe ohne Selbst und Freiheit.60 Brandom stellt in der zitierten Passage den erläuterten konstitutiven Zusammenhang von Selbst, Gründen und Freiheit als den sachlichen Kern des Kantischen Autonomie-Begriffs dar. Wenn Selbst, Freiheit und die Ausrichtung an Gründen bzw. Normen einander gegenseitig bedingen, dann kann diese Konstellation sinnvoll als spezifische Form von Selbstgesetzgebung beschrieben werden. Eine Theorie von Freiheit als Autonomie, die Selbstgesetzgebung im Sinne eines konstitutiven Zusammenhangs von Selbst, Gründen und Freiheit deutet, verspricht, die Einsichten der bislang diskutierten freiheitstheoretischen Ansätze zu bewahren und ihre Schwächen zu überwinden. Sie nimmt nämlich die richtige Einsicht des Intellektualisten und des Gründe-basierten Ansatzes ernst, dass Freiheit keine Frage der Willkür ist, sondern wesentlich die Erkenntnis und das Befolgen von Gründen involviert. Indem sie die Rolle des Selbst betont, behält sie zugleich die Erkenntnis des Wahl-basierten Freiheitsverständnisses bei, dass Freiheit kein naturgegebenes, quasi-automatisches Befolgen von Normen sein kann, sondern wesentlich eine subjektive Dimension der Selbstbestimmung erfordert. Ferner vermeidet eine solche Theorie auch die zentrale Schwäche der
60 Dies ist eine andere Art von Einheit als die, die beispielsweise Fischer und Ravizza angenommen hatten: Ihnen zufolge schreiben wir Freiheit nur dann einem Selbst zu, wenn es sich mit seiner Empfänglichkeit für Gründe in der richtigen Weise identifiziert; es könnte aber ein Selbst geben, das nicht frei ist und für Gründe nicht empfänglich ist, oder das für Gründe empfänglich ist, aber nicht in der richtigen Weise, und deshalb nicht frei ist. Umgekehrt wäre bei ihnen auch ein für Gründe empfänglicher Mechanismus denkbar, der keinem Selbst angehört.
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Wahl-basierten Theorien: Im Prozess der Selbstkonstitution müssen wir unsere Willensinhalte rational transformieren, so dass wir ihnen ihre ursprüngliche Zufälligkeit und Unmittelbarkeit nehmen und wir sie uns im Sinne der „starken“ Eignerschaft (vgl. 2.2) aneignen. Durch diesen Punkt ist ferner auch den Einsichten von Selbst-basierten Freiheitskonzeptionen Rechnung getragen. Schließlich verspricht die skizzierte Strategie eine Erklärung dafür, weshalb wir im gründegeleiteten Handeln bei uns selbst sind: Die rationalen Strukturen, die die Transformation und Aneignung von Willensinhalten ermöglichen, sind konstitutiv für uns selbst – wir selbst sind die Vernunft und müssen uns nicht erst mit ihr identifizieren. Auch in Bezug auf epistemische Freiheit erscheint ein Autonomie-Ansatz im eben erläuterten Sinn vielversprechend. In Abschnitt 2.4 hatten wir gesehen, dass auch im epistemischen Bereich Formen der fehlenden Aneignung von (epistemischen) Inhalten auftreten, wenn nämlich inferentielle und explanatorische Beziehungen zwischen einzelnen Inhalten fehlen oder unklar sind: In diesem Fall sind uns die Inhalte unserer epistemischen Einstellungen sowie deren Gegenstände fremd und intransparent, und unsere rationale Kontrolle über unsere Einstellungen ist eingeschränkt. Die Konstitution eines freien epistemischen Selbst erfordert also das Erkennen und Explizitmachen bestehender inferentieller (und explanatorischer) Beziehungen und, wo nötig, auch das Schaffen neuer inferentieller Beziehungen (durch die Modifikation der Bedeutung unserer Begriffe); beide Elemente können als Aspekte eines Prozesses der Aneignung epistemischer Gehalte betrachtet werden. Ferner kann ohne die Orientierung an solchen inferentiellen und explanatorischen Beziehungen und die damit einhergehende rationale Kontrolle und Freiheit kein stabiles epistemisches Selbst gebildet werden; und umgekehrt haben auch inferentielle Beziehungen rationale Autorität nur über Wesen, die die Aktivität rationaler Selbstkonstitution ausüben. In den nächsten Kapiteln werde ich Hegels Freiheitstheorie als eine Autonomie-Theorie im eben spezifizierten Sinn rekonstruieren und als geeigneten Kandidaten für den gesuchten integralen, alle Bereiche von Vernunft umfassenden Freiheitsbegriff verteidigen. Die Deutung von Freiheit als Autonomie legt freilich zunächst Kant als Bezugsfigur nahe. Im nächsten Abschnitt bespreche ich erst Kants eigenen Autonomie-Begriff und dann Beiträge von Korsgaard und Brandom, die sich auf Kant beziehen, um Alternativen zu Wahl-basierten Freiheitstheorien zu entwickeln. Ich werde dabei im Anschluss an Hegel sowohl bei Kant als auch bei den neueren AutorInnen ein wichtiges Defizit – das „Formalismus-Problem“ – identifizieren, das im nächsten Kapitel als Ausgangspunkt dienen wird, um zu verstehen, wie Hegel seinen Freiheitsbegriff auf der Grundlage seiner Kritik an Kants Version einer Autonomie-Theorie der Freiheit entwickeln kann.
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2.6.2 Kants Autonomie-Begriff und das „Formalismus-Problem“ Autonomie bezeichnet, so Kant im Anschluss an die Urformel von Autonomie in Röm 2:1461, die „Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“ (AA 4/ 447). Diese Eigenschaft besitzt der Wille dann, wenn er dem Kategorischen Imperativ gehorcht, also seine Maximen auf Grund ihrer formalen Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz annimmt. Diese Bestimmung von Autonomie ist wesentlich durch den Rekurs auf zwei Arten von Prinzipien definiert: zum einen auf das im Kategorischen Imperativ ausgedrückte objektive Gesetz, zum anderen auf die Maximen als subjektive Grundsätze. Kant ist terminologisch strikt in der Unterscheidung beider Arten von Prinzipien und ihrer Geltung. Ebenso konsequent verortet er autonome Selbstgesetzgebung in der Akzeptanz des objektiven Gesetzes. Die Selbstbestimmung des Willens durch Maximen kann nicht als Gesetzgebung zählen, weil sie keine Gesetze enthält, sondern nur subjektive Regeln. Da der Kategorische Imperativ selbst eine Meta-Norm ist, eine „oberste einschränkende Bedingung“ (AA 4/430 f.) für die Willensbestimmung durch Maximen, ist die Fähigkeit zur Willensbestimmung durch Grundsätze zwar eine notwendige Voraussetzung autonomer Selbstgesetzgebung. Sie ist jedoch deshalb nicht hinreichend, weil sich auch der heteronome Wille durch Maximen bestimmt. Bekanntlich fixiert Kant diese Aspektunterscheidung hinsichtlich des Willens terminologisch in der Metaphysik der Sitten durch die Unterscheidung von Wille und Willkür: „Von dem Willen“, so Kants Präzisierung, „gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen“ (AA 6/226). Kants Deutung des Willens im engeren Sinne kann nun so verstanden werden, dass sie eine nicht-willkürliche und konstitutive Verbindung zwischen dem Selbst einerseits und der Ausrichtung an vernünftigen Normen andererseits enthält, wie wir sie suchen. Der Wille ist gerade durch die Ausrichtung am Sittengesetz definiert.62 Umgekehrt ist das Sittengesetz aber nicht ein gegebener Bestandteil der Wirklichkeit – wie es der intellektualistischen Auffassung von Normativität entspräche –, sondern es hat seine Geltung nur in Bezug auf vernünftige Wesen, die sich selbst das Gesetz geben. Freilich besteht diese Selbstgesetzgebung des Willens nicht in einer Wahl zwischen verschiedenen Gesetzeskandidaten, sondern in der Validierung des einen Sittengesetzes. Entsprechend unterscheidet Kant
61 „Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz“. 62 Der Wille ist nach Kant die „praktische Vernunft selbst“, sofern „sie die Willkür bestimmen kann“ (AA 6/213); das Sittengesetz ist aber gerade das Gesetz, das „uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet“ (AA 6/227).
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zwischen der Urheberschaft bezüglich der Geltung des Gesetzes und der Urheberschaft bezüglich des Gesetzes: Der Gebietende (imperans) durch ein Gesetz ist der Gesetzgeber (legislator). Er ist Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht immer Urheber des Gesetzes. Im letzteren Fall würde das Gesetz positiv (zufällig) und willkürlich sein. Das Gesetz, was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet, kann auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d. i. eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten hat, (mithin dem göttlichen Willen) hervorgehend ausgedrückt werden, welches aber nur die Idee von einem moralischen Wesen bedeutet, dessen Wille für alle Gesetz ist, ohne ihn doch als Urheber desselben zu denken. (AA 6/227)
Jeder vernünftige Wille, so auch der göttliche Wille, ist Urheber hinsichtlich der Geltung des Sittengesetzes, aber nicht hinsichtlich des Gesetzestextes, der von vornherein durch die Struktur des vernünftigen Willens gegeben ist. (Kants Rede davon, dass sich der Wille selbst das Gesetz ist, dient ihm auch dazu, diesen Aspekt – die Alternativlosigkeit des Gesetzestextes – hervorzuheben, während die Rede von der Selbstgesetzgebung eher die Validierung des Gesetzes bezeichnet.) Doch auch bezüglich der Validierung des Gesetzes haben wir keine Wahl – wir können nicht einen Willen (in Kants terminologischem Sinn) haben, ohne das Sittengesetz anzuerkennen; dadurch, dass wir den Willen haben und Gebrauch von praktischer Vernunft machen, erkennen wir das Gesetz ipso facto an. Die autonome Tätigkeit des Willens und die Verbindlichkeit des Sittengesetzes bedingen einander also in konstitutiver Weise, und diese konstitutive Beziehung lässt keinen Raum für willkürliche Entscheidungen. Bezüglich des Willens (im engeren Sinne) ist Kant daher in der Lage, Selbstgesetzgebung ohne eine willkürliche Wahl zwischen verschiedenen Gesetzeskandidaten zu denken. Allerdings kann der Wille nicht ohne die Willkür (im terminologischen Sinn) zu Handlungen führen; entsprechend bestimmt Kant die Willkür allgemein als das „Begehrungsvermögen […] in Beziehung auf die Handlung“ (AA 6/213). Die Wirksamkeit des Begehrungsvermögens durch die Willkür interpretiert Kant dabei im Rahmen einer voraussetzungsreichen Theorie von Kausalität, die humeanische mit aristotelischen Elementen verbindet (vgl. Watkins (2005)). Nach dieser Theorie fungieren zwar (wie in der aristotelischen Tradition und der Leibniz-Wolff-Schule) Substanzen, nicht Ereignisse als Ursachen, doch folgt jede kausale Verknüpfung (wie bei Hume) einem Gesetz. Ein solches Gesetz legt in Bezug auf die wirksame Substanz die Weise ihrer Wirksamkeit fest. Kant bezeichnet dieses Gesetz bei Personen als Charakter (KrV B 567; vgl. auch AA 7/291 f.).63
63 Vgl. hierzu Munzel (1999); Watkins (2005), Kap. 5.
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Bekanntlich unterscheidet er nun weiter zwischen intelligiblem und empirischem Charakter als noumenalem und phänomenalem Aspekt der Person (KrV B 567 f.). Den empirischen Charakter konzipiert Kant im Anschluss an Humes psychologischen Determinismus als Reihe von Eigenschaften, aus denen in Verbindung mit den Ausgangsbedingungen einer Situation notwendig folgt, wie sich die Person in ihr verhält. Der intelligible Charakter dagegen ist selbstgewählt und für die freie, intelligible Kausalität einer Person verantwortlich. Er kann plausiblerweise als System der vom Akteur angenommenen Maximen verstanden werden.64 Während Wesen, deren Wille „heilig“ ist, notwendigerweise Maximen haben, die mit dem Sittengesetz übereinstimmen, ist im Falle endlicher Vernunftwesen diese Übereinstimmung nicht garantiert. Deshalb sind wir mit einer Aufgabe konfrontiert, die sich einem „heiligen“ Willen in dieser Form nicht stellt. Diese Aufgabe besteht darin, unseren Willen – terminologisch verstanden als die autonome Ausrichtung am Sittengesetz – zu realisieren, sprich durch die Tätigkeit der Willkür (im terminologischen Sinn) ein konkretes, kohärentes System von handlungsleitenden Maximen (einen intelligiblen Charakter) zu schaffen, die dem Sittengesetz entsprechen. Der Gedanke einer Selbstkonstitution, in der wir in Ausrichtung an Gründen – genauer gesagt: an der einen vernünftigen Norm des Kategorischen Imperativs – ein konkretes Selbst bilden, welches in unseren Handlungen zum Ausdruck kommt, ist nach dieser Interpretation von zentraler Bedeutung für Kants Verständnis moralischen Wollens und Handels.65 In diesem Prozess schaffen und erweitern wir zugleich unsere Freiheit, weil wir nur insofern autonom sind, als unser intelligibler Charakter tatsächlich dem Sittengesetz entspricht – insofern wir also durch die Tätigkeit unserer Willkür die Haltung unseres Willens in Gestalt konkreter Maximen realisieren. Wie schon in Bezug auf den Willen im engeren Sinn vertritt demnach Kant auch in Bezug auf unser Begehrungsvermögen als ganzes eine Konzeption von Autonomie, die Freiheit, Selbst und Vernunft (bzw. Gründe, rationale Normen) zueinander in ein konstitutives Bedingungsverhältnis setzt. Dabei wehrt sich Kant auch hier explizit dagegen, das Verhältnis zwischen Freiheit und Vernunft im Sinne eines Wahl-basierten Freiheitsverständnisses zu deuten. Nicht nur der Wille (im terminologischen Sinne) hat keine Wahl, auch die Willkür darf nicht, so
64 Gemäß seinem transzendentalen Idealismus muss Kant den intelligiblen Charakter zwangsläufig außerhalb von Raum und Zeit verorten, so dass sein Verhältnis zu bewussten rationalen Entscheidungen der Person – wie dem Annehmen einer Maxime oder der Entscheidung für eine bestimmte Handlungsoption in Bezug auf konkrete empirische Handlungssituationen – sehr problematisch ist. Für unsere Zwecke abstrahieren wir aber von dieser Komplikation. 65 Zur Rolle von Selbstkonstitution in Kants Moralphilosophie s. Korsgaard (1999) und (2009), insbesondere Kap. 4. Vgl. allerdings die Diskussion von Korsgaards Position im Folgenden.
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Kant ausdrücklich, als „Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln, (libertas indifferentiae) definirt werden“ (AA 6/226). Zwar kann die Willkür Maximen annehmen, die dem Sittengesetz widersprechen – andernfalls wäre unser Wille heilig. Doch handelt es sich in solchen Fällen nicht etwa um die Ausübung einer besonderen Freiheit, sondern um ein Unvermögen – ein Scheitern im Versuch, die oben skizzierte Aufgabe der Selbstkonstitution zu bewältigen: Die „Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen“ (AA 6/227).66 Die Frage ist nun, ob Kants Moralphilosophie ausreichende begriffliche Mittel zur Verfügung stellt, um Selbstkonstitution im erläuterten Sinn erklären zu können. An dieser Stelle setzt Hegels Kritik von Kants Moralphilosophie mit dem vieldiskutierten Formalismus-Vorwurf an. Hegel expliziert diesen Vorwurf in einer
66 Dagegen wird Kants Theorie der intelligiblen Tat, durch die wir uns unseren intelligiblen Charakter zulegen, in der Religionsschrift häufig im Sinne einer radikalen Wahl zwischen einem guten und einem bösen Willen interpretiert. Tatsächlich kann dieses Lehrstück Kants aber als Präzisierung einer Deutung bösen Handelns als „Unvermögen“ (wie in der Metaphysik der Sitten) verstanden werden, die die Annahme einer Wahl zwischen gut und böse gerade vermeiden soll. Der Begriff des Unvermögens bringt für sich genommen die Schwierigkeit mit sich, dass die Zurechnung eines Unvermögens problematisch ist und das Unvermögen als Entschuldigungsgrund für böses Wollen und Handeln missverstanden werden könnte. Die Alternative hierzu, die intelligible Tat als radikale Wahl zu interpretieren, will Kant aber jedenfalls vermeiden. (In der Religionsschrift wird neben Kants Ablehnung Wahl-basierter Freiheitstheorien ein weiteres Motiv hierfür sichtbar: Kant schreibt – gemäß der Lehre vom radikal Bösen – allen Menschen einen bösen Willen zu; eine positive Entscheidung für das Böse macht aber den „teuflischen“ Willen aus, der nach Kants Auffassung dem Menschen nicht möglich ist (AA 6/35, 37).) In seiner späten Moralphilosophie führt Kant neue begriffliche Ressourcen ein, die u. a. auch für diese Problematik relevant sind. Nachweislich sieht der späte Kant nämlich das zentrale negative Phänomen der Moralität nicht mehr, wie in der Grundlegung und der KpV, im Hang zum Vernünfteln und zum Zulassen von Ausnahmen, sondern in der Unredlichkeit, die er in einer Reflexion (Nr. 8103) als das „radikale Böse“ bezeichnet (AA 19/646) (vgl. dazu, mit weiteren Belegen, Knappik/Mayr (im Ersch.)). Durch unsere Unredlichkeit betrügen wir uns selbst hinsichtlich der moralischen Qualität unserer Handlungen; wir konstruieren nicht – wie im Vernünfteln – unangemessene, aber aufrichtig gemeinte Rechtfertigungen für sie, sondern verfälschen wider besseres Wissen „sogar die innern Aussagen vor [unserm] eigenen Gewissen“ (AA 8/270). Der erste Teil der Religionsschrift kann vor diesem Hintergrund so interpretiert werden, dass Kant in ihm die „Unlauterkeit“ als das eigentliche Wesen (den „Charakter“ (AA 6/38)) des radikalen Bösen und damit unserer intelligiblen Tat, in der wir uns einen schlechten Willen zulegen, präsentiert (AA 6/37 f.). Das Phänomen der Unredlichkeit erfüllt dabei genau Kants Desiderat für diese Rolle: Unredlichkeit ist eine Schwäche (und insofern ein Unvermögen), aber keine bloße Unfähigkeit. Während die Unfähigkeit von Schuld entlasten kann, ist Unredlichkeit jedenfalls zurechenbar; zugleich involviert Unredlichkeit aber keine radikale Wahl zwischen gut und böse.
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Reihe verschiedener Einwände; häufig werden dabei die Punkte zitiert, dass alle, auch unmoralische, Maximen so formuliert werden können, dass sie widerspruchsfrei universalisierbar sind, und dass Kants Moralphilosophie zu einem inneren Konflikt zwischen der vernünftigen und der motivationalen Seite des Akteurs führt. Es ist Gegenstand umfangreicher exegetischer Diskussionen, ob und wie Kant gegen diese spezifischen Gestalten des Formalismus-Vorwurfs verteidigt werden kann (vgl. Allison (1990), 184 ff. und Pippin (1997b) mit weiterer Literatur). Die systematische Relevanz von Hegels Kritik für unsere Zwecke wird aber nur sichtbar, wenn andere Aspekte des Formalismus-Vorwurfs berücksichtigt und vor dem Hintergrund der Problematik von Freiheit und Selbstkonstitution gesehen werden. Selbst dann nämlich, wenn gezeigt werden kann, dass die vom Kategorischen Imperativ geforderte Widerspruchsfreiheit unmoralische Handlungen, anders als Hegel behauptet, tatsächlich ausschließt und überdies zu keiner inneren Entzweiung des Akteurs führt, ist doch kaum zu erwarten, dass der Kategorische Imperativ in der Lage ist, als Bezugspunkt unseres Handelns die rationale Konstitution eines intelligiblen Charakters zu ermöglichen. Auch wenn nämlich der Kategorische Imperativ in Bezug auf jede praktische Frage, die sich uns stellt, die moralisch schlechten Optionen ausfiltert, bleiben doch nach wie vor unzählige Optionen für Handlungen, Bewertungen und Zielsetzungen – also für Kant: Kandidaten für mögliche Maximen –, zwischen denen wir uns entscheiden müssen und die unter Umständen massive Konsequenzen für die Struktur unseres gesamten rationalen Handelns haben können. Wenn wir zwar eine abstrakte Norm oder, in Hegels Ausdruck, „das Gute“ als obersten Maßstab unseres Handelns anerkennen, aber „kein Prinzip der Bestimmung“ dieses Guten vorhanden ist (Enz. § 508, 10/315), dann wird unser konkretes Handeln weitgehend von gegebenen Faktoren (Wünschen usw.) und willkürlichen Entscheidungen bestimmt. Mangels eines „Prinzip[s] der Bestimmung“, mangels rationaler Standards für die Spezifikation des abstrakten Guten67 ist Selbstkonstitution so wieder dem Zufall oder der dezisionistischen Wahl überlassen.68
67 Die Thematik der Spezifikation als Aufgabe praktischer Vernunft ist aristotelisch (vgl. dazu Wiggins (1975–1976)). Im Hintergrund von Hegels Kritik an der Konzeption eines unspezifizierten Guten in der Enzyklopädie steht auch seine Deutung von Aristoteles’ Kritik an Platons Idee des Guten (VGPh 19/222), doch äußert sich Hegel hier nicht genauer zur aristotelischen Theorie der Spezifikation von Zielen in der Deliberation. 68 Diese Problematik kann innerhalb der Kantischen Position auch nicht durch die Konzeption der Urteilskraft gelöst werden. Die Urteilskraft leistet den Übergang von der Norm zum konkreten Anwendungsfall; hier geht es darum, ein konkreteres Selbst zu gewinnen, von dem abhängt, welche Normen der Urteilskraft zur Anwendung auf den Einzelfall überhaupt zur Verfügung stehen. Vgl. 2.6.4.
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Kant selbst nimmt die Formen von Heteronomie, die in diesem Zusammenhang drohen, nicht als Gefährdung unserer Autonomie ernst, weil sie die moralische Qualität des Willens nicht direkt beeinträchtigen. Auch ein intelligibler Charakter, der ein ungeordnetes Aggregat von miteinander konfligierenden Maximen darstellt, kann im Prinzip den Anforderungen des Sittengesetzes genügen, sofern die Maximen jeweils für sich genommen universalisierbar sind. Wird dagegen Freiheit nicht speziell aus moralphilosophischer Sicht, sondern in Bezug auf Vernunft im Allgemeinen thematisiert, dann muss die geschilderte Problematik des fehlenden Spezifikationsprinzips als wesentliches Defizit erscheinen. Aus dieser Perspektive wird die Polarität von Wille und Willkür, die der Kantischen Autonomie-Konzeption innewohnt, de facto zu einer Kluft, die nur durch Zufall oder indifferente Wahl überbrückt werden kann.69 Dieses Problem ist ferner nicht auf die praktische Vernunft beschränkt, sondern es lässt sich auch in Bezug auf die theoretische Vernunft formulieren. Auch die Konstitution unseres epistemischen Selbst kann nämlich so beschrieben werden, dass wir im Ausgang von sehr abstrakten Grundnormen – ein Kandidat hierfür ist z. B. der Satz vom Widerspruch70 – auf nicht-willkürliche Weise ein konkretes System aus Festlegungen bilden müssen. Zwar sollte jede einzelne epistemische Festlegung durch hinreichende Evidenz begründet und deshalb nicht-willkürlich sein. Dies schließt aber nicht aus, dass wir auf der Grundlage derselben globalen Evidenz nicht insgesamt ein ganz anderes Überzeugungssystem (und andere wissenschaftliche Theorien etc.) haben könnten, wenn wir nämlich andere Begriffssysteme, Kategorien, Inferenzmuster etc. verwenden würden. Ähnlich wie im praktischen Bereich die rationale Selbstkonstitution bestimmte Grundbegriffe, Begründungsformen usw. erfordert, kann ein konkretes Selbst nur vor dem Hintergrund bestimmter theoretischer Kategorien, Argumentationsstandards, logischer Konstanten usw. geformt werden. Diese grundlegenden begrifflichen Mittel sind es aber zugleich, die die Überwindung des gegebenen Ausgangszustandes epistemischer Einstellungen und deren rationale „Aneignung“ ermöglichen sollen (vgl. 2.4). Da die genannten Grundbegriffe und -normen nicht alternativlos sind, kann die Frage, wie Entscheidungen bezüglich ihrer begründet werden können, als theoretisches Pendant zur Frage nach der nicht-willkürlichen Spezifikation abstrakter praktischer Normen betrachtet werden. – Dass auch Hegel selbst in der Auseinandersetzung mit Kant eine derartige
69 Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht um den oben angesprochenen Konflikt von Vernunft und Neigung, den Hegel auch an Kants Moralphilosophie kritisiert. 70 O’Neill dagegen vertritt die interessante Position, dass bei Kant der Kategorische Imperativ auch das Grundprinzip der theoretischen Vernunft darstellt: O’Neill (1989), Kap. 1.
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Verallgemeinerung der fraglichen Problematik über den moralphilosophischen Bereich hinaus vornimmt, werden wir in Abschnitt 3.2.1 genauer sehen. Das erläuterte Problem können wir als „Formalismus-Problem“ bezeichnen. Mit ihm ist jeder Ansatz, der eine konstitutive Beziehung zwischen Selbst, Vernunft und Freiheit annimmt und deshalb erklären muss, wie rationale Selbstkonstitution möglich ist, konfrontiert. Im Folgenden werden wir sehen, wie sich dieses Problem auch bei neueren Versuchen einer Fortführung von Kants Autonomie-Begriff stellt. Exemplarisch bespreche ich den Ansatz Korsgaards71; anschließend diskutiere ich die Rezeption von Kants Autonomie-Begriff bei Brandom, der ein mit dem Formalismus-Problem verwandtes Problem identifiziert.
2.6.3 Korsgaards Theorie der Selbstkonstitution Selbstkonstitution ist für Korsgaard von zentraler Bedeutung für rationales Handeln, weil Handlungen, die – im Sinne „starker“ Eignerschaft – wirklich zu einem Akteur gehören und nicht nur unwillkürliche Körperbewegungen oder zwanghafte Handlungen sind, Ausdruck des Akteurs als ganzem sein müssen (Korsgaard (2009), 18 f.). Indem wir entscheiden, wie wir handeln, entscheiden wir, in welcher Weise wir kausal wirksam werden, mithin – ganz im Sinne von Kants intelligiblem Charakter als dem Kausalgesetz einer Person – auch, wer wir sind:
71 Neben der Position Korsgaards und der Brandoms, die wir unten besprechen, ist in diesem Kontext auch die Position von Susan Wolf relevant (vgl. Wolf (1980), (1990)). Wolf zufolge besteht Freiheit in der Fähigkeit, das zu tun, was richtig ist (Wolf (1990), 68). Damit grenzt sich Wolf zum einen – in expliziter Anknüpfung an Kant – von der Anforderung des Anders-Handeln-Könnens in der traditionellen Debatte ab: Wenn wir das Richtige tun, benötigen wir keine weiteren Möglichkeiten, um frei zu sein; wenn wir das Falsche tun, müssen wir in dieser Situation auch das Richtige tun können, um verantwortlich zu sein. Zum anderen unterscheidet sich Wolfs Position von einer Theorie à la Frankfurt dadurch, dass ein gegenüber der Struktur des Willens externer Faktor in die Bestimmung von Freiheit integriert wird, nämlich das Gute. Dabei ist für Wolf Vernunft das Vermögen, normative und nicht-normative Tatsachen zu ermitteln (Wolf (1990), 53 f.); frei sind wir, wenn wir kraft dieses Vermögens fähig sind, das Wahre zu glauben und das Gute zu tun. Von der vernünftigen Erkenntnis des Guten können wir für Wolf nicht dauerhaft entfremdet sein: Vernunft stiftet, so Wolf, den Rahmen und Hintergrund dafür, dass wir überhaupt überlegen, entscheiden, planen und handeln können. Eine Entfremdung gegenüber ihr kann daher nur punktuell sein. Insofern erkennt Wolf einen konstitutiven Zusammenhang von Vernunft, Freiheit und Selbstsein an, den sie jedoch nicht genauer ausführt. – Diejenige Autorin, die innerhalb der gegenwärtigen Debatte über Willensfreiheit am stärksten an Kant anknüpft, ist Hilary Bok (vgl. Bok (1998)). Sie bezieht sich jedoch nicht auf den AutonomieBegriff, sondern auf die Unterscheidung der Perspektive von spekulativer und von praktischer Vernunft auf Freiheit.
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„[T]here is no you prior to your choices and actions, because your identity is in a quite literal way constituted by your choices and actions“ (Korsgaard (2009), 19). Wie ist es aber möglich, dass wir durch einzelne Entscheidungen tatsächlich ein Selbst konstituieren, welches die für rationales Handeln nötige Einheit aufweist, statt nur eine Reihe unverbundener Entscheidungen hervorzubringen? Hier kommt der Kantische Autonomie-Begriff zum Tragen: Für Korsgaard ist die Ausrichtung am Kategorischen (und am Hypothetischen) Imperativ eine notwendige Bedingung für eine Selbstbestimmung, durch die das Selbst sich als Einheit konstituiert.72 Dabei modifiziert Korsgaard Kants Theorie in einer Weise, die ansatzweise auch Hegels Formalismus-Kritik Rechnung trägt. Ihr zufolge ist nämlich der Kategorische Imperativ vom Sittengesetz dadurch unterschieden, dass sein Geltungsskopus nicht festgelegt ist (Korsgaard (1996), 98 ff.; Korsgaard (2009), 80). Während Maximen, die dem Sittengesetz gehorchen, als Gesetz für alle Vernunftwesen gelten können müssen, fordert der Kategorische Imperativ als solcher nur Gesetzescharakter, schreibt aber nicht den universalen Geltungsskopus des Sittengesetzes vor. Dem Kategorischen Imperativ gehorchen also nach dieser Theorie bereits Maximen, die nur in Bezug auf einen Teilbereich der Vernunftwesen universalisierbar sind. Solche Teilbereiche sind nach Korsgaard durch praktische Identitäten definiert (Korsgaard (2009), 17–26). Praktische Identitäten sind Beschreibungen, unter denen wir uns wertschätzen und die auch auf andere Subjekte anwendbar sind – wie z. B. „Bürgerin des Staates ___“, „Familienvater“, „Mitglied der sozialen Gruppe ___“ usw. Genauer gesagt handelt es sich hierbei um kontingente oder – wie ich sie im Folgenden nennen werde – „partielle“ praktische Identitäten, im Gegensatz zu der universalen praktischen Identität, die jedem Vernunftwesen als solchem zukommt (vgl. Korsgaard (1996), 99 ff.; Korsgaard (2009), 23). Da für Korsgaard der Kategorische Imperativ konstitutiv für die Einheit des Selbst ist, haben wir – wie auch bei Kant – bezüglich seines Inhaltes und seiner Geltung keine Wahl. Überdies verschafft der Begriff der praktischen Identität den Ansatz einer Erklärung dafür, wie ein rationaler Übergang von unserer Ausrichtung am Sittengesetz hin zu einem konkreten, handlungsfähigen Selbst erklärt werden kann. Partielle praktische Identitäten stiften nämlich dort eine rationale Einheit unter unseren praktischen Einstellungen, wo das Sittengesetz allein nicht für eine rationale Selbstbestimmung hinreichend ist. In Kapitel 8 werde ich mich deshalb u. a. auf Korsgaards Begriff der praktischen Identität stützen, um Hegels Theorie praktischer Freiheit und Selbstkonstitution zu rekonstruieren. Dabei werde ich aber gegenüber Korsgaard wichtige Modifikationen einführen, denn Kors-
72 Vgl. zum Folgenden Korsgaard (1996), Kap. 3; Korsgaard (2009), Kap. 4.
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gaards eigene Theorie kann das Kantische Formalismus-Problem – wie gelangen wir auf rationale Weise von abstrakten Normen hin zu einem konkreten Selbst? – nicht wirklich lösen. Innerhalb von Korsgaards Theorie kann dieses Problem so reformuliert werden: Wie gelangen wir dazu, jenseits unserer Identität als Vernunftwesen – kraft derer das Sittengesetz für uns gilt – auch partielle praktische Identitäten zu besitzen, ohne dass diese vorgegeben oder uns aufgezwungen wären? Zunächst antwortet Korsgaard hierauf, dass es – unabhängig davon, wie die partiellen Identitäten faktisch zustande kommen – stets von uns selbst abhängt, welche derartigen Identitäten wir haben: [W]hether you treat them [sc. praktische Identitäten] as a source of reasons and obligations is up to you. If you continue to endorse the reasons the identity presents to you, and observe the obligations it imposes on you, then it’s you. […] [Y]ou can walk out even on a factually grounded identity like being a certain person’s child or a certain nation’s citizen, dismissing the reasons and obligations that it gives rise to, because you just don’t identify yourself with that role. Then it’s not a form of practical identity anymore: not a description under which you value yourself. On the flip side, you can wholeheartedly endorse even the most arbitrary form of identification, treating its reasons and obligations as inviolable laws. (Korsgaard (2009), 23)
Praktische Identitäten haben also nach Korsgaard nur dadurch Autorität über uns, dass wir sie anerkennen; wir haben die Freiheit, diese Anerkennung zuzusprechen und zu widerrufen. Hier tritt jedoch abermals das Formalismus-Problem auf, das wir im Anschluss an Hegels Kritik bei Kant identifiziert hatten: Wie kann vermieden werden, dass unsere Anerkennung oder Ablehnung von praktischen Identitäten willkürlich und daher zufällig ist? Korsgaards Darstellung in der zitierten Passage scheint zwei Deutungen unserer Annahme oder Ablehnung praktischer Identitäten zuzulassen. Erstens redet Korsgaard von unserer Identifikation mit einer Identität, und zwar so, als könnte sich diese Identifikation entweder einstellen oder nicht („you can walk out even on a factually grounded identity […] because you just don’t identify yourself with that role“). Dies entspricht Frankfurts Verständnis von Identifikation als einer strukturellen Eigenschaft unseres Willens, deren Auftreten davon abhängt, welche Wünsche wir in uns vorfinden. Damit würde aber für Korsgaard die Konstitution unseres Selbst von gegebenen Wünschen abhängen, die wir uns ihrerseits nicht auf rationale Weise aneignen können. Zweitens beschreibt Korsgaard in anderen Formulierungen unsere Identifikation mit praktischen Identitäten auf eine aktivere Weise („you can wholeheartedly endorse even the most arbitrary form of identification, treating its reasons and obligations as inviolable laws“). Dies kann so verstanden werden, dass Identifikation mit praktischen
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Identitäten von unseren Entscheidungen abhängt – entweder von Entscheidungen, die direkt die Annahme oder Ablehnung einer Identität betreffen (z. B. die Entscheidung, eine bestimmte Person zu heiraten), oder von Entscheidungen, die sich auf einzelne Handlungen beziehen.73 Wenn solche Entscheidungen nicht willkürlich sein sollen, müssen sie auf Gründen beruhen; unsere praktischen Gründe werden aber nach Korsgaard gerade, sieht man von moralischen Gründen ab, durch unsere partiellen praktischen Identitäten definiert (Korsgaard (2009), 21). Unsere partiellen Identitäten können sich also allenfalls gegenseitig stützen und untereinander kohärent sein, aber warum ein Subjekt gerade diese und nicht eine ganz andere Konstellation von partiellen Identitäten besitzt, kann auch nicht ansatzweise gerechtfertigt (sondern allenfalls unter Bezug auf äußere Gegebenheiten erklärt) werden.74 – Somit kann Korsgaard das Hegelsche Problem eines „Prinzips der Bestimmung“ für rationale Normen nicht lösen, wenngleich ihr Modell praktischer Identitäten einen wichtigen Ansatz für eine Erklärung dessen bietet, wie die Kluft zwischen unserer abstrakten rationalen Identität (kraft derer wir dem Sittengesetz unterworfen sind) und unserem konkreten Selbst auf nichtwillkürliche Weise überbrückt werden kann (vgl. Kapitel 8).
2.6.4 Brandom über Autonomie und das Problem bestimmten begrifflichen Gehalts Wir haben bereits in Abschnitt 2.6.1 gesehen, dass Brandom sich auf Kants Autonomie-Begriff bezieht, um den Gedanken einer konstitutiven Beziehung zwischen Selbst, Vernunft (bzw. Normen oder Gründen) und Freiheit zu formulieren. Brandom beschreibt nun in seiner Deutung des Kantischen Autonomie-Begriffs auch ein ähnliches Problem wie das Hegelsche Formalismus-Problem, das wir oben erläutert haben. Brandom schreibt:
73 So schreibt Korsgaard von den partiellen praktischen Identitäten auch: „We ratify their laws whenever we act in accordance with them“ (Korsgaard (2009), 23). 74 Vgl. hierzu auch McDowell (2009c). McDowell sieht bei allen Autonomie-Konzeptionen, die einen Akt der (Selbst-)Gesetzgebung annehmen, das folgende Problem: „If the legislative act is not already subject to the norms of reason, how can it be anything but arbitrary? But nothing instituted by an act that is arbitrary could be intelligible as the authority of reason. If selflegislation of rational norms is not to be a random leap in the dark, it must be seen as an acknowledgment of an authority that the norms have anyway“ (McDowell (2009c), 105). Entsprechend interpretiert McDowell rationale Autonomie als die Anerkennung von intrinsischen Normen des Denkens (McDowell (2009c), 106). Grundsätzlich ist diese Lösung durchaus mit der Position im Einklang, die ich im Folgenden Hegel zuschreiben werde.
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The autonomy criterion [sc. für Rationalität] says that it is in a certain sense up to us (it depends on our activities and attitudes) whether we are bound by (responsible to) a particular conceptual norm (though acknowledging any conceptual commitments may involve further implicit rationality- and intentionality-structural commitments). However, if not only the normative force, but also the contents of those commitments – what we are responsible for – were also up to us, then, to paraphrase Wittgenstein, ‚whatever seems right to us would be right‘. In that case, talk of what is right or wrong could get no intelligible grip […]. Put another way, autonomy, binding oneself by a norm, rule, or law, has two components, corresponding to ‚autos‘ and ‚nomos‘. One must bind oneself, but one must also bind oneself. (RiPh 64)
Brandom geht hier von einem Verständnis Kantischer Autonomie als Fähigkeit aus, sich durch Normen zu bestimmen, oder – in Kants Worten – nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln (vgl. RiPh 59). Damit vernachlässigt Brandom freilich Kants Gedanken, dass der autonome Wille sich selbst Gesetz ist, weil er – ohne Raum für eine Wahl – das für ihn auf Grund seiner eigenen Struktur verbindliche Sittengesetz befolgt.75 Die Kantische Autonomie des Willens (im terminologischen Sinn) verkürzt also Brandom auf das, was bei Kant der Willkür entspricht. Die Willkür ist aber bei Kant nur insofern frei, als sie unabhängig von unmittelbaren Trieben und Impulsen ist; an vernünftiger Autonomie kann sie nur partizipieren, insofern sie vom Willen bestimmt wird.76 Nichtsdestotrotz präsentiert Brandom in der oben zitierten Passage eine hilfreiche Weise, die intrinsischen Schwierigkeiten des Kantischen Autonomie-Begriffs zu beschreiben. Auch Brandom erkennt nämlich an, dass Kantische Autonomie nicht dem Verständnis von Normativität zuzurechnen ist, das normative Geltung rein auf subjektive Einstellungen des Subjekts, für das eine Norm gilt, reduziert – also demjenigen Verständnis von Normativität, das bei Hegel dem Standpunkt der „subjektiven Freiheit“ entspricht (vgl. 2.1). Stattdessen muss Autonomie auch eine Seite enthalten, die die subjektive Freiheit im Anerkennen oder Ablehnen von normativen Status einschränkt. Brandom versteht die Kantische Position so, dass die Geltung von Normen in Bezug auf den Gehalt der
75 Auf das Sittengesetz bezieht sich Brandom in der zitierten Passage und andernorts nur indirekt durch den Hinweis auf „implicit rationality- and intentionality-structural commitments“, ohne zu erklären, wie diese mit Autonomie zusammenhängen. 76 Vgl. AA 6/213 f.: „Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar afficirt, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden. Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein. Dieses ist aber nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze“.
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2 Freiheit ohne Wahl
Normen der Willkür entzogen ist, während es an uns liegt, mit welchen Akten wir diese Gehalte verbinden. Wir können in Bezug auf eine gegebene Norm selbst entscheiden, ob wir unser Verhalten an ihr ausrichten wollen oder nicht; wenn wir aber entschieden haben, der Norm zu folgen, dann ist es unabhängig von unseren eigenen Einstellungen zur Norm durch deren Inhalt festgelegt, ob unser Verhalten der Norm Genüge tut oder nicht. Das entscheidende Defizit dieser Position besteht nun für Brandom darin, dass sie den Inhalt der Normen als gegeben voraussetzt. Brandom sieht hier ein Modell begrifflichen Gehalts am Werk, das später auch Carnap vertreten wird (RiPh 83 f.). Nach diesem Modell sind die Festlegung des Inhalts von Begriffen (also Normen) und deren Anwendung zwei distinkte Vorgänge. Sobald Begriffe gebraucht werden – also ein Befolgen begrifflicher Normen stattfindet –, muss demnach ein klar bestimmter begrifflicher Gehalt vorgegeben sein, an Hand dessen in Bezug auf einzelne Anwendungen entscheidbar ist, ob diese korrekt oder inkorrekt sind. Während aber in Bezug auf künstliche Sprachen (z. B. mathematische und logische Kalküle) eine Festlegung bestimmten begrifflichen Gehalts durch Stipulation möglich ist, hält Brandom es für eine unkritische, dogmatische Voraussetzung, auch in Bezug auf natürliche Sprachen die Verfügbarkeit bestimmter Begriffe als unproblematisch gegeben anzunehmen. Brandom sieht dabei Quines Kritik am Carnapschen Zwei-Stufen-Modell vorweggenommen in Hegels Verständnis von Begriffen, das – nach Brandoms Interpretation – eine sukzessive Konstitution begrifflichen Gehalts in historischen Prozessen und intersubjektiven Anerkennungsbeziehungen annimmt (RiPh 64 ff., 83 f.; vgl. 3.1). Wie wir schon kurz gesehen haben, sieht Brandom, ähnlich wie Hegel in Bezug auf das Formalismus-Problem, einen engen Zusammenhang zwischen dem Problem bestimmten begrifflichen Gehalts (bzw. seines Lösungsvorschlags hierfür) und einer Deutung von Freiheit im Sinne von Autonomie und Selbstkonstitution. Für Brandom sind es nämlich begriffliche Normen überhaupt – und zwar insbesondere Normen, die den Gebrauch empirischer Begriffe (wie „Tisch“, „grün“, „Neutrino“) definieren (SPT 211; Brandom (2005)) –, die die Konstitution von kohärenten individuellen Systemen doxastischer und praktischer Festlegungen und insofern rationale Selbstkonstitution ermöglichen (RiPh 39); sie geben die Bedingungen dafür an, dass solche Festlegungen gemeinsam von einem Subjekt eingegangen werden dürfen.77 Diese Funktion können sie aber eben nur ausüben, wenn sie einen bestimmten Gehalt haben; und nach Brandoms Lö-
77 Vgl. insgesamt Brandoms Interpretation von Kants Theorie der transzendentalen Apperzeption als Theorie der Konstitution von Systemen diskursiver Festlegungen: RiPh Kap. 1.
2.6 Freiheit als Autonomie
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sungsvorschlag wird dieser bestimmte Gehalt in demselben Prozess etabliert, in dem konkrete Selbste konstituiert werden (vgl. SPT). Das von Brandom identifizierte Problem bestimmten begrifflichen Gehalts ist zwar nicht identisch mit Hegels Formalismus-Problem, doch zeigt die folgende Überlegung, dass beide Probleme eng miteinander zusammenhängen. Rationales Verhalten kann insgesamt als Anwendung von Normen auf einzelne Situationen beschrieben werden. Z. B. wenden wir in der Verwendung von Begriffen sprachliche Normen auf Gegenstände oder Sprechsituationen an; in intentionalen Handlungen wenden wir Rationalitätsstandards und selbstgesetzte Handlungsnormen und -ziele auf Handlungssituationen an; in der Bildung von Überzeugungen wenden wir epistemische und sprachliche Normen auf die verfügbare Evidenz an. Um in einer gegebenen Situation zu entscheiden, wie wir uns verhalten sollen, müssen wir nun zwei verschiedene Fragen beantworten, die beide mit der Bestimmtheit von Normen zu tun haben. Erstens stellt sich hier eine Frage der Art: „Was folgt aus den relevanten Normen ____ für den vorliegenden Fall?“, die ihrerseits als (je nach Fall mehr oder weniger komplexe) Konstruktion aus Fragen der Art „Was folgt aus der Norm N für den vorliegenden Fall?“ verstanden werden kann. Die Bestimmtheit einer Norm besteht darin, dass es in Bezug auf eine mehr oder weniger große Menge relevanter, wirklicher oder möglicher Einzelfälle eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt. Dadurch, welche Antworten diese Frage in Bezug auf verschiedene wirkliche oder mögliche Einzelfälle jeweils nach sich zieht, ist die Norm von anderen Normen unterschieden. Je nachdem, ob es bezüglich der Norm in mehr oder weniger Einzelfällen eine eindeutige Antwort auf die genannte Frage gibt, ist die Norm bestimmter oder unbestimmter. Für jede Norm muss es zumindest in einer gewissen Zahl von Fällen solche Antworten geben – andernfalls könnte weder sinnvoll zwischen korrekten und inkorrekten Normenanwendungen unterschieden werden, noch könnten einzelne Normen mit jeweils bestimmtem Gehalt voneinander unterschieden werden. Die Frage nach normativer Bestimmtheit in diesem Sinn – was folgt aus einer Norm im Einzelfall? – können wir als „welche Folgen?“-Frage bezeichnen. Daneben stellt sich stets die weitere Frage, welche von verschiedenen bestimmten Normen wir befolgen bzw. als gültig akzeptieren wollen. Wenn wir z. B. eine Zahlenreihe „1, 2, …“ bilden und fragen, welche Zahl als nächste kommen soll, hängt die Antwort nicht nur davon ab, was aus bestimmten Regeln für diesen Fall folgt, sondern auch davon, welche Regel wir hier anwenden wollen – ob wir z. B. die Reihe nach der Funktion „x+1“ bilden wollen (so dass die nächste Zahl 3 lautet) oder aber nach der Funktion „2x“ (so dass die nächste Zahl 4 lautet). Die entsprechende Frage können wir als „welche Norm?“-Frage bezeichnen.
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2 Freiheit ohne Wahl
Brandoms oben erläuterte Kritik an Kant und Carnap kann so verstanden werden, dass wir beide Fragen in der Anwendung von normalsprachlichen Normen nie vollständig auseinanderhalten können. In Fällen, in denen für die bisher befolgte Norm kein eindeutiges Resultat bestimmt ist, kollabieren die beiden Fragen, denn wir können die Entscheidung, die hier nötig wird, ebenso als Fortbestimmung der bisher verwendeten Norm beschreiben wie als Entscheidung für eine neue Norm. Das heißt aber nicht, dass die Unterscheidung der beiden Fragen nicht sinnvoll und notwendig wäre: Es handelt sich bei ihnen um zwei logisch distinkte, wenn auch eng miteinander verbundene und im Einzelfall nicht immer klar unterscheidbare Aspekte des Normengebrauchs. Brandoms Problem des bestimmten begrifflichen Gehalts und Hegels Formalismus-Problem betreffen nun jeweils einen der beiden genannten Aspekte und fragen in Bezug auf ihn nach der Genese von normativer Bestimmtheit. Brandom fragt, wie es auf geregelte und rationale Weise dazu kommen kann, dass wir bestimmte Normen im Sinne der „welche Folgen?“-Frage verwenden. Hegel fragt, wie es auf geregelte und rationale Weise dazu kommen kann, dass wir bestimmte Normen im Sinne der „welche Norm?“-Frage verwenden. Wir sind somit zu folgendem Ergebnis gekommen. Ein integraler Freiheitsbegriff, so hat sich ergeben, kann am plausibelsten als Autonomie-Konzeption im erläuterten Sinne formuliert werden – als konstitutiver Zusammenhang von Selbst, Gründen und Freiheit. Als zentrales Problem für eine solche AutonomieKonzeption hat Hegel die Frage identifiziert, wie sich Selbstgesetzgebung als rationaler Prozess der Selbstkonstitution erklären lässt: Damit dieser Prozess weder willkürlich noch zufällig verläuft, muss die Unbestimmtheit abstrakter rationaler Normen und Prinzipien überwunden werden. Zugleich macht Brandoms Rezeption von Kant und Hegel deutlich, dass es zwei miteinander verbundene Probleme normativer Unbestimmtheit gibt. Zu Beginn des nächsten Kapitels werde ich dafür argumentieren, dass Hegel nicht nur in der Auseinandersetzung mit Kant, sondern auch insgesamt in der systematischen Entwicklung seiner Freiheitstheorie das Formalismus-Problem (also das Problem der Genese von Bestimmtheit in Bezug auf die „welche Norm?“-Frage) als grundlegend behandelt und das von Brandom hervorgehobene Problem der normativen Unbestimmtheit im Sinne der „welche Folgen?“-Frage für ihn nur eine sekundäre Rolle spielt.
3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik Eine der merkwürdigsten Eigenschaften von Hegels Theorie der Freiheit ist die, dass Hegel, noch bevor er Freiheit in epistemischen und praktischen Kontexten diskutiert, den Freiheitsbegriff als wichtiges Thema in seiner Wissenschaft der Logik behandelt – im ersten Teil seines Systems also, der zugleich eine logische Theorie der Grundbestimmungen des Denkens und eine metaphysische Theorie der Grundbestimmungen alles Wirklichen bieten soll. Auf diese logische Theorie der Freiheit nimmt Hegel auch im Laufe der Ausführung seiner Freiheitstheorie in der Realphilosophie Bezug, am deutlichsten in der Einleitung zur Rechtsphilosophie. Dort definiert Hegel das Wesen des freien Willens mittels einer Struktur der Allgemeinheit, für deren Erklärung er direkt auf die WdL verweist. Der im eigentlichen Sinne freie Wille ist nach Hegel die sich selbst bestimmende Allgemeinheit […]. Indem er die Allgemeinheit, sich selbst, als die unendliche Form zu seinem Inhalte, Gegenstande und Zweck hat, ist er nicht nur der an sich, sondern ebenso der für sich freie Wille – die wahrhafte Idee. (GPhR § 21, 7/71 f.)
Diese komprimierte Darstellung erläutert Hegel u. a., indem er erklärt: „Die verschiedenen Bestimmungen der Allgemeinheit ergeben sich in der Logik […]“ (GPhR § 24 A, 7/75). Genauer verweist Hegel auf die §§ 169–178 der Enzyklopädie, also die Urteilslehre innerhalb der WdL. Hegels Hinweis zufolge müssen wir die WdL, und speziell die Lehre vom Urteil, heranziehen, um zu verstehen, was in der Realphilosophie mit „Freiheit“ gemeint ist. Dieser spezifische Hinweis wird aber von Exegeten zumeist nicht aufgegriffen, weil er keine offensichtliche Hilfe beim Verständnis von Hegels Freiheitsbegriff bietet. Es ist nämlich prima facie nicht ersichtlich, weshalb die Theorie konkreter Freiheitsformen in Bezug auf theoretische und praktische Vernunft einer logisch-metaphysischen Grundlegung bedürfte. Ferner bereitet auch die ausdrückliche Thematisierung von Freiheit in der WdL selbst große Schwierigkeiten, denn es ist nicht klar, wie Freiheit – als ausschließliche Eigenschaft geistiger Wesen – sinnvoll in einer Theorie von logischen und metaphysischen Grundbegriffen behandelt werden kann, die von allem Wirklichen gelten sollen. Entsprechend verwundert es nicht, dass Exegeten, die eine systematische Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Freiheitsbegriff anstreben, Hegels Theorie der Freiheit innerhalb der Realphilosophie häufig unabhängig von ihrem logischen und metaphysischen Hintergrund zu rekonstruieren versuchen.1
1 Z. B. Wood (1990), 4 ff.; Honneth (1992), 107 ff.; Franco (1999); Honneth (2001), 13 f.; vgl. allgemein Taylor (1975), Kap. 20, zu dieser Trennung in der nach-Hegelschen Philosophie. Patten
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
Dagegen gehe ich in meiner Rekonstruktion der Hegelschen Freiheitstheorie von der entgegengesetzten Annahme aus, dass Hegels Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der WdL wesentlich für das Verständnis der Hegelschen Freiheitstheorie2 sowie für deren Relevanz hinsichtlich eines Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnisses ist. Dieses Grundlegungsverhältnis kann freilich seinerseits in ganz unterschiedlicher Weise verstanden werden, je nachdem wie die Aufgabe und der methodologische Status der WdL interpretiert werden. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels (3.1) diskutiere ich Brandoms Auffassung der Grundlegung von Freiheit in der WdL, die er als semantische und pragmatische Theorie begrifflichen Gehalts deutet. Durch seine Rekonstruktion dieser Theorie will Brandom dasjenige Problem der Genese bestimmten begrifflichen Gehalts lösen, das wir am Ende des letzten Kapitels im Kontrast zu dem von Hegel in Bezug auf Kant identifizierten Formalismus-Problem betrachtet hatten (vgl. 2.6.4). Ich kritisiere diese Deutungsperspektive und vertrete stattdessen die Auffassung, dass die logische Grundlegung von Hegels Freiheitstheorie nicht primär die Genese begrifflichen Gehaltes überhaupt betrifft, sondern diejenigen bestimmten kategorialen Begriffe zu ermitteln sucht, die uns rationale Selbstkonstitution (mithin auch die rationale Akzeptanz bestimmter konkreter Normen) ermöglichen und zugleich auch in metaphysischer Hinsicht grundlegend sind. Die Theorie dieser kategorialen Begriffe entspricht nicht Brandoms Version der allgemeinen Unbestimmtheitsproblematik im Kontext rationaler Normen, sondern der Version, die wir – im Anschluss an Hegels Formalismus-Vorwurf – als „Formalismus-Problem“ in Bezug auf Kants Autonomie-Theorie von Freiheit eingeführt hatten (2.6.2). Das Formalismus-Problem stellt die zentrale Schwierigkeit dar, mit der Autonomie-Konzeptionen von Freiheit konfrontiert sind – also solche Konzeptionen, die einen konstitutiven Zusammenhang von Selbst, Gründen und Freiheit annehmen (2.6.1). Es besteht in der Frage, wie wir in einem Prozess rationaler Selbstkonstitution auf nicht-zufällige und nicht-willkürliche Weise ein konkretes (epistemisches und praktisches) Selbst konstituieren können, obwohl uns zunächst nur sehr abstrakte rationale Normen dazu zur Verfügung stehen (wie bei Kant der Kategorische Imperativ). Eine Lösung dieses Problems ist nicht in einer Theorie begrifflichen Gehalts überhaupt zu suchen, wie sie Brandom als semanti-
(1999), Kap. 3, berücksichtigt Hegels Verweise auf den in der WdL entwickelten Begriff der Allgemeinheit als Grundlage des Freiheitsbegriffs, geht aber auf die logische Behandlung von Allgemeinheit nicht genauer ein. 2 Diese Annahme teilen u. a. Angehrn (1977); Dudley (2002); Wallace (2005); Pippin (2008).
3.1 Brandom über die semantischen und pragmatischen Grundlagen von Freiheit
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sche Grundlegung von Freiheit vorschlägt, sondern in einer Theorie konkreter logischer Formen (Begriffe, Begründungsformen usw.), die jenen Übergang von abstrakten zu konkreteren Normen und einem konkreten Selbst ermöglichen und daher eine logisch-metaphysische Grundlegung von Freiheit darstellen. (Gemäß der Unterscheidung, die ich in diesem Zusammenhang in Abschnitt 2.6.4 eingeführt habe, ermöglichen die fraglichen kategorialen Formen normative Bestimmtheit im Sinne der „welche-Norm?“-Frage, während es Brandom um die Erklärung normativer Bestimmtheit im Sinne der „welcheFolgen?“-Frage geht.) In den darauffolgenden Abschnitten des Kapitels (3.2 bis 3.5) verfolge ich zwei Ziele. Erstens versuche ich zu zeigen, dass für die Lösung des Formalismus-Problems tatsächlich eine logisch-metaphysische Grundlegung im Sinne von Hegels WdL erforderlich ist. Zu diesem Zweck untersuche ich, wie Hegel in Kants Transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe den Ansatz zu einer Autonomie-basierten Freiheitstheorie sehen kann, die die Schwierigkeiten von Kants „offiziellem“ Autonomie-Begriff zu lösen vermag (3.2). Wie sich zeigen wird, führt dieser Ansatz auf die Annahme einer eigenen Form von „logischer Freiheit“ (3.2.4), die im autonomen Vollzug voraussetzungslosen Denkens besteht. In den Abschnitten 3.3 und 3.4 betrachte ich die Bedeutung und die genaueren Konsequenzen dieses Ansatzes für das Verständnis der WdL im Allgemeinen. Diese Vorarbeiten sind nötig, damit wir im nächsten Kapitel den sachlichen Beitrag der WdL zur Problematik eines integralen Freiheitsbegriffs rekonstruieren und dabei auch dem oben zitierten Hinweis in § 24 der Rechtsphilosophie auf die Urteilslehre auf den Grund gehen können.
3.1 Brandom über die semantischen und pragmatischen Grundlagen von Freiheit Wir haben in Abschnitt 2.6.4 gesehen, dass Brandom zwar in Kants Version einer Autonomie-Konzeption von Freiheit einen wichtigen Fortschritt gegenüber alternativen – besonders Wahl-basierten – Freiheitstheorien sieht, er aber Kant vorwirft, die inhaltliche Bestimmtheit von begrifflichen Normen, die die autonome Konstitution von Selbsten strukturieren, dogmatisch vorauszusetzen. Da auch seine eigene inferentialistische Semantik und normative Pragmatik in Making it Explicit keine Erklärung für die Genese begrifflicher Bestimmtheit enthält, wendet sich Brandom der Philosophie Hegels v. a. mit dem Ziel zu, im Nachvollzug von Hegels kritischer Weiterentwicklung der Kantischen Philosophie Defizite seiner eigenen Theorie diskursiver Normativität zu beheben und
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
dadurch letztlich die Kantische Autonomie-Konzeption von Freiheit zu komplementieren.3 Entsprechend diesem Sachinteresse erblickt Brandom in der PhG und der WdL in erster Linie Theorien, die ein expressives Metavokabular („logische“ Begriffe in einem weiten Sinne) einführen, um diejenigen Prozesse beschreiben und explizieren zu können, durch die empirische Begriffe bestimmten begrifflichen Gehalt erhalten: What his [sc. Hegels] logical concepts are adequate for is just making explicit the process by which determinate content is conferred on or incorporated in the ground-level empirical and practical concepts that articulate our consciousness of how things are: the process of determining conceptual content through experience. (Brandom (2005), 156)
Nach Brandoms Auffassung macht Hegel von einem derartigen expressiven Metavokabular im Sinne einer pragmatistischen Erklärungsordnung Gebrauch. Diese Erklärungsordnung entspricht einem methodologischen Prinzip, das am besten in Bezug auf Freges Unterscheidung zwischen beurteilbaren Gehalten und pragmatischen Akten erläutert werden kann. Beurteilbarer Gehalt ist nach Frege durch seine inferentielle Rolle individuiert und kann in verschiedenen Funktionen auftreten; z. B. können eine Behauptung (├─── p“ oder „Es ist der Fall, dass p“), eine Frage („ist es der Fall, dass p?“) und das unbehauptete Vorkommen des Gehalts im Antezedens eines Konditionals („wenn p, dann q“) denselben beurteilbaren Gehalt („── p“ oder „der Sachverhalt, dass p“) teilen (vgl. Frege (1974), 1 ff. (§§ 2, 3)). Dieser Gehalt ist in den genannten Beispielen jeweils mit einem anderen „Akt“ oder einer anderen „Kraft“ verbunden. Im Rahmen der gängigen Disziplinen-Einteilung der Sprachphilosophie entspricht die Seite des Gehalts der Disziplin der Semantik, die Seite des Akts oder der Kraft der Pragmatik. In Bezug auf diese Unterscheidung stellt sich die Frage, ob eine der beiden Seiten einen explanatorischen Vorrang hat. Der semantische Pragmatismus, den Brandom selbst vertritt (vgl. MIE 592; Brandom (2000d), 10–12; BSD 9)4 und den er auch Hegel zuschreibt (vgl. SPT), besteht in der Annahme, dass die Seite des Akts und damit die Pragmatik gegenüber der semantischen Erklärung von Gehalt
3 In der Auffassung, die Problematik der Genese bestimmten begrifflichen Gehalts sei zentral für Hegels Philosophie, folgt Brandom Stekeler-Weithofers Deutung der WdL (vgl. Stekeler-Weithofer (1992), 8 ff. und passim). 4 Innerhalb der Vielzahl möglicher pragmatischer Akte kommt dabei für Brandom den Akten des Behauptens, Begründens und Folgerns ein methodologischer Vorrang zu: vgl. Brandom (2000d), 14 f.; BSD 41 ff.
3.1 Brandom über die semantischen und pragmatischen Grundlagen von Freiheit
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eine explanatorische Priorität innehat5: Die Erklärung semantischen Gehalts muss, so der semantische Pragmatismus, letztlich auf einer Theorie pragmatischer Akte basieren; um zu verstehen, worin der semantische Gehalt sprachlicher Ausdrücke besteht, ist es zugleich notwendig und hinreichend zu verstehen, was wir tun können müssen, um sprachliche Ausdrücke mit semantischem Gehalt zu gebrauchen. (Der „semantische Pragmatismus“ zieht also die methodologischen Konsequenzen aus einer „Gebrauchstheorie“ sprachlicher Bedeutung, wie sie z. B. häufig dem späten Wittgenstein zugeschrieben wird.) Gemäß der Erklärungsordnung des semantischen Pragmatismus muss die eigentliche Erklärung für die Genese bestimmten begrifflichen Gehalts in einer (im erläuterten Sinne) pragmatischen Theorie bestehen. Den Kern dieser Theorie bei Hegel erblickt Brandom in Hegels Entwicklung des Handlungsbegriffs im Vernunft- und Geist-Kapitel der PhG. Brandom rekonstruiert Hegels Darstellung verschiedener Perspektiven der Interpretation und Bewertung von Handlungen in diesen beiden Kapiteln als eine komplexe Handlungstheorie (ASoT, Kap. 7 („Hegel’s Expressive Metaphysics of Agency“)).6 Diese Handlungstheorie ist nach Brandom nicht nur als solche systematisch plausibel, sondern erklärt zugleich in paradigmatischer Weise denjenigen Prozess, in dem bestimmter begrifflicher Gehalt konstituiert wird. Für Hegel sind nämlich – in Brandoms Interpretation – Handlungen, ebenso wie sprachliche Ausdrücke, Träger begrifflichen Gehalts; dieser wird durch die Beschreibungen expliziert, unter denen die Handlung dem Akteur korrekt zugeschrieben wird. Der so verstandene begriffliche Gehalt einer Handlung ist nicht ein für allemal gegeben, sondern unterliegt einem dynamischen Bestimmungsprozess. Dieser Prozess vollzieht sich zunächst in der Planung und Ausführung der Handlung durch den Akteur, wird im Anschluss aber durch die Entwicklung retrospektiver Interpretationen fortgesetzt; an diesen Interpretationen kann der Akteur selbst zwar beteiligt sein, doch werden sie im Wesentlichen von anderen Interpreten getragen. Der Prozess, in dem der begriffliche Gehalt einer Handlung festgelegt wird, ist für Brandom durch eine Konfiguration von Beziehungen intersubjektiver An-
5 Diese methodologische Position ist strikt zu unterscheiden von den Positionen des klassischen Pragmatismus, etwa der pragmatistischen Analyse des Wahrheitsbegriffs im Sinne instrumenteller Nützlichkeit, die Brandom strikt zurückweist. Brandom bietet eine hilfreiche Unterscheidung und kritische Diskussion verschiedener „pragmatistischer“ Positionen in Brandom (2002a). 6 Die Diskussion dieses Textes in handlungstheoretischer Hinsicht würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen. Vgl. zur Interpretation von Hegels Handlungstheorie Quante (1993); Pippin (2008), Kap. 5 und 6, und die Beiträge in Laitinen/Sandis (2010). – In Kapitel 5 werde ich im allgemeineren Zusammenhang der Deutung von Hegels Idealismus auf Brandoms Interpretation der Hegelschen Handlungstheorie zurückkommen.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
erkennung definiert.7 Anerkennungsbeziehungen von derselben Art strukturieren für Brandom auch diejenigen Prozesse, in denen der semantische Gehalt von einzelnen Begriffen festgelegt wird. Brandom gebraucht bevorzugt eine eigene Analogie, um die Theorie, die er diesbezüglich bei Hegel rekonstruiert, zu illustrieren: nämlich die Analogie von case-law-Systemen (SPT 230 ff.; RiPh 84 ff.). Der einzelne Richter fällt in solchen Systemen Urteile, in denen er wesentlich auf die Urteile früherer Richter als Präzedenzfälle Bezug nimmt. Er übt dabei eine Autorität über jene früheren Urteile aus, weil er entscheidet, welche der relevanten früheren Urteile als Präzedenzfälle Gültigkeit haben und welche nicht. Er kann diese Autorität nur ausüben, weil er umgekehrt selbst – ebenso wie die früheren Richter – allen künftigen Richtern in dem Rechtssystem dieselbe Form von Autorität in Bezug auf seine eigenen Urteile zuweist. Und auch den vergangenen Richtern schreibt der gegenwärtige Richter eine Autorität zu, insofern er die Verantwortung dafür übernimmt, deren Urteile stets so karitativ wie möglich zu interpretieren. Durch Iteration dieser Konstellation normativer Einstellungen entsteht ein Prozess, in dem die Rechtstradition zunehmend an Bestimmtheit gewinnt. Ermöglicht wird er durch Beziehungen der gegenseitigen Anerkennung – der reziproken Zuweisung von Autorität und Verantwortung8 –, die sowohl sozial (als Beziehungen zwischen verschiedenen Subjekten) als auch historisch (als Beziehungen zwischen zeitlich auseinanderliegenden Perspektiven) artikuliert sind. Dieses Modell sieht Brandom nun sowohl in Hegels Theorie intentionalen Handelns als auch in der analogen Theorie der Genese des bestimmten Gehalts von Begriffen am Werke. Beide Arten von Bestimmungsprozessen teilen mit der case-law-Analogie zum einen die sozialen und historischen Anerkennungsstruk-
7 Hier und im Folgenden ist eine grundsätzliche Unterscheidung zweier philosophischer Begriffe von Anerkennung zu berücksichtigen. Der erste, strukturelle Begriff von Anerkennung zielt auf notwendige intersubjektive Bedingungen von Rationalität, wie sie Hegel ebenso wie etwa Fichte und Wittgenstein thematisiert hat. Der zweite, psychologische Begriff meint ein soziales Gut, das Gegenstand individueller und kollektiver Bedürfnisse, Zielsetzungen und Handlungen ist; in diesem Sinne redet etwa Rousseau von Anerkennung bzw. „Wertschätzung“ (vgl. Honneth (1992), 29 n.). Brandoms (und Hegels) Theorie der Anerkennung ist im Sinne des ersten Begriffs zu verstehen, während Theorien der Anerkennung und der „kommunikativen Freiheit“ wie die Honneths (vgl. Honneth (1992), (2001)) den zweiten Begriff von Anerkennung verwenden. Hilfreich hierzu ist Pippins Diskussion in Pippin (2008), 183, sowie insgesamt Pippins Interpretation von Hegels Anerkennungsbegriff (Pippin (2008), Kap. 7), die gleichfalls Hegel im Sinne des ersten Begriffs versteht. 8 Die komplementären normativen Status von Autorität und Verantwortung sind in der normativen Pragmatik von Making it Explicit durch die Termini „Berechtigung“ (entitlement: entsprechend der Autorität) und „Festlegung“ (commitment: entsprechend der Verantwortung) erfasst (vgl. MIE 159–163).
3.1 Brandom über die semantischen und pragmatischen Grundlagen von Freiheit
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turen; diese setzen ihrerseits einen komplexen Konstitutionsprozess voraus, in dem einseitige, asymmetrische Anerkennungsbeziehungen überwunden werden.9 Zum anderen tritt auch hier die charakteristische retrospektive Begründungsform auf, die mit den genannten Anerkennungsstrukturen einhergeht: Wie im case law die Rechtfertigung eines Urteils dieses durch den Verweis auf Präzedenzfälle als Zielpunkt einer progressiven Entwicklung darstellen muss, so erfordert auch der rationale Gebrauch von Begriffen mit bestimmtem Gehalt die Verfügbarkeit von retrospektiven Rechtfertigungen, die die gegenwärtige Interpretation eines Begriffs als Zielpunkt einer rationalen, fortschrittlichen Entwicklung unter früheren, die Gegenwart antizipierenden Interpretationen desselben Begriffs verständlich macht.10 Brandom bezeichnet diese Art von Begründung als „rationale Rekonstruktion“.11 Brandoms hegelianische Theorie der Genese bestimmten begrifflichen Gehalts ist zweifelsohne innovativ und zielt auf grundlegende Fragen der Semantik, die häufig vernachlässigt werden. Sie ist aber auch mit wichtigen Einwänden konfrontiert, von denen ich exemplarisch zwei bespreche: Der erste betrifft die interne sachliche und exegetische Plausibilität dieser Theorie, der zweite die Rolle, die Brandom ihr bezüglich eines an Hegel orientierten Freiheitsverständnisses zuschreibt. Ein offenkundiges exegetisches Problem stelle ich dabei vorerst zurück: nämlich das Problem, dass die eben zusammengefasste Rekonstruktion Aspekte der PhG wiedergeben mag, aber gänzlich unklar ist – und von Brandom auch nicht erklärt wird –, wo eine derartige Theorie der Begriffsbestimmung in Hegels WdL vorzufinden ist. Der erste Einwand richtet sich gegen den kontroversesten Teil von Brandoms eben skizzierter Theorie, nämlich die Rolle rationaler Rekonstruktionen für unser Verständnis von Begriffen. Eine zentrale Disanalogie zwischen case-law-Systemen
9 Solche asymmetrischen Beziehungen kennzeichnen nach Brandoms historischem Stufenmodell von Konzeptionen der Normativität, in dem er Vormoderne, Moderne und Nach-Moderne unterscheidet (vgl. 2.1), die Epoche der Moderne, die auch unsere Gegenwart ist. Die vollständige Realisierung symmetrischer Anerkennungsbeziehungen – und damit die vollständige Realität von autonomer Freiheit – ist für Brandom eine Aufgabe, die wir erst noch erfüllen müssen (vgl. ASoT Kap. 8 („From Irony to Trust: Modernity and Beyond“)); hierauf komme ich in Kapitel 9 zurück. 10 Brandom baut hier auf Stekeler-Weithofers Deutung der WdL auf: vgl. u. a. Stekeler-Weithofer (1992), 20. 11 Brandom Verständnis von „rationaler Rekonstruktion“ muss von einer gängigen Verwendung dieses Ausdrucks im Anschluss an Carnap unterschieden werden; Carnap sieht in der „rationalen Rekonstruktion“ von Alltagsbegriffen eine wichtige Rolle der Wissenschaft, doch geht es ihm dabei nicht um die Rekonstruktion historischer Prozesse, sondern darum, dass vage Alltagsbegriffe sukzessive durch präzise wissenschaftliche Begriffe ersetzt werden (vgl. Carus (2007a), 14 f.). – Zum Folgenden vgl. auch die kritische Diskussion in deVries (2011).
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
und gewöhnlichem Begriffsgebrauch besteht offensichtlich darin, dass ein Urteil im case law normalerweise zwingend auf eine retrospektive Begründung (Präzedenzfälle) gestützt sein muss, während nach gewöhnlichen Maßstäben empirische Begriffe korrekt und verständnisvoll gebraucht werden können, ohne dass der Sprecher zugleich eine idealisierte Begriffsgeschichte darlegt oder auch nur darlegen könnte. Rationale Rekonstruktionen von Begriffen im Sinne Brandoms haben fast ausschließlich in wissenschaftlichen Kontexten einen angestammten Platz.12 Der wissenschaftliche Gebrauch von Begriffen wird nämlich häufig dadurch gerechtfertigt und präzisiert, dass für den im Einzelfall intendierten Gebrauch auf frühere Belege und Gebrauchsweisen Bezug genommen wird; zumindest eine Form dieser Bezugnahme besteht dann in der Rekonstruktion einer Fortschrittsgeschichte. (Das gilt insbesondere für Fälle, in denen einzelne Begriffe im Kontext von Theorien betrachtet werden und die Geschichte dieser Theorien als rationaler Fortschritt dargestellt wird – Brandoms Beispiel sind die „Whiggish narratives“, die oft als Einleitungen von naturwissenschaftlichen Lehrbüchern dienen (RiPh 91).) Der Tatsache, dass rationale Rekonstruktionen für unseren gewöhnlichen Gebrauch von Begriffen eine sehr viel eingeschränktere faktische und normative Rolle als im Fall des case law spielen, trägt Brandom z. T. Rechnung, indem er zwischen zwei Prozessen mit verschiedenen Aufgaben unterscheidet. Der erste Prozess ist derjenige, whereby immediacy is gradually and incompletely incorporated in the thoroughly mediated – that is, inferentially articulated – form of determinate-but-still-determinable concepts. That is the process whereby determinate conceptual norms are at once instituted and applied in judgments and actions. (Brandom (2005), 135 f.)
Von diesem Prozess der Begriffsbestimmung ist ein zweiter Prozess unterschieden: In the second case, the process in question is a recapitulation as rational reconstruction of the first sort of process, which displays it as expressively progressive, as the gradual emerging into explicitness of a determinate conceptual content that can then be seen retrospectively as having been all along implicit in the tradition of applying and assessing applications of it. (Brandom (2005), 136)
12 Als Begründungsform spielt die rationale Rekonstruktion im Sinne Brandoms auch in politischen Kontexten eine wichtige Rolle, dient dort aber nicht der Bestimmung begrifflichen Gehalts, sondern der (verwandten) Aufgabe der Begründung und Vergewisserung von politischer Autorität und Ordnung. Die aitiologische Bezugnahme auf mythologische Vorväter in der griechischen Polis-Kultur ist ebenso ein Beleg hierfür wie die Rolle, die Gründungsereignisse und Gründerfiguren (wie z. B. die amerikanischen Founding Fathers) im kollektiven Bewusstsein moderner demokratischer Gesellschaften spielen. Vgl. zu diesem Gebrauch rationaler Rekonstruktionen Abschnitt 8.4.2 unten.
3.1 Brandom über die semantischen und pragmatischen Grundlagen von Freiheit
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Im zweiten Prozess werden also rationale Rekonstruktionen in Bezug auf diejenigen Inhalte entwickelt, die aus dem ersten Prozess resultieren. Die Aufgaben beider Prozesse setzt Brandom wie folgt in Verbindung: As I read him, Hegel thinks that it is only by engaging in processes of the first kind that we can manage to think or mean anything determinate, and it is only by engaging in processes of the second kind that we can say what we mean or think, making that content explicit to ourselves or others. (Brandom (2005), 136)
Rationale Rekonstruktionen dienen uns also dazu, explizit sagen zu können, was wir mit einem Begriff meinen. Die oben erwähnten Fälle rationaler Rekonstruktionen in wissenschaftlichen Kontexten können zwar in diesem Sinne verstanden werden, doch ist keineswegs klar, warum dies die einzige oder auch nur eine besonders privilegierte Weise sein soll, bestimmten begrifflichen Gehalt explizit zu machen. Sowohl in wissenschaftlichen als auch in nicht-wissenschaftlichen Kontexten finden wir uns häufig in der Situation, erklären zu müssen, was wir mit einem sprachlichen Ausdruck genau meinen. In den meisten Fällen tun wir dies aber, so scheint es, durch verschiedene Formen von Erläuterungen wie z. B. Paraphrasen, Beispiele, Definitionen usw., die keinerlei rationale Rekonstruktion in Brandoms Sinne bieten. Diese Beobachtung betrifft nicht nur unser tatsächliches Verhalten, sondern auch die Normen, die wir in ihm befolgen. Die Fähigkeit, den Gebrauch eines Begriffs durch Erläuterungen im genannten Sinne zu erklären, kann plausiblerweise als normative Anforderung dafür gelten, dass jemand den Begriff wirklich versteht. Dagegen bestehen in der Regel noch nicht einmal in wissenschaftlichen Kontexten normative Anforderungen, die die Fähigkeit, die Geschichte eines Begriffs rational zu rekonstruieren, zum verpflichtenden Kriterium für das (wissenschaftliche) Verständnis des Begriffs machen. Es erscheint also nicht plausibel, rationalen Rekonstruktionen in Brandoms Sinn eine wichtige Funktion in unseren Praktiken zuzuschreiben; erst recht ist es unplausibel, in ihnen die einzige Form zu sehen, in der wir die Bedeutungen von Begriffen explizit machen können. Brandoms hegelianische These über die Rolle rationaler Rekonstruktion sollte deshalb eher im Sinne eines Ideals von Explizitheit verstanden werden, das allein durch rationale Rekonstruktionen erreichbar ist.13 Doch auch hier stellt sich die Frage, weshalb der Begründungsform der rationalen Rekonstruktion dabei eine besondere Rolle zukommen soll. Auch wenn Brandoms Theorie bezüglich des ersten der beiden oben unterschiedenen Prozesse – also des Prozesses, in
13 Dieses Ideal dürfte im Sinne von Brandoms Version des Hegelschen dreistufigen Entwicklungsmodells – vgl. 2.1 – eher der zukünftigen Epoche der „Nach-Moderne“ mit ihren symmetrischen Anerkennungsbeziehungen angehören als der gegenwärtigen Moderne.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
dem bestimmte begriffliche Gehalte erzeugt werden, im Unterschied zu dem Prozess, in dem rationale Rekonstruktionen dieses ersten Prozesses gebildet werden – akzeptiert wird, folgt hieraus noch nicht, dass der beste Weg zum Verständnis der aus dem ersten Prozess resultierenden Begriffe die Rekonstruktion des Verlaufs des ersten Prozesses in Bezug auf den jeweils relevanten Begriff ist. Es ist eine gängige Ansicht, dass zwischen der Genese und der Geltung eines normativen Status – z. B. eines Erkenntnisanspruchs – kategorisch unterschieden werden muss, und selbst wenn diese Unterscheidung nicht universell gilt, müsste doch eigens gezeigt werden, weshalb im Falle der Bestimmung begrifflichen Gehalts ein intrinsischer Zusammenhang zwischen der Genese und der Geltung bestehen soll. Brandom stützt sich für seine Annahme dieses Zusammenhangs in erster Linie auf Hegel, doch ist nicht nur unklar, wie Hegel diese Annahme begründen würde, sondern es ist bereits problematisch, ob sie Hegel überhaupt mit Recht zugeschrieben werden kann. Der Begriff der „Erinnerung“ im Kapitel über das Absolute Wissen der PhG, auf den sich Brandom v. a. bezieht (z. B. RiPh 16, 90), scheint eher eine spezifische Eigenschaft philosophischen Wissens zu bezeichnen, das im System die „begriffene Geschichte“ (PhG 3/591) des absoluten Geistes zum Inhalt hat. Für Brandom dagegen ist die Begründungsform der rationalen Rekonstruktion nicht speziell eine Aufgabe der Philosophie, sondern gehört jeder aufgeklärten begrifflichen Praxis an; der Prozess, in dem rationale Rekonstruktionen entwickelt werden, zählt zusammen mit dem Prozess, in dem begrifflicher Gehalt bestimmt wird, zum Thema der philosophischen Begriffs- und Theoriebildung.14 Auch Brandoms weitere Kontextualisierung des Gedankens der rationalen Rekonstruktion bei Hegel ist problematisch. Brandom zufolge ist rationale Rekonstruktion wesentlich für Hegels Auffassung des Vernunft-Standpunkts im Gegensatz zum Standpunkt des Verstandes: Während der Verstand klar begrenzten, atomistisch konzipierten begrifflichen Gehalt als gegeben annimmt, vertritt die Vernunft eine Auffassung begrifflichen Gehalts, nach der dieser zum einen holistisch strukturiert ist und zum anderen den beschriebenen Prozessen der Begriffsbestimmung und Rekonstruktion unterliegt. Sowohl der Atomismus-HolismusGegensatz als auch Brandoms Charakterisierung des Verstandes treffen wichtige Punkte bei Hegel – wir werden hierauf in den Abschnitten 3.3 und 3.5 zurückkommen. Seine Kennzeichnung des Vernunft-Standpunkts ist aber fragwürdig. Brandom zufolge muss eine Vernunft-Semantik der Begründungsform der ratio14 Vgl. z. B. im Anschluss an die oben zitierte Unterscheidung zweier Prozesse (begriffliche Bestimmung – rationale Rekonstruktion): „The adequacy of a system of logical concepts is to be evaluated by its expressive capacity to make explicit the essential, content-determining features of both kinds of process or practice“ (Brandom (2005), 136).
3.1 Brandom über die semantischen und pragmatischen Grundlagen von Freiheit
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nalen Rekonstruktion den beschriebenen privilegierten Stellenwert einräumen, weil alternative Formen der Begriffserklärung versuchen, Begriffe durch die Angabe vollständig bestimmter Kriterien zu bestimmen – während dem VernunftStandpunkt zufolge eine derartige vollständige Bestimmtheit gar nicht möglich ist (Brandom (2005), 153 f.). Doch stehen uns erstens in der alltäglichen Sprache auch Mittel der Begriffserläuterung zur Verfügung, die gerade nicht einen Begriff dadurch zu bestimmen versuchen, dass sie ihn durch andere, vollständig bestimmte Begriffe ersetzen – etwa Beispiele, Analogien, Metaphern und sonstige Illustrationen, also vermeintlich „vage“ sprachliche Mittel, die im Alltag aber häufig ein präzises Verständnis des Explanandums ermöglichen, ohne dass das Explanans begrifflich exakt festgelegt sein müsste.15 – Zweitens sind umgekehrt für Hegels Vernunft-Standpunkt bloße Rekonstruktionen von Fortschrittsgeschichten nicht hinreichend. Zwar bestreitet Hegel tatsächlich, dass genuine Begriffe, durch die wir wirkliche Sachverhalte begreifen können, durch Definitionen oder vergleichbare Mittel erklärt und fixiert werden können (z. B. WdL 6/ 512 ff.; Enz. § 31 mit Anmerkung, 8/97 f.). Sein alternatives Modell der Explikation des begrifflichen Gehalts solcher Begriffe erfordert aber, dass ihr dialektischer Zusammenhang zu anderen Begriffen erkannt wird. Die Klärung dialektischer Beziehungen besteht nun nicht in der retrospektiven Darstellung eines tatsächlichen oder auch nur eines fingierten16 historischen Prozesses, einer Tradition des Begriffsgebrauchs, in dem dieser sukzessive klarer geworden ist; sie besteht vielmehr im Darlegen von notwendigen begrifflichen Beziehungen, die zwischen den Begriffen selbst bestehen. Diese Beziehungen sind als solche nicht historischer Natur (wenngleich sie zwischen Begriffen bestehen können, die historische 15 Die Möglichkeiten des Verstehens und Erklärens begrifflicher Gehalte jenseits der Formulierung von scharfen Kriterien hat besonders der späte Wittgenstein betont. Er unterscheidet u. a. vom „transitiven“ Verstehen eines sprachlichen Ausdrucks, dem entsprechend wir ihn durch andere Ausdrücke ersetzen können, einen anderen, „intransitiven“ Sinn von Verstehen. In diesem Sinne verstehen wir gerade diesen Ausdruck in seiner spezifischen Formulierung, deren Bedeutung in einer Erklärung oder Paraphrase verloren geht (PU § 531). Das heißt aber nicht, dass wir das, was wir in diesem intransitiven Sinne verstehen, nicht anderen mitteilen und erklären könnten: „Wie kann man aber in jenem zweiten [sc. dem intransitiven] Falle den Ausdruck erklären, das Verständnis übermitteln? Frage dich: Wie führt man jemand zum Verständnis eines Gedichts, oder eines Themas? Die Antwort darauf sagt, wie man hier den Sinn erklärt“ (PU § 533). In anderen Zusammenhängen, insbesondere in seinen Texten zu ästhetischen Themen, gibt Wittgenstein viele Beispiele und Erläuterungen für derartige Erklärungsformen; ihr gemeinsamer Nenner besteht darin, dass wir durch Vergleiche, Hinweise usw. andere dazu bringen, den relevanten Aspekt des zu erklärenden Gegenstands wahrzunehmen. Relevant sind hier ferner Wittgensteins bekannte Diskussionen von Begriffen mit unscharfen Grenzen und von Familienverwandtschaften (z. B. PU §§ 66 ff.). 16 Vgl. Brandom (2005), 154 f., für diese Möglichkeit.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
Realität haben); und sie sind ohne Alternativen (während Brandom nicht ausschließen kann, dass es für jeden Begriff verschiedene attraktive Rekonstruktionen seiner Begriffsgeschichte gibt). Die Erkenntnis solcher notwendiger Beziehungen ist daher für Hegel Aufgabe der Wissenschaft und speziell der Philosophie.17 Hegels Vernunft-Standpunkt ist also wesentlich anspruchsvoller als die Form des Verstehens von Begriffen, die uns die rationale Rekonstruktion im Sinne Brandoms bietet. Dementsprechend ist die dialektische Behandlung von Begriffen auch auf wissenschaftlich und philosophisch gehaltvolle und erklärungsfähige Begriffe eingeschränkt. Begriffliche Unterscheidungen, die in bloßen, nicht weiter begründbaren Aufzählungen bestehen – und hierzu zählt ein Großteil unserer empirischen Begriffe (vgl. 4.5 zum „Urteil der Disjunktion“) –, sind dagegen nicht in Form notwendiger dialektischer Beziehungen begreifbar, während sie in Brandoms Theorie ebenso Gegenstand rationaler Rekonstruktionen sind wie alle anderen empirischen Begriffe. Aus diesen Beobachtungen in Bezug auf Brandoms Theorie der rationalen Rekonstruktion als Mittel der Explikation begrifflichen Gehalts ergeben sich bereits auch Konsequenzen hinsichtlich des zweiten zu diskutierenden Punktes, der freiheitstheoretischen Signifikanz von Brandoms Theorie der Genese bestimmten begrifflichen Gehalts. Für Brandom stellt die von ihm rekonstruierte hegelianische Theorie der Bestimmung begrifflichen Gehalts zugleich die Grundlegung eines Freiheitsbegriffs dar, weil in demselben Prozess, in dem begrifflicher Gehalt konstituiert wird, auch rationale Selbste als Träger und Gegenstände normativer Einstellungen konstituiert werden – als Wesen, die sich an Normen binden können und deshalb im Sinne der Autonomie-Konzeption frei sind (2.6.1). Während Kant, so Brandom, noch die Erklärung dafür schuldig bleibt, wie dieser Prozess strukturiert ist und wie in ihm ein normatives Gegengewicht zur Autorität des einzelnen Subjekts über seine normativen Status verfügbar ist, entwickelt Hegel die Kantische Konzeption durch die Theorie sozialer und historischer Anerkennungsbeziehungen weiter, so dass eine befriedigende Erklärung für die Konstitution autonomer Subjekte resultiert. Spezifisch für hegelianische Freiheit ist dabei, dass Subjekte nicht nur Autorität über ihren normativen Status ausüben – wie sie es z. B. auch gemäß Wahl-basierten Frei-
17 Zwar können wir auch im Alltag derartige Beziehungen ansatzweise erfassen, sofern wir uns von dem isolierenden, atomistischen Paradigma des „Verstandes“ befreien. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, können wir für Hegel auch überhaupt nur etwas verstehen, weil wir bereits ein implizites Verständnis der logischen Strukturen haben, die in jenen dialektischen Beziehungen am Werk sind. Dennoch grenzt Hegel regelmäßig die Philosophie vom außerwissenschaftlichen Denken dadurch ab, dass sie notwendige Zusammenhänge erkennt, wo wir sonst nur Kontingenz sehen.
3.1 Brandom über die semantischen und pragmatischen Grundlagen von Freiheit
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heitstheorien tun –, sondern komplementär dazu auch Verantwortung übernehmen und anderen Subjekten Autorität zuweisen, ohne dass diese Autorität die eigene Selbständigkeit unterminieren würde. Eine Balance eigener und fremder Autorität, wie sie Hegel nach Brandom in der Dialektik von Geständnis und Verzeihung der PhG darstellt, ist also für Brandom der Inbegriff hegelianischer Freiheit.18 Die Überwindung begrifflicher Unbestimmtheit ist deshalb wesentlich für die Möglichkeit von so verstandener Freiheit, weil die von anderen Subjekten kontrollierte Bestimmtheit des Gehalts von Begriffen als Gegengewicht zur eigenen Autorität in der Bindung an begriffliche Normen fungiert. In diesem Modell bleibt aber noch in einer wichtigen Hinsicht eine Dimension der begrifflichen Unbestimmtheit, die unsere Freiheit gefährdet, bestehen. Dies kann zunächst an Hand von Brandoms eigener case-law-Analogie verdeutlicht werden. Je weiter die Rechtsprechung in Bezug auf eine einzelne Fallgruppe fortgeschritten ist, desto besser kann eine einzelne juridische Entscheidung begründet werden. Wenn hingegen in Bezug auf einen Falltyp noch kein Präzedenzurteil vorliegt, kann nur entweder in Analogie zu einem anderen Bereich geurteilt werden – also in Brandoms Terminologie: bestimmter begrifflicher Gehalt als bestehend vorausgesetzt werden – oder aber auf eine Begründung rekurriert werden, die nicht dem case law angehört: also entweder auf statutarisches Recht, wie es ja in allen case-law-Systemen auch existiert, oder auf Instanzen wie das „Rechtsempfinden“ oder den „gesunden Menschenverstand“ des Richters. Ohne Rekurs auf solche Instanzen kann nicht verhindert werden, dass zu Beginn der Rechtstraditionen hinsichtlich einzelner Bereiche und Fallgruppen massiv willkürliche Entscheidungen stehen, die aber gemäß dem Prinzip des „stare decisis“ auch alle weiteren Entscheidungen beeinflussen. Solche anfänglichen Entscheidungen können zwar ex post in eine rationale Fortschrittsgeschichte integriert werden, weil sie notwendig dafür waren, um zum gegenwärtigen Standpunkt zu gelangen; dabei handelt es sich aber nur um eine sehr schwache Form von Rechtfertigung, die, wie Brandom auch zugesteht, in Bezug auf alle früheren Entscheidungen leicht konstruiert werden kann (Brandom (2000b), 171). Ebenso kann auch im Fall von empirischen Begriffen die Erklärung dessen, wie diese Begriffe in der Auseinandersetzung mit der Beobachtung sukzessive an
18 Vgl. RiPh, Kap. 2 und 3 über Hegels Weiterentwicklung von Kants Autonomie-Konzeption; speziell zur Dialektik von Geständnis und Verzeihung in der PhG s. ASoT Kap. 8 („From Irony to Modernity and Beyond“), Abschnitt X: „Two Meta-Attitudes, Four Species of Niederträchtigkeit“ und XIII: „Trust: Forgiveness as Recollection, Magnanimity as the Final Form of Recognition“. Vgl. auch unten Abschnitt 9.1.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
Gehalt gewinnen, nicht ausschließen, dass am Anfang derartiger Begriffsgeschichten Willkürakte stehen, durch die wir festlegen, dass wir diese Art von Begriffen und nicht ganz andere Begriffe gebrauchen. Solche Willkürhandlungen betreffen insbesondere die Wahl zwischen verschiedenen Begriffsrahmen oder Kategoriensystemen, sofern diese nicht selbst Gegenstand der Begründung durch rationale Rekonstruktionen im Sinne Brandoms sind, weil sie z. B. mit den verfügbaren empirischen Data besser oder schlechter umgehen können. Wo keine auf empirische Gründe gestützte Entscheidung zwischen Begriffsrahmen möglich ist, dort kann die Rekonstruktion der Genese begrifflichen Gehaltes innerhalb solcher Begriffsrahmen die Entscheidung für oder gegen den Begriffsrahmen nicht rationalisieren. Die geschilderten Probleme beruhen darauf, dass die Beziehungen, die in Brandoms rationalen Rekonstruktionen auftreten, nicht alternativlos sind. Rationale Rekonstruktionen zeigen, dass der gegenwärtige Begriffsgebrauch rational ist, aber sie schließen nicht aus, dass wir nicht ebenso ganz andere Begriffe rationalerweise gebrauchen könnten. Diese Form von Unbestimmtheit – Unbestimmtheit im Sinne der „welche Norm?“-Frage, nicht der „welche Folgen?“-Frage (s. 2.6.4) – führt jedoch abermals zu den Schwierigkeiten, die wir im Kontext des „Formalismus-Problems“ (s. 2.6.2) geschildert hatten: Wenn wir ebenso ganz andere begriffliche Normen befolgen könnten, dann wäre die Konstitution konkreter Selbste wieder Sache von Willkür und Zufall. Wird die Problemlage auf diese Weise beschrieben, liegt es nahe, dass über Brandoms formale, für alle begrifflichen Gehalte gleichermaßen Geltung beanspruchende Semantik und Pragmatik hinaus eine inhaltliche Theorie nötig ist, die danach fragt, welche bestimmten Kategorien und Begründungsformen eine rationale Entscheidung für einzelne konkrete Normen und damit die rationale Konstitution konkreter Selbste und die Realisierung vernünftiger Freiheit ermöglichen. Brandom selbst ist skeptisch gegenüber der Möglichkeit einer Theorie, die einen Begriffsrahmen (ein Vokabular, ein Kategoriensystem) gegenüber allen anderen Begriffsrahmen als privilegiert betrachtet (vgl. 5.1.1). Eine inhaltliche Theorie von Grundbegriffen, die die Konstitution eines rationalen und freien Selbst ermöglichen, muss aber den von ihr identifizierten Begriffen ein solches Privileg zuschreiben: Andernfalls wird rationale Freiheit erneut von Grund auf durch die Möglichkeit von Willkür und Zufall eingeschränkt. Brandom bezweifelt die Möglichkeit eines privilegierten Begriffsrahmens infolge von Überlegungen, die der „pragmatistischen“ Tradition der Metaphysikkritik angehören (vgl. 1.5); ich diskutiere diesen Teil von Brandoms Position in Kapitel 5 und verteidige dabei die Möglichkeit von metaphysischen Theorien, die einen einzelnen Begriffsrahmen privilegieren. Dieses Ergebnis können wir für unsere gegenwärtigen Zwecke
3.1 Brandom über die semantischen und pragmatischen Grundlagen von Freiheit
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vorwegnehmen und, pace Brandom, von der Möglichkeit einer „inhaltlichen“ Theorie der Selbstkonstitution ausgehen.19 Es liegt nun auf der Hand, dass eine derartige inhaltliche Theorie dem Hegelschen Programm einer „Wissenschaft der Logik“ sehr viel eher entspricht als Brandoms formal-pragmatische Theorie. Brandom beansprucht ausdrücklich, dass diejenige Theorie der Begriffsbestimmung, die er in der PhG rekonstruiert, auch in der WdL dargestellt wird (Brandom (2005), 155 f.). Für Brandom sind die logischen Kategorien der WdL, ebenso wie die Kategorien der PhG, expressive Begriffe, die dazu dienen, die beiden oben besprochenen Teilprozesse – Begriffsbestimmung und rationale Rekonstruktion – explizit zu machen; sie müssen also in erster Linie Begriffe eines pragmatischen Metavokabulars sein. Im Gegensatz zur PhG enthält aber die WdL de facto keine Kategorien, die sich als Teil eines solchen pragmatischen Metavokabulars verstehen lassen; sie trifft keinerlei Aussagen dazu, was wir tun können müssen und welche intersubjektiven Beziehungen wir eingehen müssen, um Begriffe mit bestimmtem Inhalt gebrauchen zu können.20 Dabei ist unbestritten, dass in Hegels reifem System intersubjektive Beziehungen der Anerkennung und darüber hinaus auch konkrete soziale Institutionen (die Brandom nicht thematisiert) eine wesentliche Rolle spielen. Doch diese Beiträge Hegels zu einer „normativen Pragmatik“ haben ihren Ort nicht in der WdL als philosophischer Grundlegungsdisziplin, sondern in der Geistphilosophie – insbesondere im Selbstbewusstseinsteil der enzyklopädischen Phänomenologie im Rahmen der Philosophie des subjektiven Geistes, die die Herr-KnechtDialektik der PhG aufgreift, sowie in der Philosophie des objektiven Geistes. Die Anerkennungs-Dialektik, die in der Philosophie des subjektiven Geistes behan-
19 Dem Gedanken eines privilegierten Begriffsrahmens widerspricht daneben auch die These Davidsons, dass alle möglichen Begriffsrahmen ineinander weitgehend übersetzbar sein müssen (vgl. Davidson (1984)). Mitunter wird auch Hegel als Vertreter der daraus resultierenden Kritik am Schema-Inhalt-Dualismus gelesen (vgl. z. B. Halbig/Quante/Siep (2004), 10 f.). Dabei muss aber betont werden, dass Hegel die Möglichkeit inkommensurabler Begriffsrahmen, anders als Davidson, keineswegs ausschließt. Es könnte durchaus sein, dass die Begriffe der spekulativen Logik auch nicht ansatzweise in den Begriffsrahmen von Verstandesphilosophien wiedergegeben werden können. Für Hegel kommt es allein darauf an, dass eine solche eventuelle Inkommensurabilität nicht auf eine prinzipielle Dichotomie von Schema und Inhalt zurückzuführen ist. Das Verstandesdenken krankt aber gerade daran, dass seine Begriffe den Sachen äußerlich sind (vgl. 4.4.4), also dualistisch vom Inhalt unterschieden sind. Nur im Begriffssystem der Vernunft – also in der spekulativen Philosophie sowie im alltäglichen Denken, sofern es dieselben oder ähnliche Begriffe gebraucht und noch nicht der zu dem „Aberglauben an Abstraktionen heraufgebildete Verstand“ (WdL 5/86) ist – besteht kein solcher Dualismus. 20 Zur Diskussion anderslautender Interpretationen vgl. 3.4.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
delt wird, kann tatsächlich plausiblerweise so verstanden werden, dass hier innerhalb von Hegels Theorie der individuellen rationalen Fähigkeiten deren notwendiger intersubjektiver Hintergrund im Sinne einer normativen Pragmatik expliziert wird (vgl. 6.3.2).21 Doch offenbar hat für Hegel – zumindest im späteren System – die Theorie der intersubjektiven, normativ-pragmatischen Voraussetzungen von Rationalität nicht den Charakter einer selbst voraussetzungslosen Grundlegungsdisziplin. Diese Grundlegungsdisziplin besteht vielmehr in der WdL, auf deren Kategorien Hegels geistphilosophische Anerkennungstheorie aufbaut. Umgekehrt hat zwar auch die WdL geistphilosophische Voraussetzungen. Sie soll der Vollzug reinen Denkens sein und erfordert daher eine Form von Geistigkeit und damit auch Intersubjektivität.22 Ferner ist Hegel der Auffassung, dass ein vollständiger und vollkommen expliziter Vollzug der WdL insofern historische Voraussetzungen hat, als erst im Laufe der gesamten Philosophiegeschichte die hierfür nötigen begrifflichen Mittel entwickelt wurden.23 Doch da dieses logische Denken zugleich voraussetzungslos sein soll (vgl. 3.3), muss gefolgert werden, dass seine „äußeren“ Voraussetzungen – die individuellen, intersubjektiven und
21 Hegels Analyse des Kampfes um Anerkennung (Enz. §§ 430 ff.) zeigt die pragmatischen Voraussetzungen dafür auf, dass selbstidentische Subjekte („Ichs“) auftreten und sich als solche bewähren können. Dadurch wird ein sozialer Status eingerichtet, der vernünftigen Subjekten als solchen zukommt und für sie alle in gleicher Weise gilt (das „allgemeine Selbstbewusstsein“: Enz. § 436). So ist der sozial-pragmatische Hintergrund geschaffen, vor dem theoretischer Vernunftgebrauch möglich ist: Denn in ihm haben, anders als im praktischen Bereich, normative Ansprüche für alle Subjekte in gleicher Weise Geltung (vgl. 7.1). – Dass hiermit ein zentraler Schritt auf dem Weg hin zum Geist im engeren Sinne (Enz. §§ 440 ff.) erreicht ist, zeigt sich daran, dass Hegel mit der Rede vom Ich, die in diesem Zusammenhang prominent auftritt, die Begriffe des Denkens und der Allgemeinheit eng verbindet; vgl. z. B. Enz. § 20 A: „Ich ist insofern die Existenz der ganz abstrakten Allgemeinheit, das abstrakt Freie. Darum ist das Ich das Denken als Subjekt […]“ (8/75). 22 Deshalb kann die Logik gegen den Vorwurf einer „Verdrängung der Intersubjektivität“ verteidigt werden, dem zufolge sie als ein zweifelhaftes Produkt der Selbstanalyse einer „monologischen Vernunft“ erscheint. Vgl. Fußnote 80 in diesem Kapitel. 23 Dies ist eine direkte Implikation von Hegels allgemeinerer Sicht der Geschichtlichkeit von Philosophie; vgl. z. B. VGPh 18/21: „Der Besitz an selbstbewußter Vernünftigkeit, welcher uns, der jetzigen Welt angehört, ist nicht unmittelbar entstanden und nur aus dem Boden der Gegenwart gewachsen, sondern es ist dies wesentlich in ihm, eine Erbschaft und näher das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts zu sein“; VGPh 20/454 f.: „Der nunmehrige Standpunkt der Philosophie ist, daß die Idee in ihrer Notwendigkeit erkannt […] werde. […] Die letzte Philosophie ist das Resultat aller früheren; nichts ist verloren, alle Prinzipien sind erhalten. Diese konkrete Idee ist das Resultat der Bemühungen des Geistes durch fast 2500 Jahre (Thales wurde 640 vor Christus geboren), – seiner ernsthaftesten Arbeit, sich selbst objektiv zu werden, sich zu erkennen“.
3.2 Der Ansatzpunkt von Hegels Freiheitstheorie
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historischen Bedingungen, unter denen es allein zustande kommen kann – keinen wirklichen Einfluss auf seine Inhalte haben dürfen, sondern lediglich Ermöglichungsbedingungen darstellen, die erfüllt sein müssen, damit jene Inhalte adäquat gedacht und verstanden werden können. Auf inhaltlicher Ebene muss das Denken in der Logik indifferent gegenüber seinen äußeren Voraussetzungen sein. Entsprechend kann ein pragmatisches Metavokabular auch als Theorie dieser äußeren Voraussetzungen keinen sachlichen Beitrag zur WdL liefern. In diesem und dem nächsten Kapitel verfolge ich die Deutungsperspektive weiter, die Hegels logische Grundlegung von Freiheit im Sinne einer inhaltlichen Theorie von Grundbegriffen versteht und damit die rationale Konstitution freier Selbste mittels konkreter kategorialer Bestimmungen ermöglichen will. Nichtsdestotrotz halte ich dabei an einer wesentlichen Einsicht Brandoms fest: Die Probleme normativer Unbestimmtheit, mit denen Freiheit konfrontiert ist und die wir zunächst in Bezug auf Kants Theorie praktischer Autonomie beobachtet hatten (2.6.2), greifen weit über den engeren Kontext der praktischen Freiheit hinaus; um diesen Problemen Rechnung zu tragen und vor ihrem Hintergrund Freiheit konsequent in nicht-Wahl-basierter Weise als vernünftige Autonomie verstehen zu können, müssen zunächst Fragen von grundlegender Art untersucht werden, die in der Regel nicht mit dem Freiheitsbegriff in Verbindung gebracht werden. Bei Brandom handelt es sich hierbei um Fragen in Bezug auf die Natur begrifflichen Gehalts, die er durch seine normative Pragmatik beantwortet; im Folgenden werden wir sehen, wie auch Hegel Freiheit als Thema einer philosophischen Grundlegungsdisziplin – in seinem Fall der logisch-metaphysischen Theorie der WdL – interpretiert.
3.2 Der Ansatzpunkt von Hegels Freiheitstheorie 3.2.1 Hegels Verallgemeinerung des Formalismus-Problems Hegels systematischer Ansatz in der Behandlung der Freiheitsthematik basiert auf einem Grundthema seiner Auseinandersetzung mit Kant. Wir haben bereits in Abschnitt 2.6.2 gesehen, wie Hegel gegen Kants Moralphilosophie u. a. einwendet, dass es ihr an einem „Prinzip der Bestimmung“ fehle: Sie kann keinen rationalen, nicht-willkürlichen Übergang von der abstrakten Norm des Kategorischen Imperativs hin zu einem konkreten Selbst leisten. Ebenso wie wir bereits gesehen haben, dass dieses Problem über den praktischen Bereich hinaus verallgemeinert werden kann, kommt auch Hegel selbst in der Auseinandersetzung mit Kant zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Formalismus-Problem in Kants Moralphilosophie lediglich um die spezifische Ausprägung einer allgemeineren
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
Schwierigkeit in der Kantischen Philosophie handelt.24 Wir betrachten zunächst – an Hand von Hegels kritischer Darstellung der Kantischen Philosophie im Vorbegriff der enzyklopädischen Logik (Enz. §§ 40–60) – zwei weitere Ausprägungen dieser Schwierigkeit, mit denen Kants kritische Philosophie aus der Sicht Hegels konfrontiert ist, und sehen dann, wie Hegel die Schwierigkeit auf allgemeine Weise formuliert und zu lösen versucht.25 Eine erste Ausprägung des Formalismus-Problems außerhalb des Bereichs der Moralphilosophie findet Hegel in Kants Theorie der Naturerkenntnis vor. In der Kritik der Urteilskraft benennt Kant selbst das folgende Problem. In unserer Naturerkenntnis müssen wir, so Kant, eine Kluft zwischen allgemeinen Naturgesetzen (den Grundsätzen des reinen Verstandes) einerseits und speziellen Naturgesetzen sowie einzelnen Phänomenen andererseits überbrücken: Die bestimmende Urtheilskraft unter allgemeinen transscendentalen Gesetzen, die der Verstand giebt, ist nur subsumirend; das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nicht nöthig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können. – Allein es sind so mannigfaltige Formen der Natur, gleichsam so viele Modificationen der allgemeinen transscendentalen Naturbegriffe, die durch jene Gesetze, welche der reine Verstand a priori giebt, weil dieselben nur auf die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt gehen, unbestimmt gelassen werden, daß dafür doch auch Gesetze sein müssen, die zwar als empirische nach unserer Verstandeseinsicht zufällig sein mögen, die aber doch, wenn sie Gesetze heißen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur erfordert), aus einem, wenn gleich uns unbekannten, Princip der Einheit des Mannigfaltigen als nothwendig angesehen werden müssen. (AA 5/179 f.)
Kant formuliert hier in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft als Sachproblem, das im Mittelpunkt der dritten Kritik stehen soll, selbst eine Problematik der Unbestimmtheit – nämlich der Unbestimmtheit spezieller Naturgesetze, die nicht aus den Grundsätzen des reinen Verstandes hergeleitet werden können. Da uns durch unsere Vernunftnatur systematische Naturerkenntnis als notwendiges Erkenntnisziel aufgegeben ist (vgl. z. B. KrV B 679), benötigen wir ein Bestimmungs-
24 Hier und im Folgenden ist zu beachten, dass Hegels Interpretation des Kantischen Textes in vielen Punkten sehr frei ist. Ich beanspruche hier nicht zu zeigen, dass Hegels Deutung in ihren radikaleren Aspekten tatsächlich Einsichten explizit macht, die Kant in dieser Form hatte und lediglich nicht konsequent genug befolgt. – Vgl. zu den im Folgenden relevanten Aspekten von Hegels kritischer Kant-Rezeption u. a. Priest (1987); Sedgwick (2005); Longuenesse (2007), Kap. 5. 25 Ich beziehe micht deshalb primär auf den Vorbegriff der enzyklopädischen Logik, weil Hegel hier sein Verhältnis zu Kant aus Sicht des reifen Systems definiert; die Texte v. a. aus der Jenaer Zeit, die für eine entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion der relevanten Aspekte von Hegels Kant-Rezeption einschlägig wären, operieren selbst noch mit anderen systematischen Prämissen, wie z. B. der Annahme intellektueller Anschauung.
3.2 Der Ansatzpunkt von Hegels Freiheitstheorie
137
prinzip, das uns erlaubt, diese „Kluft“ zwischen allgemeinen apriorischen Gesetzen und speziellen Naturgesetzen zu überbrücken; andernfalls würden spezielle Gesetze stets als zufällig erscheinen und könnten daher nicht in eine systematische Erkenntnis der Natur integriert werden.26 Kants Lösung für diese Problematik besteht nun in der Annahme eines transzendentalen Prinzips, das der reflektierenden Urteilskraft erlaubt, auf gerechtfertigte, nicht-willkürliche Weise die erläuterte Unbestimmtheit durch die Formulierung spezieller Naturgesetze zu überwinden. Dieses Prinzip besteht in der regulativen Annahme einer teleologischen Naturordnung.27 Wie Kant später in §§ 76 f. der Kritik der Urteilskraft erklärt, ist der regulative Status dieses Prinzips, das der Ordnung unserer Erkenntnisse, nicht der objektiven Bestimmung von Gegenständen dient, der endlich-diskursiven Natur unseres Verstandes geschuldet.28 Da unser Verstand vom Begrifflich-Allgemeinen aus zum Besonderen, das in der Anschauung gegeben ist, fortschreitet, ist dieses Besondere zufällig: Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d.i. ein discursiver Verstand, für den es freilich zufällig sein muß, welcherlei und wie sehr verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden und das unter seine Begriffe gebracht werden kann. (AA 5/406)
Als Gegensatz hierzu müssen wir, so Kant, einen intuitiven Verstand denken, der nicht vom Begrifflich-Allgemeinen, sondern von der „Anschauung eines Ganzen als solchen“ (AA 5/407) ausgeht. In dieser Anschauung ist alle Bestimmtheit des Besonderen bereits enthalten, so dass dieser Verstand „die Zufälligkeit der Verbindung der Theile nicht in sich enthält“ (AA 5/407). Für einen intuitiven Verstand besteht also das oben beschriebene Formalismus-Problem nicht; teleologische und mechanische Naturerklärung fallen für ihn zusammen, weil er Verhältnisse, die wir nur durch Rekurs auf einen hypothetischen Naturzweck als
26 Das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Kausalgesetz, wie es durch die Zweite Analogie der Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft begründet wird, und den speziellen Naturgesetzen ist Thema einer umfangreichen Debatte in der Kant-Forschung. Vgl. z. B. Buchdahl (1969), Friedman (1992) und Allison (1996), Kap. 6. 27 AA 5/180: „Nun kann dieses Princip kein anderes sein als: daß, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur (obzwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur) vorschreibt, die besondern empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnißvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte“. 28 Hierzu und zum Einfluss dieses Kantischen Lehrstücks auf die Genese des Idealismus bis hin zu Hegel vgl. Förster (2011). Vgl. außerdem Baum (1990).
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notwendig erkennen können, durch mechanische Erklärungen als notwendig verstehen kann.29 Aus der Sicht von Hegel stellt das Kantische Problem der Unbestimmtheit in Bezug auf die Naturordnung eine Ausprägung desselben Formalismus-Problems dar, das er in Kants Moralphilosophie vorfindet; entsprechend muss auch die Lösung des Problems, von dem Kant in der Kritik der Urteilskraft ausgeht, Konsequenzen für die Freiheitsthematik haben. Hegel verwirft jedoch Kants „offizielle“ Lösung, die Annahme eines transzendentalen Prinzips der reflektierenden Urteilskraft, und sieht Kants eigentlichen Beitrag zu einer Lösung des Problems im Grenzbegriff des „intuitiven Verstandes“. Den intuitiven Verstand interpretiert der reife Hegel dabei nicht wie Kant als Vermögen der Anschauung einer Totalität, sondern allgemeiner als Vermögen, vom Allgemeinen auf vernünftige, nicht-zufällige Weise zum Besonderen zu gelangen. Nur auf Grund der genannten Prämissen von Hegels kritischer Rezeption der Kritik der Urteilskraft wird seine Zusammenfassung von deren Grundgedanken in der Enzyklopädie verständlich: Der reflektierenden Urteilskraft wird das Prinzip eines anschauenden Verstandes zugeschrieben, d. i. worin das Besondere, welches für das Allgemeine (die abstrakte Identität) zufällig sei und davon nicht abgeleitet werden könne, durch dies Allgemeine selbst bestimmt werde, – was in den Produkten der Kunst und der organischen Natur erfahren werde. (Enz. § 55, 8/139)
Es ist auffällig, dass sich Hegel hier zur intuitiven Natur des „anschauenden Verstandes“ nicht weiter äußert, sondern sich allein auf die Bestimmung des Besonderen durch das Allgemeine bezieht. Das liegt daran, dass Hegel nicht (wie Kant) die Anschauung eines Ganzen, sondern den rationalen Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen als das Spezifikum des intuitiven Verstandes interpretiert. Hegel kritisiert Kant entsprechend dafür, dem Begriff des intuitiven Verstandes eine rein negative Rolle zuzuweisen; er selbst sieht in ihm stattdessen den Ansatz zu einer positiven Bestimmung von Vernunft. So erläutert Hegel, im Begriff des intuitiven Verstandes sei „der Gedanke eines anderen Verhältnisses vom Allgemeinen des Verstandes zum Besonderen der Anschauung aufgestellt, als in der Lehre von der theoretischen und praktischen Vernunft zugrunde liegt“ (Enz. § 56, 8/140). Hegel greift also die logische Begrifflichkeit von „Allgemeinem“ und „Besonderem“ aus Kants Darstellung des Problems der Spezifikation von Naturgesetzen in der Kritik der Urteilskraft auf und gebraucht sie, um die systematische Relevanz des „intuitiven Verstandes“ zu kennzeichnen. 29 Vgl. AA 5/406: Ein „anderer (höherer) Verstand“ könnte „auch im Mechanism der Natur, d.i. einer Causalverbindung, zu der nicht ausschließungsweise ein Verstand als Ursache angenommen wird, den Grund der Möglichkeit solcher Producte der Natur“ – nämlich Produkte, die wir teleologisch erklären – „antreffen“.
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Wie ist es jedoch zu verstehen, dass für Hegel nach der eben zitierten Bemerkung Kants theoretischer und praktischer Philosophie ein defizitäres Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem zugrunde liegt? In Bezug auf die praktische Philosophie besteht das defizitäre Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem genau in derjenigen Problematik, die Hegel mit seinem Formalismus-Einwand gegen Kants Moralphilosophie hervorhebt (vgl. 2.6.2). Unmittelbar vor der Besprechung der Kritik der Urteilskraft in den zitierten Passagen der Enzyklopädie resümiert Hegel seine Diskussion von Kants Moralphilosophie wie folgt: Für das, was das praktische Denken sich zum Gesetz mache, für das Kriterium des Bestimmens seiner in sich selbst, ist wieder nichts anderes vorhanden als dieselbe abstrakte Identität des Verstandes, daß kein Widerspruch in dem Bestimmen stattfinde; – die praktische Vernunft kommt damit über den Formalismus nicht hinaus, welcher das Letzte der theoretischen Vernunft sein soll. (Enz. § 54, 8/138)
Kants moralphilosophischer Formalismus kann insofern als Ausprägung einer bestimmten Auffassung des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem angesehen werden, als in ihm die abstrakte Norm, der Kategorische Imperativ, als Seite des Allgemeinen dem konkreten Selbst als der Seite des Besonderen entgegengesetzt ist und nicht ersichtlich ist, wie ein rationaler Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen geleistet werden kann. Entsprechend kann gefolgert werden, dass Hegel in Kants Begriff des intuitiven Verstandes den Ansatz zu einer Lösung auch der moralphilosophischen Formalismus-Problematik sieht. Daneben verweist die zitierte Passage aber auch auf Kants Auffassung von theoretischer Vernunft und spricht im Hinblick auf sie ebenfalls von einem Formalismus-Problem – wie Hegel ja den intuitiven Verstand als Gegenentwurf auch zum Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in Kants theoretischer Philosophie bezeichnet hatte. Worin bestehen nun (jenseits des bereits genannten Problems des Verhältnisses von allgemeinen und speziellen Naturgesetzen) das Formalismus-Problem und das defizitäre Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in Bezug auf Kants theoretische Philosophie? Wie die Formalismus-Problematik allgemein sinnvoll auf den theoretischen Bereich verallgemeinert werden kann, haben wir bereits am Ende des letzten Kapitels gesehen: Die Problematik stellt sich hier im Hinblick auf die Wahl von Begriffsrahmen, Begründungsformen usw. In Bezug auf Kants theoretische Philosophie führt Hegel ähnliche Punkte an. Er eröffnet seine kritische Darstellung von Kants theoretischer Philosophie in diesem Kontext mit dem Satz: „Als den bestimmten Grund der Verstandesbegriffe gibt diese Philosophie die ursprüngliche Identität des Ich im Denken (transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins) an“ (Enz. § 42, 8/116). In der transzendentalen Einheit der Apperzeption, ver-
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standen als Identität des Ich ohne weitere Bestimmung, sieht Hegel den Inbegriff von Kants Vernunftkonzeption (vgl. Enz. § 45, 8/122). Hierin erblickt Hegel den Grund für zahlreiche Probleme, die sich innerhalb der kritischen Philosophie ergeben. Erstens muss die Erkenntnis von Erfahrungsgegenständen gegebene bestimmte Gehalte jener Identität angleichen, wozu die Kategorien als „bestimmte[…] Weisen des Beziehens“ des Mannigfaltigen auf die Identität erforderlich sind (Enz. § 42, 8/116). Daraus ergibt sich aber die Frage, wie die Kategorien mit ihrem eigenen bestimmten begrifflichen Gehalt auf der Grundlage der rein formalen, inhaltsleeren Identität der transzendentalen Einheit der Apperzeption begründet werden können: „Ich, die Einheit des Selbstbewußtseins, ist ganz abstrakt und völlig unbestimmt; wie ist also zu den Bestimmungen des Ich, den Kategorien, zu kommen?“ (Enz. § 42 A, 8/117). Hegel schließt sich dem Vorwurf Fichtes an, Kant habe die Kategorien aus der traditionellen Logik übernommen, statt sie eigens zu rechtfertigen (Enz. § 42 A, 8/117). Zweitens folgt nach Hegels Auffassung aus Kants abstrakter Vernunftkonzeption, dass Gegenstände mit bestimmten Eigenschaften von der Vernunft nicht als wirklich anerkannt werden können. Das bedeutet zunächst, dass Erfahrungsgehalte wegen ihrer Bestimmtheit nur den Charakter von Erscheinungen haben können.30 Die Realität hinter diesen Erscheinungen, das Ding an sich, muss dagegen völlig unbestimmt sein (vgl. Enz. § 44 A, 8/120 f.). Darüber hinaus müssen aber auch die Versuche der Vernunft, Gegenstände außerhalb des Bereichs des Erfahrbaren zu erkennen, scheitern. Symptomatisch ist hier für Hegel Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis, der zufolge die Existenz Gottes nicht aus seinem Begriff erkannt werden kann, sondern gegeben sein muss: „Dem Denken“, kommentiert Hegel, „bleibt auf diese Weise auf seiner höchsten Spitze die Bestimmtheit“ – nämlich die Existenz im Gegensatz zur abstrakten, begrifflichen Möglichkeit – „etwas Äußerliches […]“ (Enz. § 52, 8/137). Unabhängig von der Frage, wie stichhaltig diese Punkte als Einwände gegen Kants theoretische Philosophie sind, liegt doch auf der Hand, inwiefern Hegel hier in verschiedenen Hinsichten Ausprägungen des Formalismus-Problems und der Entgegensetzung von Allgemeinem und Besonderem identifiziert. Da Kant, so Hegels Kritik, die Subjektivität oder die Vernunft als abstrakte – und insofern allgemeine – Selbstbeziehung auffasst, kann kein Übergang von ihr hin zur Besonderheit bestimmter Inhalte geleistet werden. Bestimmte begriffliche Gehalte 30 Enz. § 45, 8/121: „Dieser schlechthin bestimmungslosen Identität sind die Erfahrungserkenntnisse unangemessen, weil sie überhaupt von bestimmtem Inhalte sind. Indem solches Unbedingte für das Absolute und Wahre der Vernunft (für die Idee) angenommen wird, so werden somit die Erfahrungskenntnisse für das Unwahre, für Erscheinungen erklärt“.
3.2 Der Ansatzpunkt von Hegels Freiheitstheorie
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können in dieser Konzeption nur als gegeben vorausgesetzt werden – wie im Falle der Kategorien als bestimmter begrifflicher Normen, oder im Falle der Erfahrung, deren Gehalte extern, durch die Anschauung, bestimmt sind.31 Umgekehrt sind alle Versuche der Vernunft, aus sich selbst heraus zu bestimmten Gehalten und Erkenntnissen zu gelangen, als willkürliche „Schwärmerei“ ausgeschlossen. Erneut sind hier also nur die beiden Alternativen von zufälliger Gegebenheit und unbegründeter Willkür verfügbar, um verschiedene Dimensionen der Unbestimmtheit zu überwinden und zu einem konkreten Selbst – hier: einem theoretischen Subjekt mit einem System bestimmter Begriffe und Festlegungen – zu gelangen. Die rationale Konstitution eines freien Selbst würde hingegen begriffliche Mittel erfordern, die den Übergang vom Abstrakten, Unbestimmten zum Konkreten, Bestimmten leisten. Wie wir nun gesehen haben, kann Hegel – wie Kant selbst im Kontext der Kritik der Urteilskraft – diese Aufgabe auch logisch mittels der Begriffe Allgemeinheit und Besonderheit formulieren: Das Formalismus-Problem in seiner verallgemeinerten Gestalt kann auch als das Problem beschrieben werden, wie ein rationaler Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen möglich ist. Weitere logische Begriffe, die in den dargelegten Kontexten zumindest implizit eine Rolle spielen, sind die Modalbegriffe von Notwendigkeit und Zufälligkeit. Der Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen, dessen Relevanz Hegel in Bezug auf die beschriebenen Zusammenhänge plausibel dargelegt hat, ist nur dann rational, wenn er nicht zufällig erfolgt, sondern auf eine notwendige Weise. Diese Notwendigkeit darf aber einerseits nicht von analytischer Art sein, denn durch analytische Zusammenhänge wird keine neue begriffliche Bestimmtheit gewonnen; andererseits darf sie aber auch z. B. nicht kausaler oder naturgesetzlicher Art sein, weil es sich hier um rationale, begriffliche Zusammenhänge handeln soll. Diese Formulierung der Problematik zeigt nicht zuletzt auch, dass es sich hier um ein allgemeines Sachproblem und nicht nur um eine spezifische Schwierigkeit der Kantischen Philosophie handelt; der Kritizismus ist in Hegels Augen nur diejenige philosophische Theorie, in der die verallgemeinerte Formalismus-Problematik am deutlichsten zu Tage tritt.32 So werden wir im nächsten Kapitel sehen, dass die Auffassung des Verhältnisses von Allgemeinheit und Besonder-
31 Vgl. WdL 6/261: „Alsdann ist die Kantische Philosophie nur bei dem psychologischen Reflexe des Begriffs stehen geblieben und ist wieder zur Behauptung der bleibenden Bedingtheit des Begriffs durch ein Mannigfaltiges der Anschauung zurückgegangen“. – Vgl. zu dieser Thematik im Kontext der Frage nach der Grundlegung speziell logischer Normen Winfield (2006), 6 ff. 32 Hegel diagnostiziert etwa auch bei Platon Versionen des Formalismus-Problems: vgl. VGPh 19/68 f.
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heit, die bei Kant verantwortlich für das Formalismus-Problem ist, dem gängigen common sense im Verständnis dieser Begriffe entspricht. Es kann also plausiblerweise mit Hegel angenommen werden, dass eine Autonomie-Konzeption von Freiheit als Resultat rationaler Selbstkonstitution nur dann erfolgreich ausformuliert werden kann, wenn ein Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem gedacht werden kann, das einen nicht-analytischen notwendigen Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen ermöglicht. Die gesuchte inhaltliche Theorie von normativen Grundbestimmungen, die die Konstitution freier Selbste ermöglichen, muss daher zunächst eine Antwort auf diese logische und metaphysische Fragestellung – die allgemeinste und grundlegendste Formulierung des Formalismus-Problems – bieten.33 Hegel entwickelt diese Antwort im dritten Teil der WdL, der „Logik des Begriffs“.
3.2.2 Freiheit als rationale Persistenz: Die freiheitstheorische Bedeutung von Kants Transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe Hegels „Logik des Begriffs“ bildet ein holistisches Kategoriensystem, das Hegel als das „Reich der Freiheit“ bezeichnet (6/240). Dieses Kategoriensystem beruht seinerseits auf der grundlegenden Kategorie des „Begriffs“. Bei der Kategorie des „Begriffs“ handelt es sich um die zentrale Kategorie der WdL. Sie steht für eine logische Struktur, die in logischer wie metaphysischer Hinsicht fundamental ist. Hegels „offizielle“ Erklärung des Begriffs deutet dessen Struktur als „Einheit“ oder als transparenten wechselseitigen Zusammenhang der drei „Begriffsmomente“ Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. Im ersten Abschnitt der Begriffslogik, „Der Begriff“, führt Hegel vor, wie diese Aspekte des Begriffs ineinander übergehen und sich auseinander herleiten lassen. In gewisser Weise leistet Hegel hiermit die Lösung des verallgemeinerten Formalismus-Problems: Indem er an die Stelle der Opposition von Allgemeinem und Besonderem bzw. Unbestimmtem und Bestimmtem die Triade von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit setzt, in der die Besonderheit zwischen den anderen beiden Momenten vermittelt34, und den
33 Im Gegensatz zu einigen vieldiskutierten Aspekten von Hegels Kritik an Kants Moralphilosophie (vgl. 2.6.2) wird Hegels Verallgemeinerung der Formalismus-Problematik von Exegeten meist ganz ausgeblendet. 34 Am Ende der Wesenslogik führt Hegel die Besonderheit ausdrücklich als „Identität“, also als vermittelnde Einheit, von Allgemeinheit und Einzelheit ein (WdL 6/240). An anderer Stelle (GPhR § 7 A, 7/55) schreibt Hegel diese Funktion hingegen der Einzelheit zu. Da alle drei Momente intrinsisch miteinander verknüpft sind, kann strenggenommen jedes von ihnen als vermittelnde Einheit der jeweils anderen Glieder beschrieben werden.
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wechselseitigen Zusammenhang der drei Bestimmungen darlegt, beansprucht Hegel nicht zuletzt zu zeigen, wie der zur Debatte stehende rationale Übergang zwischen der Seite des Allgemeinen und der Seite des Besonderen und Einzelnen möglich ist. Für ein genaueres Verständnis dieser Lösung hängt allerdings alles davon ab, wie die Termini „Begriff“, „Allgemeinheit“, „Besonderheit“ und „Einzelheit“ sowie ihr wechselseitiger Zusammenhang genau interpretiert werden. Diesbezüglich ist Hegels Darstellung in „Der Begriff“ jedoch sehr unbestimmt gehalten, und zwar mit gutem Grund: Hegel will gemäß seiner methodologischen Forderung des freien, voraussetzungslosen Denkens (vgl. 3.3) nicht einfach ein bestimmtes Verständnis von „Begriff“, „Allgemeinheit“, „Besonderheit“ und „Einzelheit“ voraussetzen, sondern diese Begriffe selbst erst – im Laufe der Begriffslogik – sukzessive bestimmen. Insofern bietet die bloße Darstellung des gegenseitigen Verhältnisses von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit in dem Abschnitt „Der Begriff“ gerade noch keine Antwort auf die Frage danach, wie das verallgemeinerte Formalismus-Problem gelöst werden kann. Um Hegels Antwort auf diese Frage zu ermitteln, müssen wir also die gedankliche Entwicklung der Begriffslogik nachvollziehen. Dies werden wir im nächsten Kapitel an Hand des exemplarischen Falls der Urteilslehre tun, die für die Freiheitsthematik besonders wichtig ist. Um aber überhaupt einen geeigneten Zugang zur Begriffslogik zu gewinnen, benötigen wir zumindest ein vorläufiges Verständnis von Hegels Ansatz zur Lösung des verallgemeinerten Formalismus-Problems. Dafür können wir uns auf Hegels eigene einführende Erläuterung der Kategorie des Begriffs in der Einleitung zur Begriffslogik („Vom Begriff im allgemeinen“) stützen. Hier will Hegel gerade ein solches vorläufiges Verständnis ermöglichen, indem er seine Auffassung des Begriffs an Hand von Kants Theorie der synthetischen Einheit der Apperzeption erklärt. (Wie in seinen Stellungnahmen zur Kritik der Urteilskraft verortet Hegel also auch hier bei Kant durchaus auch wichtige positive Ansatzpunkte für eine Lösung des verallgemeinerten Formalismus-Problems.) Im nächsten Kapitel werden wir dann sehen, wie ein ganz bestimmtes Verständnis der drei Begriffsmomente Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit Hegel die Lösung des verallgemeinerten Formalismus-Problems und die entsprechende logische Grundlegung von Freiheit ermöglicht (vgl. besonders Abschnitt 4.6.3). An einer berühmten Stelle in „Vom Begriff im allgemeinen“ schreibt Hegel nun: Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, daß die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, als Einheit des ‚Ich denke‘ oder des Selbstbewußtseins erkannt wird. – Dieser Satz macht die sogenannte transzendentale Deduktion der Kategorie[n] aus; sie hat
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aber von jeher für eines der schwersten Stücke der Kantischen Philosophie gegolten, – wohl aus keinem anderen Grunde, als weil sie fordert, daß über die bloße Vorstellung des Verhältnisses, in welchem Ich und der Verstand oder die Begriffe zu einem Ding und seinen Eigenschaften oder Akzidenzen stehen, zum Gedanken hinausgegangen werden soll. (WdL 6/254)
Hegel stellt hier einen direkten Zusammenhang zwischen Kants synthetischer Einheit der Apperzeption und seiner Kategorie des Begriffs her. Dieser Zusammenhang besteht für Hegel in gleich mehreren wichtigen Hinsichten, die wir Schritt für Schritt betrachten werden. Einen ersten relevanten Gesichtspunkt stellt Hegel bereits in einer früheren Passage dar, indem er im Ich einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen allgemeiner begrifflicher Bestimmung und einzelner Instanz verortet: Ich aber ist erstlich diese reine sich auf sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht. So ist es Allgemeinheit, Einheit, welche nur durch jenes negative Verhalten, welches als das Abstrahieren erscheint, Einheit mit sich ist und dadurch alles Bestimmtsein in sich aufgelöst enthält. Zweitens ist Ich ebenso unmittelbar als die sich auf sich selbst beziehende Negativität Einzelheit, absolutes Bestimmtsein, welches sich Anderem gegenüberstellt und es ausschließt; individuelle Persönlichkeit. Jene absolute Allgemeinheit, die ebenso unmittelbar absolute Vereinzelung ist, und ein Anundfürsichsein, welches schlechthin Gesetztsein und nur dies Anundfürsichsein durch die Einheit mit dem Gesetztsein ist, macht ebenso die Natur des Ich als des Begriffes aus […]. (WdL 6/253)
Die transzendentale Apperzeption enthält also nach Hegel für sich genommen bereits einen direkten Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen und Einzelnen: Das Ich der transzendentalen Apperzeption ist einerseits allgemein, weil es der gemeinsame Bezugspunkt aller einzelnen Gedanken des Subjekts ist und durch Abstraktion von jenen Gedanken auf sich selbst aufmerksam werden kann; andererseits ist es zugleich ein Einzelnes, nämlich ein individuelles Subjekt. Obwohl hier schon ein Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen bzw. Einzelnen geleistet ist, ist das Subjekt der transzendentalen Apperzeption für Hegel doch abermals mit der Formalismus-Problematik konfrontiert: Die Selbstidentität der synthetischen Einheit der Apperzeption ist nämlich zunächst völlig abstrakt. Wenn daher die Anwendung begrifflicher Bestimmungen durch das Ich in einzelnen Kontexten nicht wieder von der Willkür oder vom Zufall abhängen soll, müssen zumindest die Grundbestimmungen konkreten Begriffsgebrauchs aus jener Einheit selbst heraus begreifbar sein. Erneut muss also ein Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen und Einzelnen geleistet werden. Hegel versteht Kant in der zuvor zitierten Passage so, dass er in den folgenden drei Verhält-
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nissen genau denselben logischen Zusammenhang von Allgemeinem und Einzelnem am Werke sieht wie in der transzendentalen Apperzeption selbst: (a) zwischen dem unbestimmten Ich und den bestimmten Begriffen, die es gebraucht: das Ich hat nämlich nicht einfach einen Verstand (und damit Begriffe), wie „ich auch einen Rock, Farbe und andere äußerliche Eigenschaften habe“ (WdL 6/254); (b) zwischen allgemeinen Begriffen und den einzelnen Gegenständen, auf die sie sich beziehen: das Verhältnis, „in welchem Ich und der Verstand oder die Begriffe zu einem Ding und seinen Eigenschaften oder Akzidenzen stehen“ (WdL 6/254); (c) zwischen der allgemeinen Einheit eines Gegenstandes und seinen einzelnen Eigenschaften: der eine Gegenstand bildet den „Grund und das Bestimmende seiner Eigenschaft“ (WdL 6/254). Diese Zusammenhänge bilden gemeinsam einen vollständigen Übergang von der rein abstrakten allgemeinen Einheit der Apperzeption über konkretere Begriffe hin zu Gegenständen und schließlich deren Eigenschaften. Hegel sieht einen der Kerngedanken von Kants Transzendentaler Deduktion darin, dass in all diesen Zusammenhängen dieselbe logische Struktur am Werke ist. Diese Struktur als solche betrachtet, d. h. unabhängig von ihrer je konkreten Realisierung in bestimmten Begriffen, ist der Begriff in Hegels terminologischem Sinn. In ihm bilden Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit eine unmittelbare Einheit; die Allgemeinheit bestimmt sich in ihm selbst bis hin zur Einzelheit. Diese Ausdrucksweisen Hegels bezeichnen den Übergang, der in den genannten Fällen – (a) bis (c) sowie im Ich als solchem – jeweils vom Unbestimmten, Allgemeinen hin zum Bestimmten, Einzelnen stattfindet, ohne dass ein von außen gegebener Bestimmungsgrund oder ein Akt der Willkür erforderlich wären. Dass Hegel Kant die Annahme eines Übergangs im Sinne der Punkte (a) bis (c) zuschreiben kann, wird verständlicher, wenn wir Kants Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vor dem Hintergrund unserer Frage nach einer Autonomie-Konzeption von Freiheit betrachten.35 Wie die Autonomie-Konzeption allgemein eine konstitutive Einheit von Selbst, Freiheit und Gründen bzw.
35 Im Folgenden geht es darum, dass Kant in der Deduktion ein Modell grundlegender Aspekte der Subjektivität entwirft, das aus Hegelscher Sicht fruchtbare Bezüge auf die Freiheitsthematik erlaubt. Damit soll nicht impliziert sein, dass Kant selbst der Deduktion in dieser Form eine freiheitstheoretische Dimension zuschreibt. Zwar kann die „logische Freiheit“ oder „Freiheit des Denkens“, die Kant in manchen Texten annimmt (etwa der in Abschnitt 6.2 zitierten SchulzRezension), durchaus so verstanden werden, dass sie neben kausaler Spontaneität auch eine Dimension der rationalen Persistenz oder Selbsterhaltung umfasst, wie ich sie im Folgenden in Bezug auf die Deduktion vorschlage. Allerdings ist unklar, welchen Stellenwert derartige Aus-
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vernünftigen Normen annimmt (2.6.1), so besteht in der Deduktion ein direkter Zusammenhang zwischen der Identität der Apperzeption und der Ausrichtung an den Regeln des Verstandes, nämlich den Urteilsformen und den Kategorien. Die Identität der Apperzeption kann dabei als eine elementare Form von Selbstsein begriffen werden, als rationale Kontinuität oder Persistenz36 – eine Eigenschaft, die Kant in Bezug auf höherstufige rationale Fähigkeiten auch als „Selbsterhaltung der Vernunft“ (AA 8/147) bezeichnet. Diese Kontinuität, Persistenz oder Selbsterhaltung muss sich das Subjekt in der Deduktion durch Synthesisleistungen erarbeiten: Ohne solche Leistungen, so Kant, „würde ich ein so vielfärbiges, verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin“ (KrV B 134). Sofern ein so „vielfärbiges, verschiedenes Selbst“ überhaupt noch als Selbst zählen könnte, wäre es doch jedenfalls ein in höchstem Maße unfreies Selbst, das keine Kontrolle über seine Zustände und Einstellungen hätte und keiner Eignerschaft bezüglich seiner Überzeugungen, Wünsche, Absichten und Handlungen fähig wäre – wie etwa ein Frankfurtscher wanton oder eine stark dissoziierte Person. Nach Kant besteht nun die Leistung, die das Subjekt erbringen muss, um sich als identisches Subjekt innerhalb eines Mannigfaltigen von Vorstellungen durchhalten zu können, grundsätzlich im Stiften einer Einheit innerhalb dieser Mannigfaltigkeit. Diese zu stiftende Einheit weist zwei Dimensionen auf; ihnen entsprechen zwei Weisen, in denen die Synthesis der Einheit scheitern kann. In der ersten Dimension synthetisiert das Subjekt seine eigene Einheit (synthetische Einheit der Apperzeption); der Mannigfaltigkeit entsprechen hier die unterschiedlichen Akte des Subjekts zusammen mit den dabei involvierten Gehalten. Wenn diese Einheit nicht oder nicht in hinreichendem Maße geschaffen wird, resultiert ein unfreies Subjekt, das durch Dissoziation, Entfremdung und Intransparenz gekennzeichnet ist – eben ein völlig „vielfärbiges, verschiedenes Selbst“. Zweitens hat die synthetische Einheit des Subjekts aber auch eine gegenständliche Dimension: Als „objektive“ Einheit der Apperzeption bestimmt sie ein logisches Subjekt von Urteilen, also das, wovon Urteilsinhalte ausgesagt werden – nach Kant der Gegenstand „nur als etwas überhaupt = X“ (KrV A 104) – und vereinigt ein Mannigfaltiges von repräsentierten Gehalten „in einen Begriff vom Object“ (KrV B 139). Persistente Subjektivität ist demnach für Kant nur möglich, wenn nicht nur in Bezug auf das Subjekt selbst, sondern auch im Hinblick auf die gegenständlichen Gehalte ein
sagen in Kants „offizieller“ Position einnehmen (vgl. u. a. Henrich (1975), 64 ff.; Rosefeldt (2000), Kap. 7; Düsing (2002); Willaschek (2010)). 36 Die Rede von „Persistenz“ in diesem Kontext ist im Sinne rationaler Identifikationsbeziehungen zu verstehen, nicht schon im Sinne der Persistenz einer Substanz in der Zeit, die bei Kant mit der Kritik an den Paralogismen inkompatibel wäre.
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Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigem erklärt wird; nur durch die Vereinigung der Vorstellungen in der objektiven Einheit der Apperzeption unterscheidet sich für Kant ein Urteil, das Anspruch auf objektive Geltung erhebt, von einer bloß subjektiven, assoziativen Verbindung mentaler Zustände. Entsprechend kann rationale Freiheit auch dann scheitern, wenn der Gegenstand der rationalen Auseinandersetzung dem Selbst so heterogen ist, dass es sich nicht in ihn finden kann und deshalb – und nicht auf Grund fehlender Mittel der transparenten Selbstkonstitution – in die Unfreiheit des Selbstverlustes verfällt. Dem Subjekt müssen also nicht nur ausreichende begriffliche Mittel zur Verfügung stehen, um sich selbst in seiner Kontinuität zu sichern, sondern es muss darüber hinaus auch garantiert sein, dass die Objektivität, mit der sich das Subjekt auseinandersetzt, diesen begrifflichen Mitteln der rationalen Selbsterhaltung nicht fremd gegenübersteht.37 Kant kennzeichnet die Einheit, die auf subjektiver wie auf objektiver Seite für rationale Persistenz erforderlich ist, ferner als eine notwendige Einheit. Noch bevor die unterschiedlichen Modalkategorien Anwendung finden, ist also eine modale Qualifikation der Synthesisleistung als „notwendig“ erforderlich, und zwar, wie Kant betont, unabhängig von dem – durch die Modalkategorien bestimmten – modalen Status des dabei synthetisierten Inhaltes. Ein Urteil, so Kant, ist „nichts andres […] als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen“ (KrV B 141). Er erläutert weiter: Darauf zielt das Verhältnißwörtchen ist in denselben, um die objective Einheit gegebener Vorstellungen von der subjectiven zu unterscheiden. Denn dieses bezeichnet die Beziehung derselben auf die ursprüngliche Apperception und die nothwendige Einheit derselben, wenngleich das Urtheil selbst empirisch, mithin zufällig ist, z. B. die Körper sind schwer. Damit ich zwar nicht sagen will, diese Vorstellungen gehören in der empirischen Anschauung nothwendig zu einander, sondern sie gehören vermöge der nothwendigen Einheit der Apperception in der Synthesis der Anschauungen zu einander, d. i. nach Principien der objectiven Bestimmung aller Vorstellungen, sofern daraus Erkenntnis werden kann, welche Principien alle aus dem Grundsatze der transscendentalen Einheit der Apperception abgeleitet sind. (KrV B 141 f.)
Wenn die Kontinuität des Subjekts, die durch die apperzeptive Synthesis ermöglicht wird, als elementare Form von Freiheit verstanden wird, zeigt sich also, dass Freiheit und Notwendigkeit keinen Gegensatz bilden, sondern einander offenbar
37 Dabei ist die Rede von Objektivität nicht von vornherein auf theoretische Kontexte eingeschränkt, sondern bezieht gleichfalls Formen der Objektivität mit ein, die in praktischen Kontexten vorkommen – z. B. die objektive Geltung von Normen. Auf der abstrakten Theorieebene, auf der wir uns im gegenwärtigen Kontext befinden, müssen wir noch nicht zwischen derartigen Unterschieden differenzieren; relevant werden sie erst in den Kapiteln 7 und 8, wenn wir spezifisch epistemische und praktische Freiheitsbegriffe entwickeln.
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vielmehr gegenseitig bedingen. Dieses Bedingungsverhältnis betrifft dabei aber nicht diejenige kausale Notwendigkeit, die nach traditionellen kompatibilistischen Theorien (welche ebenfalls Notwendigkeit als Bedingung von Freiheit ansehen) erforderlich ist, um die Kontrolle des Akteurs über seine Handlungen zu verstehen. Es ist vielmehr auf einer inhaltlichen Ebene angesiedelt und betrifft eine durch Regeln gestiftete Notwendigkeit innerhalb der Verstandesaktivität. Die genauere Bestimmung dieser Notwendigkeit wird so zur zentralen Aufgabe einer Freiheitstheorie: Denn alle einzelnen Regeln der Synthesis – also innerhalb des Kantischen Bildes die einzelnen Bestimmungen, die die Konstitution rationaler Persistenz ermöglichen – sind lediglich Konsequenzen der einen notwendigen Einheit der Apperzeption („welche Principien alle aus dem Grundsatze der transscendentalen Einheit der Apperzeption abgeleitet sind“). Kants Modell der Identität der synthetischen Einheit der Apperzeption, die sich mittels ihrer regelgeleiteten Synthesisleistungen – dem Stiften von notwendiger Einheit gemäß objektiv gültigen Regeln – in der Auseinandersetzung mit einem gegebenen Mannigfaltigen durchhält, bildet vor dem Hintergrund der freiheitstheoretischen Fragestellung ein attraktives Modell für Autonomie-Freiheit im Sinne rationaler Selbstkonstitution. Die Rolle von Objektivität in diesem Modell macht verständlicher, weshalb Hegel in der Transzendentalen Deduktion ein Verständnis des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem am Werke sieht, das sich auch auf das Verhältnis von Begriffen und Gegenständen sowie von Gegenständen und ihren Eigenschaften erstreckt (vgl. oben die Punkte (b) und (c)). Entsprechend übernimmt Hegel auch den Gedanken der durch regelgeleitete Synthesisleistungen erzeugten Identität des Subjekts als Kennzeichen von rationaler Freiheit im Sinne der Autonomie-Konzeption, wenn er etwa in Enz. § 381 ausdrücklich wie Kant von der Freiheit als der Selbsterhaltung des Geistes spricht: Nach dieser formellen Bestimmung [sc. der Freiheit] kann er [sc. der Geist] von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst abstrahieren; er kann die Negation seiner individuellen Unmittelbarkeit, den unendlichen Schmerz ertragen, d. i. in dieser Negativität affirmativ sich erhalten und identisch für sich sein. (10/25 f.)38
Dieser Punkt macht auch zumindest einen zentralen Bedeutungsaspekt von Hegels „offizieller“ Kennzeichnung der Freiheit als „Beisichsein im Andern seiner selbst“ aus. So schreibt Hegel, die „Selbstbestimmung des Ich“ bestehe darin, „in
38 Vgl. auch Enz. § 381 Z, 10/20 sowie WdL 6/276, wo dem Begriffsmoment des Allgemeinen die „Kraft unveränderlicher, unsterblicher Selbsterhaltung“ zugeschrieben wird.
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einem sich als das Negative seiner selbst, nämlich als bestimmt, beschränkt zu setzen und bei sich, d. i. in seiner Identität mit sich und Allgemeinheit zu bleiben, und in der Bestimmung, sich nur mit sich selbst zusammenzuschließen“ (GPhR § 7, 7/54). Ich werde deshalb im Folgenden den Begriff der rationalen Persistenz als Schlagwort für Freiheit gebrauchen, wie sie im Rahmen der hegelianisch interpretierten Autonomie-Konzeption von Freiheit aus Prozessen der rationalen Selbstkonstitution resultiert. Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Überlegungen kann eine derartige Selbsterhaltung, Identität oder Persistenz als das Ziel rationaler Selbstkonstitution verstanden werden. Dieses Ziel ist stets nur vorläufig erreicht, weil die Selbsterhaltung des Subjekts immer durch die Möglichkeit des Selbstverlustes gefährdet ist und daher durch konstante rationale Aktivität oder Arbeit – entsprechend den Synthesisleistungen in Kants Deduktion – aufrechterhalten und erweitert werden muss. Die Betrachtung von Kants Deduktion aus der Perspektive Hegels hat uns geholfen zu verstehen, weshalb Hegel in Kants synthetischer Einheit der Apperzeption ein Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem am Werk sieht, das neben der Beziehung zwischen dem unbestimmten Ich und den bestimmten Kategorien auch die Beziehung zwischen Begriff und Gegenstand sowie zwischen dem Gegenstand und seinen Eigenschaften erklärt. Hieraus ergibt sich für Hegel die Aufgabe, eine kritische logische Theorie des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem zu entwickeln und auf ihrer Grundlage die genannten Zusammenhänge – Ich/Kategorien, Begriff/Gegenstand, Gegenstand/ Eigenschaften usw. – grundsätzlich neu zu konzipieren. In den folgenden Kapiteln werden wir die wichtigsten Aspekte von Hegels Lösungsvorschlag untersuchen.
3.2.3 Hegel über immanente Begriffsbestimmung Nachdem wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, weshalb Hegel in Kants Deduktion und speziell in der synthetischen Einheit der Apperzeption einen positiven Ansatz zur Lösung des verallgemeinerten Formalismus-Problems sehen kann, müssen wir im nächsten Schritt einige der kritischen Revisionen betrachten, die Hegel in der Einleitung zur Begriffslogik gegenüber Kants transzendentaler Deduktion vornimmt. Hier sind zunächst zwei Kritikpunkte wichtig, die auch schon im Zusammenhang mit der kritischen Darstellung der Kantischen Philosophie im Vorbegriff zur enzyklopädischen Logik vorgekommen waren. Erstens erklärt Kants Modell in der transzendentalen Deduktion laut Hegels Kritik für sich genommen noch nicht, wie wir von der an sich selbst
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unbestimmten synthetischen Einheit der Apperzeption zu konkreten begrifflichen Regeln gelangen, die die Synthese des Mannigfaltigen ermöglichen. Kant rechtfertigt zwar die objektive Geltung derjenigen Kategorien, die er in der metaphysischen Deduktion eingeführt hatte. Warum aber genau diese und nicht andere Kategorien und Urteilsformen für unser Denken konstitutiv sind, hat Kant nach der Auffassung zahlreicher Kritiker, angefangen bei Reinhold und Fichte, nicht erklärt (vgl. Enz. § 42 A, 8/116 f.). Zweitens versteht Kant die Synthesis von Mannigfaltigem als eine Verbindung, die innerhalb von anschaulich Gegebenem geschaffen wird. Damit tritt aber nur erneut eine unüberbrückbare Kluft zwischen Allgemeinem und Einzelnem auf, nämlich zwischen dem Allgemeinen der synthetischen Einheit der Apperzeption und dem einzelnen Gegebenen der Anschauung. Während der erste dieser Kritikpunkte plausibel erscheint, ist es beim zweiten Punkt schwerer zu verstehen, wo Hegel genau das Problem sieht. Zugleich ist dieser Punkt für Hegel aber insofern grundlegender als der erste, als Hegels Lösung des zweiten Problems auch eine Lösung des ersten Problems mit sich bringt. Wir betrachten daher diesen zweiten Punkt im Folgenden etwas ausführlicher. – Hegel erklärt zunächst, die Kantische Philosophie sei „bei dem psychologischen Reflexe des Begriffs stehengeblieben“ und „wieder zur Behauptung der bleibenden Bedingtheit des Begriffs durch ein Mannigfaltiges der Anschauung zurückgegangen“ (WdL 6/261). Dies erläutert Hegel u. a. dahingehend, dass der Begriff wieder ohne das Mannigfaltige der Anschauung inhaltslos und leer sein soll, ungeachtet er a priori eine Synthesis sei; indem er dies ist, hat er ja die Bestimmtheit und den Unterschied in sich selbst. Indem sie die Bestimmtheit des Begriffs, damit die absolute Bestimmtheit, die Einzelheit, ist, ist der Begriff Grund und Quelle aller endlichen Bestimmtheit und Mannigfaltigkeit. (WdL 6/261)
Hegel bezieht sich hier auf Kants These, wonach Begriffe oder Gedanken ohne anschaulichen Inhalt leer sind (KrV B75). Warum sollte diese These, wie Hegel meint, der Lehre von der synthetischen Einheit der Apperzeption widersprechen? Um dies zu verstehen, müssen wir Hegels Interpretation jener Einheit genauer betrachten. Aufschluss bietet hier eine weitere Stelle der Einleitung zur Begriffslogik („Über den Begriff im allgemeinen“), wo Hegel erklärt: Wenn in der oberflächlichen Vorstellung von dem, was der Begriff ist, alle Mannigfaltigkeit außer dem Begriffe steht und diesem nur die Form der abstrakten Allgemeinheit oder der leeren Reflexionsidentität zukommt, so kann schon zunächst daran erinnert werden, daß auch sonst für die Angabe eines Begriffs oder die Definition zu der Gattung, welche selbst schon eigentlich nicht rein abstrakte Allgemeinheit ist, ausdrücklich auch die spezifische
3.2 Der Ansatzpunkt von Hegels Freiheitstheorie
151
Bestimmtheit gefordert wird. Wenn nur mit etwas denkender Betrachtung darauf reflektiert würde, was dies sagen will, so würde sich ergeben, daß damit das Unterscheiden als ein ebenso wesentliches Moment des Begriffs angesehen wird. (WdL 6/260)
Hegel wendet sich also gegen eine Auffassung des Begrifflichen, die wiederum einen Dualismus zwischen der Allgemeinheit des Begriffs und den einzelnen, durch ihn zusammengefassten Gegenständen oder Anschauungen herstellt. Dagegen betont Hegel unter Berufung auf die Rolle der differentia specifica in der klassischen Definitionstheorie eine unterscheidende Funktion von Begriffen, die ihre abstrahierende, zusammenfassende Rolle komplementiert. Dies könnte zunächst im Sinne des Gedankens verstanden werden, dass Begriffe ihre Inhalte implizit von anderen Inhalten abgrenzen. Doch wie der folgende Kontext zeigt, hat Hegel einen radikaleren Gedanken im Sinn. Er schreibt gleich im Anschluss Kant den „höchst wichtigen Gedanken“ zu, daß es synthetische Urteile a priori gebe. Diese ursprüngliche Synthesis der Apperzeption ist eines der tiefsten Prinzipien für die spekulative Entwicklung; sie enthält den Anfang zum wahrhaften Auffassen der Natur des Begriffs und ist jener leeren Identität oder abstrakten Allgemeinheit, welche keine Synthesis in sich ist, vollkommen entgegengesetzt. (WdL 6/ 260 f.)
Für Hegel sind also Kantische Begriffe, zumindest die reinen Verstandesbegriffe, die in den synthetischen Urteilen a priori der Philosophie vorkommen, eine „Synthesis in sich“. Wenn diese Synthesis aber nicht wieder das abstrahierende Zusammenfassen von gegebenem Mannigfaltigen bedeuten soll, dann muss sie angesichts des Kontexts gerade umgekehrt verstanden werden: Der Begriff erzeugt – synthetisiert – demnach die Bestimmtheit aus sich selbst heraus.39 Synthetische Urteile a priori sind dann Urteile, in denen aus Begriffen auf nichtanalytische Weise ein mit einem Geltungsanspruch verbundener Gehalt erzeugt wird, ohne dass hierzu ein „Input“ aus der Anschauung zugrunde gelegt wird – deshalb „a priori“. Dies ist nun offensichtlich nicht Kants eigenes Verständnis von synthetischen Urteilen a priori. Kant hat die Fragestellung nach der Möglichkeit von Metaphysik in der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft so formuliert, dass – im Gegensatz zu analytischen Urteilen – synthetische Urteile über den Subjektsbegriff „hinausgehen“ müssen. Während sie dies im Falle synthetischer Urteile
39 Hegels Bezugnahme auf die spezifische Differenz in der aristotelischen Definitionslehre ist freilich unangemessen, weil nach Aristoteles die spezifische Differenz von außerhalb des Genus herrühren muss, also keine „immanente“ Spezifikation leisten kann: vgl. Kap. 4, Fußnote 76.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
a posteriori tun, indem sie sich auf Erfahrung stützen, sei es in Bezug auf synthetische Urteile a priori gerade die Frage, worin dieses „Unbekannte = x“ bestehe, „worauf sich der Verstand stützt, wenn er außer dem Begriff von A ein demselben fremdes Prädicat B aufzufinden glaubt, welches er gleichwohl damit verknüpft zu sein erachtet“ (KrV B 13). Als Resultat der Transzendentalen Analytik kommt Kant dann zum Ergebnis, dass die gesuchte Instanz im Falle synthetischer Urteile a priori in der Möglichkeit von Erfahrung besteht: „Die Möglichkeit der Erfahrung“ ist nach Kant „das, was allen unsern Erkenntnissen a priori objective Realität giebt“ (KrV B 195); „[a]ußer dieser Beziehung“ auf mögliche Erfahrung aber „sind synthetische Sätze a priori gänzlich unmöglich, weil sie kein Drittes, nämlich keinen Gegenstand haben, an dem die synthetische Einheit ihrer Begriffe objective Realität darthun könnte“ (KrV B 196). Ganz anders Hegel: Für ihn soll in synthetischen Urteilen a priori das Denken selbst auf nicht willkürliche, sondern notwendige Weise neue Bestimmtheit hervorbringen. Mit diesem Gedanken kann sich Hegel offensichtlich nicht auf diejenigen Prozesse der Konstitution empirischen Gegenstandsbezugs beziehen, die Kant in der Deduktion eigentlich analysiert: Zu leugnen, dass Gegenstandsbezug in Erfahrungskontexten in irgendeiner Weise Anschauung integrieren muss, würde bedeuten, empirischen Gegenstandsbezug zu leugnen. Was Hegel vielmehr bestreitet, ist, dass apriorische Erkenntnis (im Gegensatz zur bloßen Begriffsanalyse) nur unter Bezug auf die Möglichkeit von Erfahrung möglich ist. Die Leugnung dieser These Kants läuft auf die Aussage hinaus, dass metaphysische Erkenntnis im traditionellen Sinn möglich ist – als gerechtfertigtes Aufstellen von erfahrungstranszendenten Behauptungen, die rein aus dem Denken ohne Bezug auf tatsächliche oder mögliche Erfahrung begründet werden. Die dabei relevante Art von Rechtfertigung bestimmt Hegel genauer als immanente Entwicklung bestimmten begrifflichen Gehalts aus dem Denken heraus.40 Diese immanente begriffliche Bestimmung hat nun ihrerseits zur Aufgabe, das erste der beiden oben genannten Defizite zu beheben, das Hegel bei Kant benennt, nämlich das Fehlen einer Begründung der Kategorien. Ist die von Hegel beschriebene Synthese von begrifflichem Gehalt nämlich tatsächlich möglich, dann muss es auch möglich sein, im Ausgang von begrifflicher Unbestimmtheit (oder bei Kant: der Einheit der transzendentalen Apperzeption) konkretere „Formen der Einheit“ (VGPh 20/344) herzuleiten und so diejenigen begrifflichen Regeln zu rechtfertigen, die die Konstitution eines persistenten
40 Vgl. zum Gedanken „immanenter“ begrifflicher Bestimmung Houlgate (2006), 48 f.
3.2 Der Ansatzpunkt von Hegels Freiheitstheorie
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Selbst erlauben. Eine derartige Rechtfertigung dieser Regeln ist in zweifacher Hinsicht notwendig für die Freiheit des Selbst. Erstens wäre das Subjekt ohne eine solche Rechtfertigung der Regeln, denen gemäß es sich konstituiert, sich selbst zwangsläufig intransparent; es hätte keine rationale Kontrolle über sich selbst in verschiedenen Zuständen und Übergängen. Zweitens ist eine solche Begründung auch um der objektiven Geltung der Kategorien willen nötig, die sich als wesentliches Element der „rationalen Persistenz“ in Kants Deduktion erwiesen hatte. Wir haben so in vorläufiger Weise gesehen, was die beiden oben genannten Kritikpunkte, die Hegel im Abschnitt „Über den Begriff im allgemeinen“ gegen Kants Deduktion formuliert (das Fehlen einer Herleitung der Kategorien und die „Bedingtheit des Begriffs“ durch Anschauung), bedeuten und wie Hegel die Kantische Position dementsprechend revidieren will. Der Gedanke einer „immanenten“ begrifflichen Bestimmung, einer „Synthese“ bestimmten begrifflichen Gehalts aus dem Denken heraus hat sich dabei als zentral herausgestellt. Es ist freilich zunächst völlig unklar, wie eine solche immanente Bestimmung von begrifflichem Gehalt möglich ist. Allerdings beansprucht Hegel auch nicht, dass in der WdL von vornherein eine klare Konzeption dieser immanenten Bestimmung vorliegt. Vielmehr ist es gerade eine der Aufgaben der gedanklichen Entwicklung in der WdL, Aufschluss über die Natur dieser immanenten Bestimmung begrifflichen Gehalts zu gewinnen. Insbesondere müssen zu diesem Zweck das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem und die Art von Notwendigkeit geklärt werden, die in einer solchen immanenten Bestimmung am Werk sind. In diesem und dem nächsten Kapitel entwickle ich daher sukzessive verschiedene Elemente einer Klärung dessen, was es mit der immanenten Entwicklung begrifflichen Gehalts für Hegel auf sich hat.
3.2.4 „Reale“ versus „logische“ Freiheit Ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Klärung von Hegels Gedanken der immanenten Bestimmung begrifflichen Gehalts besteht in einer Unterscheidung zwischen zwei Ebenen der begrifflichen Synthesis. Diejenige Ebene, die Hegel bei dem Gedanken der immanenten Bestimmung im Blick hat, betrifft die Rechtfertigung der Kategorien; diese Rechtfertigung muss, gemäß Hegels Deutung von Kants Begriff des „synthetischen Urteils a priori“, in einem Prozess der immanenten Begriffsbestimmung bestehen. Hiervon sind aber, wie wir schon gesehen hatten, die Synthesisleistungen des Verstandes in der Konstitution von Erfahrung unterschieden, die Kant in der Deduktion zum Thema hat. Auf dieser zweiten,
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
realen Ebene der Synthesis setzt sich ein wirkliches Selbst tatsächlich mit Inhalten und Situationen auseinander, die es vorfindet, und gebraucht dabei die Grundbegriffe, die auf der ersten Ebene der Synthesis erzeugt und begründet worden waren. Während auf der ersten Ebene nach Hegels im vorigen Abschnitt betrachteter Revision der Kantischen Position nicht die Synthesis eines Mannigfaltigen, sondern ein synthetischer Übergang von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit stattfindet, wird auf der realen Ebene tatsächlich ein persistentes Selbst in Auseinandersetzung mit mannigfaltigen Gegebenheiten, mit denen es konfrontiert ist, konstituiert.41 Wenn wir diese Unterscheidung zweier Ebenen nun in Bezug zur Frage nach Freiheit setzen, dann ergeben sich zwei Dimensionen von Freiheit. Die erste Dimension ist die der realen Freiheit, nämlich der rationalen Persistenz, die reale Subjekte in der Auseinandersetzung mit mannigfaltigen Gegebenheiten (Anschauungen, Gedanken, Handlungssituationen, Wünschen, Emotionen etc.) gewinnen. Wie wir gesehen haben, muss reale Freiheit durch die Ausrichtung an begrifflichen Normen ein Selbst konstituieren und dabei in unterschiedlichen Kontexten einen rationalen Übergang von einer abstrakten Allgemeinheit hin zu einer systematischen Konstellation aus konkreten einzelnen Festlegungen, Einstellungen, Handlungen usw. schaffen. Die begrifflichen Normen, die auf dieser Ebene zum Tragen kommen und den Prozess der Selbstkonstitution leiten, müssen also so beschaffen sein, dass sie einen derartigen Übergang ermöglichen; beispielsweise ist nach Hegels Kritik der Kategorische Imperativ Kants hierzu mangels eines „Prinzip[s] der Bestimmung“ (Enz. § 508, 10/315) nicht in der Lage. Die fraglichen Normen sind aber nur dann selbst nicht willkürlich gewählt oder unhinterfragt hingenommen, wenn sie ihrerseits einer Begründung fähig sind. Diese Begründung muss überdies zeigen, dass jene Normen geeignet sind, objektive Realität zu erfassen, also auch metaphysischen Gehalt haben. Diese Begründung ist auf einer grundlegenderen Theorieebene angesiedelt, die aber gleichfalls darauf zielt, eine Form von Freiheit zu ermöglichen – nämlich Freiheit als Persistenz innerhalb eines rationalen Übergangs von reiner Unbestimmtheit hin zu den genannten, reale Freiheit ermöglichenden Regeln. Auch hier kann die
41 Die Rede von der Auseinandersetzung oder Konfrontation mit mannigfaltigen, gegebenen, anschaulichen etc. Inhalten darf freilich nicht so verstanden werden, dass zwischen dem denkenden Subjekt und diesen Inhalten ein unauflöslicher Dualismus besteht. Dass Inhalte zunächst in der Form des anschaulich Gegebenen auftreten – dass, in Hegels Worten, der Geist in Bezug auf diese Inhalte „in einen unendlich mannigfachen Stoff zersplittert ist“ (WdL 5/27) –, schließt für ihn nicht aus, dass diese Inhalte eigentlich begrifflich strukturiert sind und wir durch rationale Transformation diese begriffliche Struktur zutage fördern können (vgl. 7.2).
3.3 Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit
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Persistenz scheitern, somit Unfreiheit oder gar die Aufhebung des Selbst resultieren, indem beispielsweise Übergänge zwischen Begriffsbestimmungen auftreten, die als gegeben hingenommen werden und nicht selbst verstanden werden. Freiheit auf dieser grundlegenden Ebene werde ich als logische Freiheit bezeichnen. Sowohl den relevanten Begriff der Logik als auch die genauere Natur dieser Art von Freiheit werden wir im Folgenden weiter klären müssen; einstweilen kommt es nur darauf an, dass reale Freiheit einer Grundlegung durch „logische“ Freiheit bedarf.42 Wir können das bisher Gesagte wie folgt resümieren: Kants Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe bietet aus Hegels Sicht ein geeignetes Strukturmodell dafür, wie Freiheit als rationale Persistenz möglich ist – nämlich durch die regelgeleitete Transformation (Synthesis) von Mannigfaltigem, das sowohl in eine subjektive Einheit (Selbstidentität) als auch in eine objektive Einheit (Gegenstandsbezug) gebracht wird. Diese Synthesis setzt aber ihrerseits eine ursprüngliche Produktivität der synthetischen Einheit der Apperzeption voraus; aus der Sicht Hegels deutet Kant diese grundlegende Einsicht stellenweise an, verfolgt sie aber nicht konsequent in der Argumentation der Deduktion. Die Entfaltung jener synthetischen Produktion bestimmten begrifflichen Gehalts ohne Rekurs auf gegebene Anschauung bildet eine eigene Form von logischer Freiheit, die die Voraussetzung realer Freiheit darstellt: Wir müssen notwendig über die durch sie erzeugten Gehalte verfügen, um reale Freiheit zu erarbeiten; und der explizite Vollzug der logischen Freiheit muss zumindest möglich sein, wenn der „reale“ Vernunftgebrauch nicht letztlich doch auf Gegebenem oder auf Willkür beruhen und somit durch unauflösliche Formen von Unfreiheit geprägt sein soll. – Im nächsten Schritt muss nun gezeigt werden, dass Hegels WdL als Vollzug von logischer Freiheit im erläuterten Sinne interpretiert werden kann.
3.3 Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit Die rationale Freiheit wirklicher Subjekte, die sich in Auseinandersetzung mit mannigfaltigen Umständen und Inhalten auf rationale Weise konstituieren, kann laut Hegel nur verstanden werden – so haben wir im vorigen Abschnitt gesehen –, wenn die Grundbegriffe und -normen, die in diesem Konstitutionsprozess verwendet werden, selbst als Resultate eines Vollzugs logischer Freiheit herleitbar
42 Die Notwendigkeit dieser Grundlegung betonen auch Dudley (2002), 15 ff. und Wildenauer (2004), 230 ff., die auch von „logischer“ Freiheit spricht (Wildenauer (2004), 5 und passim).
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
sind – nämlich eines Prozesses der immanenten Begriffsbestimmung, der eine elementare, logische Form von „rationaler Persistenz“ darstellt. Hegels WdL, so ist jetzt zu zeigen, besteht gerade in diesem Vollzug logischer Freiheit. – Da Hegel beansprucht, die Wissenschaftstheorie, der die WdL folgt, innerhalb ihrer selbst herzuleiten43, und deshalb in Einleitungstexten nur einzelne Aspekte dieser Wissenschaftstheorie antizipiert, ist die Interpretation des systematischen Status und der Aufgabe der WdL mit besonderen textlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Es wird daher hilfreich sein, zunächst den Anfang der WdL zu betrachten und von dorther ein Verständnis dessen zu entwickeln, wie Hegels WdL als Vollzug logischer Freiheit und damit auch als Beitrag zur Theorie der Freiheit verstanden werden kann.44 Hegels WdL beginnt mit einem „Entschluss“, der schlicht und radikal zugleich ist: dem Entschluss, das Denken als solches zu betrachten oder, was hier dasselbe bedeutet, rein zu denken – zu denken überhaupt, ohne dass ein bestimmter Gehalt gedacht würde. Hegel fordert nicht ausdrücklich zu diesem Entschluss auf, weil – so muss vermutet werden – die WdL andernfalls mit einem gegenüber dem Denken externen Faktor, der Aufforderung von außen, beginnen würde. Er beschreibt den Entschluss vielmehr, indem er über die Ausgangssituation der WdL reflektiert: Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst unmittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, daß es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, sein soll. Nur der Entschluß, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden. So muß der Anfang absoluter oder, was hier gleichbedeutend ist, abstrakter Anfang sein; er darf so nichts voraussetzen, muß durch nichts vermittelt sein noch einen Grund haben; er soll vielmehr selbst Grund der ganzen Wissenschaft sein. (WdL 5/68 f.)
Indem Hegel den Anfang der philosophischen Wissenschaft in den Entschluss setzt, nur das „Denken als solches“ zu betrachten, konzipiert er sie von vornherein als ein System der Freiheit. Der Anfang mit diesem Entschluss ist nämlich
43 Vgl. WdL 5/35: „Die Logik […] kann keine dieser Formen der Reflexion oder Regeln und Gesetze des Denkens voraussetzen [sc. die in anderen Wissenschaften vorausgesetzt werden], denn sie machen einen Teil ihres Inhalts selbst aus und haben erst innerhalb ihrer begründet zu werden. Nicht nur aber die Angabe der wissenschaftlichen Methode, sondern auch der Begriff selbst der Wissenschaft überhaupt gehört zu ihrem Inhalte, und zwar macht er ihr letztes Resultat aus; was sie ist, kann sie daher nicht voraussagen, sondern ihre ganze Abhandlung bringt dies Wissen von ihr selbst erst als ihr Letztes und als ihre Vollendung hervor“; vgl. dazu Winfield (2006), 25 ff. 44 Vgl. zum Folgenden auch Knappik (2012).
3.3 Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit
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in Hegels Sicht die einzige Möglichkeit, ein voraussetzungsloses System zu entwickeln, das sich nicht von vornherein der fremden Autorität gegebener Voraussetzungen unterwirft.45 Hegel begreift diesen Gedanken als „vollbrachten“, radikal durchgeführten Skeptizismus, der alle gegebenen Voraussetzungen in Frage stellt und deshalb einen Akt der Befreiung darstellt: Die Forderung eines solchen vollbrachten Skeptizismus ist dieselbe mit der, daß der Wissenschaft das Zweifeln an allem, d. i. die gänzliche Voraussetzungslosigkeit an allem vorangehen solle. Sie ist eigentlich in dem Entschluß, rein denken zu wollen, durch die Freiheit vollbracht, welche von allem abstrahiert und ihre reine Abstraktion, die Einfachheit des Denkens, erfaßt. (Enz. § 78 A, 8/168)
Insofern das Denken die Aktivitäts- und Diskursform ist, innerhalb derer sich jede Wissenschaft und besonders die Philosophie vollziehen muss46, kann eine voraussetzungslose Wissenschaft nur beim reinen, noch nicht auf bestimmte Gegenstände bezogenen Denken ansetzen47, und zwar nicht bei einem Begriff dieses Denkens – damit wäre das Denken als gegebener Gegenstand der Theoriebildung vorausgesetzt –, sondern beim Vollzug reinen Denkens. Der erste Teil des philosophischen Systems kann daher nur im Vollzug des reinen Denkens bestehen. Dieser Anfang ist freilich – wie wir schon bemerkt hatten (3.1) – insofern nicht voraussetzungslos, als er nur möglich ist, insofern wir denken können und uns dessen auch bewusst sind: Die Logik hat also geistphilosophische Voraussetzungen. Ich habe aber auch bereits vorgeschlagen, hier zwischen inneren und äußeren Voraussetzungen zu unterscheiden: Innere Voraussetzungen betreffen den Inhalt des Denkens, wie er in der WdL entfaltet wird; äußere Voraussetzungen betreffen dieses Denken als Tätigkeit. Hegel sollte so verstanden werden, dass er für die WdL Voraussetzungslosigkeit nur im inneren Sinne beansprucht. Dagegen hat das logische Denken als solches äußere – nämlich psychologische, soziale und historische – Voraussetzungen, die erst im Laufe des Systems, nämlich in der Geist45 Die Bedeutung des Anspruchs auf Voraussetzungslosigkeit und ihren Zusammenhang mit Themen wie Kritik und Freiheit hat Houlgate (2006) hervorgehoben, der die Voraussetzungslosigkeit der WdL sehr ausführlich untersucht und gegen Kritikpunkte verteidigt (Houlgate (2006), 24–102). Vgl. auch Houlgate (2005b), 26 ff.; Maker (1994), Kap. 4; Winfield (2006), 10 ff.; Koch (2003). Zur Rolle von Freiheit am Anfang der WdL vgl. auch Arndt (2000), 136 ff. Die ausführliche Diskussion von Aspekten des Freiheitsbegriffs in Bezug auf den Anfang der WdL bei Angehrn (1977), 14–31 verfährt zu stark textimmanent, um konkretere Ergebnisse zu bringen. 46 Vgl. Enz. § 2, 8/41: „Die Philosophie kann zunächst im allgemeinen als denkende Betrachtung der Gegenstände bestimmt werden“. 47 Vgl. WdL 5/67: „Logisch ist der Anfang, indem er im Element des frei für sich seienden Denkens, im reinen Wissen gemacht werden soll“.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
philosophie, expliziert werden können; ihnen gegenüber sind aber die Inhalte der WdL indifferent.48 Allerdings ist es hilfreich für das Verständnis der Logik, zumindest einen wichtigen Aspekt von Hegels geistphilosophischer Theorie des Denkens, die ich in Kapitel 7 behandeln werde, vorwegzunehmen. Wie wird dort genauer sehen werden, entwickelt Hegel nämlich einen neuartigen Begriff des Denkens; dieser ist in erster Linie durch Kriterien der logischen Form definiert, wie wir sie schon in Bezug auf Hegels Kritik am Wahl-basierten Freiheitsverständnis kurz betrachtet hatten (2.2). Dagegen entkoppelt Hegel den Begriff des Denkens – ebenso wie die Kontrastbegriffe von Anschauung und Vorstellung – weitgehend von bestimmten mentalen oder psychologischen Vorgängen. Dies hat zur Folge, dass auch mit dem Denken in der Logik nicht bestimmte psychologische Vorgänge gemeint sind. Der Entschluss, rein denken zu wollen, ist nicht etwa ein Entschluss zu einer Art von Introspektion: Wird Hegels Logik auf diese Art „mentalistisch“ missverstanden, so wird sie sehr leicht anfechtbar. Wird hingegen Hegels innovative Theorie
48 Zu den äußeren Voraussetzungen zählen insbesondere zwei wichtige Faktoren, die ich hier aber nur am Rande nennen kann. Erstens muss das denkende Individuum einen bestimmten Weg zurückgelegt haben, um den Entschluss, rein zu denken, überhaupt als sinnvoll und notwendig zu erkennen. Eine wichtige Funktion der PhG aus Sicht des späteren Systems kann darin gesehen werden, dass sie eine Argumentation entwickelt, die den, der sich auf sie einlässt, zu dieser Erkenntnis führt. Dabei handelt es sich dann freilich nur um eine Wittgensteinsche Leiter, die das Denken schließlich wegwerfen muss, um sich auf die immanente Entwicklung der WdL einzulassen. Allerdings geht es auch um mehr als um eine bloße Propädeutik, weil das Denken argumentativ an einen bestimmten Punkt geführt werden muss, statt sich nur in der Wissenschaft zu „üben“. In dieser Argumentation erfolgt überdies auch diejenige Entfaltung des Skeptizismus (wie Forster (1989) ausführlich zeigt), dessen Vollendung – als „vollbrachter Skeptizismus“ – gerade im Entschluss zum reinen Denken besteht. – Eine ähnliche Deutung vertritt Houlgate (2005b), 50, der allerdings das argumentative Ziel der PhG nur in der Abkehr vom Alltagsverstand des natürlichen Bewusstseins sieht. Neben dem natürlichen Bewusstsein kann es aber auch zahlreiche andere Bewusstseinsgestalten geben, denen gleichfalls erst klar gemacht werden muss, weshalb die Philosophie einen Entschluss, rein zu denken, erfordert. (Die Frage, wie sich die verschiedenen und teils widersprüchlichen Auskünfte in Hegels späteren Schriften über die Rolle der PhG im System zu dieser Funktion verhalten, können wir für unsere Zwecke ausklammern; vgl. zu dieser Problematik besonders die Untersuchungen von Fulda (1965) und Rameil (1990).) Die WdL setzt die von der PhG geleistete Überwindung des „Gegensatzes des Bewusstseins“ also nicht etwa inhaltlich als Rechtfertigung des Idealismus voraus; dieser wird vielmehr innerhalb der WdL selbst begründet. – Zweitens hat die WdL geistes- und speziell philosophiegeschichtliche Voraussetzungen, die für Hegel keine kontingenten Gegebenheiten darstellen, sondern im Laufe der philosophischen Gedankenentwicklung der Realphilosophie selbst als notwendig begriffen werden. Zu diesen Voraussetzungen zählen sowohl das moderne Freiheitsbewusstsein (vgl. Houlgate (2005b), 26 ff.; Maker (2005), 2 f.) als auch die Philosophiegeschichte mit ihren einzelnen Epochen und Gestalten, die in der WdL implizit mit thematisch sind.
3.3 Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit
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kognitiver Vermögen berücksichtigt, dann kann anerkannt werden, dass etwa die Ausführung eines Gedankengangs in einem Text (wie dem der WdL) oder seine Formulierung in einem Gespräch ebenso als Formen des Denkens zählen können wie die Durchführung innerer mentaler Vorgänge und Handlungen, wie wir sie gewöhnlich zunächst im Sinn haben, wenn vom Denken die Rede ist. Wenn wir nun Hegels impliziter Aufforderung zum Entschluss, rein zu denken, Folge leisten, dann ist der Gehalt, den wir zunächst denken, völlig unbestimmt.49 Der Entschluss, rein zu denken, besteht ja gerade in der Abstraktion von jeglichem vorgegebenen bestimmten Gehalt. Für Hegel ist der einfachste Ausdruck dieser reinen Unbestimmtheit der Begriff des Seins. Er nennt daneben konkretere Ausdrücke wie „reine Unbestimmtheit und Leere“ (WdL 5/82), „Ich=Ich“, „absolute Indifferenz oder Identität“ (Enz. § 86 A, 8/183), reines, leeres Denken oder Anschauen (WdL 5/82 f.); als alternative Ausdrücke wären auch „Gehalt überhaupt“, „unbestimmtes Etwas überhaupt“ u. ä. denkbar. Für Hegel sind aber derartige Begriffe an dieser Stelle nur als Illustrationen geeignet, nicht als streng wissenschaftliche Begriffe, weil sie selbst schon einen Bestimmtheitsgrad voraussetzen, der hier noch ausgeklammert bleiben soll. Der Begriff des Seins hingegen ist hier so unbestimmt wie möglich zu verstehen, also nicht als Existenz, Wirklichkeit usw., sondern eher im Sinne der mittelalterlichen Transzendentalie des ens, die wir allem, was wir überhaupt denken, ipso facto zuschreiben. Wenn wir nun in diesem Sinne völlig reines Denken zu vollziehen und den gänzlich unbestimmten Gehalt „Sein“ zu denken versuchen, dann müssen wir – so Hegel – sofort feststellen, dass wir unserer Intention nicht gerecht werden können. Wenn wir „Sein“ denken, dann denken wir dabei de facto gerade keinen Gehalt: „Sein“ im relevanten Sinn soll ein Gehalt sein, der nur dadurch bestimmt ist, dass er keinerlei inhaltliche Bestimmung aufweist. Die treffendere Charakterisierung dessen, was wir hier denken, ist also „Nichts“, sofern dieser Begriff im Sinne der Abwesenheit von Gehalt, der Inhaltslosigkeit eines Gedankens verstanden wird. Damit ist aber zugleich das, was wir hier denken, minimal bestimmter geworden: Das Nichts oder die Abwesenheit von Gehalt sind als negative Begriffe durch Abgrenzung von den positiven Begriffen des Seins oder des Gehalts definiert. Mit diesem ersten Denkvollzug in Hegels WdL ist der erste Schritt in einer langen Reihe sukzessiver Übergänge getan, die jeweils einen Zugewinn an be49 Zu den zahlreichen exegetischen Problemen, die sich in Bezug auf das genaue logische Verständnis dieser Unbestimmtheit ergeben – von denen aber unsere unmittelbare Thematik nicht direkt betroffen ist – vgl., mit weiterer Literatur, Henrich (1971c); Schick (1994), 95 ff.; Arndt (2000).
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
grifflicher Bestimmtheit mit sich bringen. Für unsere Zwecke kommt es nicht darauf an, wie sich diese Reihe fortsetzt, sondern darauf, wie dieser exemplarische Schritt – der „Entschluss, rein zu denken“ – vollzogen wurde und welche Bedeutung er für das Thema der Freiheit hat. Um hier größere Klarheit zu gewinnen, betrachten wir vier Hinsichten, in denen Hegel selbst die WdL als Realisierung von Freiheit charakterisiert.50 (1) Die WdL stellt zuallererst deshalb eine Weise der Realisierung von Freiheit dar, weil ihre gedanklichen Vollzüge – wie der eben betrachtete Übergang vom Begriff des Seins zu dem des Nichts – ein Fall von derjenigen logischen Freiheit sind, die ich im Abschnitt 3.2.4 von realer Freiheit unterschieden habe. Die Bewegung, die durch den Übergang vom Sein zum Nichts exemplifiziert ist, ist nämlich gerade eine Bewegung, die im Ausgang von Allgemeinheit und Unbestimmtheit (Sein) größere begriffliche Bestimmtheit (Nichts) hervorbringt. Sie tut dies in rationaler, notwendiger Weise – der Übergang ist nicht willkürlich, sondern alternativlos (zumindest, wenn man Hegel folgt) – und ist weder analytischer Natur noch auf eine Art der Anschauung gestützt.51 Das Denken bringt also
50 Vgl. auch die Unterscheidung von gleichfalls vier Aspekten des Zusammenhangs von Freiheit und Logik bei Maker (2005), 4 ff. Makers Unterscheidung teilt mit der meinigen aber nur den Punkt (1) (Voraussetzungslosigkeit als Freiheit: Maker (2005), 5 f.). Seine weiteren Punkte sind die Befreiung vom Gegensatz des Bewusstseins (Maker (2005), 6 f.), die unter meinen Punkt (3) – Befreiung von den Voraussetzungen des Verstandesdenkens – fällt; ferner die Thematik der Logik als Theorie dessen, was es für einen Gegenstand überhaupt bedeutet, nur durch sich selbst bestimmt zu sein (Maker (2005), 7); und die Tatsache, dass die Logik als Metaphysik Denken und Wirklichkeit jeweils frei für sich bestehen lässt, ohne dass das Denken die Wirklichkeit bestimmen oder manipulieren würde (Maker (2005), 7 ff.). Diese beiden letzten Punkte hängen damit zusammen, dass Maker (Maker (2005), 10 f.) im selbständigen Bestehen der Relata die Bedeutung des Übergangs von der Wesens- zur Begriffslogik sieht, während dort eigentlich gerade die Ununterschiedenheit der Relata in der Wechselwirkung den Übergang und die Suisuffizienz der ganzen Konstellation ermöglicht. 51 Pace Houlgate (2006), 125. Die Stellen, auf die sich Houlgate für die These bezieht, das Denken habe eine intellektuelle Anschauung vom Sein, sollten besser als Erläuterungen der Unbestimmtheit, Leere und Unmittelbarkeit des logischen Anfangs gesehen werden. Hegel gebraucht neben dem „reinen Anschauen“ etwa auch die Selbstidentität des Ich und Schellings „absolute Indifferenz“ zum Zweck einer solchen Erläuterung. Er stellt aber auch klar, dass es sich hier nur um Illustrationen, nicht um Bestandteile der logischen Gedankenentwicklung im engeren Sinn handelt, wenn er in Bezug auf sie schreibt: „Aber indem innerhalb jeder dieser Formen bereits Vermittlung ist, so sind sie nicht wahrhaft die ersten; die Vermittlung ist ein Hinausgegangensein aus einem Ersten zu einem Zweiten und Hervorgehen aus Unterschiedenen. Wenn Ich = Ich oder auch die intellektuelle Anschauung wahrhaft als nur das Erste genommen wird, so ist es in dieser reinen Unmittelbarkeit nichts anderes als Sein, so wie das reine Sein umgekehrt als nicht mehr dieses abstrakte, sondern in sich die Vermittlung enthaltende Sein, reines Denken oder Anschauen ist“ (Enz. § 86 A, 8/183).
3.3 Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit
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hier ohne gegebene Voraussetzungen und ohne äußeren anschaulichen „Input“ seine eigenen Bestimmungen aus sich selbst heraus hervor und leitet damit die begrifflichen Bestimmungen her, die in realer Freiheit konkret am Werke sind. Dass Hegel die WdL in diesem Sinne als Form von Selbstbestimmung versteht, zeigt sich etwa, wenn er zu Beginn der enzyklopädischen Logik schreibt: „Die Idee ist das Denken nicht als formales, sondern als die sich entwickelnde Totalität seiner eigentümlichen Bestimmungen und Gesetze, die es sich selbst gibt, nicht schon hat und in sich vorfindet“ (Enz. § 19 A, 8/67).52 (Freilich haben wir auch schon gesehen, dass der Gedanke einer derartigen Selbstbestimmung bzw. einer immanenten Bestimmung begrifflichen Gehalts innerhalb des Denkens selbst höchst klärungsbedürftig ist, und dass eine solche Klärung eine wichtige Aufgabe der WdL als ganzer darstellt.) (2) Der selbstbestimmte Vollzug von Freiheit in der Logik setzt voraus, dass wir die logischen Inhalte, die sich in ihm ergeben, für sich genommen betrachten, statt sie in der Weise zu gebrauchen, wie wir es im gewöhnlichen Denken tun. Auch in dieser Hinsicht stellt die WdL insgesamt eine Befreiung dar, weil wir in ihr logische Kategorien in kontrollierter Weise untersuchen, die sonst unser Denken unkontrolliert beherrschen. Hegel erklärt in der zweiten Vorrede zur WdL: Diese Kategorien, die nur instinktmäßig als Triebe wirksam sind und zunächst vereinzelt, damit veränderlich und sich verwirrend in das Bewußtsein des Geistes gebracht [sind] und ihm so eine vereinzelte und unsichere Wirklichkeit gewähren, zu reinigen und ihn damit in ihnen zur Freiheit und Wahrheit zu erheben, dies ist also das höhere logische Geschäft. (WdL 5/27)
Die logische Kritik, die „Reinigung“ der Kategorien führt den Geist also zu Freiheit und Wahrheit. Zu Wahrheit, weil die Kategorien daraufhin geprüft werden, ob in ihnen Wahrheit gedacht werden kann; aber eben auch zu Freiheit: Ohne die WdL ist der Geist „im Dienste des ungereinigten und damit unfreien Denkens gefangen“ (WdL 5/28); er ist „in dem instinktweisen Wirken des Denkens, befangen in den Banden seiner Kategorien, in einen unendlich mannigfachen Stoff zersplittert“ (WdL 5/27). Diese Zerstreuung des Geistes macht ihn nicht nur unfrei – im Sinne eines Mangels an rationaler Persistenz –53, sie verhindert zugleich, dass ihm seine Unfreiheit bewusst wird. (3) Darüber hinaus stellt die WdL auch hinsichtlich ihrer Voraussetzungslosigkeit eine Befreiung dar. Wie wir sahen, führt der Anspruch auf Voraussetzungs52 Vgl. zu diesem Aspekt von Freiheit in der WdL Winfield (2006), 14 ff. 53 Sellars und Brandom stellen einen ähnlichen Zusammenhang her, wenn sie von der „sokratischen Methode“ des Denkens bzw. Explizitmachens und ihrer Rolle für rationale Kontrolle sprechen: vgl. Kap. 7, Fußnote 37.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
losigkeit direkt zum Entschluss, rein zu denken, und damit zur Anfangskategorie des Seins. Insbesondere ist aber auch der Schritt vom Sein zum Nichts – wie alle weiteren Übergänge der WdL – durch diese Voraussetzungslosigkeit bedingt. Wir können diesen Schritt nämlich nur vollziehen, wenn wir eine wesentliche Voraussetzung aufgeben, die für Hegel Kennzeichen der dogmatischen Metaphysik ist: nämlich die Voraussetzung, dass der Gehalt von Begriffen als ein für alle Mal gegeben vorausgesetzt werden kann. Für Hegel ist es der zentrale Fehler der dogmatischen Metaphysik, begrifflichen Gehalt als gegeben zu betrachten; Brandom erkennt zu Recht die Tragweise dieses Punktes und hebt ihn entsprechend in seiner Rezeption hervor (vgl. 3.1). Hegel schreibt in diesem Zusammenhang etwa: Den ersten Teil dieser Metaphysik in ihrer geordneten Gestalt machte die Ontologie aus – die Lehre von den abstrakten Bestimmungen des Wesens. Für diese in ihrer Mannigfaltigkeit und endlichem Gelten mangelt es an einem Prinzip; sie müssen darum empirisch und zufälligerweise aufgezählt, und ihr näherer Inhalt kann nur auf die Vorstellung, auf die Versicherung, daß man sich bei einem Worte gerade dies denke, etwa auch auf die Etymologie gegründet werden. Es kann dabei bloß um die mit dem Sprachgebrauch übereinstimmende Richtigkeit der Analyse und empirische Vollständigkeit, nicht um die Wahrheit und Notwendigkeit solcher Bestimmungen an und für sich zu tun sein. (Enz. § 33, 8/99 f.)
Die dogmatische Metaphysik ist für Hegel also in erster Linie deshalb dogmatisch, weil sie die Bedeutungen ihrer Grundbegriffe als gegeben voraussetzt, während diese doch eigentlich „erst durch das Denken die feste Bestimmung“ erhalten können (Enz. § 31, 8/97).54 In ähnlicher Weise ist auch Kant dogmatisch, wenn er – wie wir im vorigen Abschnitt sahen – die Grundbegriffe des Verstandes, die Kategorien, ihrem Gehalt nach als gegeben voraussetzt. Und Hegels Verweis auf die „mit dem Sprachgebrauch übereinstimmende Richtigkeit der Analyse und empirische Vollständigkeit“ in der oben zitierten Passage lässt sich ferner direkt auf zahlreiche Positionen in der analytischen Philosophie beziehen, die philosophische Probleme als Sprachprobleme interpretieren, aber den begrifflichen Gehalt von sprachlichen Ausdrücken in natürlichen Sprachen als gegeben voraussetzen.55 Die generelle Meinung, Begriffe hätten einen fertig gegebenen, vollständig bestimmten Gehalt, kennzeichnet Hegel – wie Brandom zu Recht hervorhebt – als eine der Auffassungen, die den Standpunkt des Verstandes definieren: „Das Denken als Verstand bleibt bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen; ein solches beschränktes Abstraktes gilt ihm 54 Hier wird abermals der enge Zusammenhang zwischen der „welche Norm?“- und der „welche Folgen?“-Frage deutlich; vgl. oben Abschnitt 2.6.4. 55 Deshalb wird Lamb (1980), 188 ff., der zahlreiche Affinitäten zwischen Wittgensteins ordinary-language-Philosophie und Hegel hervorhebt, damit Hegel nicht gerecht.
3.3 Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit
163
als für sich bestehend und seiend“ (Enz. § 80, 8/169). Wie Hegel in der oben zitierten Passage verdeutlicht, handelt es sich dabei um eine Form der Unfreiheit, der Auslieferung an vorgegebene Autoritäten, die durch philosophisches Denken doch eigentlich hinterfragt werden müssten. An die Stelle der Verstandeskonzeption von begrifflichem Gehalt setzt Hegel den Standpunkt der Vernunft, die keinen begrifflichen Gehalt als gegeben annimmt, sondern diesen selbst zu bestimmen beansprucht. Dieser Standpunkt der Vernunft stellt per se eine Befreiung gegenüber dem Verstand dar, weil wir auf ihm die zuvor als gegeben vorausgesetzten Gehalte in Frage stellen und selbst bestimmen. Der „Entschluss, rein denken zu wollen“, der am Anfang der WdL steht, ist nun ein direkter Ausdruck dieser Befreiung vom Verstandes-Standpunkt: Durch diesen Entschluss geben wir allen vorausgesetzten begrifflichen Gehalt auf. Zugleich geben wir aber auch die Voraussetzung auf, dass wir begriffliche Gehalte, und insbesondere die Gehalte der Grundbegriffe unseres Denkens, als gegeben voraussetzen können. Nur deshalb ist es möglich, dass wir das Sein zu Beginn der Logik nicht als gegebenen, stabilen Begriff mit fester Bedeutung betrachten, sondern ihn in den Begriff des Nichts übergehen lassen. Der konkrete Übergang erfordert dabei, dass wir auf eine Inkohärenz des ersten Begriffs aufmerksam werden: in diesem Fall die Inkohärenz, dass wir einerseits einen Gehalt überhaupt denken wollen, andererseits aber gerade dadurch unser Denken leer, also ganz ohne Gehalt, ist. Hegels Darstellung der WdL muss insbesondere derartige Inkohärenzen sichtbar machen; Hegel bezeichnet diese Aufgabe als den skeptischen oder negativ-dialektischen Aspekt seiner Methode.56 Durch diesen methodologischen Aspekt untergräbt die WdL den Standpunkt des Verstandes, indem sie in der Betrachtung einer einzelnen Kategorie den vermeintlich gegebenen begrifflichen Gehalt als instabil und in sich inkohärent präsentiert und damit jeweils eine weitere Kategorie einführt, die wir „in der Tat“ denken, wenn wir nur die erste Kategorie für sich genommen zu denken meinen. (4) Schließlich gibt es eine weitere wichtige Hinsicht, in der die WdL eine Befreiung darstellt; dabei geht es aber um den inneren Aufbau der WdL, der selbst einen Prozess der Befreiung bildet. Dieser Punkt wird sichtbar, wenn wir Hegels eigenen Kommentar zum ersten Übergang vom Sein zum Nichts heranziehen. Hegel schreibt von diesem Übergang (sowie dem folgenden hin zum Werden):
56 Vgl. Enz. § 81 A, 8/172 f.: „Die Dialektik dagegen ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation darstellt. Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt“.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
Es ist gerade nur um das Bewußtsein über diese Anfänge [sc. Sein und Nichts] zu tun, nämlich daß sie nichts als diese leere Abstraktionen [sind] und jede von beiden so leer ist als die andere; der Trieb, in dem Sein oder in beiden eine feste Bedeutung zu finden, ist diese Notwendigkeit selbst, welche das Sein und Nichts weiterführt und ihnen eine wahre, d. i. konkrete Bedeutung gibt. Dieses Fortgehen ist die logische Ausführung und der im Folgenden sich darstellende Verlauf. Das Nachdenken, welches tiefere Bestimmungen für sie findet, ist das logische Denken, durch welches sich solche, nur nicht auf eine zufällige, sondern notwendige Weise, hervorbringen. (Enz. § 87 A, 8/186 f.)
Hegel kennzeichnet hier die gesamte gedankliche Entwicklung der WdL („die logische Ausführung und der im Folgenden sich darstellende Verlauf“) als sukzessive begriffliche Bestimmung der anfänglichen Unbestimmtheit. Dieser Prozess der Bestimmung ist nicht etwa willkürlich, sondern das Denken folgt hier seiner eigenen Notwendigkeit; dies kann Hegel auch so ausdrücken, dass es die weiteren Kategorien und Übergänge „findet“. Den Prozess notwendiger Bestimmung charakterisiert Hegel hier auch als „Trieb, in dem Sein oder in beiden eine feste Bedeutung zu finden“. Durch diese Formulierung kennzeichnet er aber gleichzeitig eine Einschränkung von Freiheit. Wenn das Denken von einem Trieb geleitet ist, dann beschränkt dies seine Selbstbestimmung: Ein solcher Trieb führt Übergänge herbei, die zwar nicht willkürlich sind, die wir aber auch nicht wirklich kontrollieren und verstehen. Tatsächlich kennzeichnet Hegel die Art, wie wir uns im ersten Teil der WdL, der Seinslogik, von einer zur nächsten Kategorie bewegen, als ein (von Hegel terminologisch so genanntes) „Übergehen in Anderes“ (z. B. Enz. § 84, 8/181; WdL 6/217; 6/307): In ihm verhält sich das Denken passiv und folgt einer Notwendigkeit, die es nicht versteht.57, 58
57 Vgl. z. B. WdL 5/130 f.: „In der Sphäre des Seins geht das Dasein aus dem Werden nur hervor, oder mit dem Etwas ist ein Anderes, mit dem Endlichen das Unendliche gesetzt, aber das Endliche bringt das Unendliche nicht hervor, setzt dasselbe nicht. In der Sphäre des Seins ist das Sichbestimmen des Begriffs selbst nur erst an sich, – so heißt es ein Übergehen; auch die reflektierenden Bestimmungen des Seins, wie Etwas und Anderes oder das Endliche und Unendliche, ob sie gleich wesentlich aufeinander hinweisen oder als Sein-für-Anderes sind, gelten als qualitative für sich bestehend; das Andere ist, das Endliche gilt ebenso als unmittelbar seiend und für sich feststehend wie das Unendliche; ihr Sinn erscheint als vollendet auch ohne ihr Anderes. Das Positive und Negative hingegen, Ursache und Wirkung, sosehr sie auch als isoliert seiend genommen werden, haben zugleich keinen Sinn ohne einander; es ist an ihnen selbst ihr Scheinen ineinander, das Scheinen seines Anderen in jedem, vorhanden“. 58 In einem anderen Sinn spricht Houlgate (2006), 60 ff. von Aktivität und Passivität in Bezug auf das Denken in der WdL: Ihm zufolge sind wir dabei passiv, insofern wir nur die Sache selbst betrachten, und aktiv, weil wir diese Passivität durch gezielte Selbstkontrolle hervorbringen müssen.
3.3 Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit
165
Das Denken ist also auch innerhalb der WdL anfangs noch instinktgeleitet und bedarf einer weiteren Befreiung innerhalb der WdL. Diese Befreiung innerhalb der WdL muss ein Verständnis derjenigen Notwendigkeit zugänglich machen, der das Denken zuvor blind gefolgt war. Damit muss aber die logische Natur der Selbstbestimmung in der WdL als solcher, also die logische Struktur des Prozesses, in dem bestimmter begrifflicher Gehalt entwickelt wird, erfasst werden. Hegels Vorgehen kann so verstanden werden, dass diese eine der Aufgaben des dritten Teils der Logik, der Begriffslogik, ist. Hegel kennzeichnet die Begriffslogik explizit, wie wir schon kurz gesehen haben (vgl. 1.1, 3.2.2), als Reich der Freiheit (WdL 6/240) und beschreibt den Übergang zu ihr als Befreiung, die sich dadurch vollzieht, dass zuvor verborgene Beziehungen manifest werden und sich somit Transparenz einstellt: „Die Notwendigkeit wird nicht dadurch zur Freiheit, daß sie verschwindet, sondern daß nur ihre noch innere Identität manifestiert wird […]“ (WdL 6/239).59 Die Begriffslogik muss demnach eine Erklärung für genau diejenige Notwendigkeit entwickeln, die den ganzen Prozess der WdL trägt.60 Dass die WdL in diesem Sinne einen Prozess der Befreiung bildet, hängt nun direkt mit dem Gegensatz von Verstandes- und Vernunft-Auffassung begrifflichen Gehalts zusammen. Eine Dimension des genannten Befreiungsprozesses besteht nämlich darin, dass sich das Denken von Elementen der Verstandes-Auffassung, die das logische Denken zunächst noch prägen, freimacht. Die Logik setzt also nicht einfach eine bestimmte Theorie begrifflichen Gehalts voraus, sondern entwickelt diese erst im Zuge der Kritik an Elementen der Verstandes-Auffassung. Diese Kritik an der Verstandes-Auffassung begrifflichen Gehalts und damit insgesamt an der dogmatischen Metaphysik hat ihren Ort, wie Theunissen überzeugend argumentiert hat, in erster Linie in der „objektiven Logik“, also den ersten beiden Teilen der WdL, Seins- und Wesenslogik (Theunissen (1978), 37 ff.; vgl. Fulda/Theunissen/Horstmann (1980), 36 ff.). Der Verstandes-Standpunkt und die mit ihm verbundene dogmatische Metaphysik sind demnach nicht zufällige philosophische Fehlentwicklungen, sondern
59 Die Bedeutung dieser Passage für Hegels Freiheitstheorie betont u. a. Dudley (2002), 17 ff. 60 Damit kennzeichne ich eine Dimension dieses Übergangs, neben der es auch andere wichtige Dimensionen gibt – wie die des Übergangs von der „Substanz“ zum „Subjekt“ hinsichtlich der Auffassung des Ganzen der Wirklichkeit (vgl. Düsing (1976), 228 ff.; Henrich (1978); Bubner (1980), 77 ff.). Dieser Übergang stellt Hegels systematischen Beitrag zur Spinoza-Debatte dar und soll insbesondere zeigen, dass Freiheit gegen den Spinozismus durch strikte Argumentation statt durch eine individuelle Entscheidung verteidigt werden kann. (Vgl. Düsing (1976), 230 f.; Wildenauer (2004), 8 ff.) – Für detailliertere Interpretationen des Übergangs von der Kategorie der Wechselwirkung zum Begriff vgl. u. a. Bubner (1980), 77 ff.; Schick (1994), 161 ff.; Iber (2003); Houlgate (2005a). Diese Interpretationen setzen den fraglichen Übergang allerdings nicht in Bezug zur allgemeinen Freiheitsthematik und ihrer logischen Grundlegung.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
notwendige Formen des „Scheins“ und der Unfreiheit des Denkens. Als notwendig können sie deshalb verstanden werden, weil das Denken am Anfang der WdL gerade wegen seines voraussetzungslosen Charakters nicht schon auf ein System von Begriffen zurückgreifen kann, in deren Zusammenhang es einen jeweils thematischen Begriff verstehen kann. Vielmehr verfügt das Denken innerhalb der WdL explizit zunächst nur über einzelne Begriffe, die daher – entsprechend dem Verstandes-Standpunkt – als semantisch isoliert und atomistisch erscheinen61: „[I]hr Sinn erscheint als vollendet auch ohne ihr Anderes“ (WdL 5/131), wie Hegel in Bezug auf die Kategorien „Etwas“ und „ein Anderes“ erläutert. Am klarsten wird diese Verhältnislosigkeit vom Begriff des Seins verkörpert: Er steht für reine Unmittelbarkeit, soll also eine Bedeutung haben, ohne in irgendeiner logischen Verbindung zu anderen Begriffen zu stehen. Es ist aber nicht möglich, das Sein zu denken, ohne dass, wie Hegel in einer bereits oben zitierten Passage schreibt, ein „Trieb“ auftritt, „in dem Sein oder in beiden [sc. Sein und Nichts] eine feste Bedeutung zu finden“ (Enz. § 87, 8/186 f.); dieser Trieb verdankt sich, wie wir schon sahen, der logischen Notwendigkeit, die die immanente Entwicklung des Denkens bestimmt. Wenn somit die Seins- und Wesenslogik als Ausprägungen des VerstandesStandpunktes innerhalb der Logik begriffen werden, kann auch genauer erklärt werden, worin die Unfreiheit besteht, die die Notwendigkeit der logischen Gedankenentwicklung anfangs als „Trieb“ erscheinen lässt. Wird eine Kategorie als semantisch „selbstgenügsam“ interpretiert, obwohl ihr Sinn nur in Bezug auf andere Begriffe verstanden werden kann, dann entsteht eine Divergenz zwischen der intendierten Bedeutung der Kategorie einerseits und der eigentlichen Bedeutung dessen, was tatsächlich gedacht wird, andererseits.62 Diese Divergenz hat aber zur Folge, dass sich das Denken, wenn es seinslogische Begriffe anwendet,
61 Eine Korrespondenz zwischen den Teilen der Logik und verschiedenen Auffassungen über die Natur begrifflichen Gehalts beschreibt auch Longuenesse (2007), 5: „[A]t every stage in the Science of Logic, the transition from one concept to the next is inseparable from a particular stand taken with respect to the status of these concepts (the way they relate to other concepts, and the way they present a content)“. 62 Die dogmatische Metaphysik selbst ist für Hegel nicht in der Lage, diese Art von Widerspruch zu thematisieren, weil sie Begriffe nur als semantisch „selbstgenügsam“ denken kann. So merkt Hegel in der WdL an, es sei bei der Bestimmung eines Begriffes „eine Hauptsache, dies immer wohl zu unterscheiden, was noch an sich und was gesetzt ist, wie die Bestimmungen als im Begriffe und wie sie als gesetzt oder als seiend-für-Anderes sind. Es ist dies ein Unterschied, der nur der dialektischen Entwicklung angehört, den das metaphysische Philosophieren, worunter auch das kritische gehört, nicht kennt; die Definitionen der Metaphysik wie ihre Voraussetzungen, Unterscheidungen und Folgerungen wollen nur Seiendes und zwar Ansichseiendes behaupten und hervorbringen“ (WdL 5/131).
3.3 Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit
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in ihnen verliert63 und sich von sich selbst entfremdet. Wenn z. B. der Begriff des „Etwas“ angewandt wird, wird das Denken zwangsläufig auf den Begriff des „Anderen“ geführt. Dieser Übergang kann vom denkenden Subjekt nicht begriffen werden, weil nach dem seinslogischen Verständnis die Kategorien voneinander isoliert sind. Das Subjekt macht also hier zwangsläufig einen Übergang von einer rationalen Position zu einer anderen, ohne dass dieser Übergang seinen eigenen rationalen Regeln entspricht. Die dem Denken verfügbaren Kriterien dafür, ob Übergänge von einer rationalen Position zu einer anderen (also Inferenzen im weitesten Sinne) korrekt sind, werden hier systematisch unterlaufen: Das Denken, das derartige Begriffe gebraucht, macht stets irrationale Sprünge. Solche irrationalen Übergänge können anschaulich beschrieben werden als ein Mangel an Kontrolle, ein Unbeherrschtsein im Denken.64 Im Kontext der Seins- und auch der Wesenslogik sind wir also nicht Herr unseres Begriffsgebrauchs.65 Die somit resultierende Situation kann als Unfreiheit beschrieben werden, als Situation, in der wir auf rationale Positionen festgelegt werden, die eigentlich nicht die unseren sind. Entsprechend kann hier auch sinnvoll von Intransparenz die Rede sein, ohne dass damit eine psychologische Kennzeichnung des logischen Denkens verbunden wäre: Die Begriffe von Transparenz und Intransparenz können – ebenso wie Hegels eigene Begriffe von Manifestheit und Innerlichkeit (Verborgenheit) in der oben zitierten Passage (WdL 6/239) – gemäß der skizzierten Überlegung auf rein logisch-begriffliche Weise verstanden werden.
63 Vgl. die folgende Abgrenzung der wesenslogischen Kategorie des Unterschieds von der Seinslogik: „Der Unterschied, so als Einheit seiner und der Identität, ist an sich selbst bestimmter Unterschied. Er ist nicht Übergehen in ein Anderes, nicht Beziehung auf Anderes außer ihm; er hat sein Anderes, die Identität, an ihm selbst, so wie diese, indem sie in die Bestimmung des Unterschieds getreten, nicht in ihn als ihr Anderes sich verloren hat, sondern in ihm sich erhält, seine Reflexion-in-sich und sein Moment ist“ (WdL 6/47). 64 Wohlgemerkt handelt es sich hier nicht um das Fehlen einer kausalen Wirksamkeit. Vielmehr geht es um eine massive Divergenz in normativen Verhältnissen, nämlich, in Brandoms Vokabular, zwischen dem normativen Status, den jemand tatsächlich hat (oder durch ein begriffliches Manöver wie den Gebrauch eines bestimmten Begriffes erwirbt), und seiner Repräsentation dieses Status, seiner normativen Einstellung zu sich selbst. Freilich ist es wesentlich, dass diese beiden Seiten logisch unterschieden sind und eine Divergenz daher immer möglich sein muss. Aber zugleich müssen wir, um rational zu sein, stets nach einer Übereinstimmung beider Seiten streben. Wenn nun eine derartige Divergenz nicht etwa zufällig, durch verzeihliches Unwissen oder durch mangelnde Achtsamkeit auftritt, sondern systematisch, stellt sich der beschriebene Kontrollverlust ein. 65 Dies gilt sowohl für das explizite Denken dieser Begriffe innerhalb der Logik als auch für den Gebrauch seins- und wesenslogischer Begriffe als Kategorien im außerlogischen Denken.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
Die dogmatische Metaphysik begeht demnach den Fehler, bei der notwendigen Logik des Scheins eines zunächst über sich noch nicht aufgeklärten logischen Denkens stehenzubleiben und deren Auffassung des Begrifflichen zu übernehmen, der zugleich eine Auffassung des Wirklichen als eines Aggregates von diskreten Dingen entspricht. Der Standpunkt der dogmatischen Metaphysik und ebenso der Standpunkt des vermeintlichen common sense sind aber für Hegel nicht begrifflich autonom; sie setzen die impliziten Leistungen eines Denkens voraus, das eigentlich spekulativ denkt und begriffslogische Kategorien gebraucht. So schreibt Hegel über den Übergang vom Sein zum Nichts: Wenn das Resultat, daß Sein und Nichts dasselbe ist, für sich auffällt oder paradox scheint, so ist hierauf nicht weiter zu achten; es wäre sich vielmehr über jene Verwunderung zu verwundern, die sich so neu in der Philosophie zeigt und vergißt, daß in dieser Wissenschaft ganz andere Bestimmungen vorkommen als im gewöhnlichen Bewußtsein und im sogenannten gemeinen Menschenverstande, der nicht gerade der gesunde, sondern auch der zu Abstraktionen und zu dem Glauben oder vielmehr Aberglauben an Abstraktionen heraufgebildete Verstand ist. Es wäre nicht schwer, diese Einheit von Sein und Nichts in jedem Beispiele, in jedem Wirklichen oder Gedanken aufzuzeigen. (WdL 5/85 f.)
Hegel unterscheidet hier zwischen dem gemeinen und dem gesunden Menschenverstand. Der gesunde Menschenverstand, so impliziert Hegel, denkt spekulativ66; für ihn ist der Zusammenhang der Kategorien „Sein“ und „Nichts“ kein blinder Übergang, sondern er operiert selbst implizit in seinen Gedanken mit ihm. Im Verlauf der WdL wird also nicht nur eine wissenschaftliche Theorie entwickelt, sondern es wird auch das Denken über seine eigene, immer schon spekulative Natur – den „gesunden“ im Gegensatz zum „gemeinen“ Menschenverstand – aufgeklärt. Dieses Bewusstsein kann aber nicht bereits am Anfang der WdL vorherrschen, sondern hier ist es – entsprechend der Voraussetzungslosigkeit der WdL – vielmehr essentiell, dass das Denken über sich selbst noch unaufgeklärt ist. Die objektive Logik ist somit in erster Linie Auflösung des notwendigen logischen Scheins – im Sinne von Kategorien, die nur scheinbar für das Denken und die Wirklichkeit grundlegend sind.67 Während die Seinslogik den skizzierten
66 Vgl. GPhR § 7 handschriftlicher Zusatz, 7/56: „β) was ist spekulativ? – Das Konkrete, Anschauung, gesunder Menschenverstand – Verbildung Reflexion – Philosophie zum gesunden Menschenverstand zurück“; VL 11/8: „Die natürliche Logik folgt nicht immer den Regeln, die man in der Theorie für ihre Logik aufstellt; diese treten die natürliche Logik oft mit Füßen“. 67 Deshalb ist die objektive Logik auch insofern eine Logik des Scheins, als durch die in ihr auftretenden Begriffe immer nur Erscheinungsweisen des Wirklichen, nie dessen eigentliche Natur erfasst werden können. Für Hegel sind die Isolation der Kategorien untereinander und ihre Isolation gegenüber der Wirklichkeit als bloß subjektive Gedankenformen, die nichts über die
3.3 Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit
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Atomismus hinsichtlich begrifflichen Gehalts am deutlichsten ausprägt, krankt auch die Wesenslogik an ähnlichen Defiziten. Im Gegensatz zur Seinslogik ist es zwar in der Bedeutung der wesenslogischen Kategorien enthalten, dass das von ihnen Bezeichnete auf anderes bezogen ist: „Das Positive und Negative hingegen, Ursache und Wirkung, sosehr sie auch als isoliert seiend genommen werden, haben zugleich keinen Sinn ohne einander; es ist an ihnen selbst ihr Scheinen ineinander, das Scheinen seines Anderen in jedem, vorhanden“ (WdL 5/131). Dennoch sind die Instanzen der jeweiligen Bestimmungen, z. B. Ursache und Wirkung, als selbständig existierende Entitäten gedacht, so dass ihr Zusammenhang nur eingeschränkte Bedeutung hat: Diese [sc. die Reflexionsbestimmung] als ein Relatives bezieht sich nicht nur auf sich, sondern ist ein Verhalten. Sie gibt sich in ihrem Anderen kund, aber scheint nur erst an ihm, und das Scheinen eines jeden an dem Anderen oder ihr gegenseitiges Bestimmen hat bei ihrer Selbständigkeit die Form eines äußerlichen Tuns. (WdL 6/276)
Die Wesenslogik, die „relative Welt der Metaphysik“ (WdL 6/441), steht so für eine relationale Auffassung begrifflicher Bestimmung, nach der die begriffliche Bestimmung von Einzelnem als Teilhabe an Relationen zu anderem Einzelnem verstanden wird. Diese Relation bleibt dennoch dem Einzelnen äußerlich; dieses ist als selbständig bestehend gegenüber den anderen Relata aufgefasst. So bleibt die Identität des aufeinander Bezogenen, die gegenseitige Abhängigkeit, verborgen oder „innerlich“; die gegenseitige Abhängigkeit der Relata ist eine Abhängigkeit von etwas Fremdem, Anderem. Daher ist auch der Standpunkt der Wesenslogik, was die Natur begrifflicher Bestimmung angeht, ein Standpunkt der Unfreiheit und Äußerlichkeit. Erst die Begriffslogik verkörpert schließlich ein Verständnis von begrifflicher Bestimmung, in dem weder die Kategorien selbst noch ihre Instanzen als voneinander isoliert gedacht werden, in dem also ihr Zusammenhang, nach Hegel ihre „Identität“, zu Tage tritt.68 Die Begriffslogik vertritt nämlich eine
Struktur der objektiven Welt aussagen, zwei Seiten einer Medaille (z. B. Enz. § 25, 8/91). Wenn nämlich das Denken auf dem Standpunkt der objektiven Logik in seinem rationalen Prozess blinde, unbegriffene Übergänge und Sprünge macht, kann es keine objektive Geltung beanspruchen. – Vgl. hierzu auch den Abschnitt 4.4.4 über das „Urteil der Reflexion“ und die „Äußerlichkeit“, die Hegel an ihm kritisiert. 68 Vgl. WdL 6/239: „Die Notwendigkeit wird nicht dadurch zur Freiheit, daß sie verschwindet, sondern daß nur ihre noch innere Identität manifestiert wird […]“; Enz. § 161, 8/308: „Das Fortgehen des Begriffs ist nicht mehr Übergehen noch Scheinen in Anderes, sondern Entwicklung, indem das Unterschiedene unmittelbar zugleich als das Identische miteinander und mit dem Ganzen gesetzt, die Bestimmtheit als ein freies Sein des ganzen Begriffes ist“; WdL 6/276 f.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
holistische Auffassung begrifflicher Bestimmtheit, in der einzelne Begriffe sowie deren Instanzen als einander wechselseitig bestimmende Teile eines Ganzen verstanden werden.69 Nur wenn es derartige Bestimmungen gebraucht, kann das Denken seinen eigenen Regeln folgen, ohne zwangsläufig irrationale Sprünge zu machen.70 Dies gilt zunächst für das logische Denken, aber in der Folge sind es dieselben begriffslogischen Formen, die auch das freie Denken, Erkennen und Begreifen im Rahmen der realen Freiheit ermöglichen. Im Kontext der WdL stellt Hegel dieses Grundlegungsverhältnis dar, wenn er etwa in einer Logik-Vorlesung den Übergang von der „Notwendigkeit“ am Ende der Wesenslogik zur Freiheit der Begriffslogik folgendermaßen an Hand konkreter epistemischer Phänomene erläutert (Teile der Passage habe ich schon Abschnitt 1.6 zitiert): Die Natur hat [die] Notwendigkeit in ihr, wir begreifen sie und geben uns daher die Freiheit, sie zu begreifen; in der Natur sind die Dinge andere Wirklichkeiten, sie zerstören sich, wenn sie zusammentreffen. Wenn wir aber die Natur begreifen, so erkennen wir, daß jedes in seinem Entgegengesetzten seine Bestimmung erreicht, nur mit sich selbst zusammengeht. Der Schein der Natur ist das Auseinander. In der Existenz ist [das] Feld der Notwendigkeit, aber indem wir die Natur begreifen, so sind wir darin frei. (VL 10/173 f.)
Die WdL stellt also eine sukzessive Befreiung dar, die die logische Freiheit des sich selbst bestimmenden Denkens schrittweise realisiert und auf eine völlige Selbsttransparenz dieses Denkens hinarbeitet. Wenn aber einmal eine solche Transparenz vorliegt und sich das Denken selbst soweit bestimmt hat, dass es über ein explizites Verständnis seiner eigenen Notwendigkeit verfügt, dann sind auch die für reale Freiheit nötigen kategorialen Bestimmungen gefunden. Denn diese Bestimmungen müssen erklären, wie wir einen rationalen Übergang von einem unbestimmten Allgemeinen hin zu einem konkreten Einzelnen vollziehen können. Die fragliche Erklärung der Notwendigkeit des Denkens, die in der Begriffslogik zu suchen ist, muss aber selbst genau einen solchen Übergang leisten. Wie wir gesehen haben, fängt nämlich die WdL bei reiner Unbestimmtheit an; logische Freiheit besteht in der Fähigkeit des reinen Denkens, von dieser Unbestimmtheit aus in (zunehmend) transparenter, rationaler Weise zu konkreterem Gehalt überzugehen. Wenn sich also das Denken in diesem Vollzug logischer Freiheit in der Begriffslogik selbst transparent geworden ist (und sich dadurch vollständig von seiner anfänglichen Instinkthaftigkeit befreit hat), dann 69 Die metaphysischen Konsequenzen aus diesem Holismus werden wir in Kapitel 5 betrachten. 70 Vgl. Iber (2003), 64. Iber sieht aber nur die Relevanz der neu gewonnenen logischen Form des Begriffs für die Rechtfertigung unseres Denkens, während er ihre objektive Dimension als Erklärungsform des Wirklichen vernachlässigt; vgl. 4.4.4, 4.6.
3.4 Das Subjekt der Wissenschaft der Logik
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muss es auch explizit über eine Lösung für das verallgemeinerte FormalismusProblem (3.2.1) verfügen.
3.4 Das Subjekt der Wissenschaft der Logik Ich habe im vorigen Abschnitt genauer erklärt, inwiefern die WdL als Vollzug logischer Freiheit verstanden werden kann; dabei hat sich auch gezeigt, dass die Begriffslogik gegenüber der Seins- und der Wesenslogik eine weitere Befreiung darstellt. Nun fällt diese weitere Befreiung damit zusammen, dass im Übergang zur Begriffslogik auch der Begriff der Freiheit selbst thematisch wird. Daneben thematisiert die Begriffslogik auch weitere Begriffe, die sachlich mit Subjektivität zusammenhängen. Da die WdL beansprucht, ein System allgemeingültiger logischer und metaphysischer Kategorien zu entwickeln (vgl. 3.5), ist unklar, welche Rolle in ihr derartige Kategorien spielen können, die offenbar nur auf einen Teilbereich des Wirklichen Bezug nehmen. Um die Rolle von Freiheit im Kontext der WdL zu verstehen, müssen wir also auch fragen, in welchem Sinne freie Subjektivität in der WdL thematisch sein kann. Nach einer verbreiteten Deutung von Hegels WdL ist deren Entfaltung nicht an eine eigene Form von Subjektivität gebunden – es gibt kein Subjekt, das das logische Denken vollzieht. Die WdL stellt vielmehr die Selbstentfaltung logischer Kategorien dar, also eine Tätigkeit, die von den gedachten Begriffen selbst ausgeht; Hegel gebraucht Begriffe wie „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“, um diese Entfaltung zu kennzeichnen. So schreibt schon Rosenkranz: Wenn Hegel den Ausdruck der Subjectivität für die Charakteristik des Begriffs besonders in Anspruch genommen hat, so kann damit nur die immanente Selbstbestimmung des Begriffs bezeichnet werden. Man ersieht dies noch mehr daraus, daß er sogar so weit gegangen ist, den Begriff den freien zu nennen. Da an eine ethische Bedeutung dieses Wortes hier schlechterdings noch nicht gedacht werden kann, so ist es nur eine andere Wendung für Selbstbestimmung. (Rosenkranz (1858 f.), Bd. 2, 24)
Die prominenteste Interpretation der Hegelschen Logik im Sinne dieses Vorschlags ist die Deutung Dieter Henrichs.71 Henrich liest die WdL insgesamt als
71 Dabei handelt es sich nur um einen Aspekt von Henrichs Logik-Deutung, neben dem andere Aspekte betont werden können. Da die Logik nach seiner Auffassung eine Theorie der Selbstbeziehung entwickelt, löst sie auch Probleme, die im Zusammenhang mit der Struktur konkreter Subjekte bestehen; insofern gibt es nach Henrichs Deutung auch einen Sinn, in dem in der Logik wörtlich von Subjektivität die Rede sein kann. Diesem Aspekt nach ist Henrichs Deutung dann der unten aufgeführten Option einer subjektivitätstheoretischen Lesart der Logik zuzurechnen,
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
Einlösung der Forderung Hegels, dass die absolute spinozistische Substanz zugleich als Subjekt zu denken sei. Damit rückt er den Übergang von der Wesenszur Begriffslogik in den Mittelpunkt der Logikdeutung. Den Gegenstand einer Logik, die die Substanz zugleich als Subjekt denkt, beschreibt er nun als „logische […] Form, die als solche auch die Eigenschaften von Subjektivität zeigt […]“ (Henrich (1978), 210). Das Subjekt, das nach Henrichs Deutung in der WdL auftritt, ist die Totalität der Kategorien; von dieser Totalität können in mehrfacher Hinsicht „Eigenschaften von Subjektivität“ ausgesagt werden: Zum einen wird sie durch eine sich selbst unterscheidende Tätigkeit erzeugt; diese ist für Henrich ein Merkmal der Selbsterkenntnis eines Subjekts (Henrich (1978), 207 f.). Zum anderen entstehen die in der Totalität vereinigten Kategorien in „einem einzigen (dem ‚selben‘) Bestimmungsprozeß“ (Henrich (1978), 216); insofern kann für Henrich hier von einem sich durchhaltenden Subjekt die Rede sein (das Subjekt, das zugleich Substanz ist). Die beiden genannten Aspekte lassen sich im Begriff von „Selbstbestimmung“ zusammenfassen (Henrich (1978), 216) – einem Begriff, den Hegel häufig gebraucht, um die Entwicklung der begriffslogischen Kategorien aus dem Begriff zu charakterisieren. Henrichs Deutung der Rolle von Freiheit und Subjektivität in der WdL kann als metaphorisch bezeichnet werden, weil die „Eigenschaften von Subjektivität“, die Henrich hinsichtlich der Bestimmungen der WdL nennt, nicht zusammengenommen hinreichend dafür sind, dass wir etwas tatsächlich als Subjekt bezeichnen können. Könnte ein Prozess der Bestimmung von Kategorien und Begriffen selbst schon ein Subjekt bilden, bestünde keine Möglichkeit, zwischen dem Subjekt mitsamt seiner Tätigkeit und den Normen, die es in seiner begrifflichen Aktivität befolgt, zu unterscheiden. In diesem Fall wäre es aber auch prinzipiell nicht mehr möglich, zwischen richtiger und falscher Normenanwendung zu unterscheiden. Der Kollaps von Subjekt (bzw. subjektiver Tätigkeit) und Norm würde einer psychologistischen Position entsprechen; diese lehnt Hegel aber ausdrücklich ab.72 – Wenn aber in Henrichs Interpretation die Rede von Subjektivität in Bezug auf die WdL nicht wörtlich zu verstehen ist, droht sie zu einer unkontrollierten Metaphorik zu werden, wie sie Hegel der religiösen Vorstellung73 zuschreibt und an der antiken wie der modernen Naturphilosophie kriti-
nach der es in der Begriffslogik um Subjektivität in einem wörtlichen Sinne geht (vgl. Fußnote 79 in diesem Kapitel). 72 Hegel setzt sich mit dem Psychologismus in Gestalt der Friesschen Logik auseinander, in der zugleich die historischen Wurzeln des späteren Psychologismus in der Tradition Mills liegen. Vgl. WdL 5/47 n., wo Hegel Fries’ Logik als Rückkehr „zu den anthropologischen Grundlagen“ kritisiert; s. dazu Kirkland (1993). 73 Vgl. z. B. VPhG 12/258 über die symbolische Religion der Ägypter.
3.4 Das Subjekt der Wissenschaft der Logik
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siert.74 Eine solche Metaphorik erfüllt jedenfalls nicht die Ansprüche, die Hegel selbst für seine wissenschaftliche Terminologie aufstellt.75 Angesichts dieser Bedenken gegenüber einer metaphorischen Lesart im Sinne Henrichs ist eine wörtliche Interpretation von Begriffen wie Freiheit, Subjektivität usw. im Kontext der Logik zu bevorzugen. Unsere bisherigen Beobachtungen legen es nahe, den genannten Begriffen eine solche Interpretation zu geben, indem wir sie auf die logische Freiheit des Denkens beziehen, deren Vollzug die WdL ist. Die „Bewegung“ der Begriffe, die dabei nachvollzogen wird, stellt nicht eine freie, subjektive Tätigkeit unabhängig vom Denken dar; sie ist wesentlich eine Dynamik im Denken. Dies stellt auch Hegel selbst an vielen Stellen klar, wenn er als Thema der WdL die reine Idee – das vollendete Kategoriensystem – im Medium des Denkens angibt (z. B. Enz. § 19, 8/67). Damit grenzt Hegel die Idee, wie sie in der WdL thematisch ist, von der realisierten Idee ab, die als Natur und Geist Gegenstand der Realphilosophie ist. Die Idee, wie sie in der WdL betrachtet wird, hat für sich genommen keine Realität außerhalb des Denkens; sie ist ein Begriff, der unabhängig von seiner Realität betrachtet wird. Dies zeigt sich u. a. daran, dass Hegel von der Idee innerhalb der WdL – im Gegensatz zu ihrer Realisierung als Thema der Realphilosophie – schreibt, sie sei „noch logisch, sie ist in den reinen Gedanken eingeschlossen, die Wissenschaft nur des göttlichen Begriffs“ (WdL 6/572). Hegel bezieht sich mit der Rede vom „göttlichen Begriff“ auf den ontologischen Gottesbeweis, nach dem die Existenz Gottes aus seinem Begriff folgt; das Verhältnis von WdL und Realphilosophie stellt er hier als Ausprägung desjenigen Übergangs dar, den der ontologische Beweis vollzieht (vgl. hierzu Guzzoni (1982)). Zunächst wird demnach – in der WdL – nur der reine Begriff Gottes ohne Existenzannahme behandelt. Es zeigt sich aber, dass Gottes Existenz aus diesem Begriff notwendig folgt, so dass anschließend – in der Realphilosophie – auch diese Existenz thematisiert werden kann. Dass die Existenz aus dem Begriff folgt, kann, wie Hegel es tut, auch so beschrieben werden, dass sich der Begriff Gottes selbst zu seiner Realisierung hin bewegt (WdL 6/572 f.)
74 Vgl. VGPh 19/316 zu Epikur; VGPh 20/445 über moderne Naturphilosophie. 75 Die wohl aussichtsreichste Möglichkeit der Verteidigung einer Lesart wie der Henrichs deutet Winfield an, wenn er schreibt: „[S]ystematic logic [sc. Winfields Begriff für Hegels Projekt in der WdL] cannot claim to be a logic of thinking or a logic of reality. Systematic logic presents selfdetermination per se rather than the self-determination of a given content, be it of reality or, more specifically, of mind. Consequently, the categories of systematic logic are not categories of reality anymore than of thought. They are instead categories of determinacy without further qualification“ (Winfield (2006), 17; vgl. auch Maker (2005), 8). Die WdL würde demnach das Wesen von Selbstbestimmung, Subjektivität usw. präsentieren, das allen realen Phänomenen dieser Art zugrunde liegt. Allerdings ist alles andere als klar, wie derartige Wesenheiten genauer verstanden werden könnten.
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Damit ist aber nicht gesagt, dass dem bloßen Begriff Gottes für sich genommen eine Form von Realität oder realer Tätigkeit zukommt. Solange nur der Begriff Gottes betrachtet wird, ist eigentlich tätig nur das Denken, das die Folgerungsbeziehung zwischen Gottes Begriff und seiner Existenz nachvollzieht. Die WdL hat also rein logische oder begriffliche Inhalte zum Thema, die unabhängig von ihrer faktischen Realisierung betrachtet werden; erst am Ende der WdL wird deutlich, dass diese Inhalte die notwendige Existenz von Gegenständen, die sie instantiieren, implizieren.76 Solche Inhalte können nicht selbst eine reale Tätigkeit sein oder ausüben, die als frei und selbstbestimmt bezeichnet werden könnte; real – und frei – ist hier eigentlich das Denken. Dennoch ist für Hegel die Rede davon, dass die logischen Inhalte sich bewegen, tätig sind, sich bestimmen usw., aus gutem Grund unproblematisch: Da sich das logische Denken ganz auf seine Sache einlässt, liegen diejenigen Übergänge, die es macht, in der Sache selbst. Deshalb kann in einem abgeleiteten Sinn auch von einer Tätigkeit, Selbstbestimmung usw. der Sache (etwa des Begriffs) die Rede sein. Wir können demnach festhalten, dass die WdL auf einen denkenden Vollzug als den eigentlichen Ort logischer Freiheit angewiesen ist: Die Selbstbestimmung des Begriffs in der WdL ist die Tätigkeit des Denkens, das sich – wie Hegel es in der früher zitierten Passage aus Enz. § 19 A erklärt – seine eigenen Gesetze gibt.77 Dieses freie logische Denken, das erst in der Begriffslogik – dem „Reich der
76 Houlgate schreibt dagegen der logischen Kategorie des Seins (und den weiteren Kategorien als deren genauerer Bestimmung) eine eigene Existenz zu: Houlgate (2006), 115 ff., besonders 125 f.; 126: „Hegel insists, however, that thought can know through purely intellectual intuition that there is being as such and that being takes (and must take) the form of finitude, quantitative and causally determined being, self-determining reason, and ultimately, nature“. Dadurch, dass für Houlgate die Natur selbst nur die Fortbestimmung des (existierenden) logischen Seins darstellt, ergibt sich nicht zuletzt das Problem, dass Houlgate dem radikalen Charakter der „Entäußerung“ der logischen Idee in die Natur, den u. a. Hösle/Wandschneider (1983) überzeugend darlegen, nicht Rechnung tragen kann. – Houlgate scheint zudem in der genannten Existenzannahme die einzige Möglichkeit einer „ontologischen“ Deutung der WdL zu sehen, die nicht, wie es z. B. Hartmanns Deutung tut, der WdL ihren metaphysischen Charakter abspricht (vgl. Houlgate (2006), 126). Dabei übersieht er aber die Möglichkeit einer Deutung, nach der die WdL die kategoriale Struktur darstellt, die eine Welt haben muss, wenn sie existiert, und durch die Kategorie der Idee, deren Begriff Existenz einschließt und die entsprechend zur Realphilosophie übergeht, dann die notwendige Existenz dieser Welt sowie die Tatsache, dass die logischen Kategorien real instantiiert sind, bewiesen werden. 77 Trotz seiner Annahme, die logischen Kategorien hätten eine eigene Existenz, versteht Houlgate die Selbstbestimmung in der WdL ähnlich (vgl. Houlgate (2006), 13, 20 f.); Houlgate verweist auf Kant und Fichte für den Hintergrund dieses Logik-Verständnisses. Allerdings bleibt bei ihm unklar, wie es möglich ist, dass die Kategorien Produkte des Denkens sind (Houlgate (2006), 13) und zugleich vom Denken gilt: „[P]ure thought is indeed the intellectual intuition of being. It is
3.4 Das Subjekt der Wissenschaft der Logik
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Freiheit“ – ganz transparent, kontrolliert und selbstbestimmt ist, stellt zugleich die logische Grundlage dar, die reale Freiheit ermöglicht. Dabei ist freilich wichtig zu sehen, dass durch diese Deutung das Denken, das die WdL trägt und vollzieht, noch nicht in irgendeiner Weise genauer bestimmt ist; insbesondere ist es nicht auf das Denken endlicher Subjekte eingeschränkt. Vielmehr befreit uns nach Hegels Auffassung das Denken gerade von den Einschränkungen endlicher Subjektivität: Wenn wir rein denken, hängen unsere Vollzüge nicht mehr von kontingenten individuellen Bedingungen oder Entscheidungen ab; insgesamt ist es für gelingendes Denken charakteristisch, dass wir in ihm jede Perspektivität überwinden und in ihm „nur das Allgemeine“ tun, in dem wir „mit allen Individuen identisch“ sind, so Hegel (Enz. § 23 A, 8/80). Der Skopus dieser Allgemeingültigkeit umfasst für Hegel – anders als etwa für Kant – nicht nur alle menschlichen Individuen, sondern alles Denken überhaupt. Wie wir in Kapitel 9 sehen werden, konzipiert Hegel Kunst, Religion und Philosophie als Realisierungen der absoluten Idee und damit als Erscheinungsweisen des absoluten Geistes (vgl. 5.2.4), der sich durch das menschliche Denken, insbesondere in der Philosophie, seiner selbst bewusst wird. Dieses überindividuelle und unendliche Selbstbewusstsein erläutert Hegel am Ende der Enzyklopädie mittels des berühmten Zitates aus Aristoteles’ Metaphysik Λ 7, das die Tätigkeit Gottes als Denken seiner selbst darstellt. Wenn wir demnach im logischen Denken einen Zusammenhang oder Übergang – wie den vom Sein zum Nichts – als notwendig erkennen, gilt diese Einsicht nicht nur für endliche, sondern für alle denkenden Subjekte. Wir können daher sagen, dass logische Freiheit eine reale Tätigkeit des Denkens erfordert und nicht in der Bewegung des logischen Begriffs selbst besteht, ohne damit zwangsläufig die WdL auf die bloßen Regeln endlichen, menschlichen Denkens einzuschränken.78 Wie wir nach Hegel im Denken insgesamt und im logischen Denken insbesondere kontingente Einschränkungen und perspektivische Standpunkte überwinden können, so können wir uns auch auf der inhaltlichen Ebene des Denkens
directly aware that there is being and it understands by itself what being is“ (Houlgate (2006), 125). 78 Hierdurch unterscheidet sich unser Ansatz von Deutungen wie der Stekeler-Weithofers. Stekeler-Weithofer begreift die Logik als eine Methodologie des endlichen, menschlichen Denkens. Für Stekeler-Weithofer handelt die Logik als metasprachliche Theorie unseres Begriffsgebrauchs (vgl. Stekeler-Weithofer (1992), 8) von Freiheit insofern, als wir im Urteilen zwischen Optionen wählen, die durch vorhergegangene Entscheidungen festgelegt wurden und in metasprachlicher Rede rekonstruiert werden (Stekeler-Weithofer (1992), z. B. 340). Dies wird aber nicht nur Hegels Freiheitsbegriff in der WdL nicht gerecht; es bedeutet auch, dass die von der Begriffslogik dargestellten Strukturen nur für unser Denken Geltung haben, nicht auch für die Wirklichkeit.
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von Faktoren freimachen, die den konkreten Vollzug des Denkens betreffen. Während beispielsweise die Inhalte der Anschauung in erheblichem Maße durch die zeitliche und räumliche Verortung des anschauenden Subjekts geprägt sind (und von dieser Perspektivität nur durch die denkende Transformation getrennt werden können: vgl. Kapitel 7), sollten die Inhalte unseres Denkens nicht in paralleler Weise sensibel gegenüber kontingenten Bedingungen sein, die die Ausübung des Denkens betreffen. Wo ein derartiger Einfluss auftritt – beispielsweise in der Abhängigkeit des Denkens von der jeweiligen Sprache, in der es sich vollzieht (Enz. § 462 A, 10/278) –, dort hat das Denken die Aufgabe, sich so weit wie möglich von derartigen kontingenten Faktoren freizumachen. Dass wir uns nach Hegel im Inhalt des logischen Denkens von den äußeren Voraussetzungen dieses Denkens vollständig lösen können und müssen, hat schließlich eine weitere wichtige exegetische Konsequenz: Es kann dann nämlich nicht das vorrangige Ziel der WdL sein, eine Theorie realer Subjektivität79 oder Intersubjektivität80 zu entwickeln, wie es verschiedene Interpreten vorgeschlagen haben. Deutungen, die die WdL im Sinne derartiger Theorien verstehen, scheitern nicht zuletzt daran, dass die WdL – wie Hegel ausdrücklich erklärt – einen Standpunkt beansprucht, auf dem der Gegensatz des Bewusstseins überwunden ist. Als „Gegensatz des Bewusstseins“ bezeichnet Hegel dabei die dualistische Entgegensetzung von Subjekt und Objekt, von Geist und Welt, die er in der PhG im Detail
79 Dazu zählen u. a. – mit teils sehr verschiedenen Auffassungen davon, was eine Subjektivitätstheorie zu leisten hat – die Deutungen von Wetzel (1971), Cramer (1974), Düsing (1976), Falk (1983), Stekeler-Weithofer (1992), Pippin (1989) und Quante (2011), Kap. 7. – Neben der im Folgenden dargelegten Schwierigkeit besteht ein Problem dieser Deutungsrichtung insgesamt darin, dass sie nicht einmal ansatzweise zu einem Konsens darüber gelangt ist, wo in Hegels System die Selbstbewusstseinstheorie überhaupt zu verorten ist. Bezüglich der Logik wurden hier das Reflexionskapitel (Wetzel (1971)), die Schlusslehre (Düsing (1976)), die Logik im Ganzen (Cramer (1974)), die Wesens- und Begriffslogik (Pippin (1989)), die Begriffslogik (Stekeler-Weithofer (1992), Quante (2011) sowie die Idee des Erkennens (Schalhorn (2000)) vorgeschlagen. (Cramer (1974), 603, gesteht zu, dass Hegel dem Selbstbewussstsein keinen eigenen Ort in der WdL zuweist, folgert aber fragwürdigerweise, dass gerade deshalb die ganze Logik als Theorie des Selbstbewusstseins zu lesen sei.) – Zur Kritik an derartigen Ansätzen vgl. auch Bubner (1980). 80 Wie Bubner (1980), 85 ff. zeigt, gehen derartige Deutungsansätze bis auf die erste Generation der Linkshegelianer zurück. An neueren Interpretationen sind u. a. die Deutungen von Theunissen (1978), Habermas (1969), Habermas (1999), Hösle (1987) und Fink-Eitel (1978) relevant. Häufig sind sie mit dem Vorwurf verbunden, dass die Theorie der Intersubjektivität, auf die die WdL eigentlich zielt, nicht vollständig eingelöst ist (z. B. Theunissen (1982); Hösle (1987), Bd. 1, 122 ff., 263 ff.; vgl. auch Honneth (1992), 107). Diese Kritik geht aber von der Prämisse aus, jede moderne Philosophie müsse eine Letztbegründung in einer Theorie der Intersubjektivität leisten; diese Prämisse wird von den genannten Autoren ohne Rechtfertigung an Hegel herangetragen (vgl. dazu Brinkmann (1990), besonders 136 ff.).
3.5 Die Wissenschaft der Logik zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik
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kritisiert hatte.81 Entsprechend gelten die logischen Kategorien nach Hegels Anspruch gleichermaßen von dem Denken, dessen Grundbestimmungen sie sind, wie von der – geistigen und natürlichen – Wirklichkeit. Wäre die WdL aber eine Theorie der Subjektivität oder der Intersubjektivität, müsste sie ausschließlich selbstbewusste (Inter-)Subjektivität zum Thema machen, damit aber auf die Allgemeingültigkeit der logischen Kategorien bezüglich Geist und Welt verzichten.82 Wir haben somit die WdL als Vollzug logischer Freiheit im reinen, voraussetzungslosen Denken bestimmt; dieses Denken wird sich in der Prüfung von Gehalten, die es durch immanente begriffliche Bestimmung erzeugt, sukzessive transparent, indem es (in der Begriffslogik) die logische Struktur jener immanenten Bestimmung explizit macht. Die inhaltliche Entwicklung des Denkens ist dabei indifferent gegenüber den äußeren Voraussetzungen desjenigen Denkens, das faktisch die gedankliche Entwicklung der WdL vollzieht. Wir müssen nun noch erklären, welchen epistemischen Status die Inhalte haben, die in der WdL vom reinen Denken nach und nach entwickelt werden.
3.5 Die Wissenschaft der Logik zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik Im letzten Abschnitt dieses Kapitels betrachten wir den epistemologischen und metaphysischen Stellenwert der Begriffe, die in der WdL thematisiert werden; hier spielen insbesondere die Frage nach der metaphysischen Tragweite der WdL und damit auch die allgemeinere Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Metaphysik (vgl. 1.5) eine wichtige Rolle. Insofern die WdL die Entfaltung der Inhalte reinen Denkens zum Ziel hat und diese Entfaltung – als Vollzug logischer Freiheit – die Möglichkeit realer Freiheit begründen soll (3.2.4), kann sie als Theorie der Grundbegriffe beschrieben werden, die wir zumindest implizit beherrschen müssen, um zu freier rationaler
81 Vgl. zum Verhältnis zwischen WdL und PhG Fußnote 48 in diesem Kapitel. 82 Ähnlich argumentiert Schick (1994), 193 ff.; vgl. auch Houlgate (2006), 139 (speziell zu Pippin) und Bubner (1980), v. a. 88. – Diese Deutung schließt nicht aus, dass speziell innerhalb des holistischen Systems der begriffslogischen Kategorien einzelne Kategorien bestimmten Wirklichkeitsbereichen zugeordnet sind. Dies liegt im Fall von Mechanismus und Chemismus (anorganische Natur) sowie der Idee (Leben, Geist) sehr nahe (wenngleich Hegel immer wieder betont, dass die Kategorien von Mechanismus und Chemismus auch in bestimmten geistigen Phänomenen ausgeprägt sind). – Die Lehre vom „subjektiven“ Begriff (Begriff, Urteil und Schluss) darf hingegen nicht auf das bloß subjektive Denken eingeschränkt werden, weil Hegel mehrfach die ontologische Tragweite der darin behandelten Kategorien hervorhebt: vgl. 4.1.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
Aktivität fähig zu sein. Die WdL bildet also nicht etwa eine semantische Metasprache, die über unsere gewöhnliche Objektsprache redet; Hegels logische Kategorien sind selbst auf der objektsprachlichen Ebene angesiedelt. So beschreibt Hegel die Funktion seiner Logik u. a. als die einer systematischen Prüfung derjenigen Kategorien, die als natürliche Logik ein zentraler, strukturierender Teil unseres Begriffsgebrauchs im Alltag sind83: Die Denkformen sind zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt; es kann in unseren Tagen nicht oft genug daran erinnert werden, daß das, wodurch sich der Mensch vom Tiere unterscheidet, das Denken ist. In alles, was ihm zu einem Innerlichen, zur Vorstellung überhaupt wird, was er zu dem Seinigen macht, hat sich die Sprache eingedrängt, und was er zur Sprache macht und in ihr äußert, enthält eingehüllter, vermischter oder herausgearbeitet eine Kategorie; so sehr natürlich ist ihm das Logische, oder vielmehr: dasselbige ist seine eigentümliche Natur selbst. (WdL 5/20)
In ihrer Funktion im Rahmen der „natürlichen Logik“ unterscheiden sich Kategorien wie „Sein“, „Etwas“ usw. von anderen, nichtlogischen Begriffen nur dadurch, dass sie sich nicht, wie letztere, auf einzelne Gegenstände unserer gewöhnlichen Rede beziehen, sondern den Gebrauch der nichtlogischen Begriffe ordnen und strukturieren (aber nicht etwa über diesen Gebrauch sprechen). Dabei handelt es sich um eine konstitutive Ordnungsfunktion, die dafür notwendig ist, dass wir Begriffe gebrauchen und uns auf Sachverhalte beziehen können. Diese „organisierende“ Funktion logischer Kategorien in der „natürlichen Logik“ wird durch Hegels hilfreiches Bild der „Knotenpunkte“ veranschaulicht, das er in der zweiten Vorrede zur WdL verwendet. Nach Hegel ist der Geist, wie wir schon oben zitiert hatten, „in dem instinktweisen Wirken des Denkens, befangen in den Banden seiner Kategorien, in einen unendlich mannigfachen Stoff zersplittert“ (WdL 5/27). Hegel fährt nun fort: In diesem Netze schürzen sich hin und wieder festere Knoten, welche die Anhalts- und Richtungspunkte seines Lebens und Bewußtseins sind, sie verdanken ihre Festigkeit und Macht eben dem, daß sie, vor das Bewußtsein gebracht, an und für sich seiende Begriffe seiner Wesenheit sind. (WdL 5/27)
Hegels Rede von den „Knotenpunkten“ als „Anhalts- und Richtungspunkten“ des Denkens grenzt diese Kategorien zum einen von der Vorstellung ab, logische Kategorien seien Prädikate, die dem Wirklichen so zukommen wie etwa Wahrnehmungsprädikate einem fertig gegebenen Gegenstand; diese Vorstellung
83 Den Begriff der „natürlichen Logik“ gebraucht Hegel mehrfach in der zweiten Vorrede zur WdL, 5/24 ff.
3.5 Die Wissenschaft der Logik zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik
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schreibt Hegel insbesondere der Verstandesmetaphysik zu (vgl. z. B. Enz. § 28, 8/ 94). „Knotenpunkte“, „Anhalts- und Richtungspunkte“ in unseren Begriffs- und Überzeugungssystemen sind offenkundig nicht einfach Eigenschaften von Dingen wie phänomenale oder physikalische Eigenschaften. Zum anderen charakterisiert Hegel mit seiner Rede von den Kategorien als „Anhalts- und Richtungspunkten“ des Denkens deren Funktion für die Konstitution rationaler Persistenz: Die Kategorien schaffen eine Orientierung und ordnen den „unendlich mannigfachen Stoff“, mit dem wir konfrontiert sind. Indem sie somit auch unsere Bezugnahme auf Gegenstände ordnen und strukturieren, entsprechen diese „Knotenpunkte“ einer Anforderung, die wir im Kontext von Hegels Rezeption der Kantischen Deduktion betrachtet hatten (3.2.2): Eine Theorie der Grundbedingungen rationaler Persistenz, so hatten wir dort gesehen, muss gewährleisten, dass sich Subjekte auf Gegenstände beziehen können, ohne dass sie sich dabei selbst in einer intransparenten Heterogeneität verlieren. Hegels Kennzeichnung der logischen Kategorien als „Knotenpunkte“ und als „Anhalts- und Richtungspunkte“ führt somit zu einer zentralen Frage in Bezug auf die Deutung der WdL, nämlich die Frage nach der Art der objektiven Geltung von deren Kategorien. Hegels eigene Stellungnahmen hierzu kennzeichnen die logischen Kategorien als Grundbestimmungen nicht nur des Denkens, sondern auch alles Wirklichen. Hegel spricht nicht nur innerhalb der WdL deren Kategorien – insbesondere denen der Begriffslogik – Geltung für die Wirklichkeit zu84, er stellt auch klar, dass der WdL als ganzer eine derartige metaphysische Tragweite eignet. Eine in dieser Hinsicht besonders charakteristische Passage findet sich im Vorbegriff der enzyklopädischen Logik, an dessen Anfang Hegel Erläuterungen zum Begriff des Denkens stellt. Hegel verweist hier auf einen „alte[n] Glaube[n]“ (Enz. § 21 A, 8/76), nach dem wir nur durch das Denken Zugang zur Wahrheit und zur eigentlichen Natur der Dinge haben. Das Denken nimmt zwar seine Inhalte
84 Vgl. z. B. Enz. § 167, 8/318 f.: „Das Urteil wird gewöhnlich in subjektivem Sinn genommen, als eine Operation und Form, die bloß im selbstbewußten Denken vorkomme. Dieser Unterschied ist aber im Logischen noch nicht vorhanden, das Urteil ist ganz allgemein zu nehmen: alle Dinge sind ein Urteil, – d. h. sie sind Einzelne, welche eine Allgemeinheit oder innere Natur in sich sind, oder ein Allgemeines, das vereinzelt ist; die Allgemeinheit und Einzelheit unterscheidet sich in ihnen, aber ist zugleich identisch“; WdL 6/358 f.: „Dies durch abgesonderte Sätze fortschreitende Schließen ist nichts als eine subjektive Form; die Natur der Sache ist, daß die unterschiedenen Begriffsbestimmungen der Sache in der wesentlichen Einheit vereinigt sind. Diese Vernünftigkeit ist nicht ein Notbehelf, vielmehr ist sie gegen die Unmittelbarkeit der Beziehung, die im Urteil noch stattfindet, das Objektive, und jene Unmittelbarkeit des Erkennens ist vielmehr das bloß Subjektive; der Schluß dagegen ist die Wahrheit des Urteils. – Alle Dinge sind der Schluß, ein Allgemeines, das durch die Besonderheit mit der Einzelheit zusammengeschlossen ist; aber freilich sind sie nicht aus drei Sätzen Bestehende Ganze“.
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nicht bloß hin, sondern transformiert sie, doch gerade diese Transformation ist nicht etwa eine Verfälschung der Wahrheit, sondern eine Voraussetzung wirklicher Erkenntnis. Hegel übernimmt diese Auffassung und zieht aus ihr die provokante Folgerung: Die Gedanken können nach diesen Bestimmungen objektive Gedanken genannt werden, worunter auch die Formen, die zunächst in der gewöhnlichen Logik betrachtet und nur für Formen des bewußten Denkens genommen zu werden pflegen, zu rechnen sind. Die Logik fällt daher mit der Metaphysik zusammen, der Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt, welche dafür galten, die Wesenheiten der Dinge auszudrücken. (Enz. § 24, 8/80 f.)
Hegel revidiert hier die scheinbar selbstverständliche Auffassung, nach der Gedanken lediglich subjektive mentale Zustände sind, und dehnt den Begriff auf die gegenständliche Seite aus: Wie der weitere Kontext zeigt, meint Hegel mit dem Begriff der „objektiven Gedanken“ nicht nur mentale Zustände, die einen objektiv gültigen Inhalt haben, sondern tatsächlich die viel stärkere Position, dass objektiv existierende „Gedanken“ zur metaphysischen Struktur der Wirklichkeit gehören. So schreibt Hegel in der Anmerkung zum Paragraphen: Daß Verstand, Vernunft in der Welt ist, sagt dasselbe, was der Ausdruck ‚objektiver Gedanke‘ enthält. Dieser Ausdruck ist aber eben darum unbequem, weil Gedanke zu gewöhnlich nur als dem Geiste, dem Bewußtsein angehörig und das Objektive ebenso zunächst nur von Ungeistigem gebraucht wird. (Enz. § 24 A, 8/81)
Die Existenz objektiver Gedanken macht demnach die Wirklichkeit der Vernunft aus, die nicht nur unser subjektives Denken und Handeln bestimmt, sondern auch konstitutiv für die nichtgeistige Wirklichkeit ist. Insofern die WdL in diesem Sinne objektive Gedanken zum Thema hat, ist sie folglich nicht nur Wissenschaft des Denkens endlicher Subjekte, sondern zugleich Metaphysik als Theorie der Grundbestimmungen der Wirklichkeit – oder der „Wesenheiten der Dinge“. Die logischen Kategorien sind demnach „Anhalts- und Richtungspunkte“ des Denkens auch insofern, als sie es der objektiven Wahrheit näherbringen.85 Da sich ferner innerhalb der WdL die logischen Kategorien letztlich als Aspekte einer logischen Totalität, des Begriffs als solchen (bzw. seiner Fortbestimmung, der
85 Als so verstandene Anhaltspunkte des Denkens charakterisiert schon Platon die Ideen: „Dennoch aber, o Sokrates, sagte Parmenides, wenn Jemand auf der andern Seite nicht zugeben will, daß es Begriffe von dem was ist gibt, weil er eben auf alles vorige und mehr ähnliches hinsieht, und keinen Begriff für jedes besondere bestimmt setzen will: so wird er nicht haben wohin er seinen Verstand wende, wenn er nicht eine Idee für jegliches seiende zuläßt, die immer dieselbe bleibt, und so wird er das Vermögen der Untersuchung [διαλέγεσθαι] gänzlich aufheben“ (Parm. 135 bc, Üs. Schleiermacher).
3.5 Die Wissenschaft der Logik zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik
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Idee), erweisen, ist diese Metaphysik monistischer Art, d. h. sie begreift die verschiedenen Aspekte der begrifflich verfassten Wirklichkeit als Momente oder Teile eines Ganzen, das allein die eigentliche Wirklichkeit ausmacht und das überdies – gemäß der logischen Theorie der Idee und Hegels Theorie des absoluten Geistes – von geistiger Art ist (vgl. 5.2). Hegel sieht einen direkten Zusammenhang zwischen seiner metaphysischen Theorie und der Freiheitsthematik (vgl. 1.2); ebenso hält er aber die dogmatische Metaphysik für eine Form der epistemischen Unfreiheit.86 Entsprechend beansprucht Hegel neben der Fortführung der metaphysischen Tradition seit der Antike zugleich auch, den kritischen Einsichten der Kantischen Philosophie gegen die dogmatische Metaphysik – die ihrerseits in Hegels Sicht einen Akt der Befreiung darstellen87 – gerecht zu werden, ja die Kantische Kritik erst zu vollenden.88 Manche Exegeten haben daher versucht, Hegel als kritizistischen Denker in der Nachfolge Kants zu verstehen und seine Philosophie so zu interpretieren, dass sie de facto keine über die von Kant abgesteckten Grenzen möglicher Erkenntnis hinausreichenden metaphysischen Aussagen enthält – dass also die logischen Kategorien nur Grundbegriffe des Denkens sind, nicht zugleich auch Grundbestimmungen des Wirklichen oder gar Theorieelemente einer monistischen Metaphysik. Derartige Deutungsansätze werden in der Sekundärliteratur als nichtmetaphysische Hegel-Interpretationen bezeichnet und metaphysischen Interpretationen entgegengesetzt, die der zuvor skizzierten Auffassung der WdL zuzurechnen sind.89 Somit kommt die sachliche Spannung, die zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik als zwei Aspekten eines auf dem Freiheitsbegriff gegründeten Selbstund Weltverständnisses besteht (vgl. Kapitel 1), auch direkt in exegetischen Auseinandersetzungen um die Deutung der WdL zum Tragen. Wie sich das Verhältnis
86 Vgl. Enz. § 31 Z, 8/98: „Diese Metaphysik war kein freies und objektives Denken […]“; Enz. § 30, 8/97: „Ihre Gegenstände waren zwar Totalitäten, welche an und für sich der Vernunft, dem Denken des in sich konkreten Allgemeinen angehören, – Seele, Welt, Gott; aber die Metaphysik nahm sie aus der Vorstellung auf, legte sie als fertige gegebene Subjekte bei der Anwendung der Verstandesbestimmungen darauf zugrunde und hatte nur an jener Vorstellung den Maßstab, ob die Prädikate passend und genügend seien oder nicht“. 87 Vgl. z. B. VGPh 20/331: „Der Standpunkt der Kantischen Philosophie ist, daß das Denken durch sein Räsonnement dahin kam, sich in sich selbst als absolut und konkret, als frei, Letztes zu erfassen“. 88 Vgl. WdL 5/60 ff., insbesondere 62: „Die objektive Logik ist daher die wahrhafte Kritik derselben [sc. der logischen Kategorien] – eine Kritik, die sie nicht nach der abstrakten Form der Apriorität gegen das Aposteriorische, sondern sie selbst in ihrem besonderen Inhalte betrachtet“. 89 Einen Überblick zu beiden Traditionen bieten u. a. Pippin (1989), 3 ff.; Halbig (2002), 21–29; Sans (2004), 15–20.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
von Freiheit und Metaphysik im Rahmen der inhaltlichen Entwicklung der WdL genau darstellt, ist eines der Themen, die ich in den nächsten Kapiteln behandeln werde. Um aber bereits eine Festlegung bezüglich der exegetischen Perspektive treffen zu können, aus der heraus ich die WdL untersuche, diskutiere ich im Folgenden kurz die „nicht-metaphysische“ Deutungsoption exemplarisch an Hand der Interpretation Robert Pippins, die am meisten zur Popularität nichtmetaphysischer Interpretationen in den letzten Jahren beigetragen hat.90 Anschließend bespreche ich kurz Hegels Verhältnis zu Kants kritischer Einschränkung der Möglichkeit von Metaphysik. Pippin ist insgesamt darum bemüht, Hegel in der Kontinuität der Transzendentalphilosophie zu lesen. Demnach hält Hegel an Kants Theorie der Apperzeption fest, die Pippin als Einsicht in die notwendige Reflexivität intentionaler Zustände und Akte deutet: Nach Pippin können wir nur dann Bewusstsein von etwas haben, wenn wir uns zugleich dieses Bewusstsein selbst zumindest implizit zuschreiben (Pippin (1989), 21 ff.). Hierfür benötigen wir kategoriale Bestimmungen, die nicht aus der Erfahrung stammen (Pippin (1989), 26 f.). Während Kant die objektive Geltung dieser Bestimmungen in der Deduktion durch Rekurs auf die Formen reiner Anschauung rechtfertigt, verwirft Hegel die Rolle der Anschauung für die Rechtfertigung solcher Grundbestimmungen, die jeder Begriffsrahmen als solcher aufweisen muss, und setzt an ihre Stelle den Gedanken einer internen Prüfung konkurrierender Kandidaten (Pippin (1989), 35 ff.). In der WdL entwickelt Hegel auf diese Weise ein adäquates System von Kategorien, das insofern idealistisch oder „antirealistisch“ ist, als wir uns nur auf Gegenstände beziehen können, sofern sie jenen Kategorien entsprechen. Jenseits einer solchen transzendentalen Rolle der logischen Kategorien können wir, so Pippin, nicht sinnvoll fragen, ob die Wirklichkeit an sich auch den Kategorien entspricht; Hegel begründe nämlich seinen so verstandenen Idealismus dadurch, dass er die realistischen Prämissen jener Frage als Elemente inkohärenter Konzeptionen von Objektivität enthülle.91 Pippin präsentiert Hegels Theorie also als Weiterentwicklung der Kantischen Transzendentalphilosophie, die gleichfalls ein System von subjektiven Bedingun-
90 Andere wichtige Vertreter nicht-metaphysischer Hegel-Interpretationen sind u. a. Fulda (1973); Fulda (1991a); Hartmann (1976); Pinkard (1994). 91 Vgl. z. B. Pippin (1989), 98 f.; 99: „[…] Hegel is known as a prototypical realist […]. Yet […] Hegel also states that reality is the developing Notion, and this certainly suggests a kind of contemporary antirealism, a relativization of truth claims to the Hegelian (Notional) equivalent of something like warranted assertability, or provability, or membership in an ideal theory. And […] it does indeed seem that Hegel is making both such claims, or stating a fundamentally antirealist, idealist position, as if it could have no realist competitor, and so can be construed as itself constitutive of ‚reality as it is (could be) in itself‘“.
3.5 Die Wissenschaft der Logik zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik
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gen möglichen Gegenstandsbezugs einführt, aber die Annahme des Dings an sich als inkohärent aus dem Bild streicht. Der Begriff des Antirealismus (oder des Idealismus, wenn dieser im Sinne Pippins verstanden wird) setzt aber den des Realismus als Kontrast voraus. Wenn diese Kontrastposition nicht kohärent denkbar ist, dann ist nicht mehr verständlich, wovon der Antirealismus, den Pippin Hegel zuschreibt, abgegrenzt werden soll. So wird aber auch unklar – wie zu Recht gegen Pippin eingewandt wurde (Stern (2008), 141 f.; vgl. Houlgate (2006), 140 f.) –, warum die Denkbestimmungen nicht schließlich doch realistisch als Grundbestimmungen der Wirklichkeit interpretiert werden sollen; schließlich besteht nach Pippin kein Raum dafür, kohärent zu denken, dass die Wirklichkeit an sich grundsätzlich anders beschaffen ist, als sie das von Hegel entwickelte Kategoriensystem darstellt. Das bringt Pippin in folgendes Dilemma. Pippin kann entweder ein derartiges realistisches Verständnis seiner Interpretation von sich weisen. Dazu muss er aber die Möglichkeit einer Divergenz zwischen Kategoriensystem und Wirklichkeit annehmen und damit wieder einen „realistischen“ Objektivitätsbegriff akzeptieren, den er zuvor ausgeschlossen hatte. Oder er kann die realistische Deutung akzeptieren. Dann ist sein Hegel auf Aussagen bezüglich der Grundbestimmungen des Wirklichen – und nicht nur unserer Begriffsrahmen – festgelegt. Von solchen Aussagen ist aber grundsätzlich nicht ersichtlich, wie sie auf transzendentalphilosophische Weise begründet werden können: Von einer „realistischen“ Deutung der Hegelschen Kategorien muss erwartet werden, dass sie auch eine stärkere Begründungsform einführt, die nicht allein über die Möglichkeitsbedingungen unserer subjektiven Aktivität reflektiert, sondern sich auch auf die Möglichkeitsbedingungen objektiven Seins bezieht (vgl., in analogem Kontext, Pohl/Rosenhagen/Weber (2008), 94). Pippins Hegel will also einerseits an der ontologisch „sparsamen“, metaphysikkritischen Theorieform der Transzendentalphilosophie im Anschluss an Kant festhalten; andererseits will er zugleich die notwendigen Einschränkungen überwinden, denen die objektive Geltung von transzendentalphilosophisch begründeten Erkenntnisansprüchen (wie Kants reine Verstandesgrundsätze) unterliegt: Pippins kantianische Hegel-Interpretation muss zwangsläufig, so scheint es, zu einer in sich instabilen Position führen.92 Aufschlussreich hinsichtlich des „nicht-metaphysischen“ Charakters von Pippins Interpretation ist ferner ein weiterer Punkt, der die Frage nach dem ontologischen Status des Geistes betrifft – und damit ein Thema, das für Hegels eigenes Verständnis des Begriffs „Idealismus“ von zentraler Bedeutung ist (vgl.
92 Zur kritischen Diskussion der erwähnten Punkte von Pippins Interpretation vgl. auch Ameriks (1991); Pinkard (1990); Houlgate (2006), 137 ff.; weitere Literatur bei Stern (2008).
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
5.2). Pippin lehnt zwar naturalistische Positionen ab, die eine Reduzierbarkeit aller Erklärungsformen auf naturwissenschaftliche Erklärungen propagieren93, aber er geht zugleich davon aus, dass jeder Versuch, dem Bereich des Geistigen eine ontologische Eigenständigkeit zuzuschreiben, auf eine „cartesianische“ Reifikation des Geistes festgelegt sei (vgl. Pippin (1997a), 12; Pippin (2008), 61 f.). Hegels Geistbegriff deutet Pippin daher im Sinne einer normativen Superstruktur, die durch soziale Praktiken etabliert wird, aber keine ontologische Signifikanz hat; ontologische Fragen, so setzt Pippin voraus, werden vom naturwissenschaftlichen Weltbild hinreichend beantwortet. So schreibt er: [Hegel] is in effect treating spirit itself as a kind of norm; a collective institution whereby we (remaining the natural organisms we ontologically are) hold each other to a responsiveness and directedness by reason, and thereby realize spirit as freedom. (Pippin (2008), 62)94
Pippin zieht also aus seiner Ablehnung einer Reifikation des Geistigen den Schluss, dass das ontologische Wesen von Geistern allein in ihrer natürlichen Seite besteht. Ohne jegliche Prüfung oder Rechtfertigung übernimmt Pippin damit die naturalistische Annahme, dass unsere ontologischen Festlegungen von den Naturwissenschaften zu definieren sind.95 Diese Annahme lässt freilich keinen Raum für eine idealistische Metaphysik; entsprechend müssen vor ihrem Hintergrund monistisch-metaphysische Theorien im Sinne von Hegels Lehre des absoluten Geistes als prinzipiell obskur und unhaltbar erscheinen (vgl. Pippin (1989), Kap. 1). Der Hegelschen Geistphilosophie und ihrer logischen Grundlegung kann in dieser Deutungsperspektive nur dann ein Sinn verliehen werden, wenn sie in ihrem Geltungsanspruch zu einer
93 Zwar beschreibt Pippin Hegel auch als Kritiker des Naturalismus, aber nur insofern, als Hegel die explanatorische Vollständigkeit naturwissenschaftlicher Begriffe leugne: Vgl. Pippin (1989), 289, n. 17; 304, n. 34. 94 Vgl. auch Pippin (1997a), 12, sowie die folgende Passage in Hegel’s Idealism: „[A]lthough there may indeed only be material, spatio-temporal beings (I leave aside for the moment Hegel’s position on that issue), and although such beings may be in all sorts of causal relations with sensory objects around them, the point Hegel is stressing is that no reference to such materiality or to such interaction can account for a body movement or an utterance being this such an act by that subject or this epistemic claim made by that subject. These material beings (let us say) establish practices over historical time, create institutions and a historical memory within which, and only within which, the significance and normative force of various deeds can be understood and assessed“ (Pippin (1989), 153). Pippin spricht in diesem Kontext zwar auch von einer „metaphysischen“ Eigenständigkeit (Pippin (1989), 153), erklärt aber nicht, worin diese über die „epistemische“ Eigenständigkeit des Geistigen hinausgeht. 95 So kritisiert auch Rorty, Pippin tue zu wenig, um die Unterschiede des „Anti-Naturalismus“, den er vertreten will, zu „moderaten“ naturalistischen Positionen zu klären: Rorty (2001), 440.
3.5 Die Wissenschaft der Logik zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik
185
antirealistischen Theorie über Eigenschaften subjektiver Begriffsrahmen abgeschwächt werden. Zugleich wird hier sichtbar, dass die Kennzeichnung von Pippins Deutung als „nicht-metaphysisch“ eigentlich irreführend ist; die von Pippin unhinterfragt vorausgesetzte naturalistische Ontologie ist nicht weniger eine metaphysische Theorie als die monistische, idealistische Metaphysik, die Hegel von Vertretern „metaphysischer“ Deutungen zugeschrieben wird. Wie u. a. Carnap in seinen späteren Schriften betont hat, sind nominalistische, materialistische, naturalistische und ähnliche Ontologien vom Standpunkt konsequenter Metaphysikkritik aus gesehen nicht besser gestellt als ihre in modernen Diskussionen weniger populären Gegenpositionen: „It is obvious that the apparent negation of a pseudo-statement must also be a pseudo-statement“, so Carnap (Carnap (1967), 79).96 – Wenn aber auch ein „nicht-metaphysischer“ Exeget wie Pippin implizit eine (naturalistische) Metaphysik vertritt, dann empfiehlt es sich, die Fragestellung der exegetischen Debatte insgesamt zu verändern: Statt zu fragen, ob Hegel als Metaphysiker oder als Anti-Metaphysiker zu verstehen ist, sollten wir besser fragen, welche Metaphysik Hegel vertreten hat.97 Wir können demnach mit gutem Grund Hegels eigene Kennzeichnung des metaphysischen Stellenwertes der WdL wörtlich interpretieren: Die WdL hat tatsächlich den Anspruch, nicht nur Grundstrukturen des Denkens, sondern auch der Wirklichkeit zu thematisieren.98 Pippin und anderen Anhängern der nichtmetaphysischen Deutungstradition ist aber durchaus darin recht zu geben, dass jede metaphysische Lesart Hegels erklären können muss, wie Hegel angesichts von Kants kritischer Begrenzung möglicher Erkenntnis eine Metaphysik im traditionellen Sinne als Wissenschaft von den Grundbestimmungen des Wirklichen – eine „Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefasst“ (Enz. § 24, 8/81) – verfolgen kann (vgl. 1.5). Wir müssen deshalb zumindest im Ansatz erklären können, wie
96 Carnap richtet sich hier (in „Empiricism, Semantics, and Ontology“) gegen eine andere vermeintlich nicht-metaphysische Position, nämlich die von Naturalisten wie Quine und Ryle, die ihm vorgeworfen hatten, er habe in Meaning and Necessity durch den Gebrauch semantischer Ausdrücke die Existenz abstrakter Entitäten angenommen. 97 Dies fordert zu Recht James Kreines in einem neueren Artikel unter dem programmatischen Titel „Changing the Debate“ (Kreines (2006)). 98 Die Frage ist freilich, von welcher Art die metaphysischen Grundstrukturen sind, die die WdL darstellt. Hier gibt es ein großes Spektrum an exegetischen Möglichkeiten, dessen eines Extrem die Deutung im Sinne eines ontologischen Monismus des absoluten Geistes bildet und an dessen anderem Extrem Positionen wie die Brandoms stehen, der gleichfalls – gegen Pippin – an der objektiven Geltung der logischen Kategorien festhält, aber vom Gedanken einer monistischen Ontologie weit entfernt ist. Auf diese Fragen werden wir in Kapitel 5 ausführlicher zurückkommen.
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
das Projekt der WdL im Rahmen einer „metaphysischen“ Interpretation so verstanden werden kann, dass es nicht von vornherein als Rückfall in die vorkritische Metaphysik gelten muss. Hierbei gehe ich in zwei Schritten vor, die auf den Ergebnissen dieses Kapitels aufbauen. (1) Die WdL kann zunächst deshalb gegen den Vorwurf eines Rückfalls in dogmatische Metaphysik verteidigt werden, weil Hegel sie auch insofern als Vollzug der Freiheit versteht, als sich in ihr das Denken gegen die unkritischen Voraussetzungen der dogmatischen Metaphysik richtet (vgl. 3.3). „Metaphysik“ steht in diesem kritischen Kontext bei Hegel für die von Kant als dogmatisch kritisierte Metaphysik der rationalistischen Schulphilosophie, die er für obsolet hält und von der er auch oft in der Vergangenheitsform redet (z. B. Enz. § 27, 8/ 93); hiervon ist bei Hegel ein positiver Begriff von Metaphysik unterschieden, die „spekulative“ Metaphysik in der Tradition von Platon und Aristoteles, die er selbst neu begründen will. Die dogmatische Metaphysik beruht für Hegel erstens deshalb auf unkritischen Voraussetzungen, weil sie einzelne Begriffe („Sein“, „Seele“, „Gott“, „Welt“ usw.) als fertig bestimmt voraussetzt, ohne zu fragen, ob sie als Begriffe geeignet sind, das auszudrücken, was mit ihnen gesagt werden soll (Enz. § 30, 8/97). Im Gegensatz dazu besteht die Aufgabe von kritischer Philosophie, wie sie von Kant begonnen wurde, darin, jene Kategorien für sich genommen zu prüfen.99 Zweitens setzt die dogmatische Metaphysik für Hegel die oben beschriebene, semantisch atomistische Verstandesauffassung von der Natur begrifflichen Gehaltes voraus, der zufolge bestimmter begrifflicher Gehalt überhaupt einfach gegeben ist, und zwar für jeden Begriff einzeln.100 (2) Der zweite Punkt richtet sich gegen die Prämissen von Kants Metaphysikkritik. Nach Kant ist die Begründung von metaphysischen Erkenntnisansprüchen durch reines Denkens deshalb nicht möglich, weil – so Kant – im bloßen Denken nur logische Modalitäten erkannt werden können, nicht reale Modalitäten (also z. B. die physikalische Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Ereig-
99 Vgl. Fußnote 88 in diesem Kapitel. 100 Diesen Punkt führt Hegel in seinen kritischen Ausführungen zur dogmatischen Metaphysik darauf zurück, dass diese ihre Themen als „aus der Vorstellung genommene[…] Substrate“ (WdL 5/61) behandle. Nach Hegel stellen wir uns nämlich das, wovon metaphysische Begriffe handeln, gewöhnlich als quasi-körperliche Substanzen vor. Diesem vermeintlichen Charakter ihrer Gegenstände gleichen wir unsere Auffassung vom Gehalt der Begriffe an. Wir stellen uns natürliche (oder die nach ihnen modellierten übernatürlichen) Gegenstände als fertig gegebene Dinge vor, die durch eine Reihe fixierter Eigenschaften ausgezeichnet sind; entsprechend, so meinen wir, ist auch der begriffliche Gehalt z. B. des Begriffs „Seele“ klar definiert und durch fest bestimmte definitorische oder kriterielle Eigenschaften festgelegt. Die Philosophie kann dann solche Begriffe aufgreifen und muss sie nur noch richtig analysieren und kombinieren.
3.5 Die Wissenschaft der Logik zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik
187
nisses).101 Z. B. folgt daraus, dass ein bestimmter Begriff nicht widersprüchlich ist, noch nicht, dass er auch wirklich real instantiiert sein kann; er könnte z. B. den Naturgesetzen widersprechen. Da metaphysische Erkenntnis mehr als bloße Denkmöglichkeit oder -notwendigkeit behauptet, muss diese reale Möglichkeit oder Notwendigkeit eigens demonstriert werden; und dies ist für Kant nur dadurch möglich, dass wir über das reine Denken hinaus zu den Bedingungen möglicher Erfahrung gehen. Entsprechend besteht nach Kant die Aufgabe der Rechtfertigung kritischer Metaphysik in der Erklärung dessen, wie synthetische Urteile a priori auf nicht-empirische Weise begründet werden können, indem über Subjekt und Prädikat zu einem „Dritten“ hinausgegangen wird. Diese Argumentation beruht aber auf der Prämisse, dass analytische erkennbare logische Modalität einerseits und nur unter Bezug auf mögliche oder wirkliche Anschauung erkennbare reale Modalität andererseits (zumindest in diesem Kontext) eine exklusive Disjunktion bilden und es keine Form von Modalität gibt, die zwar in ihrem Sachgehalte über die logische Modalität hinausgeht, aber dennoch ohne Rekurs auf wirkliche oder mögliche Anschauung erkannt werden kann. Hegel bestreitet diese implizite Prämisse, indem er für die „synthetische“ Tätigkeit des reinen Denkens und das immanente Entwickeln begrifflichen Gehalts eine Form von Notwendigkeit beansprucht, die nicht analytisch ist, aber gleichwohl ohne Bezug auf Anschauung erkennbar ist. Dieser Gedanke erlaubt es Hegel, Kants transzendentalphilosophische Begrenzung der Möglichkeit von Metaphysik als bloß „exoterische Lehre“ (WdL 5/13) einzustufen und Kant für dessen Interesse am „sogenannte[n] Transzendentale[n] der Denkbestimmungen“ (WdL 5/60), nämlich deren erfahrungskonstitutive Rolle, zu kritisieren. Wenn nämlich eine Modalität von der genannten Art existiert, dann ermöglicht sie grundsätzlich eine Rechtfertigung metaphysischer Erkenntnisse, die nicht auf die Möglichkeit von Erfahrung Bezug nimmt.102 Ob Hegel für seine diesbezüglichen Annahmen
101 Vgl. z. B. KrV B 624 n.: „Der Begriff ist allemal möglich, wenn er sich nicht widerspricht. Das ist das logische Merkmal der Möglichkeit, und dadurch wird sein Gegenstand vom nihil negativum unterschieden. Allein er kann nichts destoweniger ein leerer Begriff sein, wenn die objective Realität der Synthesis, dadurch der Begriff erzeugt wird, nicht besonders dargethan wird; welches aber jederzeit, wie oben gezeigt worden, auf Principien möglicher Erfahrung und nicht auf dem Grundsatze der Analysis (dem Satze des Widerspruchs) beruht. Das ist eine Warnung, von der Möglichkeit der Begriffe (logische) nicht sofort auf die Möglichkeit der Dinge (reale) zu schließen“; KrV B XXVI n.; B 302. 102 Beispielsweise drückt Hegel die Übergänge der WdL plakativ in Sätzen der Form „Das A ist B“ (z. B. „Das Sein ist Nichts“) aus (vgl. Fulda (1973), 252), die allein durch den jeweiligen Übergang gerechtfertigt sind – also auf nicht-analytische, aber auch nicht-transzendentale Weise. Freilich stehen derartige Sätze, ebenso wie die jeweils ausgedrückten Übergänge, selbst
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3 Freiheit und Hegels Wissenschaft der Logik
stichhaltige Gründe hat, ist eine der Fragen, denen wir im folgenden Kapitel nachgehen.
immer nur für vorläufige, isolierte Aspekte des Kategoriensystems; deshalb ist auch ihr Sinn zwangsläufig unklar. Dies ändert sich erst, sobald – in der Begriffslogik – in Form von inferentiellen Zusammenhängen ein systematischer Zusammenhang von Kategorien ausgedrückt werden kann, der selbst Ausdruck eines systematischen Wirklichkeitsganzen ist. Die Aussage, dass das System der Begriffslogik die Totalität des Denkens wie des Wirklichen darstellt, ist demnach eine metaphysische Aussage, die für Hegel ohne Bezugnahme auf Anschauung zu rechtfertigen ist.
4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit Freiheit, so haben wir gesehen, bedarf nach Hegel einer logisch-metaphysischen Grundlegung: Diese muss kategoriale Bestimmungen identifizieren, die es uns ermöglichen, ein epistemisches und praktisches Selbst zu konstituieren und dadurch rationale Persistenz zu gewinnen, ohne dass wir dabei ganz dem Zufall willkürlicher Entscheidungen oder gegebener Umstände überlassen wären. Die Frage, wie eine solche rationale Selbstkonstitution möglich ist, hatte ich als „Formalismus-Problem“ bezeichnet. Dieses Problem diagnostiziert Hegel in Kants Moralphilosophie (wie ist ein nicht-willkürlicher Übergang vom abstrakten Kategorischen Imperativ hin zu einem konkreten Selbst möglich?), und er verallgemeinert es in Bezug auf alle Formen von Vernunft (vgl. 3.2.1). Wir haben ferner gesehen, dass die logisch-metaphysische Grundlegung von Freiheit nach Hegel den Vollzug voraussetzungslosen Denkens erfordert, das in einer „immanenten“, ohne äußere (insbesondere: anschauliche) Voraussetzungen geleisteten Bestimmung begrifflicher Gehalte eine eigene, „logische“ Form von Freiheit realisiert und dabei seine Bestimmungen und Gesetze „sich selbst gibt, nicht schon hat und in sich vorfindet“ (Enz. § 19 A, 8/67). Zu Beginn der WdL ist es aber noch alles andere als klar, wie eine derartige immanente Bestimmung begrifflichen Gehalts genauer zu verstehen ist. Und auch aus der Perspektive des Denkens, das diese logische Selbstbestimmung vollzieht, besteht hier zunächst ein Defizit an Transparenz: Das Denken in der WdL ist zu Beginn in seiner Freiheit dadurch eingeschränkt, dass es die Übergänge zwischen verschiedenen Begriffen in Form eines instinkthaften, blinden Übergehens passiv erleidet, statt sie aktiv und begreifend zu vollziehen. Erst im Laufe der WdL erarbeitet es eine explizite Theorie seiner eigenen gedanklichen Übergänge. Diese Theorie bildet zugleich, wie sich zeigen wird, die kategoriale Grundlage für die „reale“ Freiheit konkreter Selbste, weil in ihr die Grundproblematik dieser Freiheit, das „Formalismus-Problem“, auf allgemeine Weise gelöst ist. Der Ort derjenigen Theorie, in der das logische Denken zu einem Verständnis seiner selbst gelangt, ist der dritte Teil der WdL, die Begriffslogik, die Hegel auch als das „Reich der Freiheit“ bezeichnet (WdL 6/240), weil erst in ihm das logische Denken sich selbst gänzlich transparent (und damit kontrolliert und selbstbestimmt) wird. Tatsächlich stellt Hegel, wie wir bereits gesehen haben, den Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik so dar, dass die „Blindheit“ und Intransparenz der am Ende der Wesenslogik thematisierten Notwendigkeit überwunden wird: „Die Notwendigkeit“, so erklärt Hegel, „wird nicht dadurch zur
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
Freiheit, daß sie verschwindet, sondern daß nur ihre noch innere Identität manifestiert wird […]“ (WdL 6/239). Allerdings ist keineswegs klar, wie die logische Struktur des Begriffs, die sich als Resultat dieser Überleitung ergibt, diejenige Transparenz schaffen kann, durch die das logische Denken sich selbst aufklärt und gänzlich befreit. Hegel gibt als Eigenheit der logischen Struktur des Begriffs an, dass seine drei Momente – Allgemeines, Besonderes und Einzelnes – unmittelbar miteinander zusammenhängen. Dies erläutert er, wie wir schon sahen, an Hand der Struktur des IchBewusstseins, das zugleich unbestimmt-allgemein und individuell-einzeln ist (vgl. 3.2.2). Durch derartige Behauptungen und Erläuterungen ist aber nur gesagt, dass die logische Struktur des Begriffs denjenigen Übergang leistet, den wir als Lösung des verallgemeinerten Formalismus-Problems suchen – einen rationalen Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen und Einzelnen (vgl. 3.2.1); es bleibt aber offen, wie dieser Übergang hier genau zu verstehen ist. Um einen Beitrag zur Klärung der freiheitstheoretischen Relevanz der Begriffslogik zu gewinnen, genügt es also nicht, lediglich Hegels Rede von der „Selbstbestimmung“ des Begriffs und vom „Ineinander der Begriffsmomente“ zu referieren.1 Da umgekehrt eine auch nur halbwegs differenzierte Untersuchung der Argumentationsstruktur der ganzen Begriffslogik den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen würde, müssen wir fragen, ob es einen eingeschränkteren Kontext innerhalb der Begriffslogik gibt, in dem die für uns interessanten Aspekte besonders klar werden. – Tatsächlich gibt Hegel, wie wir schon zu Beginn des vorigen Kapitels gesehen haben, einen exakten Hinweis auf einen solchen Kontext – nämlich die begriffslogische Urteilslehre. Dieser Abschnitt stellt laut Anmerkung zu § 24 der Rechtsphilosophie diejenigen Differenzierungen bezüglich des Begriffs der Allgemeinheit dar, die die notwendige Voraussetzung für ein Verständnis des realphilosophischen Freiheitsbegriffs bilden.2 Hegel kennzeichnet den freien Willen so, dass er „die Allgemeinheit, sich selbst, als die unendliche Form zu seinem Inhalte, Gegenstande und Zweck hat“ (GPhR § 21, 7/72), und erklärt zur relevanten Bedeutung von „Allgemeinheit“: „Die verschiedenen Bestimmungen der Allgemeinheit ergeben sich in der Logik […]“ (GPhR § 24 A, 7/75); ausdrücklich verweist Hegel dabei auf die §§ 169–178 der Enzyklopädie, also die Urteilslehre innerhalb der WdL. In diesem Kapitel gehen wir Hegels Hinweis nach und betrachten Hegels Urteilstheorie vor dem im letzten Kapitel entwickelten Hintergrund zur freiheitstheoretischen Dimension der WdL. 1 Darauf beschränken sich hinsichtlich der begriffslogischen Struktur von Freiheit z. B. Marx (1976) und Schick (1994), 191. 2 Daraus folgt freilich nicht, dass die Urteilslogik innerhalb des Aufbaus der WdL im Ganzen einen ausgezeichneten Stellenwert hat, wie Theunissen (1978), 58 ff. meint.
4.1 „Logischer Inhalt“: Zum Programm von Hegels Urteilslehre
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In Hegels Urteilslehre sind für unsere Zwecke Allgemeinheit – hierauf verweist Hegel selbst – und Notwendigkeit die Schlüsselbegriffe. Der gesuchte Begriff von Allgemeinheit muss einen rationalen, nicht-zufälligen Übergang hin zum Besonderen ermöglichen; der relevante Begriff von Notwendigkeit muss die modale Natur eines solchen Übergangs erklären, der zwar eine begriffliche Art von Notwendigkeit darstellen muss, aber nicht analytischer Art sein soll. Ehe ich im Folgenden die einzelnen von Hegel dargestellten Urteilsformen betrachte (Abschnitte 4.3 bis 4.6), stelle ich zunächst den allgemeineren Hintergrund meiner Interpretation dar (4.1) und verorte Hegels Ansatz zur Deutung von Allgemeinheit und Notwendigkeit in vorläufiger Weise im Hinblick auf traditionelle und moderne Auffassungen von Allgemeinheit und Notwendigkeit (4.2). Dabei werden sich Thesen Brandoms zur Rolle und zum Status von Modalität, insbesondere seine These des Zusammenhangs zwischen der Annahme einer begrifflichen Struktur der Wirklichkeit und einem modalen Realismus, als erhellend erweisen.
4.1 „Logischer Inhalt“: Zum Programm von Hegels Urteilslehre Eine Lektüre von Hegels Theorie von Begriff, Urteil und Schluss (der Logik des „subjektiven Begriffs“), die von einem Sachinteresse geleitet ist, muss diesen Teil der WdL gegen den häufig vorgebrachten Einwand verteidigen, Hegel falle in ihm hinter seine eigentlichen Innovationen zurück, weil er lediglich eine systematische Darstellung der formalen Logik in der aristotelischen Tradition biete (z. B. Theunissen (1978), 42; Hösle (1987), Bd. 1, 236 ff.). Besonders brisant ist für den hier verfolgten Ansatz der Vorwurf, Hegels Urteilstheorie und die an sie anschließende Schlusslehre seien wegen ihrer Bindung an die aristotelische Tradition seit der Begründung der modernen Logik durch Frege hoffnungslos veraltet.3 Nun steht Hegels Darstellungsweise in der Urteilslogik wie auch in den anderen Teilen der Lehre vom subjektiven Begriff tatsächlich der aristotelischen Tradition in der Logik sehr nahe. Er verwendet nämlich kalkülartige Permutationen der Begriffsmomente Allgemeinheit-Besonderheit-Einzelheit, um die relevanten begrifflichen Entwicklungen zu präsentieren.4 Interpretationen dieses
3 Vgl. Redding (2007), 3 ff. zum historischen Hintergrund dieser Einschätzung bei Russell. Redding schließt sich der Kritik zumindest in Teilen an (Redding (2007), 18). – Dagegen unterstreicht Lau (2004), 147–168 überzeugend die Aspekte, in denen Hegels Urteilsbegriff sich von der Tradition abkehrt und eher Elemente der Fregeschen Position antizipiert. 4 Deutungen wie die von Krohn (1972) und Carlson (2005b), die sich speziell auf Hegels kalkülartige Darstellung der Urteils- und Schlussformen als Permutationen der Begriffsmomente stüt-
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
Teils der WdL versuchen in der Regel, einzelne Bestimmungen wie die Urteilsund Schlussformen von den jeweiligen Konstellationen der Begriffsmomente her zu deuten.5 – Ich verfolge hier eine andere Strategie der Deutung: Danach gehört das Hegelsche Kalkül der Begriffsmomente zu einer Schicht der Begriffslogik, die sich vorwiegend um die Systematisierung des traditionellen Bestandes formallogischer Bestimmungen bemüht und daher systematisch nicht mehr von besonderem Interesse ist. Dabei handelt es sich aber um eher oberflächliche, die Darstellungsweise betreffende Aspekte von Hegels Lehre des subjektiven Begriffs. Andere Dimensionen des Textes enthalten dagegen eine innovative Auffassung der semantischen Natur und des metaphysischen Gehalts von Urteilen und Schlüssen, die auch aus der Sicht der Logik nach Frege von großem Interesse ist.6 Dass eine solche Perspektivverschiebung in der Deutung der Urteilslogik legitim ist, zeigt sich u. a. daran, dass Hegel zwar weitgehend die traditionelle Einteilung der Urteilsformen (in der Fassung der Kantischen Urteilstafel) übernimmt, dabei aber – wie in seiner Diskussion konkreter Beispiele klar wird – ganz andere Einteilungskriterien verwendet als die Tradition mit ihren vorwiegend syntaktischen Kriterien. Aufschlussreich sind hier z. B. die Beispiele, die Hegel verwendet, um zwischen qualitativem Urteil und Urteil der Notwendigkeit zu unterscheiden: „Dieser Ring ist gelb“ ist qualitatives Urteil, „Dieser Ring ist aus Gold“ Urteil der Notwendigkeit. (Worin der Unterschied zwischen beiden Urteilstypen für Hegel besteht, werden wir später sehen.) Für die formale Logik der Tradition weisen beide Urteile dieselbe logische Form auf: Beide sind einzelne, kategorische, positive, assertorische Urteile. Dagegen wird nach Hegel, wenn zwischen den beiden Urteilen nicht differenziert wird, „ein
zen, tragen der Skepsis gegen alle formalen Darstellungen des Denkens (Formelsprachen, Kalküle, Diagramme etc.) nicht ausreichend Rechnung, die Hegel an vielen Stellen äußert (z. B. WdL 6/ 378 ff.). Der formale, „begriffslose“ Charakter solcher Darstellungen wird für Hegel auch nicht durch ihre Anschaulichkeit aufgewogen. Wie er in Bezug auf die Geometrie erklärt, hält er die Anschaulichkeit einer Wissenschaft für ein Defizit, nicht etwa für einen Vorteil (WdL 6/535 f.). 5 So Carlson (2005); Winfield (2006); Schäfer (2006). – Einen ähnlichen wie den hier vertretenen Ansatz verfolgt Sans (2004) in seiner Untersuchung der Schlusslehre, in der er diese als sukzessive Bestimmung der logischen Bedeutung des Mittelterms im Schluss liest und sich von den gängigen formallogischen Interpretationsansätzen dezidiert absetzt (Sans (2004), 21, 223 u. a.). 6 In historischer Hinsicht werden diese beiden Textschichten vermittelt durch zwei Voraussetzungen von Hegels Urteilslehre, nämlich erstens die logischen und urteilstheoretischen Innovationen Kants und zweitens die metaphysische Neuinterpretation des Urteils in der Frühphase des Idealismus, insbesondere bei Hölderlin und Fichte (der wohl als erster das Urteil als Ur-Teilung gedeutet hat: Sans (2004), 39 f.). Eine hilfreiche Übersicht hierzu bietet Sans (2004), 39–57; zur logischen Originalität Kants vgl. Redding (2007), 86 ff. mit weiterer Literatur.
4.1 „Logischer Inhalt“: Zum Programm von Hegels Urteilslehre
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Unterschied übersehen, der dem gemeinsten Auffassen auffallen muß“ (WdL 6/336).7 Aufschlussreich sind hier auch allgemeinere Bemerkungen Hegels, die zeigen, dass es ihm gar nicht um eine formale Logik im herkömmlichen Sinne geht – dass also viele Interpreten schon damit falsch liegen, die Logik des subjektiven Begriffs als „die formale Logik in Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘“8 aufzufassen. Hegel verfügt nämlich über einen Begriff des logischen Inhalts, auf Grund dessen nicht nur die WdL insgesamt, sondern auch speziell die Behandlung formallogischer Kategorien in der Lehre vom subjektiven Begriff (Begriff, Urteil, Schluss) im Sinne einer materialen Logik verstanden werden können.9 In einer relevanten Passage innerhalb der Urteilslogik kritisiert Hegel im Anschluss an Kant die schulphilosophische Definition des Urteils als „Verbindung zweier Begriffe“ und setzt an deren Stelle eine Auffassung, nach der Subjekt und Prädikat „im Urteil eigentlich erst ihre Bestimmung zu erhalten haben“ (WdL 6/306).10 Diese Aussage
7 Ferner kann kritisch dafür argumentiert werden, dass die Urteils- und Schlusslogik, insofern sie sich auf der Ebene der aristotelischen Tradition bewegt, zu keineswegs einleuchtenden Ergebnissen kommt. Beispielsweise lässt sich leicht zeigen, dass Hegels Versuch, die nach herkömmlichem Verständnis von infiniten Pro- und Episyllogismen abhängigen drei Figuren des Schlusses des Daseins gegenseitig zu beweisen, fehlerhaft ist: Hösle (1987), Bd. 1, 180–182. Andere Aspekte der Urteils- und Schlusslogik sind, wenn sie aus aristotelischer Perspektive verstanden werden, zwar nicht formal falsch, aber doch unklar und unplausibel. Dies zeigt sich vielleicht am deutlichsten an den aus aristotelischer Sicht völlig berechtigten Kritikpunkten, die Trendelenburg in seiner kritischen Lektüre der Urteils- und Schlusslehre vorbringt: Trendelenburg (1870), Bd. 2, 294–311, 360–393. – Vgl. zur kritischen Rezeptionsgeschichte der Lehre vom subjektiven Begriff Sans (2004), 20 ff., mit weiterer Literatur; zu Recht stellt Sans fest, dass die subjektive Logik „auch oder gerade dann nicht befriedigt, wenn man ihren ersten Abschnitt [sc. die Lehre von Begriff, Urteil und Schluss] als ein Lehrstück der formalen Logik begreift“ (21). 8 So der Titel von Krohn (1972). 9 Dass die Logik im engeren Sinne eine formale Wissenschaft sei, die Urteile und andere Ausdrücke ohne Rücksicht auf ihren Inhalt betrachte, ist nur scheinbar eine selbstverständliche Meinung. Wie John MacFarlane nachgewiesen hat, hat diese Auffassung von Logik ihren historischen Ursprung gerade in Kants Bestimmung des Verhältnisses der transzendentalen zur allgemeinen Logik und ist daher eng an die Prämissen von Kants transzendentalem Idealismus gebunden (MacFarlane (2002)). Dagegen besteht zum einen in der vorkantischen Logik ein enger Zusammenhang zwischen Logik und Metaphysik, zum anderen betont auch Frege immer wieder, die Logik sei nicht rein formal, sondern habe einen eigenen Inhalt; auf diese Ansicht ist er schon allein wegen seines Logizismus festgelegt. 10 Bereits in der Einleitung zur Begriffslogik nimmt Hegel zur Frage der Formalität der Logik Stellung. Hegel erklärt dort, dass die Logik zwar im Vergleich zur Realphilosophie formaler Natur sei, diese Form aber selbst eine eigene Inhaltlichkeit erzeuge: „[D]er Inhalt [sc. in der Logik] ist überhaupt nichts anderes als solche Bestimmungen der absoluten Form, – der durch sie selbst gesetzte und daher auch ihr angemessene Inhalt. – Diese Form ist darum auch von ganz anderer
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
kann so verstanden werden, dass die logische Funktion von Subjekt und Prädikat nicht allgemein bestimmt werden kann, sondern nur im Hinblick auf konkrete Urteilsformen. Das jeweils spezifische Verhältnis von Subjekt und Prädikat macht dabei für Hegel den „logischen Inhalt“ eines Urteilstyps aus: Diese Bestimmungen [sc. Allgemeines und Einzelnes] machen den wahrhaft logischen Inhalt, und zwar in dieser Abstraktion den Inhalt des positiven Urteils aus; was für anderer Inhalt (‚die Sonne ist rund‘, ‚Cicero war ein großer Redner in Rom‘, ‚jetzt ist’s Tag‘ usf.) in einem Urteil vorkommt, geht das Urteil als solches nichts an; es spricht nur dies aus: Das Subjekt ist Prädikat, oder, da dies nur Namen sind, bestimmter: das Einzelne ist allgemein und umgekehrt. – Um dieses rein logischen Inhalts willen ist das positive Urteil nicht wahr […]. – Der Inhalt, fordert man, soll sich im Urteile nur nicht widersprechen; er widerspricht sich aber in jenem Urteile, wie sich gezeigt hat. (WdL 6/317)
Wie diese Passage zeigt, steht der Begriff des „logischen Inhalts“ im Hinblick auf die Urteilslogik für eine Größe, durch die sich die einzelnen Urteilstypen unterscheiden und von der die Wahrheit abhängt, die diese Typen für Hegel als solche haben können.11 Der jeweilige logische Inhalt eines Urteilstyps besteht nach Hegels Darstellung zunächst im gegenseitigen Verhältnis von je zweien der Begriffsmomente Allgemeines, Besonderes und Einzelnes. Da diese Begriffe, wie wir schon sahen, selbst erst im Laufe der Entwicklung der Begriffslogik eine konkretere Bedeutung erhalten, empfiehlt es sich, das exegetische Augenmerk zunächst eher auf die Weise zu richten, in der Hegel die unterschiedlichen Urteilstypen untereinander abgrenzt und in eine hierarchische Ordnung bringt. Als Beispiel dieser heterodoxen Differenzierungen hatte ich schon die Deutung von „Dieser Ring ist gelb“ als qualitatives Urteil und von „Dieser Ring ist aus Gold“ als Urteil der Notwendigkeit genannt. Im Anschluss an die zitierte Passage liefert Hegel ein weiteres Exempel. Er unterscheidet dort die Wahrheit, die einer logischen Bestimmung und speziell einer Urteilsform zukommen kann und die von
Natur, als gewöhnlich die logische Form genommen wird. Sie ist schon für sich selbst die Wahrheit, indem dieser Inhalt seiner Form oder diese Realität ihrem Begriffe angemessen ist […]“ (WdL 6/265). Hegel setzt sich in diesem Zusammenhang kritisch mit Kants Bestimmung der „allgemeinen formalen Logik“ in der KrV auseinander. Kant zufolge kann die formale Logik kein positives Wahrheitskriterium an die Hand geben, sondern nur rein formale Voraussetzungen für Wahrheit benennen (wie Widerspruchsfreiheit). Während Kant von der formalen bekanntlich die transzendentale Logik als „Logik der Wahrheit“ unterscheidet, die materiale Voraussetzungen wahrheitsfähiger empirischer Urteile untersucht, deutet Hegel die Logik insgesamt – und zwar auch den vermeintlich „formalen“ Teil der WdL, nämlich die Lehre von Begriff, Urteil und Schluss – als Wissenschaft, die einen eigenen Inhalt und entsprechend eine eigene Wahrheit hat. 11 Vgl. VL 11/148: „Der Inhalt als Inhalt, das Logische davon, ist im Urteil wesentlich. – Indem das Urteil sich weiter fortbestimmt, bestimmt sich zugleich der Inhalt desselben“.
4.1 „Logischer Inhalt“: Zum Programm von Hegels Urteilslehre
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der logischen Prüfung ans Licht gebracht wird, von der Richtigkeit einer Wahrnehmung oder Vorstellung. Wird die letztere schon als Wahrheit bezeichnet, so müsse man die von der Philosophie thematisierte Wahrheit zumindest „Vernunftwahrheit“ nennen; „und man wird wohl zugeben“, so fährt Hegel fort, daß solche Urteile [wie] daß Cicero ein großer Redner gewesen, daß es jetzt Tag ist usf. keine Vernunftwahrheiten sind. Aber sie sind dies nicht, nicht weil sie gleichsam zufällig einen empirischen Inhalt haben, sondern weil sie nur positive Urteile sind, die keinen andern Inhalt als ein unmittelbar Einzelnes und eine abstrakte Bestimmung zum Inhalte haben können und sollen. (WdL 6/318)
Die ungewöhnliche, nicht rein syntaktische Differenzierung zwischen Urteilsformen, die Hegel auch an dieser Stelle vornimmt, kann dann verständlich gemacht werden, wenn angenommen wird, dass der logische Inhalt einer Urteilsform wesentlich durch die Art von Rechtfertigung und von explanatorischer Kraft definiert ist, die mit einer solchen logischen Form verbunden sind. Z. B. wird das qualitative Urteil (wie „der Ring ist gelb“) typischerweise durch unmittelbaren Begriffsgebrauch wie in der Überzeugungsbildung in Wahrnehmungssituationen gerechtfertigt; entsprechend benennt es oberflächliche Aspekte von Sachen wie deren optische Erscheinung, statt ein Erklärungsprinzip zugänglich zu machen, das ein wirkliches Begreifen der Sache erlaubt. Ein solches Prinzip und die Möglichkeit entsprechender Rechtfertigung werden dagegen etwa von Urteilen der Notwendigkeit und des Begriffs zur Verfügung gestellt. Die Tatsache, dass der Ring aus Gold ist – also nicht nur goldene Farbe zeigt, sondern tatsächlich aus diesem Stoff gefertigt ist –, ist nicht ohne weiteres in der Beobachtung zugänglich; wir müssen sie vielmehr mittels Kriterien und Tests erschließen. Umgekehrt erlaubt es die Kenntnis dieser Tatsache, das Verhalten des Rings unter bestimmten Umständen zu verstehen und vorherzusagen (z. B. Schmelzpunkt, Aussehen unter anderer Beleuchtung, spezifisches Gewicht usw.). Der so markierte Unterschied hängt offensichtlich nicht bloß am gewählten Beispiel, sondern lässt sich mit Hegel als systematische Differenz zweier Arten von Urteilen verstehen. Dadurch wird eine Einteilung von Urteilsarten möglich, die von der traditionellen syntaktischen Einteilung grundlegend verschieden ist und stattdessen Unterschiede auf einer Analyseebene zugänglich macht, die als die „rationale Tiefenstruktur“ der Urteile bezeichnet werden kann.12
12 Freilich trennt Hegel diese Analyseebene nicht konsequent von der herkömmlichen formalen Klassifikation von Urteilstypen und gibt mitunter rein syntaktische Kriterien für Urteilstypen, die dennoch im Hinblick auf „logischen Inhalt“ erläutert werden (z. B. disjunktives Urteil, hypothetisches Urteil). Dies kann dann aber so verstanden werden, dass bestimmte syntaktische Formen
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
Diese Deutung kann sich auf einen weiteren Anhaltspunkt stützen. Hegel unterscheidet mehrfach zwischen Urteil und bloßem Satz. Sein „offizielles“ Abgrenzungskriterium besagt dabei, dass im Satz etwas Einzelnes von etwas Einzelnem ausgesagt wird13, während im Urteil zwei verschiedene Begriffsmomente miteinander verbunden werden – paradigmatisch Einzelnes (Subjekt) und Allgemeines (Prädikat) (Enz. § 166 A, 8/316).14 Als Beispiele für Prädikate, die „nicht im Verhältnis der Allgemeinheit“ zu dem Subjekt stehen (Enz. § 167 A, 8/319), nennt Hegel Zustände und Handlungen (Enz. § 167 A, 8/319); „Cäsar ist über den Rubikon gegangen“ und „Es fährt ein Wagen vorüber“ sind beispielsweise für Hegel Sätze, nicht Urteile. Es ist aber nicht klar, weshalb „___ist über den Rubikon gegangen“ und „___fährt vorüber“ eher einen einzelnen Inhalt ausdrücken sollen als das Prädikat „rot“, das im „Urteil des Daseins“ vorkommen kann. Während hier offenbar die behauptete „Einzelheit“ des Prädikats unklar ist und kein geeignetes Abgrenzungskriterium bietet, ist ein weiterer Unterschied, den Hegel benennt, klarer und aussagekräftiger. Hegel erklärt: Nur dann würde ein Satz [wie] ‚es fährt ein Wagen vorüber‘ ein und zwar subjektives Urteil sein, wenn es zweifelhaft sein könnte, ob das vorüber sich Bewegende ein Wagen sei oder ob der Gegenstand sich bewege und nicht vielmehr der Standpunkt, von dem wir ihn beobachten; wo das Interesse also darauf geht, für [eine] noch nicht gehörig bestimmte Vorstellung die Bestimmung zu finden. (Enz. § 167 A, 8/319)
Ebenso wäre die Aussage „Aristoteles ist im 73. Lebensjahr gestorben“ nach Hegel dann ein Urteil und nicht bloß ein Satz, wenn in Frage gestellt würde, in welchem Alter Aristoteles starb (WdL 6/305). Wenn dagegen ohnehin allgemein bekannt ist, in welchem Alter Aristoteles gestorben ist, dann ist mit einem Wiederholen dieser Aussage kein Erkenntnisanspruch verbunden. Wer sie
für Hegel paradigmatisch (aber nicht ausschließlich) mit einem bestimmten logischen Inhalt einhergehen. 13 WdL 6/305: „Drückt das, was vom einzelnen Subjekte ausgesagt wird, selbst nur etwas Einzelnes aus, so ist dies ein bloßer Satz“. 14 So schreibt Hegel: „Das abstrakte Urteil ist der Satz: ‚das Einzelne ist das Allgemeine‘“ (Enz. § 166 A, 8/316). Hierin liegt insofern eine Antizipation der modernen Logik, als diese ja, anders als die aristotelische Tradition, Subjekt und Prädikat als logisch heterogene Elemente auffasst; vgl. Lau (2004), 148 ff. Allerdings unterscheidet sich Hegels Urteilsbegriff dennoch wesentlich von der modernen Auffassung seit Frege, und zwar nicht nur, weil die Gegenüberstellung von einzelnem Subjekt und allgemeinem Begriff in der Entwicklung der Urteilslogik aufgehoben wird (Lau (2004), 153 n.), sondern mehr noch darin, dass die moderne Auffassung auf Freges Deutung von Allgemeinheit als Unbestimmtheit beruht, während Hegel modal und explanatorisch sehr viel stärkere Formen von Allgemeinheit einführt (vgl. Fußnote 66 in diesem Kapitel).
4.1 „Logischer Inhalt“: Zum Programm von Hegels Urteilslehre
197
macht, übernimmt de facto keine doxastische Verantwortung; er vollzieht in der sprachlichen Praxis einen Zug, der keine Signifikanz hat. Auch hier betrifft also der Gesichtspunkt, nach dem Hegel seine Klassifikationen (hier die Unterscheidung zwischen Satz und Urteil sowie zwischen allgemeinen und einzelnen Prädikaten) vornimmt, diejenigen Merkmale, die wir als ihre „rationale Tiefenstruktur“ bezeichnet haben und für die nach unserer Deutung bei Hegel der Ausdruck „logischer Inhalt“ steht: die unterschiedlichen möglichen Rechtfertigungsstatus von Urteilen, ihre explanatorische Kraft und ihre Geltungsansprüche. Das genannte Beispiel verdeutlicht darüber hinaus einen weiteren innovativen Aspekt des nicht-syntaktischen Charakters von Hegels Klassifikationen, nämlich die Tatsache, dass die Zuweisung eines konkreten Urteils zu einem bestimmten Typ kontextabhängig ist. In der Enzyklopädie (§ 167 A, 10/319) nennt Hegel als Beispiele für bloße Sätze: (1) Ich habe heute Nacht gut geschlafen. (2) Präsentiert das Gewehr! (3) Es fährt ein Wagen vorüber. Ein Satz wie (1) wird gewöhnlich als Antwort auf die Frage: „Wie hast du geschlafen?“ verwendet. In gewöhnlichen Kontexten dieser Art können wir uns nicht sinnvoll denken, dass eine Antwort wie (1) kontrovers ist und in einer Begründungspflicht steht. Sofern wir davon ausgehen, dass der Sprecher ehrlich ist (und z. B. nicht nur aus Höflichkeit so antwortet), nehmen wir wohl gewöhnlich nicht einmal eine Möglichkeit der Täuschung an. Daher kann eine Aussage wie (1) in diesem Kontext analog zu Wittgensteins Behandlung von Äußerungen über eigene mentale Zustände („Ich habe Schmerzen“) als expressiver, nicht deskriptiver Sprechakt betrachtet werden (PU §§ 244–246). Im Gegensatz zu Wittgensteins Analyse lässt aber Hegels Deutung von Aussagen wie (1) zu, dass es auch andere Kontexte gibt, in denen (1) tatsächlich eine Behauptung aufstellt – dass etwa ein Streit darüber ausgebrochen ist, ob der Sprecher wirklich gut geschlafen hat oder dies nur aus Höflichkeit gegenüber einem Gastgeber behauptet. In diesem Fall ist (1) ein Urteil, nicht ein bloßer Satz, und wir können Rechtfertigungen verlangen, die zeigen, dass der Satz ehrlich gemeint ist. Im Falle von (2) ist eine kontextabhängige Umdeutung in ein Urteil kaum denkbar; wir können uns aber Kontexte denken, in denen (2) eine Verpflichtung behauptet und insofern wahr oder falsch sein kann (wenn z. B. jemand erklärt, was die Soldaten an einer bestimmten Stelle einer Zeremonie tun sollen). – Satz (3) schließlich dient als Beispiel für Sätze, die eine Rolle in Wahrnehmungssituationen spielen. Hegel kann hier zulassen, dass solche Äußerungen als spontaner Ausdruck einer Wahrnehmung dienen können und so analog zu (1) expres-
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siv analysiert werden können.15 Zugleich lässt Hegel die Möglichkeit offen, dass wir uns Situationen denken können, in denen über solche Äußerungen diskutiert wird, so dass sie als Urteile zu werten sind: wo, wie Hegel es in der zuvor zitierten Passage ausgedrückt hatte, „das Interesse […] darauf geht, für [eine] noch nicht gehörig bestimmte Vorstellung die Bestimmung zu finden“ (Enz. § 167 A, 8/319). (Hegel knüpft in dieser Differenzierung möglicherweise an Kants Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen an (vgl. AA 4/298 f.); doch macht er, im Gegensatz zu Kant, den relevanten pragmatischen Unterschied in erster Linie vom Kontext der Äußerung abhängig, nicht von der syntaktischen Form oder dem Gebrauch bestimmter Kategorien.) Hegels Begriff des „logischen Inhalts“ als einer Größe, die wesentlich durch Arten von Rechtfertigungs- und Erklärungsfunktionen definiert ist und im Fall des einzelnen sprachlichen Ausdrucks in erheblichem Maß von Kontextfaktoren bestimmt ist, markiert demnach die Perspektive, aus der die Urteilslogik mit ihren Klassifikationen und Unterscheidungen zu sehen ist: Dies ist gerade nicht die vorwiegend syntaktische Perspektive der aristotelischen Logik, weshalb Hegels Anleihen an diese Tradition in seiner systematisierenden Darstellung eher in die Irre führen. Gemäß dem so verstandenen methodologischen Standpunkt von Hegels Urteilslogik kann schließlich auch seine Auffassung des Urteils als solchen interpretiert werden. Der Urteilsbegriff, der in seiner Diskussion zum Tragen kommt, ist der einer Einheit, die Träger rechtfertigender und explanatorischer Kraft ist. Diese rechtfertigende und explanatorische Kraft äußert sich für Hegel – wie wir im Folgenden sehen werden – in erster Linie in Gestalt von Beziehungen zwischen einem allgemeinen Gehalt und einem besonderen Gegenstand sowie in modalen Beziehungen.16 Deshalb kann Hegel das Urteil „offiziell“ als „unterschei-
15 Vgl. hierzu auch Wittgensteins Diskussion des sprachlichen Ausdrucks von Aspektwahrnehmungen in PU ii, xi. 16 Diese Beziehungen sind dabei für Hegel stets mit Hilfe einer Kopula ausgedrückt. Der Status der Kopula im Urteil spielt für unseren exegetischen Zugang keine besondere Rolle, könnte aber zunächst als weiteres überkommenes Element in der Hegelschen Urteilslogik angesehen werden. Nach Hegel drückt die Kopula „aus, daß das Subjekt das Prädikat ist“ (WdL 6/308). Dies bestimmt Hegel genauer so, dass die Kopula darauf zielt, die „Identität“ des Begriffs als „bestimmte und erfüllte Einheit des Subjekts und Prädikats“ (WdL 6/309) darzustellen, dies aber nur ansatzweise tut; wo sie dieses Ziel erreicht, tritt sie als „bestimmte und erfüllte Kopula“ (WdL 6/350) auf, nämlich als Begründung des Urteils, die dann zum terminus medius des Schlusses wird. Hegel scheint damit der Kopula einen eigenen, zu Subjekt und Prädikat hinzutretenden Gehalt zuzusprechen, nämlich den der Relation zwischen beiden. Während dies der Auffassung der Kopula in der aristotelischen Tradition entspräche, wird – wie schon bei Platon – in der modernen Logik seit Frege der Kopula eine solche Funktion gewöhnlich abgesprochen (vgl. zu Plato und Aristote-
4.1 „Logischer Inhalt“: Zum Programm von Hegels Urteilslehre
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dende Beziehung“ der Begriffsmomente von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem (Enz. § 166, 8/316; vgl. WdL 6/301 f.) bestimmen – oder genauer so, dass „vom Einzelnen als dem Ersten, Unmittelbaren ausgegangen und dasselbe durch das Urteil in die Allgemeinheit erhoben“ wird, „so wie umgekehrt das nur an sich seiende Allgemeine im Einzelnen ins Dasein heruntersteigt oder ein Fürsichseiendes wird“ (WdL 6/307).17 Allerdings betont Hegel, wie wir schon sahen, auch, dass Subjekt und Prädikat erst in spezifischen Urteilsformen bestimmt werden; es ist also für Hegel keine stichhaltige Theorie von Subjekt und Prädikat als solchen möglich, sondern die logische Struktur des Urteils kann nur an Hand der Betrachtung konkreter Urteilsformen – also „logischer Inhalte“ – verständlich gemacht werden. Allerdings gibt es zwei weitere wichtige Eigenheiten von Hegels Verständnis des Urteils, die schon vor der Betrachtung konkreter Urteilsformen benannt werden sollten. Erstens existieren nach Hegel zwei verschiedene Perspektiven auf das Urteil. Zum einen wird es in „subjektiver“ Weise verstanden als Inhalt, der in unserer rationalen Aktivität auftritt. Es wäre aber für Hegel völlig falsch zu meinen, das Urteilen erschöpfe sich in dieser subjektiven Dimension. Denn das Urteil hat für Hegel zum anderen auch eine objektive Dimension: Es drückt eine Verbindung von Bestimmungen in der beurteilten Sache selbst aus, die schon besteht, ehe wir ans Urteilen gehen. Die Begriffe im Urteil werden in diesem Sinne also nicht erst von uns zusammengesetzt. Wie Hegel im Rückgriff auf Kants Deutung der Kopula in § 19 der B-Deduktion als sprachlichen Ausdrucks der objektiven Einheit von Vorstellungen (KrV B 141 f.) erklärt, drücken wir, indem wir die Begriffe sprachlich im Urteil mittels der Kopula verbinden, aus, dass „das Prädikat zum Sein des Subjekts gehört und nicht bloß äußerlich damit verbunden wird“ (WdL 6/305). Neben dieser realistischen Interpretation des Urteils – die Teil von Hegels allgemeinem Begriffsrealismus ist: vgl. 5.2.2 – ist Hegels Urteilstheorie zweitens durch ein inferentialistisches Verständnis des Urteils ausgezeichnet. Das Urteil bildet nämlich für sich genommen keine autonome logische Struktur, sondern setzt immer schon die Möglichkeit des Schließens voraus18: Der Schluss ist für
les Englebretsen (1996), 1 ff.). Allerdings kann die Kopula bei Hegel auch als Resultat statt als Konstituens des Urteils gedeutet werden; in ihr „kristallisiert“ dann gleichsam der logische Inhalt des Urteils. (Ähnlich argumentiert Theunissen (1978), 395 f.; vgl. auch Lau (2004), 154. Eine andere Interpretation, nach der die Kopula für Hegel einen eigenen Teil des Urteils ausmacht, vertritt Sans (2004), 102 ff.). 17 Dies ist laut Hegel der „objektive Sinn“ des Urteilsbegriffs (WdL 6/307). 18 Vgl. zum Übergang vom Urteil zum Schluss auch Winfield (2006), 110 f.; Sans (2004), 58–87; Oberauer (2006). Zur inferentialistischen Bedeutung dieses Übergangs vgl. Redding (2007), 114.
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
Hegel die „Einheit und Wahrheit“ von Begriff und Urteil (WdL 6/351); weder Urteile noch Begriffe können daher unabhängig von Schlüssen logischen und semantischen Gehalt haben. Die spezifische Gestalt von Hegels Inferentialismus wird dann sichtbar, wenn wir bei ihm zwei Hinsichten unterscheiden, in denen das Urteil den Schluss voraussetzt. Die erste Dimension ist die der Rechtfertigung; sie wird am deutlichsten in Hegels Darstellung des Übergangs vom Urteil zum Schluss. Das assertorische Urteil – und ebenso alle vorangegangenen Formen des Urteils, so wäre zu ergänzen – behauptet nach Hegel eine Verbindung von Prädikat und Subjekt, die nicht aus dem Inhalt der beiden Urteilsbegriffe unmittelbar hervorgeht und daher nur eine „subjektive Versicherung“ ist (WdL 6/346). Dieser Aspekt wird im problematischen Urteil hervorgehoben, in dem implizit zwei entgegengesetzte „Versicherungen“ als gleichermaßen möglich hingestellt werden: Es kann sein, kann aber auch nicht sein, dass (in Hegels Beispielen für assertorische bzw. problematische Urteile, vgl. 4.6) das Kunstwerk schön ist, die Handlung gut usw. Das apodiktische Urteil dagegen enthält in sich eine Begründung für die behauptete Bewertung: „Das Haus, so und so beschaffen, ist gut“, was expliziert werden kann in Form des Syllogismus („so und so beschaffen“ fassen wir als (komplexe) „Eigenschaft P“): (1) Ein Haus soll die Eigenschaft P aufweisen. (… es soll „so und so beschaffen“ sein) (2) Dieses Haus weist die Eigenschaft P auf. (3) ∴ Dieses Haus ist gut. Hegel drückt diesen Übergang zum Schluss so aus, dass im apodiktischen Urteil die Kopula mit dem Urteilsgrund19 „erfüllt“ ist, d. h. zu Subjekt und Prädikat tritt als vermittelndes Element diejenige Angabe („so und so beschaffen“ bzw. „weist die Eigenschaft P auf“) hinzu, die dem terminus medius im Syllogismus entspricht. Durch diese „Erfüllung der Kopula“, so Hegel, „ist das Urteil zum Schlusse geworden“ (WdL 6/351). Das Urteil muss also deshalb zum Schluss übergehen, weil es für sich allein genommen eine bloße Behauptung darstellt; der Schluss liefert dagegen die Rechtfertigung für das Urteil. Urteile sind somit nicht in sich geschlossene Einheiten, sondern stellen selbst schon Verknüpfungen zwischen verschiedenen propositionalen Gehalten – dem eigentlichen Urteilsinhalt einerseits und möglichen Rechtfertigungen, Folgerungen usw. andererseits – her; sie sind insofern implizite Schlüsse.20
19 WdL 6/350: „Es ist damit nunmehr die bestimmte und erfüllte Kopula vorhanden, die vorher in dem abstrakten Ist bestand, jetzt aber zum Grunde überhaupt sich weitergebildet hat“. 20 Dieser Punkt spielt schon bei Kant eine Rolle: vgl. Longuenesse (1998), 81 f.; Redding (2007), 116 ff.
4.1 „Logischer Inhalt“: Zum Programm von Hegels Urteilslehre
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Daneben besteht bei Hegel aber auch hinsichtlich der explanatorischen Kraft eine inferentialistische Abhängigkeit des Urteils vom Schluss. Nach Hegels Auskunft macht die logische Form des Schlusses die „Form der Vernünftigkeit“ (WdL 6/377) aus. Diese Form ist nach Hegel nicht etwa primär eine Eigenschaft unserer diskursiven Aktivität (entsprechend der eben erörterten Dimension der Rechtfertigung), sondern sie ist das, was vernünftige Gegenstände wie Gott, Freiheit, Recht gemeinsam haben (WdL 6/352 f.). Damit greift Hegel die traditionelle, bei Kant besonders prominente Doppelfunktion der Vernunft als formales Vermögen des Schließens einerseits und als ausgezeichnetes Vermögen inhaltlicher Erkenntnis andererseits auf und beansprucht, den in der Tradition dunkel gebliebenen Zusammenhang beider Aspekte von Vernunft zu klären (WdL 6/352). Die Inhalte von Erkenntnis sind, so Hegel, dann vernünftig, wenn sie die Form des Schlusses aufweisen. Wesentlich für die Form des Schlusses ist es nach Hegel, dass in ihm ein Allgemeines als Einheit besonderer Momente gekennzeichnet wird.21 Dies ist eine Funktion, die nicht primär die rechtfertigende Rolle des Schlusses betrifft. Vielmehr geht es darum, dass der Schluss eine rationale Struktur in der Sache selbst bezeichnet. In seinen angemesseneren, zum Erkennen wirklicher Sachverhalte besser geeigneten Formen beruht der Schluss darauf, dass aus einer allgemeinen Bestimmung einer Sache einzelne Aspekte und Eigenschaften folgen, also aus ihr heraus verständlich gemacht werden können.22 Diese reale Beziehung kann dann im subjektiv verstandenen Schluss auch dazu genutzt werden, um eine Konklusion zu rechtfertigen; diese Rechtfertigung setzt aber schon ein begreifendes und erklärendes Verständnis der Sache, um die es geht, voraus. Da die explanatorischen Strukturen, die hier auftreten, nach Hegel selbst inferentieller Art sind, sind Urteile auch in dieser Hinsicht nur im Rahmen inferentieller Verknüpfungen möglich.
21 Erläuternd charakterisiert Hegel die Form des Schlusses wie folgt: „Es ist dies, daß das Unendliche derselben nicht die leere Abstraktion vom Endlichen und die inhalts- und bestimmungslose Allgemeinheit ist, sondern die erfüllte Allgemeinheit, der Begriff, der bestimmt ist und seine Bestimmtheit auf diese wahrhafte Weise an ihm hat, daß er sich in sich unterscheidet und als die Einheit von diesen seinen verständigen und bestimmten Unterschieden ist. Nur so erhebt sich die Vernunft über das Endliche, Bedingte, Sinnliche, oder wie es sonst bestimmt werden mag, und ist in dieser Negativität wesentlich inhaltsvoll, denn sie ist die Einheit als von bestimmten Extremen; so aber ist das Vernünftige nur der Schluß“ (WdL 6/353). 22 Der Sache nach hängt Hegels Bewertung von Schlussformen mit Sellars’ Unterscheidung von formal und material gültigen Inferenzen zusammen (vgl. dazu MIE 94 ff.). Allerdings ist dadurch, dass eine Inferenz material gültig ist, d. h. ihre Geltung auf dem Gehalt der in ihr enthaltenen nicht-formalen Begriffe und nicht auf ihrer logischen Form beruht, noch nicht sichergestellt, dass sie eine explanatorisch besonders aussagekräftige inferentielle Beziehung ausdrückt.
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
Wird das Programm von Hegels Urteilslogik im erläuterten Sinne als Theorie der „logischen Inhalte“ von Urteilen verstanden – als Theorie der verschiedenen Rechtfertigungs- und Erklärungsformen, durch die Urteile in der Lage sind, objektive Gehalte auszudrücken –, kann mit gutem Grund erwartet werden, dass Hegels Urteilslehre keineswegs eine bloße Systematisierung der Urteilslehre in der aristotelischen Tradition darstellt und auch nach Frege für uns noch von Interesse sein kann.
4.2 Allgemeinheit und Notwendigkeit: Historische und systematische Perspektiven Ehe wir uns der Untersuchung von Hegels Argumentation in der Begriffslogik zuwenden, wird es hilfreich sein, zunächst einige systematische und historische Gesichtspunkte der Thematik von Allgemeinheit und Notwendigkeit zu erläutern, um einen Hintergrund zu schaffen, vor dem die Hegelsche Argumentation besser verständlich wird. Die Begriffe „Allgemeinheit“ und „Notwendigkeit“ stellen nicht nur Themen von rein formallogischem Interesse dar, sondern sind Schlüsselbegriffe, von deren Verständnis zahlreiche Weichenstellungen im Hinblick auf metaphysische, epistemologische und geistphilosophische Fragen abhängen. Im Folgenden werde ich eine idealtypische „Standardauffassung“ von Allgemeinheit und Notwendigkeit skizzieren, die besonders die empiristische Tradition prägt, und dann verschiedene Ansatzpunkte für eine alternative Auffassung identifizieren.23 (1) In der aristotelischen Tradition der Logik steht der Begriff der Allgemeinheit für eine Quantität von Urteilen, die in zwei verschiedenen Formen auftritt: zum einen in „allgemeinen“ Urteilen im engeren Sinne (iudicia universalia), die in Bezug auf eine gegebene Menge von Elementen ein Prädikat von ausnahmslos allen Elementen aussagen; zum anderen in „besonderen“ Urteilen (iudicia generalia/communia), die das Prädikat nur von einigen Elementen aussagen. Beide Arten von Urteil können deshalb als allgemein gelten, weil sie von einer Mehrzahl handeln. Allgemeinheit wird insofern in dieser Tradition extensional verstanden.
23 Auch Schäfer (2006) und Winfield (2006) stellen die von Hegel unterschiedenen Formen von Allgemeinheit in den Mittelpunkt ihrer Deutung der Urteilslogik. Winfield betont auch Hegels Kritik an tradierten Auffassungen von Allgemeinheit; allerdings redet er nur davon, dass Hegel gegen die Tradition für die „Untrennbarkeit“ von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem argumentiert (Winfield (2006), 74–77), ohne genauer zu erklären, in welchem Sinn die Tradition Allgemeines, Besonderes und Einzelnes für trennbar hält (betrifft die Trennbarkeit Existenz oder nur Bedeutung? bezieht sie sich auf types oder token? usw.).
4.2 Allgemeinheit u. Notwendigkeit: Historische u. systematische Perspektiven
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(2) Typischerweise geht dieses extensionale Verständnis einher mit einer bestimmten Theorie der Bildung von Begriffen und allgemeinen Aussagen. Zunächst sind uns nach dem Modell, das als „abstraktionistisch“ bezeichnet werden kann, in der Wahrnehmung einzelne Gegenstände usw. gegeben; durch abstrahierende Manipulation gelangen wir im Denken zu allgemeinen Repräsentationen (Begriffen, Verallgemeinerungen)24, die von einer Mehrzahl von Fällen gelten und das ausdrücken, was ihnen gemeinsam ist. (3) Besonders in den empiristischen Ausprägungen dieser Tradition werden allgemeine Aussagen, die durch Abstraktion (und ggf. durch Induktion) gewonnen werden, als modal schwache Aussagen interpretiert: Sie drücken die bloß extensionale Tatsache aus, dass verschiedene Gegenstände eine Eigenschaft teilen; ob diese Tatsache kontingent (z. B. „Alle Bleistifte auf meinem Tisch sind stumpf“) oder notwendig ist (z. B. „Alle Bleistifte auf diesem Tisch sind Schreibinstrumente“), macht hinsichtlich des Begriffs der Allgemeinheit keinen Unterschied. Dieser Punkt ist etwa in der klassischen Wissenschaftstheorie des logischen Positivismus – der in Sachen Allgemeinheit ganz in der Tradition des klassischen Empirismus steht – von Bedeutung: Nach der positivistischen Standard-Theorie von Naturgesetzen, deren klassische Formulierung von Hempel stammt (Hempel (1965)), sind diese lediglich extensionale Verallgemeinerungen, die keine notwendigen Zusammenhänge ausdrücken. – Entsprechend wird auch die Allgemeinheit empirischer Begriffe, die ausdrücken, was mehreren Gegenständen gemeinsam ist, als modal schwache Form von Allgemeinheit interpretiert. (4) Ein weiterer symptomatischer Aspekt einer extensionalen Deutung von Allgemeinheit, der besonders in der empiristischen Tradition wichtig ist, ist die Entgegensetzung von deiktischer Bezugnahme, durch die Einzelnes repräsentiert werden soll, und Prädikation, also der Anwendung von allgemeinen Begriffen.25 In der Prädikation wird ein gegebenes Einzelnes unter einen Begriff subsumiert; in der Deixis findet eine direkte, nicht begrifflich vermittelte Bezugnahme auf Einzelgegenstände statt. Allgemeines und Einzelnes werden hier somit als radikal heterogen konzipiert. Hieran schließt sich häufig auch der Gedanke an, dass das Einzelne als Inhalt sinnlicher Wahrnehmung und Gegenstand deiktischer Bezugnahme ein semantisches Fundament bildet, auf dem die durch Abstraktion formierte Allgemeinheit aufbaut.26
24 Diese Art der Gegenüberstellung von Anschauung und Denken geht auf Aristoteles zurück: vgl. z. B. De An. II 5, 417b23–25; An. Post. I 31, 87b37–39. 25 Vgl. McDowell (1996), 104 ff., der Ausprägungen dieses Modells in neueren Diskussionen über singuläre Referenz diskutiert. 26 Diese semantische Seite des empiristischen Fundamentalismus spielt auch im klassischen Empirismus eine wichtige Rolle; explizit vertritt sie besonders Russell, z. B. Russell (1912), Kap. 5.
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
(5) Die semantische und epistemologische Opposition von Einzelnem und Allgemeinem hat in der empiristischen Tradition ferner ontologische Konsequenzen. Wie Erkenntnis und sprachliche Bedeutung auf einem Fundament aus Einzelnem beruhen, so ist auch die ontologische Sphäre dessen, was wir erkennen können, in der Regel durch Einzelheit gekennzeichnet – gleich, ob diese Sphäre im Sinne von physikalischen Gegenständen oder von Sinnesdaten interpretiert wird. Allgemeinheit gehört dagegen in erster Linie unseren subjektiven Konstruktionen an.27 (6) Die semantische, epistemologische und ontologische Opposition von Allgemeinheit und Einzelheit besonders in der empiristischen Tradition hat schließlich wichtige Folgen für den Status von Notwendigkeit. Wie die Allgemeinheit nur durch unsere Abstraktion konstruiert wird, so sind für den Empiristen auch die Modalitäten Notwendigkeit und Möglichkeit in epistemologischer Hinsicht nicht Teil dessen, was uns in der Erfahrung gegeben ist, und entsprechend in ontologischer Hinsicht nichts, das in der uns erkennbaren Wirklichkeit existieren würde. Vielmehr gehören diese Modalitäten allein dem Bereich unserer subjektiven Einstellungen an.28 Während dabei die logischen Modalitäten, die auf logischen und begrifflichen Wahrheiten basieren, als unproblematisch gelten, haben für Empiristen die realen Modalitäten – also z. B. die Arten von Notwendigkeit und Möglichkeit, die in natürliche-Art-Begriffen und essentialistischen Aussagen einerseits („metaphysische“ Modalität) und in Naturgesetzen, Dispositionen und kausalen Verknüpfungen andererseits („physikalische“ Modalität) involviert sind – einen obskuren Status: Da diese Modalitäten weder in der Erfahrung gegeben noch in logischen und begrifflichen Wahrheiten enthalten sind, sind sie in epistemologischer und metaphysischer Hinsicht fragwürdig. Das Problem des Status realer Modalitäten führt zu einer Tradition der antirealistischen Deutung von Modalbegriffen, und zwar auch außerhalb des Empirismus, etwa bei Kant. Kant schreibt zwar gegen die Skepsis Humes, der nichtanalytische modale Beziehungen als bloße psychologische Regelmäßigkeiten deutet, notwendigen Verbindungen eine zentrale Rolle für die Konstitution von Erfahrung zu; dennoch vertritt er in Bezug auf die Modalbegriffe einen Anti-
27 Die aristotelische Tradition im engeren Sinne unterscheidet sich vom Empirismus dadurch, dass ihr zufolge die Realität des Einzelnen selbst stets eine Instantiierung von Universalien darstellt (vgl. z. B. De An. III 8, 432a2–6). In dieser Hinsicht steht Aristoteles der Hegelschen Deutung von Allgemeinheit wesentlich näher als der Weise, wie sich die Empiristen die aristotelische Opposition von Denken und Anschauung aneignen. 28 Besonders einflussreich ist hier Humes Analyse der Notwendigkeit als subjektiver Gewohnheit gewesen (Treatise I 3, 14).
4.2 Allgemeinheit u. Notwendigkeit: Historische u. systematische Perspektiven
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realismus. In den Erläuterungen zur Urteilstafel der KrV stellt er fest, die Modalität von Urteilen trage nichts zu deren Inhalt bei, sondern gehe nur „den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt“ an (KrV B 100). Modale Operatoren sagen demnach nichts über die zu beurteilende Sache aus, sondern drücken unterschiedliche Grade der Verpflichtung aus, das Urteil anzunehmen. Ebenso heißt es von den Modalkategorien, sie „haben das Besondere an sich: daß sie den Begriff, dem sie als Prädicate beigefüget werden, als Bestimmung des Objects nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältniß zum Erkenntnißvermögen ausdrücken“ (KrV B 266).29 Modale Beziehungen zählen demnach nicht zum Inhalt unserer Begriffe und Urteile, sondern qualifizieren nur den Akt des Urteilens.30 Die unterschiedlichen Formen des modalen Antirealismus bei Hume und Kant hatten bis weit ins 20. Jahrhundert großen Einfluss. Insbesondere teilt Frege Kants Vorbehalte gegenüber Modalbegriffen. Denn gerade in der kritischen Auseinandersetzung mit Kants Urteilstafel in der KrV zu Beginn der Begriffsschrift (§ 4) stellt Frege fest, die Klassifikation von Urteilen nach ihrer Modalität betreffe nicht deren begrifflichen Gehalt, habe also keine Bedeutung für den Standpunkt der Begriffsschrift: Wie für Kant, so drücken auch für Frege Modaloperatoren lediglich ein Verhältnis zwischen dem Urteilsgehalt und einem urteilenden Verstand aus.31
29 Entsprechend zögert Kant auch, in der Zweiten Analogie der Erfahrung, die doch die Annahme von realer (nämlich kausaler) Notwendigkeit innerhalb der uns zugänglichen Objektwelt rechtfertigt, von einer Notwendigkeit innerhalb der objektiven Erscheinungswelt zu sprechen: Stattdessen redet er zumeist von einer notwendigen Ordnung der Vorstellungen bzw. Wahrnehmungen sowie von einer „Nötigung“ zu einer solchen Ordnung, die wir seitens der apriorischen Regel der Synthesis erfahren (KrV B 242). 30 Brandom vertritt in Brandom (unveröffentlichta) eine alternative Sicht, die Kants, Freges und Sellars’ antirealistische Deutung der Modalitäten als modalen Expressivismus versteht und von der bloßen Skepsis Humes, Quines und anderer AutorInnen unterscheidet. Ein modaler Expressivismus, nach dem modale Aussagen implizite Eigenschaften unserer gewöhnlichen deskriptiven Rede explizit machen, ist nach der These, die Brandom in dem genannten Text vertritt, mit einem modalen Realismus nicht inkompatibel; vielmehr drücken beide lediglich zwei Seiten – eine pragmatische und eine semantische Seite – der Rolle modalen Vokabulars aus. Die komplexe Erklärung für das Verhältnis beider Seiten, die Brandom in dem genannten Text nur kurz skizziert, beruht darauf, dass sich für Brandom alethisch-modale und deontisch-modale Relationen (s. u.) isomorph verhalten. Dagegen wird unsere Interpretation Hegels zu einer anderen Sicht des Verhältnisses beider Arten von Modalitäten führen. Entsprechend weist Hegel ausdrücklich den modalen Antirealismus Kants zu Gunsten seines eigenen modalen Realismus zurück (vgl. 4.5). 31 Frege (1974), § 4, 4 f.: „Das apodiktische Urtheil unterscheidet sich vom assertorischen dadurch, dass das Bestehen allgemeiner Urtheile angedeutet wird, aus denen der Satz geschlossen werden kann, während bei den assertorischen eine solche Andeutung fehlt. Wenn ich einen Satz
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Die Skepsis Humes und Freges bleibt für die ersten Generationen von analytischen PhilosophInnen prägend (vgl. Brandom, BSD 92 ff.) und findet besonders in Quine einen sehr einflussreichen Anhänger. Insofern bleibt der traditionelle Standpunkt, der Notwendigkeit als Teil unserer subjektiven Konstruktionen der an sich nicht modalen Realität entgegensetzt, auch im modernen Empirismus wirksam. – Seit den modallogischen und metaphysischen Arbeiten von C.I. Lewis, David Lewis und Saul Kripke ist dagegen zwar eine weniger skeptische Sicht von Modalbegriffen verbreitet; die genannten Autoren haben nämlich u. a. gezeigt, wie modallogische und natürlichsprachliche modale Ausdrücke mittels möglicher Welten extensional interpretiert werden können. Dennoch bleibt der metaphysische und epistemologische Status der Modalitäten häufig ungeklärt.32 Somit ergibt sich das folgende Bild der „Standardauffassung“ von Allgemeinheit und Notwendigkeit: Allgemeinheit wird rein extensional, abstraktionistisch und modal schwach verstanden und in Opposition zur epistemologisch, semantisch und ontologisch privilegierten Sphäre des Einzelnen gesetzt. Auch die Notwendigkeit – insbesondere die „reale“ Notwendigkeit – wird entweder dem Bereich unserer subjektiven Konstruktion zugewiesen oder bleibt in ihrem epistemologischen und metaphysischen Status ungeklärt. Wie wir im Folgenden sehen werden, kann Hegels Position in der Urteilslogik – und allgemeiner der Begriffslogik – so verstanden werden, dass er dieser Standardauffassung von Allgemeinheit und Notwendigkeit eine alternative Deutung dieser Begriffe entgegensetzt; die alternative Vernunftauffassung dieser Begriffe wird es auch sein, die zum einen die logische Freiheit des reinen Denkens ermöglicht und zum anderen reale Freiheit begründet. – Während Hegel die Standardauffassung von Allgemeinheit und Notwendigkeit in der Urteilslogik einer detaillierten Kritik unterzieht, wird es doch hilfreich sein, zunächst unabhängig von Hegels Argumentation in der Urteilslogik zu sehen, weshalb die Standardauffassung vor dem Hintergrund unserer Frage nach einem
als nothwendig bezeichne, so gebe ich dadurch einen Wink über meine Urtheilsgründe. Da aber hierdurch der begriffliche Inhalt des Urtheils nicht berührt wird, so hat die Form des apodiktischen Urtheils für uns keine Bedeutung. Wenn ein Satz als möglich hingestellt wird, so enthält sich der Sprechende entweder des Urtheils, indem er andeutet, dass ihm keine Gesetze bekannt seien, aus denen die Verneinung folgen würde; oder er sagt, dass die Verneinung des Satzes in ihrer Allgemeinheit falsch sei“. 32 Einen Überblick über die Debatte zur Metaphysik der Modalitäten bietet Sider (2003); zur Epistemologie vgl. Vaidya (2011). Während die epistemologische Debatte noch relativ neu ist, wird zwar die Metaphysik von Modalitäten seit längerem intensiv diskutiert, doch verwenden PhilosophInnen nach wie vor häufig eine mögliche-Welten-Semantik, ohne zugleich eine befriedigende metaphysische Theorie möglicher Welten anzubieten.
4.2 Allgemeinheit u. Notwendigkeit: Historische u. systematische Perspektiven
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freiheitsbasierten Selbst- und Weltverständnis problematisch ist. Sie ist dies zum einen generell, weil sie eine (epistemologische, semantische und ontologische) Opposition von Allgemeinheit und Besonderheit bzw. Einzelheit annimmt und Hegel in seiner Verallgemeinerung des Formalismus-Problems gerade eine solche Opposition als grundlegendes Defizit bei Kant und anderen Autoren identifiziert (vgl. 3.2.1). Zum anderen lassen sich aber auch drei spezifischere Punkte anführen, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Standardauffassung betreffen. Der erste Punkt richtet sich speziell gegen die Annahme, dass wir durch ein fundamentales epistemisches und semantisches Stratum der Bekanntschaft mit Einzelnem unmittelbaren Kontakt zur Wirklichkeit haben, während Allgemeinheit nur unseren subjektiven Konstruktionen zukommt (Punkt (4) und (5) in der Standardauffassung); der zweite Punkt kritisiert die modal schwache Deutung der Allgemeinheit empirischer Begriffe (Punkt (3) in der Standardauffassung), der dritte Punkt die antirealistische Deutung von Modalität (Punkt (6) in der Standardauffassung). (1) Mythos des Gegebenen. Die empiristische Entgegensetzung von Allgemeinem und Einzelnem legt, wie wir sahen, einen epistemologischen Fundamentalismus nahe, der ein unmittelbar gegebenes Stratum von Erfahrung als Rechtfertigungsgrundlage für andere Überzeugungen annimmt. Dieser Fundamentalismus wird ferner, wie wir gleichfalls gesehen haben, durch ein semantisches Korrelat ergänzt, nach dem sprachliche Bedeutung auf einer fundamentalen Schicht von Sprache aufbaut; von dieser Schicht wird gewöhnlich geglaubt, dass sie durch Deixis, ostensive Definition oder ähnliche Mittel in direktem Kontakt zur Wirklichkeit steht. Autoren wie Sellars und Brandom, aber auch schon Hegel, kritisieren im Kontext ihrer Attacken gegen den Mythos des Gegebenen beide Aspekte dieser Auffassung. Neben Sellars’ epistemologischen Argumenten gegen unmittelbares, sich selbst rechtfertigendes Wissen spielt im Hinblick auf Allgemeinheit und Notwendigkeit besonders die Kritik an der semantischen Seite der empiristischen Standardauffassung eine wichtige Rolle. Hier kommt zunächst Hegels Kritik an der empiristischen Interpretation von Deixis zum Tragen. Besonders im Kapitel „Die sinnliche Gewissheit“ der PhG kritisiert Hegel die These, dass deiktische Bezugnahme auf Einzelnes dem Bereich des Allgemeinen, Begrifflichen entgegensetzt ist und uns gerade deshalb in unmittelbaren Kontakt zur Wirklichkeit bringt. Zwei Argumentationen hierfür, die in Hegels Text identifiziert werden können, sind die folgenden. Erstens argumentiert Hegel dafür, dass deiktische Ausdrücke wie „hier“, „jetzt“ und „ich“ ihre Bedeutung nicht durch subjektive Intention („Meinen“) erhalten können, sondern nur durch ihren Kontext. Die Kontextabhängigkeit deiktischer Bezugnahme involviert nach Hegel aber selbst schon eine intrinsische Verbindung
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zwischen Einzelheit und Allgemeinheit, die die Zuordnung deiktischer Ausdrücke zum Bereich des Einzelnen und Wirklichen unterläuft. In diesem Zusammenhang schreibt Hegel: Ein solches Einfaches, das durch Negation ist, weder Dieses noch Jenes, ein Nichtdieses, und ebenso gleichgültig, auch Dieses wie Jenes zu sein, nennen wir ein Allgemeines; das Allgemeine ist also in der Tat das Wahre der sinnlichen Gewißheit. Als ein Allgemeines sprechen wir auch das Sinnliche aus, was wir sagen, ist: Dieses, d. h. das allgemeine Diese, oder: es ist; d. h. das Sein überhaupt. Wir stellen uns dabei freilich nicht das allgemeine Diese oder das Sein überhaupt vor, aber wir sprechen das Allgemeine aus; oder wir sprechen schlechthin nicht, wie wir es in dieser sinnlichen Gewißheit meinen. (PhG 3/85)
Die Allgemeinheit, von der Hegel hier spricht, besteht in der referentiellen Unbestimmtheit, die den deiktischen Ausdruck kennzeichnet, wenn vom Kontext abstrahiert wird. Wie Hegel an anderer Stelle erläutert, handelt es sich für ihn dabei um dieselbe Art von Zusammenhang zwischen Einzelnem und Allgemeinem wie im Falle von „Ich“ (vgl. 3.2.2) (z. B. Enz. § 20 A, 8/74; VL 11/5). Interessanter noch ist aber eine zweite Argumentation Hegels, die die vermeintlich strikte Opposition zwischen Einzelnem und Allgemeinem in Bezug auf Deixis in Frage stellt. Hegel argumentiert in „Sinnliche Gewissheit“ nämlich auch dafür, dass wir deiktische Ausdrücke nur dann mit einer bestimmten kontextabhängigen Bedeutung gebrauchen können, wenn es möglich ist, auf den bedeutungsfixierenden Kontext selbst Bezug zu nehmen. Z. B. hängt die Bedeutung der Aussage „Ich bin jetzt hier“ davon ab, wer sie wann wo äußert. Wenn diese Merkmale aber ihrerseits nur deiktisch bezeichnet werden könnten, könnten wir die Bedeutung der Ausdrücke im jeweiligen Kontext nie klären. Deiktische Bezugnahme kann also nur funktionieren, wenn nicht-deiktische Mittel zur Verfügung stehen, um festzustellen, wer wann wo etwas äußert und worauf er gegebenenfalls (in der Verwendung von Demonstrativa) deutet.33 Zu diesen nicht-deiktischen Mitteln zählen insbesondere ein zeitliches und räumliches Be-
33 In Hegels Text entspricht dem die Dialektik des „Zeigens“, PhG 3/88 ff.; vgl. insbesondere 3/ 88 f.: „Es wird das Jetzt gezeigt, dieses Jetzt. Jetzt; es hat schon aufgehört zu sein, indem es gezeigt wird; das Jetzt, das ist, ist ein anderes als das gezeigte, und wir sehen, daß das Jetzt eben dieses ist, indem es ist, schon nicht mehr zu sein. Das Jetzt, wie es uns gezeigt wird, ist es ein gewesenes, und dies ist seine Wahrheit; es hat nicht die Wahrheit des Seins. Es ist also doch dies wahr, daß es gewesen ist. Aber was gewesen ist, ist in der Tat kein Wesen; es ist nicht, und um das Sein war es zu tun. Wir sehen also in diesem Aufzeigen nur eine Bewegung […]. […] Das Aufzeigen ist also selbst die Bewegung, welche es ausspricht, was das Jetzt in Wahrheit ist, nämlich ein Resultat oder eine Vielheit von Jetzt zusammengefaßt; und das Aufzeigen ist das Erfahren, daß Jetzt Allgemeines ist“.
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zugssystem34 sowie Mittel der nicht-deiktischen Bezugnahme auf Personen und auf Gegenstände (bestimmte Beschreibungen, Eigennamen). Nach dem von Hegel kritisierten Paradigma sollen aber diese begrifflichen Rahmen erst auf der Grundlage von Deixis konstruiert werden. Hegels Punkt kann also so verstanden werden, dass Deixis nicht die Funktion eines nichtbegrifflichen Fundaments des Begrifflichen haben kann, wie sie ihr das empiristische Standardmodell zuschreibt, sondern vielmehr ein komplexes Rahmenwerk voraussetzt, das selbst begrifflicher Natur ist. Dieses Rahmenwerk ist durch eine vergleichsweise komplexe Form von Allgemeinheit gekennzeichnet, nämlich die eines alle einzelnen Bezugnahmen übergreifenden und sie koordinierenden gemeinsamen Bezugssystems.35, 36 (2) Modale Kant-Sellars-These. Neben dem raumzeitlichen Bezugssystem müssen wir Einzelgegenstände und ihre Eigenschaften laut Brandom auch in einem System modal robuster Implikationen verorten, um auf sie Bezug nehmen zu können. Gemäß der These, die Brandom als „modale Kant-Sellars-These“ bezeichnet, setzt nämlich unsere Fähigkeit, deskriptive empirische Begriffe zu gebrauchen, ein Verständnis modaler Eigenschaften und Beziehungen voraus
34 Vgl. PhG 3/89 f.: „Das aufgezeigte Hier, das ich festhalte, ist ebenso ein dieses Hier, das in der Tat nicht dieses Hier, sondern ein Vorn und Hinten, ein Oben und Unten, ein Rechts und Links ist. Das Oben ist selbst ebenso dieses vielfache Anderssein in oben, unten usf. Das Hier, welches aufgezeigt werden sollte, verschwindet in anderen Hier, aber diese verschwinden ebenso; das Aufgezeigte, Festgehaltene und Bleibende ist ein negatives Dieses, das nur so ist, indem die Hier, wie sie sollen, genommen werden, aber darin sich aufheben; es ist eine einfache Komplexion vieler Hier. Das Hier, das gemeint wird, wäre der Punkt; er ist aber nicht; sondern indem er als seiend aufgezeigt wird, zeigt sich das Aufzeigen, nicht unmittelbares Wissen, sondern eine Bewegung von dem gemeinten Hier aus durch viele Hier in das allgemeine Hier zu sein, welches, wie der Tag eine einfache Vielheit der Jetzt, so eine einfache Vielheit der Hier ist“. 35 Daß hier eine komplexe Form von Allgemeinheit auftritt, stellt Hegel besonders im reifen System heraus, wo er das „Hier und Jetzt“ der (selbst begrifflich strukturierten) Anschauung, nicht mehr nur dem „sinnlichen Bewusstsein“ zuordnet: vgl. Enz. § 418 A, 10/206; § 448, 10/249: „Die Intelligenz bestimmt hiermit den Inhalt der Empfindung als außer sich Seiendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist“. Vgl. dazu auch Abschnitt 7.2. 36 Obwohl Hegel in dem Abschnitt „Sinnliche Gewißheit“ tragfähige Argumentationen entwickelt, wurde ihm von mehreren Interpreten vorgeworfen, seine Deutung deiktischer Ausdrücke lasse keinen Raum für die Bezugnahme auf Einzelnes (vgl. dazu deVries (1988), 90 mit Literatur). Dieses Verständnis der Hegelschen Argumentation geht aber von derjenigen Entgegensetzung von Allgemeinem (verstanden als das, was von einer Mehrzahl von Gegenständen gilt) und Einzelnem aus, die Hegel gerade zu überwinden sucht: Indem er betont, dass die Sprache „dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen angehört“ (PhG 3/91 f.), wendet er sich gegen die Auffassung, wir könnten uns ganz ohne Beteiligung von Begriffen und Allgemeinheit auf ein bloßes, als solches gegebenes Dieses beziehen.
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(RiPh 54 f.). Wir können z. B. nur dann das Urteil fällen, dass die Katze auf der Matte sitzt, wenn wir verstehen, wie sich dieses Urteil zu kontrafaktischen Szenarien verhält. Beispielsweise ist es kompatibel mit dem kontrafaktischen Szenario, dass die Temperatur einige Grade höher ist, aber nicht mit dem kontrafaktischen Szenario, dass die Temperatur um tausende Grade höher ist. Zwar erfordert die Fähigkeit zum Fällen des genannten Urteils nicht ein vollständiges System diesbezüglicher Einschätzungen, aber wir müssen zumindest in Bezug auf manche solcher Kompatibilitäten und Inkompatibilitäten Annahmen haben, um das Urteil über den faktischen Sachverhalt verstehen und fällen zu können. Um auf empirisch gegebene Einzelgegenstände Bezug nehmen zu können, müssen wir also nicht nur komplexe Formen von Allgemeinheit, sondern auch Systeme aus modal robusten Beziehungen voraussetzen. Die Form von Allgemeinheit, die empirische Begriffe kennzeichnet, kann daher nicht in der Weise modal schwach sein, wie es die Standardauffassung annimmt. (3) Begriffsrealismus und modaler Realismus. Eine weitere wichtige These Brandoms liefert schließlich die Grundlage für ein drittes Argument dafür, dass das Standardmodell von Allgemeinheit und Notwendigkeit mit einem Verständnis von Freiheit als vernünftiger Autonomie inkompatibel ist: Die Möglichkeit rationaler Freiheit erfordert nach Brandom, dass die Wirklichkeit begrifflich verfasst ist („Begriffsrealismus“); dies setzt wiederum voraus, dass modale Tatsachen und Beziehungen objektive Realität haben („modaler Realismus“).37 Um die Motivation und Signifikanz dieser These zu verstehen, müssen wir etwas weiter ausholen. Wie wir bereits gesehen haben (vgl. 1.2, 3.2.2), besteht eine der Herausforderungen für eine Deutung der Vernunft als per se frei und selbstbestimmt darin zu erklären, inwiefern die Vernunft der nicht-geistigen Wirklichkeit nicht dualistisch entgegengesetzt ist, sondern sich in der Auseinandersetzung mit ihr in ihrer rationalen Freiheit erhalten kann. Brandom und Hegel sind sich darin einig, dass eine begriffliche Struktur der Wirklichkeit zu diesen Voraussetzungen zählt (vgl. Kapitel 5). Die Annahme, dass die Wirklichkeit begrifflich verfasst ist, bezeichnet Brandom als „Begriffsrealismus“ (vgl. HI 181; RiPh 97 f.; Brandom (unveröffentlichta), 29 f.; Brandom (unveröffentlichtb), 16). Eine Schwierigkeit, mit der sowohl Brandom als auch Hegel in diesem Kontext konfrontiert sind, ist die, dass beide gerade um der rationalen Freiheit willen auch eine kategorische Unterscheidung des Geistigen vom Natürlichen für nötig halten. So beruht der Mythos des Gegebenen als paradigmatische Form epistemischer Unfreiheit auf einer kategorialen Verwechslung zwischen normativem
37 Diese These übersehen Kritiker, die Hegels modalen Realismus gegen Brandom geltend machen: so Sans (2004), 229 f.; Kruck (2003).
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und nicht-normativem Bereich. Wie kann aber die kategorische Differenz zwischen Natur und Geist oder Normativem und Nicht-Normativem38 auf nichtdualistische Weise gedacht werden, so dass auch die nötige Homogeneität zwischen beiden Seiten erklärt werden kann? Ein erster Schritt auf dem Weg zu einem Verständnis der relevanten kategorialen Unterscheidung, das nicht auf einen Dualismus festgelegt ist, besteht für Brandom darin, die Unterscheidung von normativ und nicht-normativ als Unterscheidung zweier Arten von Modalität auszudrücken, nämlich als Unterscheidung zwischen alethischer und deontischer Modalität, zwei in der modernen Modallogik gängigerweise unterschiedenen Typen von Modalität.39 Alethische Modalität kommt dann zum Tragen, wenn gesagt werden soll, dass sich etwas notwendigerweise oder möglicherweise in einer bestimmten Weise verhält oder nicht; der deontischen Modalität dagegen gehören Gebote, Verbote und Erlaubnisse an. Beide Arten von Modalität unterscheiden sich klar in den jeweils gültigen Inferenzregeln für die Modaloperatoren: Alethische Notwendigkeit impliziert Wirklichkeit („◻p→p“), während dies für deontische Notwendigkeit nicht gilt. Der nächste Schritt ist nun zu fragen, wie der Zusammenhang beider Arten von Modalität – und damit der Sphäre des Normativen und der des Nicht-Normativen – gedacht werden kann. Zu diesem Zweck führt Brandom eine Inkompatibilitätssemantik ein, die Beziehungen materialer Inkompatibilität als grundlegende logische Einheit zur Definition semantischer und modaler Beziehungen verwendet. Diese Semantik stellt Brandom u. a. im Ausgang von Kants Transzendentaler Deduktion dar (vgl. RiPh Kap. 1). Er versteht dabei die Einheit der Apperzeption und die Einheit des Gegenstandes als „normative Orte“, die jeweils durch den Ausschluss von Inkompatibilität definiert sind. Ein Subjekt ist ein Träger von
38 Bereits im Neukantianismus führt die Unterscheidung von Sein und Gelten Autoren wie Rickert und Lask zu einem ontologischen Dualismus. Vgl. Rickert (1982), 176: „Nur ein ontologischer Pluralismus wird dem Weltreichtum gerecht. Ausgehen muß die Ontologie von dem ihr gegebenen Sein oder von der Welt der Erfahrung. […] Wir erfahren nicht nur sinnliches Sein durch ‚äußere‘ oder ‚innere‘ Wahrnehmung, sondern wir verstehen unmittelbar auch unsinnliche Gegenstände, die wir ‚Bedeutungen‘ oder ‚Sinngebilde‘ nennen. […] Die entscheidende Alternative innerhalb der Erfahrung ist daher die von wahrnehmbar und verstehbar, oder um alte Termini in einem veränderten Sinne zu benutzen, die von sensibel und intelligibel. […] Der umfassende Begriff der Erfahrungswelt ist dann näher so zu gewinnen: während die sensible Welt von den Einzelwissenschaften entweder generalisierend (als ‚Natur‘, d. h. unter einem System von Gesetzen stehend) oder individualisierend (als Geschichte der ‚Kultur‘) begriffen werden muß, hat die Erkenntnis der intelligiblen Welt, um das Verstehbare umfassend zu gliedern, nach einem System der Werte zu suchen“. 39 Grundlegend ist hierfür von Wright (1951).
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Einstellungen, die nicht miteinander inkompatibel sein dürfen: Z. B. darf ein Subjekt nicht zwei einander widersprechende Überzeugungen haben. Ein Objekt ist dagegen ein Träger von Eigenschaften, die nicht miteinander inkompatibel sein können: Es ist nicht möglich, dass ein Objekt zwei miteinander inkompatible Eigenschaften in derselben Hinsicht zur selben Zeit aufweist. Die beiden Formen von Inkompatibilität sind der alethischen und der deontischen Modalität zuzurechnen: Der Ausschluss von Inkompatibilität auf der Seite des Objekts ist alethisch-modaler Natur (Unmöglichkeit), der Ausschluss auf der Seite des Subjekts ist deontisch-modaler Art (Verbot).40 Offenkundig sind beide Seiten isomorph strukturiert. Z. B. ist die Tatsache, dass ein Gegenstand ein Tisch ist, inkompatibel mit der Tatsache, dass derselbe Gegenstand ein Flugzeug ist (alethische Modalität); parallel dazu folgt aus der Überzeugung, dass der Gegenstand ein Tisch ist, das Verbot, vom selben Gegenstand zu glauben, dass er ein Flugzeug ist (deontische Modalität). Die modalen Strukturen auf beiden Seiten sind also auf Grund der Differenz von deontischer und alethischer Modalität zwar logisch unterschieden, sie bilden aber nach Brandom zwei Seiten einer Medaille. Diese Isomorphie erlaubt es Brandom nun, die These des Begriffsrealismus – „die Wirklichkeit ist begrifflich verfasst“ – genauer zu formulieren. Brandom definiert: „To be conceptually articulated is just to stand in material relations of incompatibility and (so) consequence (inference)“ (HI 181). Artikulation durch Inkompatibilitätsbeziehungen macht also für Brandom die Natur des Begrifflichen aus. Der Gedanke einer Isomorphie von deontischer und alethischer Modalität ermöglicht es daher, einen nicht-psychologischen Begriff des Begrifflichen zu formulieren: Insofern die nicht-normative Wirklichkeit ebenso wie der normative Bereich durch Inkompatibilitätsbeziehungen gegliedert ist, kann gemäß der begriffsrealistischen These auch die objektive Seite als begrifflich verfasst bezeichnet werden. Dies setzt aber voraus, dass die nicht-geistige Wirklichkeit tatsächlich durch alethisch-modale Beziehungen artikuliert ist, dass also ein modaler Realis-
40 Aus der jeweiligen Form von Inkompatibilität ergeben sich nach Brandom alle weiteren Organisationsformen, die die jeweilige Einheitsbildung auf der Seite von Objekt bzw. Subjekt kennzeichnen. Auf der subjektiven Seite sind dies inferentielle Beziehungen: Die deontischmodale Inkompatibilität von p und q impliziert, dass aus der diskursiven Festlegung auf p die Nicht-Berechtigung zu q folgt; dass aus der Festlegung auf p eine weitere Festlegung r folgt, wenn diese mit allen Sätzen inkompatibel ist, die mit p inkompatibel sind; usw. Auf der objektiven Seite handelt es sich dagegen um implikative Beziehungen: Daraus, dass ein Gegenstand eine Eigenschaft A aufweist, folgt, dass er damit inkompatible Eigenschaften nicht aufweist; dass er eine andere Eigenschaft B aufweist, wenn diese mit denselben Eigenschaften inkompatibel ist wie A; usw. (Vgl. BSD, Kap. 5).
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mus akzeptiert wird (vgl. Brandom (unveröffentlichta), 21 ff.).41 Werden dagegen die alethischen Modalitäten im Sinne Humes, Kants, Freges oder Quines antirealistisch verstanden, dann erscheinen alethische und deontische Modalität als zwei Aspekte unserer subjektiven Konstruktionen, denen eine unbegreifliche Wirklichkeit fremd gegenübersteht. Wenngleich sich zeigen wird, dass erhebliche Unterschiede zwischen Hegels und Brandoms Begriffsrealismus bestehen, werde ich doch an der Grundidee festhalten, dass der Begriffsrealismus nur vor dem Hintergrund eines modalen Realismus sinnvoll vertreten werden kann – dass also reale modale Beziehungen und Eigenschaften der Ort sind, an dem wir nach einer objektiven begrifflichen Struktur suchen müssen, wenn wir dem Gedanken der begrifflichen Struktur der Wirklichkeit einen klareren Sinn verleihen wollen. Der Zusammenhang von modalem Realismus und Begriffsrealismus kann wiederum nur plausibel vertreten werden, wenn eine nicht-psychologische Theorie von Begriffen verfügbar ist und wir verstehen können, inwiefern Begriffe oder begriffliche Strukturen eine außermentale Realität haben können. Damit haben wir mehrere Ansatzpunkte – das Formalismus-Problem, die Kritik am Mythos des Gegebenen, die „modale Kant-Sellars-These“ und Brandoms These des Zusammenhangs zwischen modalem Realismus und Begriffsrealismus – identifiziert, die eine Ablehnung der „Standardauffassung“ von Allgemeinheit und Notwendigkeit motivieren. Im Folgenden werden wir sehen, wie Hegel in der Argumentation der Urteilslogik die Standardauffassung kritisiert und sukzessive eine alternative Theorie einführt. – Der Übersichtlichkeit halber schicke ich der Diskussion einen Überblick über Hegels Einteilung der Urteilsformen mitsamt repräsentativer Beispiele (die im Folgenden deutlicher werden) und den entsprechenden Titeln aus Kants Urteilstafel, auf die Hegel immer wieder zurückkommt, voraus:
41 Häufig wird der Begriff „modaler Realismus“ als Bezeichnung für die modale Metaphysik gebraucht, die David Lewis vertreten hat (vgl. Lewis (1986)): es gibt mögliche Welten; mögliche Welten sind maximale mereologische Summen raumzeitlich verbundener Gegenstände; modale Sachverhalte lassen sich auf nicht-modale Sachverhalte reduzieren. Bei Brandom bezeichnet „modaler Realismus“ dagegen eine sehr viel weniger spezifische Position; aus ihr folgt keine der genannten Aussagen Lewis’, wenngleich diese durch sie auch nicht ausgeschlossen werden.
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Tabelle 1: Hegels Urteilsformen Urteil des Daseins [Qualität] – positiv: „Die Rose ist rot“ – negativ: „Die Rose ist nicht rot“ – unendlich: „Der Geist ist nicht rot“ Urteil der Reflexion [Quantität] – singulär: „Der Stein ist hart“ – partikulär: „Einige Steine sind hart“ – universell: „Alle Steine sind hart“ Urteil der Notwendigkeit [Relation] – kategorisch: „Der Ring ist aus Gold“ – hypothetisch: „Wenn der Ring auf 1064°C erhitzt wird, schmilzt er“ – disjunktiv: „Eine Farbe ist entweder gelb oder blau oder rot oder grün“ Urteil des Begriffs [Modalität] – assertorisch: „Dieses Haus ist gut“ – problematisch: „Je nachdem, wie es beschaffen ist, ist das Haus gut oder schlecht“ – apodiktisch: „Das Haus, so und so beschaffen, ist gut“
4.3 Urteil des Daseins Hegels Urteilstheorie, so hatten wir gesagt, präsentiert verschiedene konkrete Ausprägungen rationaler „Tiefenstrukturen“ von Urteilen – verschiedene Weisen, in denen Urteile als Träger von rechtfertigender und erklärender Kraft auftreten können. Allerdings handelt es sich bei Hegels Diskussion in der Urteilslogik nicht nur um eine Untersuchung, die die einzelnen Urteilsformen in einen systematischen Zusammenhang bringen und zeigen soll, weshalb es diese und nicht andere Formen gibt. In einer solchen Systematisierung besteht zwar ein wichtiges Ziel Hegels, doch ist er daneben besonders an einer kritischen Diskussion dieser Urteilsformen interessiert. Seine Kritik richtet sich dabei nicht dagegen, dass wir die jeweilige Urteilsform überhaupt gebrauchen, sondern dagegen, dass wir ihr einen besonderen Rang einräumen. Die Urteilsformen stehen deshalb auch für Theorien, die jeweils die Erklärungs- und Rechtfertigungsformen sowie die Formen von Allgemeinheit (und gegebenenfalls Notwendigkeit), die in der Urteilsform zum Tragen kommen, gegenüber anderen solchen Formen privilegieren. Insgesamt verfährt Hegel in seiner kritischen Diskussion so, dass er in Bezug auf eine Urteilsform jeweils zeigt, dass sie eine andere Urteilsform zur Voraussetzung hat. (Dabei treten im Einzelnen unterschiedliche Voraussetzungsverhältnisse auf, die ich in Abschnitt 4.6.4 genauer unterscheide.)
4.3 Urteil des Daseins
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Das für uns relevante Argumentationsziel in dieser kritischen Diskussion von Urteilsformen besteht in der Identifikation von Formen der Allgemeinheit und Notwendigkeit, mit Hilfe derer Hegels verallgemeinertes Formalismus-Problem gelöst werden kann und die deshalb als logische Grundlagen von Freiheit zählen können. Wie sich zeigen wird, sind diese Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit teleologischer Art; sie werden im „Urteil des Begriffs“ explizit gemacht. Dem Urteil des Begriffs entspricht zugleich ein Standpunkt, nach dem diese Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit in logischer und metaphysischer Hinsicht privilegiert sind (vgl. 4.6.4). Die Urteilslogik als ganze kann als Rechtfertigung dieses Standpunkts verstanden werden. Der – im Einzelnen zu explizierende – privilegierte Stellenwert dieser Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit wird es nicht nur erlauben, die logische Struktur rationaler Selbstkonstitution zu erklären, sondern auch, die metaphysischen Grundlagen von Freiheit zu entwickeln. Hegels Destruktion des „Standardmodells“ von Allgemeinheit und Notwendigkeit setzt bei der Auffassung an, dass Erkenntnis und Bedeutung auf einem Fundament aus gegebenem Einzelnem beruhen. Die einfachste Form des Urteils, das „Urteil des Daseins“, besteht zunächst in „positiven“ Urteilen wie z. B. „Die Rose ist rot“. Charakteristisch für diese Urteilsform ist ihre Unmittelbarkeit42, die sich zunächst darin äußert, dass diese Urteile typischerweise in Wahrnehmungssituationen auftreten, sie also in nicht-inferentieller Weise gerechtfertigt sind. Eher als an der Art der Rechtfertigung ist Hegel hier aber an der Form von Allgemeinheit interessiert, welche die im Urteil auftretenden Begriffe kennzeichnet. Hegel redet in Bezug auf die relevanten Prädikate solcher Urteile von „sinnlicher“ (Enz. § 171, 8/321) oder „abstrakter Allgemeinheit“ (WdL 6/311). („Abstrakt“ bedeutet in diesem Kontext so viel wie „in Isolation von intrinsisch verknüpften weiteren Faktoren betrachtet“; hierzu gleich mehr.) Im klassischen Empirismus entspricht dem die Behandlung einfacher Prädikate, welche sinnliche Qualitäten ausdrücken, als einfache Ideen (simple ideas) im Gegensatz zu abstrakten Ideen (abstract ideas) (nun im gewöhnlicheren Sinn von „entstanden durch Abstraktion von Einzelfällen“). Beispielsweise ist für Locke und Hume „rot“ eine einfache Idee, „Röte“ hingegen eine abstrakte Idee, die wir auf der Grundlage von einfachen Ideen durch Abstraktion bilden. Abstrakte Ideen in diesem Sinne weisen für Hegel die Art von Allgemeinheit auf, die später im Urteil der Reflexion auftreten wird: Wir verstehen diese Ideen nur, wenn wir wissen, 42 WdL 6/311: „Diese Unmittelbarkeit macht das erste Urteil zu einem Urteile des Daseins, das auch das qualitative genannt werden kann, jedoch nur insofern, als die Qualität nicht nur der Bestimmtheit des Seins zukommt, sondern auch die abstrakte Allgemeinheit darin begriffen ist, die um ihrer Einfachheit willen gleichfalls die Form der Unmittelbarkeit hat“.
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dass sie eine Zusammenfassung oder Abstraktion von Einzelnem darstellen. Dagegen scheinen die einfachen Ideen der Empiristen – ebenso wie die entsprechenden Prädikate für Sinnesqualitäten, die nach Theorien des logischen Empirismus innerhalb von Beobachtungs- oder Protokollsätzen auftreten – ohne Abstraktionsleistung verfügbar zu sein. Nach der empiristischen Auffassung zählen sie insofern zur Sphäre des (gegebenen) Einzelnen, nicht zu der des (subjektiv konstruierten) Allgemeinen. Deshalb ist es den Vertretern sowohl des klassischen als auch des logischen Empirismus plausibel erschienen, einfache Ideen (bzw. entsprechende Sinnesqualitäten) als fundamentales Stratum unseres repräsentationalen Systems zu interpretieren: als Vorstellungen, die einen gegebenen bestimmten Inhalt haben und auf Grund derer – vermittels Abstraktionsverfahren – andere, abstrakte Ideen repräsentationalen (semantischen) Gehalt empfangen können. Dagegen vertritt Hegel die Auffassung, dass „einfache Ideen“ nicht gegeben sind, sondern selbst Vermittlungs- und Abstraktionsleistungen voraussetzen: Das Prädikat […] ist das abstrakte Allgemeine; da das Abstrakte aber durch die Vermittlung des Aufhebens des Einzelnen oder Besonderen bedingt ist, so ist sie [sc. die Vermittlung] insofern nur eine Voraussetzung. In der Sphäre des Begriffs kann es keine andere Unmittelbarkeit geben als eine solche, die an und für sich die Vermittlung enthält und nur durch deren Aufheben entstanden ist, d. i., die allgemeine. (WdL 6/312)
Die hier wirksamen Vermittlungsleistungen unterscheiden sich also von denen, die in abstrakte Ideen münden, nur dadurch, dass sie selbst nicht bereits durch die Repräsentation oder das ihr entsprechende Prädikat angezeigt werden.43 Die „sinnliche“ oder „abstrakte Allgemeinheit“, wie sie die für Urteile des Daseins charakteristischen Prädikatsbegriffe kennzeichnet, hat also Voraussetzungen, die nicht innerhalb dieses Urteils ausgedrückt werden können. (Deshalb ist die relevante Form von Allgemeinheit „abstrakt“, d. h. in Isolation von intrinsisch verknüpften Faktoren – nämlich ihren eigenen Voraussetzungen – betrachtet.) Dies bedeutet, dass Urteile dieses Typus nicht logisch autonom sind: Um sie fällen zu können, benötigen wir Fähigkeiten und ein Verständnis von Arten von Allgemeinheit, die erst in komplexeren Urteilsformen explizit gemacht werden
43 Mit seiner Argumentation antizipiert Hegel an dieser Stelle einen Zug, den Sellars in expliziter Auseinandersetzung mit den klassischen Empiristen macht: Während für Autoren wie Locke, Berkeley und Hume einfache Ideen ganz unproblematisch gegeben sind und damit eine Klassifikation von Angeschautem, etwa nach sekundären Qualitäten, schon in der Anschauung vorgegeben ist, identifiziert Sellars diese Meinung als eine Version des Mythos vom Gegebenen. Vgl. zu Sellars’ Kritik und zu Hegels verwandter Kritik an empiristischen Abstraktionstheorien Kap. 2, Fußnote 50.
4.3 Urteil des Daseins
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können. Dazu zählen zunächst das negative und das unendliche Urteil, in denen Beziehungen der Negation expliziert werden44, und anschließend das Urteil der Reflexion. Darüber hinaus kennzeichnet Hegel das Urteil des Daseins indirekt auch als logisches Phänomen von relativer Unfreiheit, indem er der entsprechenden Schlussform des „qualitativen Schlusses“45 die Modalität der Zufälligkeit zuschreibt. Hegel erklärt zur ersten Form des Schlusses des Daseins, hier sei es „völlig zufällig und willkürlich“ (WdL 6/359), welche der mannigfaltigen Eigenschaften eines Subjektes gewählt wird, um als terminus medius das Subjekt mit einem anderen Begriff zu verbinden: „[I]nsofern ein Subjekt zugrunde liegt, ist es zufällig, was der Schluß von ihm für Inhaltsbestimmungen folgere“ (WdL 6/362). Ein analoger Punkt kann für das Urteil des Daseins gemacht werden, denn auch hier ist es ganz zufällig, welche der vielen Eigenschaften eines Dings herausgegriffen und im Urteil benannt wird.46 Die hierfür ausschlaggebenden Faktoren sind, ebenso wie die für die verwendeten Begriffe vorausgesetzten Abstraktionsleistungen, in dieser Urteilsform ausgeblendet. – Dass diese Urteilsform eine logische Gestalt von Unfreiheit darstellt, ist nach unserem Deutungsansatz nur konsequent: Da die Urteilslogik auch nach den logischen Grundlagen von Freiheit fragt, muss eine defizitäre Urteilsform zugleich in freiheitstheoretischer Hinsicht defizitär sein. Zugleich steht die Willkür, mit der wir in derartigen Urteilen eines der Prädikate des Gegenstandes herausgreifen, auch für einen Mangel an Objektivität: Da wir auf der Ebene von Urteilen des Daseins keine begrifflichen Mittel haben, um zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften zu unterscheiden und
44 Die Thematik des Zusammenhangs von bestimmtem begrifflichem Gehalt und Operationen der Negation gibt für Hegel den Leitfaden für die Differenzierung von positivem, negativem und unendlichem Urteil ab. Da Bestimmung Negation und Abgrenzung von anderem erfordert, bleiben Subjekt und Prädikat im positiven Urteil, wenn es für sich genommen wird, unbestimmt, weil keine derartige Abgrenzung vorgenommen wird. Diese erfolgt erst im negativen und im unendlichen Urteil. Hierbei prädiziert das negative Urteil nach Hegels Auffassung einen durch Negation bestimmten Gehalt vom Subjekt, der sich als Ausschlussmenge zwischen einer umfassenderen „Sphäre“ (z. B. die Sphäre aller Farbprädikate) und dem abgesprochenen Einzelprädikat ergibt. Das unendliche Urteil dagegen expliziert die Sphäre, die im negativen Urteil vorausgesetzt ist, und verneint sie als ganze in Bezug auf das Subjekt. 45 Hegel behandelt die Schlussformen weitgehend parallel zu den Urteilsformen, so dass die Erläuterungen der logischen Charakteristika von Schlussformen häufig auch zur Klärung der jeweiligen Urteilsformen herangezogen werden können. 46 Vgl. z. B. WdL 6/314: „Es drückt z. B. in dem Satze ‚die Rose ist wohlriechend‘ nur eine der vielen Eigenschaften der Rose aus; es vereinzelt sie, die im Subjekte mit den anderen zusammengewachsen ist […].“ – Vgl. dazu Schäfer (2006), 57; Winfield (2006), 92, 95.
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gegenseitige Zusammenhänge zwischen Eigenschaften auszudrücken, müssen wir alle Beschreibungen des Gegenstandes als auf einer Stufe stehend behandeln und sind nicht in der Lage, diejenigen Beschreibungen, die etwas Wesentliches am Gegenstand treffen, als solche zu identifizieren. (Diese „Äußerlichkeit“ der defizitären Urteilsformen wird Hegel noch deutlicher im Zusammenhang mit dem Urteil der Reflexion hervorheben; vgl. 4.4.4.)
4.4 Urteil der Reflexion „Abstrakt allgemeiner“ Begriffsgebrauch, wie er paradigmatisch in Wahrnehmungssituationen erfolgt, hat reflektierendes „Zusammenfassen“ zur Voraussetzung, wie wir sahen. Dieses Zusammenfassen wird im Urteil der Reflexion explizit gemacht – und zwar deshalb, weil das Urteil der Reflexion beansprucht, in zusammenfassender Weise von verschiedenen einzelnen Gegenständen zu handeln: Es drückt das „Sich-Zusammennehmen mannigfaltiger Eigenschaften und Existenzen“ aus (WdL 6/326). Deshalb ist die für das Urteil der Reflexion charakteristische Art von Allgemeinheit die „Gemeinschaftlichkeit“ (WdL 6/331), die aus einem Zusammenfassen oder Vergleichen von selbständig bestehendem Einzelnem resultiert.47 Diese „Gemeinschaftlichkeit“ macht den Kern des empiristischen Verständnisses von Allgemeinheit aus, das ich in Abschnitt 4.2 skizziert habe. In seiner Diskussion des Urteils der Reflexion diagnostiziert Hegel diese Auffassung und kritisiert sie zugleich, indem er zeigt, wie sie implizit andere, reichhaltigere Formen der Allgemeinheit voraussetzen muss. – Hegels Prüfung des Urteils der Reflexion gliedert sich in zwei Dimensionen: Zum einen gilt sein Interesse einer spezifischen Art von Prädikaten, die für solche Urteile charakteristisch ist (4.4.1), zum anderen der Quantität von Urteilen der Reflexion (4.4.2 bis 4.4.4). Aus Hegels Kritik am Urteil der Reflexion (4.4.4) können wichtige Konsequenzen hinsichtlich des Verhältnisses von Rechtfertigung und Erklärung gezogen werden, in dem häufig die Seite der Erklärung ausgeblendet wird.
47 Vgl. WdL 6/330 f.: „Die Allgemeinheit, wie sie am Subjekte des universellen Urteils ist, ist die äußere Reflexionsallgemeinheit, Allheit; Alle sind alle Einzelnen; das Einzelne ist unverändert darin. Diese Allgemeinheit ist daher nur ein Zusammenfassen der für sich bestehenden Einzelnen; sie ist eine Gemeinschaftlichkeit, welche ihnen nur in der Vergleichung zukommt“.
4.4 Urteil der Reflexion
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4.4.1 Das Prädikat im Urteil der Reflexion Um zu erläutern, welche Prädikate für das Urteil der Reflexion charakteristisch sind, nennt Hegel u. a. die folgenden Urteile: „Der Mensch ist sterblich“; „Die Dinge sind vergänglich“; „Dieses Ding ist nützlich/schädlich“; „Dieser Körper ist hart/elastisch“ (WdL 6/326). Als Prädikate kommen hierbei dispositionale Begriffe vor, die Eigenschaften zuschreiben, welche nur unter bestimmten Bedingungen aktual werden. Hegel hebt dabei besonders hervor, dass wir durch Urteile, die Dispositionen zuschreiben, nicht den Zustand eines Gegenstands zu einem gegebenen Zeitpunkt beschreiben, sondern ihn in einem realen Kontext verorten: „In der Existenz ist das Subjekt nicht mehr unmittelbar qualitativ, sondern im Verhältnis und Zusammenhang mit einem Anderen, mit einer äußeren Welt. Die Allgemeinheit hat hiermit die Bedeutung dieser Relativität erhalten“ (Enz. § 174, 8/ 326). Den Zusammenhang eines Gegenstands mit der „äußeren Welt“ können wir nicht sinnvoll durch eine Aufzählung einzelner Episoden erfassen (z. B. „Als Gegenstand A auf Gegenstand B zum Zeitpunkt t mechanisch eingewirkt hat, hat B nicht nachgegeben“), sondern nur durch die Beschreibung von charakteristischen Verhaltensweisen, die unter bestimmten Bedingungen – z. B. in der kausalen Interaktion mit anderen Gegenständen – ceteris paribus auftreten („B ist hart“, d. h. gibt unter Druck nicht nach) (vgl. Sans (2004), 175 f.).48 Offensichtlich handelt es sich bei dispositionalen Eigenschaften um einen recht besonderen Fall von Allgemeinheit im Sinne von „Gemeinschaftlichkeit“. Wenn wir dispositionale Eigenschaften zuschreiben, fassen wir verschiedene Situationen zusammen, denen bestimmte allgemeine Kennzeichen (z. B. Ausübung von Druck auf den Gegenstand) und eine bestimmte Verhaltensweise des Gegenstandes (z. B. kein Nachgeben) gemeinsam sind. (Hegel spricht allgemein in Bezug auf die Gegenstände, die Träger der dispositionalen Eigenschaften sind, von „Kontinuitäten ihrer selbst in der verschiedenen Mannigfaltigkeit der Existenz“ (WdL 6/327).) Insofern die Dispositionen das Verhalten des Gegenstandes in Relation zu anderen Gegenständen und Umständen betreffen, handelt es sich hier
48 Eine von Hegel nicht ausdrücklich benannte Route vom Urteil des Daseins zum Urteil der Reflexion besteht in dem Punkt, dass – zumindest nach Lockes klassischer Theorie – auch Farbausdrücke, wie sie im Urteil des Daseins vorkommen, für Dispositionen stehen. Dass Hegel diesen Punkt nicht macht, dürfte damit zusammenhängen, dass die Beispiele für dispositionale Eigenschaften, die er im Kontext des Urteils der Reflexion nennt, ohne einen Rekurs auf einen Beobachterstandpunkt erklärt werden können, wie er dagegen bei Farbausdrücken nötig wäre (z. B. „____erscheint Menschen mit normalem Sehvermögen als rot“). Nur in diesem Sinne „subjektsunabhängige“ Dispositionen scheinen für Hegel die Rolle auszuüben, Gegenstände im Kontext der Wirklichkeit zu verorten.
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
ferner auch um ein „Zusammenfassen“ des beurteilten Gegenstandes mit anderen Gegenständen, Ereignissen usw. Wie Hegels weitere Diskussion zeigt (vgl. 4.4.3), nehmen wir mit derartigen Formen des Zusammenfassens und der Allgemeinheit qua Gemeinschaftlichkeit implizit bereits modal robuste Zusammenhänge an. – Ein wesentlich einfacherer Fall von Allgemeinheit qua Gemeinschaftlichkeit besteht dagegen in allquantifizierten (bzw. „universellen“) Urteilen, die keine dispositionale Eigenschaft aussagen, sondern lediglich konstatieren, dass verschiedene Gegenstände de facto etwas gemeinsam haben, z. B. „Alle Stifte auf meinem Schreibtisch sind Kugelschreiber“. Hegels Diskussion des Reflexionsurteils nimmt also eine Engführung von Gemeinschaftlichkeit im Sinne der bloßen Allquantifikation einerseits und Gemeinschaftlichkeit im Sinne der dispositionalen Eigenschaft anderseits vor. Es ist keineswegs klar, was Hegel hierzu berechtigt. Könnte nicht zugestanden werden, dass das Urteil des Daseins Abstraktionsleistungen zur Voraussetzung hat, die auf einfachen Allquantifikationen beruhen, ohne dass dabei auch Zuschreibungen dispositionaler Eigenschaften vorgenommen werden müssten? Hegel gibt keine ausdrückliche Antwort auf diese Frage. Eine Möglichkeit, Hegels Darstellung in diesem Kontext zu verteidigen, wird aber durch einen Punkt Brandoms nahegelegt, den wir in Abschnitt 4.2 betrachtet haben, nämlich die „modale KantSellars-These“. Diese These, der zufolge die Fähigkeit zum Gebrauch deskriptiver empirischer Begriffe ein Verständnis modaler Kontexte voraussetzt, hatte Brandom folgendermaßen begründet: Wir können nur dann das Urteil fällen, dass die Katze auf der Matte sitzt, wenn wir ein Verständnis davon besitzen, mit welchen kontrafaktischen Szenarien dieser Sachverhalt kompatibel ist und mit welchen nicht. Es ist aber zumindest ein wesentlicher Aspekt unseres Gebrauchs dispositionaler Prädikate und der dadurch ermöglichten Verortung von Gegenständen in realen Wirkzusammenhängen, dass wir dadurch das Verhalten von Gegenständen unter kontrafaktischen und zukünftig möglichen Bedingungen antizipieren. (Indem wir den Gegenstand als „hart“ kennzeichnen, sagen wir u. a. aus, dass er unter einem möglichen Druck nicht nachgeben wird, nachgeben würde, oder nachgegeben hätte.) Wenn Hegels Darstellung des Reflexionsurteils im Sinne der Überlegung Brandoms verstanden wird, dann kann Hegel tatsächlich mit Recht annehmen, dass der Begriffsgebrauch im Kontext des Daseinsurteils Abstraktionsleistungen und begriffliche Fähigkeiten voraussetzt, die nicht nur modal schwache Allaussagen, sondern auch modal robuste Zuschreibungen von Dispositionen involvieren.49 (Die modale Dimension dieser Urteilsfähigkeiten wird
49 Ferner liegt für Hegel die Annahme eines Zusammenhangs der beiden Formen von Gemeinschaftlichkeit wohl auch deshalb nahe, weil er an anderer Stelle – in der wesenslogischen
4.4 Urteil der Reflexion
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allerdings selbst erst durch eine spätere Urteilsform, das Urteil der Notwendigkeit, explizit gemacht.)
4.4.2 Der Übergang vom singulären zum partikulären Urteil Hinsichtlich der Quantität von Urteilen der Reflexion unterscheidet Hegel im Anschluss an die Tradition zwischen singulärem („A ist P“), partikulärem („Einige A sind P“) und universellem Urteil („Alle A sind P“). Für unsere Zwecke ist dabei zunächst der Übergang vom singulären zum partikulären Urteil von Interesse. Das partikuläre Urteil ist die erste Urteilsform in Hegels Darstellung, die von einer Mehrzahl von Gegenständen handelt; in ihr ist somit Allgemeinheit im Sinne der „Gemeinschaftlichkeit“ und des Vergleichens bzw. Zusammenfassens durch die Form des Urteils selbst ausgedrückt, während zuvor die Allgemeinheit nur in der besonderen Art des Prädikatsbegriffs implizit war. Wenn Hegel zugestanden wird, dass Daseinsurteile Abstraktionsleistungen voraussetzen, die die Bildung von Allquantifikationen involvieren, ist der Schritt von der einzelnen Aussage hin zur Mehrheit und zur Allheit von Gegenständen nicht besonders problematisch. Hegels Darstellung wird aber durch die oben beschriebene Engführung der Allgemeinheit von Allquantifikationen mit der Allgemeinheit von Dispositionen wesentlich komplizierter. Hegel will nämlich nun – im Übergang vom singulären zum partikulären Urteil – zeigen, dass wir auch speziell durch die Zuschreibung einer dispositionalen Eigenschaft an einen Gegenstand zur Zuschreibung derselben Eigenschaft an mehrere Gegenstände verpflichtet sind: Der Inhalt dispositionaler Begriffe hat laut Hegel „eine allgemeinere Existenz als nur in einem Diesen“ (WdL 6/328). Aus (1) Dieses A ist P soll demnach (2) Einige A sind P folgen, wobei „P“ für eine dispositionale Eigenschaft steht.
Diskussion der Kategorien „Ding“ und „Eigenschaft“ – die Auffassung vertritt, dass alle Eigenschaften Dispositionen sind. (Vgl. z. B. WdL 6/133: „Ein Ding hat Eigenschaften; sie sind erstlich seine bestimmten Beziehungen auf Anderes; die Eigenschaft ist nur vorhanden als eine Weise des Verhaltens zueinander; sie ist daher die äußerliche Reflexion und die Seite des Gesetztseins des Dings“. Eine ähnliche Auffassung von Eigenschaften hat z. B. Armstrong (1978), Bd. 2, 43 ff. vertreten.) Wenn außerdem angenommen wird, dass Urteile immer oder zumindest paradigmatischerweise Gegenständen Eigenschaften zuschreiben, folgt hieraus, dass auch Urteile des Daseins zumindest implizit Zuschreibungen von Dispositionen vornehmen müssen. Urteile der Reflexion würden dann diese Charakteristik explizit machen.
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Hegel erklärt an dieser Stelle leider nicht genauer, welche Begründung er für diese Inferenz zu haben glaubt. Zwar leuchtet ein, dass singuläre Urteile, die einen dispositionalen Begriff als Prädikat verwenden, insofern eine Form von Allgemeinheit aufweisen, als sie über das Konstatieren einer momentanen Situation hinausführen. Daraus folgt aber offenkundig noch nicht, dass es mehrere Gegenstände gibt, die dieselbe Disposition aufweisen.50 Im Zusatz zum entsprechenden § 175 der Enzyklopädie ist ein Beispiel überliefert, das hier weiterhilft: „Wenn wir sagen: ‚diese Pflanze ist heilsam‘, so liegt darin, daß nicht bloß diese einzelne Pflanze heilsam ist, sondern mehrere oder einige […]“ (8/327). Tatsächlich kann ein Unterschied im Gebrauch von Urteilen wie (3) Dieser Tisch ist braun und (4) Diese Pflanze ist heilsam festgestellt werden. Während wir im ersten Fall dem vor uns befindlichen Gegenstand eine Eigenschaft zuschreiben, reden wir im zweiten Fall gewöhnlich nicht von dem einzelnen Lebewesen, sondern von ihm als Exemplar eines Typus. Der generische Typenbegriff („Pflanze“) dient uns hier nicht allein dazu, einen einzelnen Gegenstand neben anderen Einzelgegenständen als Referenz des Demonstrativums zu identifizieren, sondern auch dazu, auf diesen Einzelgegenstand qua Instanz einer spezifischeren natürlichen Art – nämlich einer Pflanzenart – Bezug zu nehmen, dem die im Prädikat ausgedrückte Eigenschaft kraft der Zugehörigkeit zu dieser Art zukommt.51 Dadurch unterscheiden sich Sätze wie (4) nicht nur von Sätzen wie (3), sondern auch von Sätzen, in denen eine dispositionale Eigenschaft in Bezug auf den Einzelgegenstand als solchen ausgesagt wird. Das kann entweder dadurch geschehen, dass das Demonstrativum durch einen spezifischeren Begriff ergänzt wird, z. B.: (5) Dieses Pferd reagiert furchtsam auf Bewegungen;
50 Für Winfield (2006), 96 f. ist der Schluss unproblematisch, weil der Prädikatsbegriff als relationaler Begriff den vom Subjektsbegriff bezeichneten Gegenstand zu anderen Gegenständen in Beziehung setzt (Winfield (2006), 97 : „[T]he universal subsumes individuals, which are set in relation in virtue of that subsumption“). Das kann aber offensichtlich nicht die Erklärung sein. Unter denselben Begriff würden die Relata nur fallen, wenn die Relation symmetrisch wäre (z. B. „A ist ein Zwilling von B“). In Hegels Beispielen für dispositionale Begriffe sind die Relationen aber asymmetrisch (z. B. „A ist heilsam für B“). 51 Der beschriebene Unterschied hängt auch damit zusammen, dass „Tisch“ kein übergeordneter Gattungsbegriff wie „Pflanze“ ist. Urteile wie „Diese Pflanze ist grün“ können für beide Funktionen gebraucht werden, ähnlich wie unten Satz (6).
4.4 Urteil der Reflexion
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oder es kann ein an sich ambiguer Satz mit dem generischen Typenbegriff gebraucht werden, wenn im Kontext (auf Grund von Sprechsituation, geteilten Hintergrundannahmen usw.) klar ist, dass das einzelne Exemplar gemeint ist: (6) Dieses Tier reagiert furchtsam auf Bewegungen. Wenn sich nun ein singuläres Urteil wie (4) auf den Einzelbegriff qua Instanz der Art bezieht, dann scheint unter Normalbedingungen durchaus ein Schluss von diesem singulären auf ein entsprechendes partikuläres Urteil möglich zu sein, wie Hegel ihn in Anspruch nimmt. Eine Disposition, die der Gegenstand wegen seiner Zugehörigkeit zu einer natürlichen Art hat, können wir nämlich nicht allein auf Grund der Beobachtung des einzelnen Gegenstands zuschreiben, sondern nur vor einem Hintergrund der Beobachtung verschiedener Gegenstände derselben Art: Andernfalls könnten wir uns nicht sicher sein, dass die Disposition aus der Zugehörigkeit des einzelnen Gegenstands zur natürlichen Art folgt und nicht nur eine individuelle Eigenschaft des Gegenstands ist. Wenn es aber weitere Gegenstände derselben Art gibt, folgt daraus trivialerweise auch, dass es weitere Exemplare der übergeordneten Gattung (wie „Pflanze“) gibt. (Dieser Schluss gilt freilich nur im Regelfall, weil es Ausnahmefälle gibt, in denen nur noch ein Exemplar der natürlichen Art existiert.) Hegel lenkt also durch den Übergang vom singulären zum partikulären Urteil die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Fall der Zuschreibung dispositionaler Eigenschaften – nämlich den Fall, in dem wir die dispositionale Eigenschaft vom Einzelgegenstand qua Instanz einer natürlichen Art aussagen. Es scheint eine plausible Annahme zu sein, dass zwischen unserer Fähigkeit, Gegenständen Dispositionen zuzuschreiben, und unserer Fähigkeit, Gegenstände als Instanzen natürlicher Arten zu deuten, ein wesentlicher Zusammenhang besteht. Hätten wir nur dispositionale Begriffe und keine natürliche-Art-Begriffe, könnten wir lediglich dann Dispositionen erkennen, wenn wir mit dem Verhalten des Einzelgegenstands unter verschiedenen relevanten Bedingungen vertraut sind. Wir könnten dann z. B. nie eine intakte Porzellanvase als zerbrechlich kennzeichnen, weil wir dazu bereits eine Erfahrung von genau dieser Vase gehabt haben müssten, wie sie unter Druck zerbricht. Im weiteren Verlauf des Abschnitts über das Urteil der Reflexion tritt schließlich ein zusätzlicher Grund zutage, der aus Hegels Sicht für die Annahme einer wesentlichen Verbindung zwischen der Fähigkeit, Dispositionen auszusagen, und der Fähigkeit, Gegenstände als Instanzen natürlicher Arten zu klassifizieren, spricht. Unsere Dispositionszuschreibungen beruhen nämlich direkt oder indirekt auf Induktionen, und diese basieren für Hegel ihrerseits auf Konzeptionen von natürlichen Arten. Hegel behandelt diesen Zusammenhang zwischen Induktion und natürlichen Arten im Abschnitt über das universelle Urteil, dem wir uns nun zuwenden.
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4.4.3 Universelles Urteil und Induktion Kennzeichnend für das universelle Urteil ist die Quantität der Allheit. Hegel unterscheidet zwei Formen von Allheit: subjektive und objektive Allheit. Subjektive Allaussagen quantifizieren über Begriffsinstanzen, die einzeln für sich bekannt sind – also z. B. „Alle Pflanzen dieser Art, die wir bisher getestet haben, sind heilsam“. Dagegen erweitert die objektive Allheit den Geltungsanspruch über die „zur Kenntnis gekommenen Fälle“ (WdL 6/332) hinaus auf alle Fälle, die der relevanten Kennzeichnung angehören. Diese Erweiterung ist aber problematisch. Allgemeine Urteile, die auf Induktionsschlüssen beruhen, sind für Hegel „Aufgaben“, die durch ein „perennierendes Sollen“ (WdL 6/386) gekennzeichnet sind: Ihre vollständige Verifikation wäre nur durch eine „vollendete Erfahrung“ (WdL 6/386) möglich, die aber ex hypothesi nicht gegeben sein kann. Trotz dieses immanenten Widerspruchs gebrauchen wir derartige Urteile, doch beruht nach Hegel der Schluss von den beobachteten Instanzen auf die allgemeine Regel auf einer „stillschweigenden Übereinkunft“ (WdL 6/332). Zur Frage, wann ein solcher Induktionsschluss zulässig ist, erklärt Hegel52: Eine Erfahrung, die auf Induktion beruht, wird als gültig angenommen, obgleich die Wahrnehmung zugestandenermaßen nicht vollendet ist; es kann aber nur angenommen werden, daß sich keine Instanz gegen jene Erfahrung ergeben könne, insofern diese an und für sich wahr sei. (WdL 6/386)
Dass die Konklusion des Induktionsschlusses „an und für sich wahr“ sein muss, kann zunächst so verstanden werden, dass sachliche Gründe verfügbar sein müssen, die dafür sprechen, dass die durch den Induktionsschluss begründete Verallgemeinerung einen notwendigen Zusammenhang ausdrückt. Solche Gründe bestehen in Faktoren, die die Annahme des notwendigen Zusammenhangs plausibel machen, weil sie sie erklären oder selbst durch sie erklärt werden.53 Wie Hegels weitere Diskussion nahelegt, handelt es sich hierbei insbesondere um Faktoren, die eine relevante „Gattung“ oder natürliche Art54 betreffen: Der Übergang zur objektiven Allheit stellt nämlich eine „Identität“ oder Einheit zwischen Subjekt und Prädikat her, die laut Hegel „die Gattung oder an und für
52 Vgl. zum Folgenden auch die Behandlung von Induktion im Abschnitt „Beobachtung der Natur“ in der PhG, 3/193 f. 53 Ähnlich schlägt Harman (1965) vor, Induktionsschlüsse als einen Fall von Schlüssen auf die beste Erklärung zu deuten. 54 Der Begriff der „natürlichen Art“ ist hier im Gegensatz zu einer „künstlichen“ Unterscheidung oder Klassifikation zu verstehen, und nicht im Gegensatz zu Arten im geistigen Bereich (z. B. Arten sozialer Institutionen, Handlungstypen…).
4.4 Urteil der Reflexion
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sich seiende Natur eines Dings“ (WdL 6/334) ist. Wenn beispielsweise aus einer Vielzahl von Beobachtungen, in denen Ereignisse zweier Arten verbunden miteinander auftreten, induktiv auf eine kausale Verbindung geschlossen wird, kann dieser Schluss dadurch gerechtfertigt werden, dass die angenommene kausale Verbindung durch bekannte strukturelle Eigenschaften verständlich gemacht wird, die die fraglichen Gegenstände nicht auf Grund ihrer individuellen Beschaffenheit besitzen, sondern auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer Art. So stellt die Aussage „Alle Menschen sind sterblich“ mehr als die bloße Extrapolation bisheriger Beobachtungen dar, weil sie eine wesentliche Eigenschaft einer natürlichen Art ausdrückt und in explanatorischen Beziehungen zu anderen Aspekten dieser natürlichen Art steht (z. B. zur Tatsache, dass Menschen einen Körper haben). Wir können in diesem Fall berechtigterweise annehmen, dass uns keine Gegeninstanz begegnen wird, während es uns, in einem Beispiel Hegels (WdL 6/516 f.), im Falle des Satzes „Alle Menschen haben Ohrläppchen“ auch bei großer positiver Induktionsbasis nicht wundern sollte, wenn eine Gegeninstanz auftritt (vgl. Sans (2004), 182).55 – Für Hegel können also nach der vorgeschlagenen Deutung induktive Verallgemeinerungen durch explanatorische Kohärenz mit Konzeptionen, die wir von einer natürlichen Art haben, gerechtfertigt werden.56 Dabei ist freilich zugleich zu betonen, dass die dargelegte Argumentation notwendig über die Induktion selbst hinausgeht. Die in „Gattungen“ oder natürli-
55 Ähnlich argumentiert Hegel, dass die Gestaltung von Experimenten (WdL 6/521 f.; vgl. PhG 3/ 194 f.) eine Unterscheidung von wesentlichen und unwesentlichen Faktoren und damit die Annahme notwendiger Zusammenhänge im Gegenstand voraussetzt. – Vgl. zum Zusammenhang von Induktion und Experiment bei Hegel auch Suchting (1990). 56 Im Hinblick auf Humes „riddle of induction“ (Treatise I 3, 6) – das Hegel nicht ausdrücklich diskutiert – kann noch ergänzt werden, dass die Annahme eines stets uniformen Verhaltens der beobachtbaren Gegenstände, auf der nach Hume jeder Induktionsschluss basiert, in Bezug auf natürliche Arten sehr viel weniger problematisch ist als in Bezug auf Einzelgegenstände und -ereignisse: Es ist eine gängige Meinung, dass die Notwendigkeit, mit der die Instanzen einer natürlichen Art die für diese Art wesentlichen Eigenschaften besitzen (wenn es solche Eigenschaften gibt), metaphysische Notwendigkeit ist, also in allen möglichen Welten und zu allen möglichen Zeitpunkten gilt. Es könnte lediglich sein, dass diese Eigenschaften selbst durch unterschiedliche Manifestationen zu unterschiedlichen Zeitpunkten definiert sind (wie z. B. Goodmans „grue“). Aber in diesem Fall wäre zumindest im Rahmen von Hegels realistischer Auffassung des „Begriffs“ (vgl. 5.2.2), der zufolge die für eine natürliche Art wesentlichen Eigenschaften untereinander durch explanatorische Kohärenz gekennzeichnet sind, zu erwarten, dass ein solcher Wechsel in der Manifestationsweise selbst durch andere Faktoren erklärbar ist und wir deshalb prinzipiell in induktiven Schlüssen entscheiden können, ob wir ein gleichbleibendes oder ein diskontinuierliches Verhalten des Gegenstands annehmen müssen. (Hier sind auch die Lösungsvorschläge „wissenschaftlicher Essentialisten“ zum Problem der Induktion einschlägig; vgl. z. B. Ellis (1998)).
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chen Arten involvierte Notwendigkeit, die in ihr zum Tragen kommt, gehört in Hegels Klassifikation bereits dem Urteil der Notwendigkeit an. Hegel nimmt in der Diskussion des universellen Urteils auf sie als „objektive Allgemeinheit“ (im Gegensatz zur objektiven Allheit des universellen Urteils) Bezug und bemerkt zum Übergang von subjektiver zu objektiver Allheit: Es schwebt aber dabei die an und für sich seiende Allgemeinheit des Begriffs dunkel vor; er ist es, der gewaltsam über die beharrliche Einzelheit, woran sich die Vorstellung hält, und über das Äußerliche ihrer Reflexion hinaustreibt und die Allheit als Totalität oder vielmehr das kategorische An- und Fürsichsein unterschiebt. (WdL 6/332)
Der induktive Übergang von der subjektiven zur objektiven Allheit ist also nur dadurch gerechtfertigterweise möglich, dass antizipierend mit der Allgemeinheit und Notwendigkeit natürlicher Arten eine stärkere Form von notwendiger Allgemeinheit zugrunde gelegt wird.57, 58
4.4.4 Die „Äußerlichkeit“ des Urteils der Reflexion: Hegel über Rechtfertigung und Erklärung Wie wir gesehen haben, wird durch die Induktion und ihre Orientierung an der „objektiven Allgemeinheit“, die hier „dunkel vorschwebt“, der Standpunkt des Urteils der Reflexion schon überschritten. Während sich objektiv universelle Urteile durch die Bezugnahme auf die „objektive Allgemeinheit“ natürlicher Arten bereits dem Objektivitätsgehalt von Urteilen der Notwendigkeit annähern, ist für die anderen Formen des Urteils der Reflexion laut Hegel eine besondere Äußerlichkeit charakteristisch, die abermals – wie schon im Fall des Urteils des Daseins – einem Defizit an Freiheit entspricht.59 Von besonderem sachlichem Interesse ist dabei zunächst Hegels Rede von den „Merkmalen“, derer sich die zusammenfassende Reflexion bedient (WdL 6/327, 6/335, 6/516). Hierdurch spezifiziert Hegel eine bestimmte Auffassung des Begrifflichen, die abermals für die empiristische Standardauffassung von Allgemeinheit charakteristisch ist: Nach
57 Entsprechend verweist Hegels Ausdruck „das kategorische An- und Fürsichsein“ in der zitierten Passage auf das „kategorische Urteil“, für das natürliche-Art-Begriffe charakteristisch sind. 58 Insofern übernimmt Hegel von Hume die kritische Einsicht, dass Induktion für sich genommen keiner Begründung fähig ist. Vgl. hierzu auch Suchting (1990) und Stederoth (2006). 59 Auch die „Reflexion“ bzw. das Verstandesdenken überhaupt kritisiert Hegel häufig für ihre „Äußerlichkeit“: Vgl. dazu besonders den Abschnitt über die „äußere Reflexion“ mit Anmerkung in der WdL.
4.4 Urteil der Reflexion
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ihr ist die Anwendung von Begriffen durch Merkmale oder Kriterien geregelt (vgl. auch VB 17/360 f.), also Eigenschaften, die alle Instanzen des Begriffs gemeinsam haben.60 Diese Kriterien sind mittels Allquantifikationen – also gemäß dem hier relevanten Verständnis von Allquantifikation: auf rein extensionale Weise – mit den zu bestimmenden Begriffen verbunden. So definiert z. B. (1) (Alle Menschen haben Ohrläppchen) & (Alle Wesen, die nicht Menschen sind, haben keine Ohrläppchen) das Ohrläppchen als exklusives Merkmal des Menschen. Diese Auffassung kommentiert Hegel in einer Passage, die von der Begriffsbildung durch Abstraktion handelt, wie folgt: Wenn das freilich nur als ein Merkmal oder ein Zeichen dienen soll, was von der konkreten Erscheinung in den Begriff aufzunehmen sei, so darf es allerdings auch irgendeine nur sinnliche einzelne Bestimmung des Gegenstandes sein, die wegen irgendeines äußerlichen Interesses aus den anderen herausgewählt wird und von gleicher Art und Natur wie die übrigen ist. (WdL 6/259)
Alle Dinge haben mit allen anderen in zahllosen Hinsichten Gemeinsamkeiten. Wenn Begriffsbildung und -gebrauch eine Sache der rein extensionalen Beziehung von solchen Gemeinsamkeiten sind (wie etwa der Koinzidenz der Begriffsextensionen von „Mensch“ und „Wesen mit Ohrläppchen“, die das Ohrläppchen zum Merkmal des Menschen macht), dann resultiert eine beliebige Klassifikation des anschaulichen Mannigfaltigen durch Begriffe. Wie wir diese Klassifikation gestalten, welche Gemeinsamkeit wir herausgreifen, hängt nicht von der begrifflich zu bestimmenden Sache ab, sondern allein von unserem subjektiven Standpunkt, der insbesondere, wie Hegel in der zitierten Passage bemerkt, durch pragmatische Gesichtspunkte definiert ist. Ein Weltbezug, der sich derartiger Begriffe bedient, muss notwendig äußerlich sein: Er kann die Sachen, auf die er sich bezieht, nicht auf Grund ihrer eigenen Natur begreifen, sondern projiziert seine zufälligen Klassifikationen auf sie. Ähnlich kritisiert Hegel daneben auch den Schluss der Reflexion, in dem die drei termini nur „äußerlich“ verbunden werden – wie z. B. in der ersten Form des Reflexionsschlusses, dem Schluss der Allheit, der durch den Syllogismus „Alle Menschen sind sterblich; Gaius ist ein Mensch; ∴ Gaius ist sterblich“ exemplifiziert ist. Ein solcher „formeller“, rein extensionaler61 Schluss kann nur in bedingtem Maße zu sachhaltiger Erkenntnis führen; insofern erscheint der Schluss zu 60 Hegels direkte Quelle für diese Auffassung ist Kants Begriff des Merkmals (nota), der seinerseits auf rationalistische Vorbilder zurückgeht: vgl. Schulthess (1981), 20 ff. 61 Vgl. Hegels Bemerkungen zur „Gleichheit des Umfangs“, die „für die äußere Reflexion“ der Identität (Synonymie) der Begriffe gleichkomme (WdL 6/385).
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Recht „als ein subjektiver Notbehelf, zu dem die Vernunft oder der Verstand da ihre Zuflucht nehme, wo sie nicht unmittelbar erkennen könne“ (WdL 6/358). Da nämlich das „Subjekt“ des Schlusses (der Subjektsbegriff in praemissa minor und Konklusion) zum einen „durch jede seiner Eigenschaften […] in einer anderen Berührung und Zusammenhange des Daseins“ ist – also in vielfältigen Relationen zu anderen Gegenständen steht, wie sie auch im Urteil der Reflexion ausgedrückt werden –, und zum anderen die ihm unmittelbar zugeschriebenen Eigenschaften in vielfältigen Implikationsbeziehungen zu anderen Eigenschaften stehen, ist es „völlig zufällig und willkürlich, welche der vielen Eigenschaften eines Dinges aufgefaßt und von welcher aus es mit einem Prädikate verbunden werde; andere Medii Termini sind die Übergänge zu anderen Prädikaten […]“ (WdL 6/359 f.). Wie schon im Urteil des Daseins treten also auch in Bezug auf Urteil und Schluss der Reflexion Formen von Zufall und Willkür auf, mithin auch Gestalten der Unfreiheit. Allerdings kann gegen Hegels Kritik an der „Äußerlichkeit“ der Reflexion der folgende Einwand formuliert werden. Aus der Tatsache, dass wir „äußerliche“ Merkmale und Inferenzen gebrauchen, um nicht direkt beobachtbare Sachverhalte zu erschließen, folgt nicht, dass wir nicht die eigentliche Natur dieser Sachverhalte erkennen könnten. Nehmen wir an, dass wir eine ideale Theorie über die Struktur einer chemischen Substanz besitzen, durch die wir das Verhalten dieser Substanz unter allen möglichen Umständen perfekt vorhersagen und erklären können. Dennoch könnten wir im Einzelfall das Vorliegen der Substanz mittels „unwissenschaftlicher“ Merkmale feststellen. Dies könnte sogar auf Grund von pragmatischen Umständen häufig die einzige Möglichkeit sein, um über das Vorliegen zu entscheiden. Der Verzicht auf den Gebrauch jener „äußerlichen“ Merkmale würde unser Wissen also einschränken, nicht etwa erweitern oder verbessern. Um hier größere Klarheit zu gewinnen, ist es nötig, zunächst zwischen Rechtfertigung und Erklärung als zwei Dimensionen epistemischer Bewertung zu unterscheiden. (Epistemische) Rechtfertigungen und Erklärungen bilden Antworten auf zwei verschiedene Warum?-Fragen. Wenn wir Rechtfertigungen angeben, beantworten wir die Frage, warum – auf welcher Grundlage – wir etwas glauben; wenn wir Erklärungen angeben, beantworten wir die Frage, warum etwas der Fall ist. Rechtfertigung kann ohne Erklärung auftreten: Wir können gerechtfertigte Überzeugungen über Sachverhalte haben, die wir nicht erklären können.62 62 Dagegen gelten Erklärungen allgemein als „faktiv“, d. h. sie legen uns auf die Wahrheit von Explanans und Explanandum fest (aus der Behauptung „p, weil q“ folgt, dass p und q wahr sind), so dass wir auch eine Rechtfertigung für beide benötigen (wir müssen rechtfertigen können, dass wir p und q für wahr halten).
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Während es offensichtlich wichtig ist, beide Warum?-Fragen und die entsprechenden Antworten auseinanderzuhalten, gibt es auch wichtige Zusammenhänge von (epistemischer) Rechtfertigung und Erklärung, die aber oft ausgeklammert werden, wenn der Begriff der Rechtfertigung in der Epistemologie thematisiert wird.63 Ein solcher Zusammenhang kann gerade an Hand des Begriffs von „Merkmalen“ bzw. Kriterien verdeutlicht werden. Kriterien dienen zunächst dazu, die Anwendung von Begriffen zu rechtfertigen: Dass die (Anwendungs-) Kriterien für einen Begriff durch einen Gegenstand erfüllt sind, berechtigt uns dazu, den Begriff vom Gegenstand auszusagen. Auf Grund dieser Rolle legen Kriterien (Anwendungskriterien zusammen mit Folgekriterien, die die inferentiellen Folgen von Begriffen bestimmen) die Bedeutung des Begriffes fest: Wir schreiben jemandem nur dann das Verständnis des Begriffs zu, wenn er die Anwendung der relevanten Kriterien beherrscht. Das Beherrschen der Kriteriologie eines Begriffes schafft zunächst ein semantisches Verständnis. Wie Hegel aber häufig erklärt, erschöpfen sich darin die Anforderungen nicht, die wir sinnvollerweise an den Gebrauch von Begriffen stellen können. Begriffe dienen – so Hegels Auffassung – nicht lediglich der Klassifikation und Manipulation von mannigfaltigem Gegebenem in einem inferentiellen Kalkül, sondern vor allem dazu, die Gegenstände, auf die wir sie anwenden, zu begreifen (vgl. WdL 6/255; vgl. 7.1). Ein solches Begreifen ist durch das Beherrschen von Anwendungs- und Folgekriterien von Begriffen noch nicht gegeben. Wenn z. B. jemand zwar den Begriff „Mensch“ korrekt gebrauchen kann, aber nicht weiß, dass das Kriterium „Wesen, das Ohrläppchen hat“ nicht auf einer Stufe steht mit dem Kriterium „vernunftbegabtes Wesen“, beherrscht er lediglich die korrekte Manipulation von Zeichen in einem Kalkül, kann aber das, worüber er spricht, nicht begreifen. Was ist aber über die semantische Fähigkeit der Beherrschung von Kriterien hinaus für ein genuines Verständnis eines Gegenstandes nötig? Ein erster Faktor, der auf Brandoms „modaler Kant-Sellars-These“ (vgl. 4.2) aufbaut, ist die Fähigkeit, zwischen zwei modal verschiedenen Arten von inferentiellen Verbindungen zu unterscheiden: nämlich solchen Verbindungen, die auch in kontrafaktischen Szenarien gelten, und solchen Verbindungen, die dies nicht tun. Z. B. ist in Hegels Beispiel das Kriterium des Wesens mit Ohrläppchen nicht für alle möglichen Welten gültig, das des vernunftbegabten Wesens hingegen schon. Auch diese
63 Traditionell hat das Thema der Erklärung in der Wissenschaftstheorie mehr Aufmerksamkeit erfahren als in der Erkenntnistheorie. Innerhalb der Erkenntnistheorie haben v. a. Kohärentisten wie Harman, Sellars und Lycan die Rolle explanatorischer Kohärenz für Rechtfertigung hervorgehoben. Für einen Überblick zu der Thematik vgl., mit weiterer Literatur, Lehrer (1990), Kap. 5, und Lycan (2002). Vgl. auch Abschnitt 7.1 und Kap. 7, Fußnote 3.
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Form des Verstehens gehört aber eher dem semantischen Begriffsverständnis an, weil sie im korrekten Beherrschen inferentieller Übergänge besteht. Die Art von Verstehen, die Hegel besonders betont, ist dagegen an das Erfassen von explanatorischen Zusammenhängen geknüpft.64 Wir verstehen z. B. in diesem Sinn, was Wasser ist, wenn wir verschiedene relevante Eigenschaften – z. B. transparentes Aussehen, flüssiger Aggregatszustand bei mittleren Temperaturen, die chemische Struktur H2O – in gegenseitige Erklärungsbeziehungen bringen können und Warum?-Fragen, die nach der Erklärung für eine dieser Eigenschaften fragen, durch Verweis auf andere dieser Eigenschaften beantworten können. In diesem anspruchsvolleren Sinne müssen wir, um einen „Begriff“ von Wasser zu haben, über das semantische Verständnis des Ausdrucks „Wasser“ hinaus auch eine explanatorisch kohärente Konzeption von Wasser besitzen. Indem Hegel das Begreifen eines Gegenstandes durch einen angemessenen, explanatorisch ausreichend starken Begriff dem „äußerlichen“, vergleichenden Klassifizieren von Gegenständen nach rein extensionalen Gesichtspunkten („Gemeinschaftlichkeit“) entgegensetzt, beansprucht er implizit, dass explanatorische Kohärenz einen Zuwachs an Objektivität (und nicht nur an subjektiver Kohärenz innerhalb unserer Überzeugungssysteme) bedeutet. Dies könnte zunächst so verstanden werden, dass explanatorische Kohärenz oft als rechtfertigender Faktor dient, insbesondere in Form von Schlüssen auf die beste Erklärung. Sowohl in den Wissenschaften als auch in alltäglichen Praktiken stellt dieser Schluss eine zentrale Methode der Rechtfertigung dar (vgl. z. B. Harman (1973), Kap. 8 und Lycan (2002), 412). Wer z. B. feststellt, dass eine Tür nicht zu öffnen ist, bildet die Überzeugung, dass jemand sie abgeschlossen hat, obwohl es prinzipiell auch andere mögliche Erklärungen gäbe (sie wurde durch eine Attrappe ersetzt usw.). Indem wir durch die Einführung neuer Überzeugungen unser Überzeugungssystem (oder Teile von ihm) explanatorisch kohärenter machen, weil diese neuen Überzeugungen die Inhalte bisheriger Überzeugungen erklären, rechtfertigen wir also jene neuen Überzeugungen; zugleich erhöhen wir damit in der Regel auch die Plausibilität des ganzen Überzeugungssystems. Explanatorische Kohärenz bringt uns also der Wahrheit über die objektive Realität näher.
64 Die Rolle solcher Zusammenhänge berücksichtigt Brandom in seiner Theorie nur insofern, als er annimmt, dass alethisch-modale Tatsachen und Beziehungen ipso facto einen explanatorischen Stellenwert haben (z. B. Brandom (unveröffentlichta), 5 f., 9). Im Kontext von Hegels Diskussion des „Urteils der Notwendigkeit“ werden wir sehen, dass zumindest für Hegel dem nicht so ist und explanatorische Kohärenz, die ein genuines Verstehen und Begreifen erlaubt, die spezifische logische Struktur des Begriffs voraussetzt; alethisch-modale Tatsachen und Beziehungen sind in diesem Bild selbst ebenso erklärungsbedürftig wie modal schwache Tatsachen und Beziehungen.
4.4 Urteil der Reflexion
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Dieser Punkt ist aber zumindest nicht hinreichend, um Hegels Gedanken an dieser Stelle Rechnung zu tragen. Denn nach Hegel können auch innerhalb von inferentiellen Systemen, die durch explanatorische Kohärenz ausgezeichnet sind, der Mangel an Objektivität und die Willkürlichkeit, die für das Urteil der Reflexion charakteristisch sind, auftreten. Hegel erklärt etwa: Etwas ist ein Konkretes von solchen mannigfaltigen Bestimmungen, die sich gleich beständig und bleibend an ihm zeigen. Die eine kann daher sosehr wie die andere als Grund bestimmt werden, nämlich als die wesentliche, in Vergleichung mit welcher alsdann die andere nur ein Gesetztes sei. (WdL 6/107)
Welche unter den dauerhaften Eigenschaften eines realen Gegenstandes also den Erklärungsgrund für eine bestimmte zu erklärende Eigenschaft darstellt, ist durch die Eigenschaften selbst nicht unbedingt hinreichend festgelegt. Hegel nennt Handlungen und soziale Status (das Amt, das ein Beamter innehat) als Beispiele, für die jeweils konkurrierende Erklärungen verfügbar sind (WdL 6/107 f.). Unsere Festlegung hinsichtlich des ausschlaggebenden Grundes hängt hier davon ab, welche der zahlreichen relevanten Aspekte der Handlung bzw. der Person des Amtsträgers wir für wesentlich halten. Zwischen den verfügbaren Möglichkeiten, die es auf Grund des „konkreten“, vielseitigen Charakters der jeweiligen Entität gibt, können wir aber wieder letztlich nur willkürlich oder auf Grund von subjektiven Perspektiven entscheiden, und den „mancherlei Rücksichten, d. h. Bestimmungen, die außer der Sache selbst liegen, ist um der Zufälligkeit der Verknüpfungsweise [willen] Tür und Tor unendlich aufgetan“ (WdL 6/108). Das Defizit liegt hier in den verwendeten Erklärungsformen – im Kontext der genannten Passagen der Erklärungsform des zureichenden Grundes. Solange keine geeigneten Erklärungsmodelle vorhanden sind, die eine begründete Entscheidung zugunsten einer angemessenen Erklärung ermöglichen, ist unser Denken also für Hegel trotz explanatorischer Kohärenz der Sache äußerlich. Diese Äußerlichkeit kennzeichnet z. B. auch bestimmte Fälle von Schlüssen auf die beste Erklärung, in denen das Schließen tatsächlich nur als ein „subjektiver Notbehelf“ fungiert, „zu dem die Vernunft oder der Verstand da ihre Zuflucht nehme, wo sie nicht unmittelbar erkennen könne“ (WdL 6/358). Ein Beispiel sind indiziarische Rechtfertigungen65: Wenn wir von einem Beobachtungsbefund auf eine Handlung in der Vergangenheit schließen, die diesen Befund als eine unabsichtliche kausale Folge erklärt (z. B. Spuren), dann resultiert nur eine sehr schwache explanatori-
65 Eine ausgezeichnete Darstellung der „indiziarischen“ Methode als epistemologisches Paradigma in verschiedensten Gebieten (Detektivroman, Medizin, Psychoanalyse, Kunstgeschichte u. a.) bietet Ginzburg (1992).
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sche Konstellation, die keinen besonderen Verständnisfortschritt mit sich bringt (wenngleich sie z. B. entscheidend für ein Gerichtsurteil sein kann). Wenn dagegen eine wissenschaftliche Theorie als die beste Erklärung der verfügbaren Beobachtungen gerechtfertigt wird, dann muss sie es uns erlauben, in einer Vielfalt beobachtbarer Befunde, die für sich genommen ohne vernünftigen Zusammenhang sind, eine rationale Ordnung zu erkennen. Der explanatorische Schluss ist hier kein „subjektiver Notbehelf“, sondern ermöglicht einen Erkenntnisfortschritt, den Beobachtung für sich genommen nicht leisten könnte (während im Fall der indiziarischen Rechtfertigung die Konklusion des explanatorischen Schlusses – z. B. die imputierte Handlung – nur kontingenterweise nicht durch Beobachtung bekannt ist). Wir haben somit gesehen, dass Hegels Kritik an der „Äußerlichkeit“ des Urteils der Reflexion und der mit ihm verbundenen Auffassung von Allgemeinheit auf Hegels allgemeinerer Sicht des Verhältnisses von Objektivität, Rechtfertigung und Erklärung beruht. Die zentrale Rolle, die explanatorische Beziehungen neben inferentiellen Beziehungen für Hegels Auffassung vernünftigen Erkennens spielen, wird im Folgenden immer wieder deutlich werden – zunächst in Hegels Diskussion des „Urteils der Notwendigkeit“, in der Aspekte von Allgemeinheit, Notwendigkeit und Erklärung explizit gemacht werden, die im Urteil der Reflexion implizit vorausgesetzt werden.
4.5 Urteil der Notwendigkeit Kennzeichen des Urteils der Notwendigkeit ist, dass es die „objektive Allgemeinheit“ explizit macht – die modal robuste Allgemeinheit, die sich als implizite Voraussetzung insbesondere der induktiven Verallgemeinerung im Kontext des Urteils der Reflexion erwiesen hatte: „Die Bestimmung, zu der sich die Allgemeinheit fortgebildet hat, ist, wie sich ergeben, die anundfürsichseiende oder objektive Allgemeinheit“ (WdL 6/335). Mit der explizit ausgedrückten „objektiven Allgemeinheit“ tritt auch gegenüber den Urteilsformen des Daseins und der Reflexion ein neues Verständnis von Allgemeinheit auf, das diese nicht mehr primär als extensionale Gemeinschaftlichkeit definiert. Charakteristisch für diese neue Auffassung sind zwei Punkte. Erstens ist ihr zufolge die Vielzahl nicht notwendig für Allgemeinheit; zweitens involviert so verstandene Allgemeinheit notwendige Zusammenhänge, wie sie zuvor nur implizit eine Rolle gespielt haben.66 Beide Punkte
66 Eine weitere Möglichkeit für eine Alternative zur empiristischen Deutung von Allgemeinheit als „Gemeinschaftlichkeit“ vertritt Frege, der logische Allgemeinheit als Unbestimmtheit oder
4.5 Urteil der Notwendigkeit
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drückt Hegel prägnant in einer Vorlesung aus, indem er den parallelen Übergang vom Schluss der Reflexion zu dem der Notwendigkeit wie folgt kommentiert: Um ein Gesetz, um eine Wahrheit zu finden, braucht man eigentlich gar nicht alle Fälle zu kennen, weil in dem Einzelnen das Ganze enthalten ist. Es darf daher nur dieses Einzelne recht aufgefaßt und erkannt werden, so hat man die Wahrheit oder das Gesetz auch für alle Fälle gleich erkannt. (VL 11/162)
Das allgemeine Gesetz stellt einen notwendigen Zusammenhang dar. Dieser Zusammenhang kann, er muss aber nicht durch eine Mehrzahl von Gegenständen belegt oder auch nur instantiiert sein. Deshalb genügt für die Erkenntnis dieses Zusammenhangs prinzipiell ein einziger Gegenstand, sofern dieser nur wirklich verstanden wird. Charakteristisch für die neue Auffassung von Allgemeinheit ist es auch, wenn Hegel bereits in der Diskussion zum universellen Urteil die dort resultierende „objektive Allgemeinheit“ so erläutert: „Das Subjekt hat insofern die Formbestimmung des Reflexionsurteils, welche vom Diesen durch Einiges zur Allheit hindurchging, abgestreift; statt ‚alle Menschen‘ ist nunmehr zu sagen ‚der Mensch‘“ (WdL 6/333). Die hier relevante, besondere Ausprägung des neuen Allgemeinheitsverständnisses ist die Gattung oder natürliche Art. Mit Gattungsbegriffen in Subjektposition können allgemeine Urteile gebildet werden, die nicht im Plural formuliert sind und keinen Allquantor verwenden, sondern im Singular stehen und den bestimmten Artikel verwenden: z. B. „Der Mensch ist zweifüßig“. Derartige Urteile drücken eine wesensmäßige Notwendigkeit aus, wie sie durch die Verallgemeinerungen der Reflexion nicht erfasst werden kann (wenngleich sie der Möglichkeit von Induktion zugrunde liegt, wie wir sahen). Sie sind auch nicht etwa äquivalent zu Allquantifikationen wie „Alle Menschen sind zweifüßig“, weil sie durchaus Gegeninstanzen zulassen.67
Ungesättigtheit deutet (vgl. Frege (1969b) und (1969c)). Für Frege erzeugen wir Allgemeinheit nicht primär durch einen Vergleich oder ein Zusammenfassen, sondern dadurch, dass wir einen Teil eines nicht-allgemeinen Urteils durch eine Variable ersetzen. Entsprechend versteht Frege auch die Allquantifikation bekanntlich nicht als Aussage über eine Mehrzahl von Gegenständen (die daher Existenz impliziert), sondern als hypothetisches Urteil (ohne Existenzimplikation). – Eine Deutung von Allgemeinheit als Unbestimmtheit hat bei Hegel ihren Ort eigentlich in der Lehre vom Begriff, wo sie die einfachste Kennzeichnung der Allgemeinheit bildet (WdL 6/274 ff., „Der allgemeine Begriff“). Aus Sicht der Urteilslogik handelt es sich dabei um eine defizitäre Auffassung von Allgemeinheit, weil bloße Unbestimmtheit oder Ungesättigtheit keine modalen und explanatorischen Inferenzen erlaubt. 67 Wie Michael Thompson in seiner Analyse dieses Urteilstyps (des „naturgeschichtlichen Urteils“) zeigt, müssen Urteile dieser Art noch nicht einmal auf die meisten Instanzen der Gattung zutreffen: „[A]lthough ‚the mayfly‘ breeds shortly before dying, most mayflies die long before
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
Zumindest das „kategorische Urteil“ und das „disjunktive Urteil“ drücken dementsprechend Formen von Notwendigkeit aus, wie sie in solchen Gattungen oder natürlichen Arten involviert sind. Das kategorische Urteil identifiziert einen Gegenstand als Instanz einer natürlichen Art (z. B. „Dieser Ring ist aus Gold“); das disjunktive Urteil stellt die „vollständige Disjunktion“ einer Gattung in ihre besonderen Arten dar (Hegels Beispiel basiert auf Goethes Farbenlehre: „Die Farbe – als konkrete Einheit von Hell und Dunkel – ist entweder rot oder blau oder gelb oder grün“; dazu s. u.). Lediglich im Fall des „hypothetischen Urteils“ stellt Hegel keinen ausdrücklichen Zusammenhang zur Modalität natürlicher Arten her; stattdessen nennt er verschiedene andere Formen modaler Zusammenhänge, die in hypothetischen Urteilen ausgedrückt werden können, wie Ursache-WirkungsVerhältnisse und Beziehungen zwischen Bedingung und Bedingtem. (Ebenso könnte man hier aber auch an konditionale Zusammenhänge denken, die im Kontext natürlicher Arten auftreten, wie „Wenn etwas aus Gold ist, dann schmilzt es bei 1064°C“.) Charakteristisch für die Notwendigkeit in Bezug auf alle drei Urteilsformen ist es, so Hegel, dass sie „dem Begriffe angehört und dadurch nicht nur die innere, sondern auch die gesetzte Notwendigkeit ihrer Bestimmungen [ist], oder daß der Unterschied ihr immanent ist“ (WdL 6/335). Dadurch grenzt er die Notwendigkeit im Kontext der Urteilslogik von den Modalbegriffen am Ende der Wesenslogik ab, die dem Oberbegriff der „Substanz“ angehören; im Gegensatz zur begriffslogischen Notwendigkeit, der „der Unterschied […] immanent ist“, hat „die Substanz den ihrigen nur in ihren Akzidenzen, nicht aber als Prinzip in sich selbst“ (WdL 6/ 335). Die Rede vom „Unterschied“ verweist auf die Thematik der immanenten Selbstbestimmung des Denkens (vgl. 3.3), die in der Begriffslogik transparent und explizit werden soll. Selbstbestimmtes Denken geht von einem unbestimmten Allgemeinen zu begrifflicher Bestimmtheit über, indem es die Bestimmtheit aus dem Allgemeinen heraus entwickelt. Insofern ist dem Allgemeinen das Prinzip für die Spezifikation, oder der „Unterschied“, immanent. Im konkreten Fall notwendiger Zusammenhänge bedeutet dies, dass jeweils ein allgemeines Prinzip besteht – nämlich, zumindest im Fall des kategorischen und des disjunktiven Urteils, die Gattung bzw. natürliche Art –, das in der Lage ist, besondere Eigenschaften oder Aspekte der Sache zu erklären, ohne dass auf gegebene Umstände rekurriert werden müsste. (Dies ist dagegen bei den wesenslogischen Formen der
breeding. […] A natural historical judgment may be true though individuals falling under both the subject- and predicate-concepts are as rare as one likes, statistically speaking“ (Thompson (2008), 68). – Relevant ist hier ferner die philosophische und linguistische Debatte über sogenannte „generics“, also Aussagen der Art „Hunde haben vier Beine“; vgl. z. B. die Beiträge in Pelletier (2009).
4.5 Urteil der Notwendigkeit
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Notwendigkeit der Fall, bei denen die Substanz die Spezifikation „nur in ihren Akzidenzen“ hat). Hegels Gedanke der „immanenten“ Notwendigkeit setzt nun einen modalen Realismus voraus: Es geht hier um eine Notwendigkeit, die nicht allein (wie in Humes, Kants und Freges Versionen des modalen Antirealismus, vgl. 4.2) unser Denken und Urteilen betrifft, sondern die in der Wirklichkeit wirksam ist und deshalb Erklärungsprinzipien zur Verfügung stellt. Während das Urteil des Daseins und das Urteil der Reflexion zwangsläufig der Sache, die sie behandeln, äußerlich bleiben, verschafft uns das Urteil der Notwendigkeit einen angemesseneren Zugang zu ihr. So kritisiert Hegel auch explizit Kants antirealistische Theorie der Modalbegriffe (vgl. 4.2), wenn er bereits im Kontext des wesenslogischen Begriffes der Möglichkeit schreibt: Die Bestimmung der Möglichkeit ist es wohl, welche Kant vermochte, sie und mit ihr die Wirklichkeit und Notwendigkeit als Modalitäten anzusehen, ‚indem diese Bestimmungen den Begriff als Objekt nicht im mindesten vermehrten, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken‘. In der Tat ist die Möglichkeit die leere Abstraktion der Reflexion-in-sich, das, was vorhin das Innere hieß, nur daß es nun als das aufgehobene, nur gesetzte, äußerliche Innere bestimmt und so allerdings als eine bloße Modalität, als unzureichende Abstraktion, konkreter genommen nur dem subjektiven Denken angehörig, auch gesetzt ist. Wirklichkeit und Notwendigkeit dagegen sind wahrhaft nichts weniger als eine bloße Art und Weise für ein Anderes, vielmehr gerade das Gegenteil, sie sind gesetzt als das nicht nur gesetzte, sondern in sich vollendete Konkrete. (Enz. § 143 A, 8/281 f.)68
Die Asymmetrie, die Hegel hier zwischen Möglichkeit einerseits und Wirklichkeit und Notwendigkeit andererseits beschreibt, sowie die Rolle des Modalbegriffs „Wirklichkeit“ können wir für unsere gegenwärtigen Zwecke ausklammern.69 Entscheidend ist hier die Modalität der Notwendigkeit. Hegel kann sie als das „in sich vollendete Konkrete“ charakterisieren, insofern sie konkrete Gegenstände in ihrer wirklichen Existenz bestimmt und ordnet. Dieser „immanente“ Charakter kann der Notwendigkeit nur in einer realistischen Interpretation zugeschrieben werden, wie sie Hegel gegen die antirealistische Position Kants dezidiert vertritt. Allerdings lässt die These eines modalen Realismus noch offen, ob es irreduzibel modale Entitäten gibt und, wenn ja, welche Art von Entitäten hier fundamental ist. In neueren Debatten wurden z. B. Naturgesetze (Maudlin (2007)), Dispositionen bzw. Kräfte (Molnar (2003)), modale Tatsachen (Lange (2009)),
68 Vgl. Enz. § 167, 8/318 und, zum Urteil des Begriffs, WdL 6/344 f. (abermals mit Bezug auf die Passage bei Kant). 69 Sie beruht darauf, dass Hegel in diesem Kontext eine aktualistische Position vertritt, nach der es keine bloß möglichen Entitäten gibt, sondern unsere Rede von Möglichkeit eine bloße Abstraktion vom Wirklichen und Notwendigen ist.
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natürliche Arten bzw. Essenzen (Ellis (2001)) und irreduzibel modale mögliche Welten (Plantinga (1974)) als fundamentale modale Entitäten vorgeschlagen. Hegel nimmt in Bezug auf die meisten dieser Kandidaten in seiner Diskussion metaphysischer Kategorien in der Wesenslogik kritisch Stellung. Auch im Kontext des Urteils der Notwendigkeit hebt Hegel zunächst noch Defizite bestimmter Arten modaler Aussagen hervor. Nichtsdestotrotz vertrete ich die Auffassung, dass die natürlichen Arten bzw. „Gattungen“, deren „objektive Allgemeinheit“ schon im universellen Urteil „vorschwebte“ und auf die sich sowohl das kategorische als auch das disjunktive Urteil beziehen, für Hegel zumindest wichtige Fälle von derjenigen fundamentalen und irreduzibel modalen Art von Entitäten ausmachen, die er im Rahmen seines Begriffsrealismus als „objektive Begriffe“ kennzeichnet (vgl. 5.2.2).70 Allerdings stehen im Fall des kategorischen und des disjunktiven Urteils zunächst Arten der anorganischen Natur im Vordergrund, die selbst nur defizitäre Formen objektiver Begriffe sind. Die paradigmatischen Formen solcher objektiver Begriffe, „Gattungen“ oder Arten sind teleologisch strukturiert; erst das Urteil des Begriffs wird geeignet sein, die entsprechende Form von Allgemeinheit auszudrücken. Das Defizit des kategorischen Urteils, in dem ein Gegenstand als Instanz einer natürlichen Art gedeutet wird („Dieser Ring ist aus Gold“), besteht nach Hegel darin, dass die hier auftretende Notwendigkeit (der Ring ist wesentlich aus Gold; er wäre ein anderer Gegenstand, wenn er nicht aus Gold wäre) noch nicht explizit gemacht wird: Die Bestimmtheit des Subjekts, wodurch es ein Besonderes gegen das Prädikat ist, ist zunächst noch ein Zufälliges; Subjekt und Prädikat sind nicht durch die Form oder Bestimmtheit als notwendig bezogen; die Notwendigkeit ist daher noch als innere. (WdL 6/336)
Tatsächlich ist das kategorische Urteil an Hand seiner sprachlichen Form ja nicht vom positiven Urteil des Daseins zu unterscheiden. – Das hypothetische Urteil steht dagegen, wie wir schon gesehen haben, nicht speziell für die Allgemeinheit und Notwendigkeit natürlicher Arten, sondern nur allgemein für notwendige Zusammenhänge.71 Sein Vorteil gegenüber dem kategorischen Urteil besteht laut Hegel darin, dass hier der „notwendige Zusammenhang von unmittelbaren Bestimmtheiten“ (WdL 6/337) ausdrücklich gemacht wird. Da es aber kein bestimmtes Verhältnis von „Begriffsmomenten“ darstellt und insbesondere keine bestimmte Art von Modalität ausdrückt, steht es einer Interpretation durch verschiedene 70 Vgl. auch die Deutung von Sans (2004), insbesondere 189 ff. 71 Genau genommen ist das hypothetische Urteil freilich genauso wenig explizit modal qualifiziert wie das kategorische Urteil, denn auch hypothetische Zusammenhänge können kontingent sein.
4.5 Urteil der Notwendigkeit
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wesenslogische Verhältnisse wie Grund/Folge, Bedingung/Bedingtes und Ursache/Wirkung offen (WdL 6/338). Diese Unbestimmtheit wird durch das disjunktive Urteil überwunden, das nach Hegel einen expliziten Ausdruck einer bestimmten Form von Allgemeinheit und Notwendigkeit, nämlich der von Gattungen bzw. natürlichen Arten, leistet: In ihm ist „die innere Identität zugleich gesetzt“ (Enz. § 177, 8/328).72 Hegel hat beim disjunktiven Urteil exklusive und mithin vollständige Disjunktionen vor Augen.73 Dabei lassen sich aus seiner Sicht zwei Arten von Vollständigkeit unterscheiden. Zunächst gibt es Disjunktionen, deren Vollständigkeit nur konstatiert oder vermutet werden kann – etwa wenn aus der bisherigen Erfahrung und Forschung angenommen wird, dass es 67 Arten von Papageien gibt (vgl. WdL 6/375, 6/524). Wird ein neues Papageienexemplar gefunden und zoologisch bestimmt, dann wird zunächst von der exklusiven Disjunktion in 67 Arten und der Hypothese ausgegangen, dass das Exemplar genau einer dieser Arten angehören muss. Wenn keine solche Zuordnung möglich ist, muss gegebenenfalls eine neue Art eingeführt und die Disjunktion modifiziert werden. Hegel kennzeichnet derartige kontingente Disjunktionen als subjektiv (WdL 6/340); dies ist als Analogie zur „subjektiven“ Vollständigkeit, also der Allheit bisher beobachteter Fälle, im universellen Urteil zu sehen. Zur Abgrenzung der Arten voneinander werden hier ferner Merkmale gebraucht (vgl. 4.4.4), die zufälligerweise (oder, was für Hegel keinen wesentlichen Unterschied macht, durch pragmatische Gründe motiviert) unter beliebig vielen möglichen Einteilungskriterien gewählt werden. Während diese Form der Disjunktion eigentlich dem Urteil der Reflexion angehört, besteht die für das Urteil der Notwendigkeit spezifische Disjunktion in einer exklusiven Disjunktion, in der das „Entweder-Oder“ jedes Hinzukommen einer weiteren Art prinzipiell ausschließt: eine Disjunktion also, in der wir von der Disjunktion als ganzer wissen, dass sie eine „totale Sphäre“ (WdL 6/340) erschöpft. Diese Form der Vollständigkeit ist nur dann möglich, wenn der Grund, der uns zur Annahme der Vollständigkeit der Disjunktion berechtigt, nicht in einer ad-hoc-Klassifikation bisheriger Erfahrung liegt, sondern im Begriff der Gattung, die disjungiert wird.
72 Vgl. VL 10/189: „Der Zusammenhang, das Band ist auch gesetzt“. 73 Diese Urteilsform gleicht Hegel an das kategorische Urteil an, indem er sie nicht, wie Kant (KrV B 140) und Frege, als Verbindung zweier oder mehrerer Urteile deutet, sondern als Urteil mit Subjekt-Prädikat-Struktur: „A ist B oder C“ statt „(A ist B) oder (A ist C)“. Für unsere Zwecke können wir allerdings von dieser Komplikation absehen und sie derjenigen Schicht der Urteilslogik zuweisen, in der Hegel eher der Tradition verpflichtet ist. Dies hat aber keinen Einfluss auf die Frage, welche Form von Notwendigkeit hier relevant ist.
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Hegels eigenes Beispiel für eine exklusive Disjunktion dieser zweiten, begrifflich begründeten Art ist die Einteilung der Farben, wie sie von Goethes Farbenlehre erklärt wird. Diese Einteilung bildet eine objektive Disjunktion, die keinen Raum für weitere Disjunktionsglieder lässt.74 Unabhängig von der Stichhaltigkeit von Goethes Farbenlehre, der Hegel sich hier anschließt, können wir nachvollziehen, inwiefern das Beispiel die behauptete Art von Notwendigkeit darstellt. Die einzelnen Arten75, die unter die Gattung „Farbe“ fallen, werden nach Goethe und Hegel aus der Bestimmung der Farbe als „konkrete Einheit von Hell und Dunkel“ (WdL 6/343) hergeleitet. Diese Bestimmung ist ihrerseits auf den Gegensatz von Licht und Finsternis zurückzuführen. Hell und Dunkel äußern sich für sich genommen als Gelb und Blau; ihre „Vermittlung“ ist Rot, ihre neutrale Mischung Grün. Damit ist aus dem Begriff der Farbe heraus erklärt, wie die verschiedenen Farben eingeteilt werden sollten. Hier handelt es sich allerdings wohlgemerkt nicht um ein rein analytisches Vorgehen. Vielmehr wird in Auseinandersetzung mit der Erfahrung (hier den Experimenten, auf die sich Goethe und Hegel beziehen) ein Modell gesucht, das beobachtete Unterschiede vom allgemeinen Begriff der Farbe her verständlich macht. Damit gibt dieses Modell auch nicht äußerliche, sondern dem Begriff selbst entstammende Kriterien an die Hand, die zu entscheiden helfen, welche der beobachteten Unterschiede wichtig sind und welche nicht. – In der Erklärung von konkreten Phänomenen durch die Disjunktion einer Gattung in Arten schafft also ein höherstufiger Typ (Gattung) einen Erklärungsrahmen, innerhalb dessen die niederstufigen Typen (Arten) und ihre Beziehungen begreifbar gemacht werden können. In so verstandenen disjunktiven Urteilen erlaubt der zugrunde gelegte allgemeine Begriff nicht bloß eine nominalistisch verstandene Klassifikation, sondern er trifft die Sache, um die es geht; in Hegels Beispiel ist, wenn das Urteil zutrifft, Farbe wirklich konkrete Einheit von Hell und Dunkel und entsprechend in die einzelnen Farben eingeteilt. Wenn dem so ist, dann ist die Einteilung auch nicht willkürlich, sondern leistet – in Platons Bild, das im Englischen zur treffenden Redensart geworden ist – ein „carving at the joints“, macht also dort Unterscheidungen, wo wirkliche Unterschiede bestehen. Diese beiden Punkte stellt Hegel in der Darstellung des disjunktiven Urteils nicht eigens heraus, sie lassen sich aber unschwer aus dem Kontext entnehmen. Dass der Gattungsbegriff die Sache treffen muss, entspricht der ganzen argumentativen Entwicklung vom
74 Zu diesem Hintergrund, den Hegel in der Logik nicht explizit benennt, vgl. Enz. § 320 mit Anmerkung, 9/241 ff. 75 Von „Gattung“ und „Art“ kann hier die Rede sein, weil es sich in beiden Fällen um „determinables“, nicht um „determinates“ handelt (dies wären in diesem Beispiel bestimmte Farbschattierungen).
4.5 Urteil der Notwendigkeit
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reflexiven Urteil zu dem der Notwendigkeit mit seiner „objektiven Allgemeinheit“, die Hegel auch als „an und für sich seiende Natur eines Dings“ (WdL 6/334) beschreibt. Auch im korrespondierenden disjunktiven Schluss wird deutlich, dass die disjunktive Einteilung die wirkliche Gliederung der Sache treffen soll: Mit diesem Schluss wird die schlecht-subjektive Äußerlichkeit aufgehoben, die dem Schließen (und Urteilen) überall dort noch anheftet, wo es logische Bestimmungen verwendet, die kein genuines Erkennen und Begreifen ermöglichen (WdL 6/ 400). Insofern kann die Leistung des „carving at the joints“ als das zentrale Kennzeichen auch des disjunktiven Urteils angesehen werden.76 Innerhalb der Urteilslogik ist das disjunktive Urteil die erste Urteilsform77, die der Bestimmung von Freiheit im Kontext der Begriffslogik als Manifestsein und Transparenz begrifflicher Beziehungen Genüge tut: Im Fall der objektiv vollständigen, weil durch den Gattungsbegriff begründeten Disjunktion ist die notwendi-
76 Das disjunktive Urteil erweist sich deshalb als Hegels Nachfolgebegriff für die antike Konzeption der Dihärese. Hierbei greift Hegel de facto über die aristotelische Klassifikationslehre, nach der die spezifische Differenz einer Art stets von außerhalb des Genus stammen muss (Topik 144a31–144b3), hinaus zu Platon zurück, um die Möglichkeit einer immanent begründeten Einteilung zu vertreten. So erläutert Hegel oft den platonischen Ideenbegriff mit dem Begriff der Gattung, um seine Interpretation der platonischen Idee als eines nicht transzendenten, sondern der diesseitigen Wirklichkeit immanenten Erklärungsprinzips zu erläutern (vgl. z. B. VGPh 19/ 64 f.). Die Kritik Plotins am genannten Aspekt der aristotelischen Klassifikationslehre (zu dem Hegel selbst nirgends explizit Stellung nimmt) ist ganz im Sinne Hegels. Am Beispiel der Seele erklärt Plotin: „Aber wenn sie in einer bestimmten Weise existiert und die Bestimmtheit von außerhalb [sc. des Genus] kommt, dann wird nicht das Ganze qua Seele eine Substanz sein, sondern nur in einer Hinsicht, und ein Teil von ihr wird Substanz sein, aber nicht das Ganze“, so Plotin (Enn. VI 2, 5, 3 f.; vgl. Lloyd (1955), 68 ff.). Vielmehr muss im Oberbegriff selbst schon die Differenz enthalten sein, so dass dieser das differenzierte Sein etwa der Seele mit ihren verschiedenen Fähigkeiten selbst aus sich heraus als aus einer „Quelle und einem Ursprung“ (Enn. VI 2,6,7) erzeugt. Freilich identifiziert Hegel – wie die Neuplatoniker – bei Aristoteles auch Ansatzpunkte für eine „inoffizielle“ Klassifikationslehre, die das Verhältnis von Gattung und Art als immanente Differenzierung darstellt. Ein wichtiges Beispiel ist hier Aristoteles’ Deutung der Seelenvermögen als geordneter Reihe (ähnlich z. B. der Reihe der geometrischen Figuren), bei der es keinen gemeinsamen Oberbegriff gibt, sondern nur ein erstes Reihenglied, das als Prinzip der übrigen Glieder dient (De An. 414b20–32). Hegel versteht dies als immanente Bestimmung (VGPh 19/203), und ähnlich sehen die Neuplatoniker hierin ein wichtiges Modell für das Verhältnis von Ideellem und Reellem (vgl. Lloyd (1998), Kap. 3). 77 Den besonderen Stellenwert des disjunktiven Urteils in Hegels Urteilslogik heben auch Schäfer (2006), 63, sowie Redding (2007), 99, 109 u. a. hervor. Redding führt diesen Stellenwert darauf zurück, dass Hegel am disjunktiven Urteil ein Vorbild für seine Negationstheorie hat (Redding (2007), 130). Dem steht aber entgegen, dass die Negationstheorie in Hegels Logik von Anfang an entfaltet wird, während Urteil und Schluss der Disjunktion an einer späten Stelle auftreten.
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
ge Beziehung zwischen den Gliedern eine transparente, verständliche Beziehung („die innere Identität“ ist in ihm „gesetzt“). Allerdings bleibt dabei immer noch vergleichsweise unklar, von welcher Art diese notwendigen Beziehungen sind. Eine weitere Klärung bietet hier Hegels Diskussion des „Urteils des Begriffs“.
4.6 Urteil des Begriffs 4.6.1 Allgemeine Kennzeichen und sachliche Schwierigkeiten Mit dem Urteil des Begriffs gelangt Hegels Urteilslogik an ihr Ziel: In dieser Urteilsform werden Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit explizit gemacht, die in den vorherigen Urteilsformen, einschließlich des disjunktiven Urteils, nur implizit waren. Hier ist also der eigentliche Ort, an dem Hegel innerhalb der Urteilslogik seine positive Auffassung von Allgemeinheit und Notwendigkeit entwickelt. Diese Auffassung ergibt sich als Resultat der kritischen Diskussion der vorangegangenen Urteilsformen (und damit der Theorien von Allgemeinheit und Notwendigkeit, die durch sie exemplarisch verkörpert werden), die insgesamt eine Kritik am empiristischen Standardverständnis von Allgemeinheit und Notwendigkeit darstellt (vgl. 4.2). Die Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit, die den „logischen Inhalt“ (vgl. 4.1) des Urteils des Begriffs ausmachen, kennzeichnen die logische Struktur des Begriffs (im terminologischen Sinne) – also diejenige kategoriale Struktur, die nach Hegel metaphysisch und logisch fundamental ist und selbst wesentlich in einem Zusammenhang zwischen Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit besteht, wie er im Kontext des verallgemeinerten Formalismus-Problems nach wie vor zur Debatte steht. Wir müssen also von Hegels Darstellung des Urteils des Begriffs diejenige Auskunft über die kategoriale Struktur von Freiheit erwarten, nach der wir in diesem Kapitel insgesamt fragen. (Wichtig ist in diesem Kontext auch die Frage nach der genauen Natur des Abhängigkeits- oder Voraussetzungsverhältnisses zwischen dem Urteil des Begriffs und den vorangegangenen Urteilsformen; auf diese Frage werde ich später genauer eingehen.) Hegels generelle Kennzeichnung der Formen von Modalität und Allgemeinheit, die im Urteil des Begriffs zu Tage treten, besagt, dass in dieser Urteilsform der Begriff (im terminologischen Sinne) zugrunde gelegt ist; und zwar, da er in Beziehung auf den Gegenstand ist, als ein Sollen, dem die Realität angemessen sein kann oder auch nicht. – Solches Urteil enthält daher erst eine wahrhafte Beurteilung; die Prädikate gut, schlecht, wahr, schön, richtig usf. drücken aus, daß die Sache an ihrem allgemeinen Begriffe, als dem schlechthin vorausgesetzten Sollen gemessen und in Übereinstimmung mit demselben ist oder nicht. (WdL 6/344)
4.6 Urteil des Begriffs
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Die hier relevante Form von Allgemeinheit ist also die Allgemeinheit einer Norm, eines Sollensanspruches78; die Modalität des Urteils des Begriffs ist deontischer oder normativer Art79, während die zuvor behandelten Urteilsformen unterschiedliche Gestalten alethischer Modalität involvieren. Zusätzlich ist das Urteil des Begriffs dadurch gekennzeichnet, dass in ihm die Rechtfertigungsdimension des Urteils explizit gemacht wird: Die drei Gestalten des Urteils des Begriffs – assertorisches, problematisches und apodiktisches Urteil – unterscheiden sich danach, ob für die ausgesprochene Beurteilung ein Grund angegeben wird oder nicht. Assertorische Urteile sind für Hegel Bewertungen, für die kein Grund angegeben wird; z. B. „Diese Handlung ist gut“, „Dieses Haus ist schlecht“. Problematische Urteile geben Gründe für mögliche Bewertungen an, legen sich aber auf keine spezifische Bewertung fest: z. B. „Je nachdem, ob das Haus die Beschaffenheit A oder B hat, ist es gut oder schlecht“. Apodiktische Urteile schließlich drücken eine begründete Bewertung aus, z. B. „Das Haus so und so beschaffen ist gut“, „Die Handlung so und so beschaffen ist recht“. Dieser Zusammenhang und die deontische Natur der für das Urteil des Begriffs charakteristischen Modalität legen aus der Perspektive der Sellarsschen Tradition eine Deutung nahe, nach der diese Urteilsgestalt die folgenden beiden Leistungen erbringt: Sie macht erstens die Tatsache ausdrücklich, dass deskriptive Rede stets einen normativen Hintergrund voraussetzt80; zweitens entspricht sie einer inferentialistischen Bedeutungstheorie, weil sie zeigt, dass einzelne Urteile nur im Kontext von Begründungszusammenhängen, somit von Inferenzen angewendet werden können (vgl. Berto (2007), 33).
78 Winfield (2006), 93, nennt als weiteres Kennzeichen der Allgemeinheit, die hier betrachtet wird, dass ein Individuum als exemplarische Instanz eines Typus auftritt, so dass seine einzelnen konkreten Eigenschaften zugleich allgemeinen Charakter haben. Er denkt hier wohl an das apodiktische Urteil, das nach Hegel von einem Gegenstand aussagt, dass er eine für ihn relevante Norm erfüllt. Das allein macht ihn aber noch nicht zu einem exemplarischen Gegenstand; außerdem hatte Hegel den Gedanken des exemplarischen Gegenstands schon zur Kennzeichnung des Urteils der Notwendigkeit gebraucht. 79 Von dem Sollen, das im Urteil des Begriffs zum Tragen kommt, ist das Sollen zu unterscheiden, das Hegel an vielen Stellen bei Kant und Fichte kritisiert. Hegels Sollenskritik richtet sich gegen den Begriff eines Sollens, das prinzipiell nicht erfüllt werden kann, und nicht gegen Normativität überhaupt; diese Kritik setzt im Gegenteil voraus, dass ein Sollen gedacht werden kann, das auch erfüllt wird. 80 Dies ist die deontisch-modale Version derjenigen These, die Brandom als die „modale KantSellars-These“ bezeichnet (vgl. 4.2). – Ähnlich deutet Stekeler-Weithofer (1992), 375 f. das Urteil des Begriffs als metasprachliche Assertion der Wahrheit oder Angemessenheit eines objektstufigen Urteils.
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
Nach der Deutung, die hier entwickelt werden soll, ist diese Sicht des Urteils des Begriffs zwar nicht verkehrt; sie trifft aber nur einen Teil dessen, was Hegel hier ausführt, und zwar den aus moderner Perspektive (zumindest aus Sicht der Sellarsianer) am wenigsten kontroversen, damit aber auch am wenigsten fruchtbaren und innovativen Teil. Um dagegen Neues aus Hegels Behandlung des Urteils des Begriffs lernen zu können, müssen wir andere Aspekte hervorheben. Zu diesem Zweck können wir von zwei wesentlichen Eigenheiten des Urteils des Begriffs ausgehen, die in dem geschilderten Deutungsansatz nicht erfasst sind. Erstens ist der Gegenstandsbereich des Urteils des Begriffs, anders als der der bisherigen Urteilsformen, beschränkt. Das Urteil des Begriffs kann nur sinnvoll auf Gegenstände angewandt werden, bezüglich derer eine logische Differenz zwischen ihren faktischen Eigenschaften und einem Soll – dem „Begriff“ des Gegenstands, verstanden als „Bestimmung und Zweck“ (Enz. § 179, 8/331) – besteht. Das ist beispielsweise bei einem Stück Gold nicht der Fall: Es kann nicht die natürliche Art des Goldes besser oder schlechter instantiieren.81 Entsprechend nennt Hegel als Beispiele für Urteile des Begriffs nur Bewertungen von Verhaltensweisen und Produktionen geistiger Wesen (z. B. Handlungen und Artefakte). Diese Einschränkung des Skopus ist deshalb besonders auffällig, weil das Urteil des Begriffs als Zielpunkt der begriffslogischen Argumentation offenbar Gestalten von Modalität und Allgemeinheit explizit machen soll, die in allen anderen Urteilen vorausgesetzt und implizit wirksam sind (in einem Sinn, den wir später genauer betrachten), gleich von welcher Art von Gegenständen jene Urteile handeln. Überdies soll auch der Notwendigkeit, die im Urteil des Begriffs ausgedrückt wird, allein vollständig objektive Realität zukommen.82 Der Begriff, so Hegel, ist nämlich „das Gegenteil einer bloßen Art und Weise“ (WdL 6/345), oder eines Modus, der bloß unserer Auffassung zukommt. Er erklärt hierzu genauer:
81 Es sei denn, es wird ein externer Bewertungsmaßstab angelegt: vgl. die folgende Diskussion. – Wenn Hegel an anderer Stelle eine solche Differenz auch bei anorganisch-natürlichen Gegenständen anzunehmen scheint – etwa indem er als das Kennzeichen des Endlichen die Divergenz zwischen dem Gegenstand und seinem Begriff angibt (z. B. Enz. § 51 A, 8/136) –, geht es um einen anderen Punkt: nämlich den, dass Begriffe endlicher Gegenstände nicht notwendigerweise instantiiert sind, anders als, nach Hegel, Begriffe der Unendlichkeit. Dieser Punkt lässt aber offen, ob, wenn ein endlicher Begriff eine Instanz hat, diese automatisch den Begriff vollständig erfüllt oder ein Spielraum für Defizienz vorhanden ist. 82 In diesem Kontext formuliert Hegel auch seinen modalen Realismus nochmals (WdL 6/344 f.); zum „Urteil des Begriffs“ zählt Hegel ja diejenigen Urteilsformen, die bei Kant der „Modalität“ des Urteils angehören.
4.6 Urteil des Begriffs
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Die frühern Urteile sind in diesem Sinne nur ein Subjektives, denn sie beruhen auf einer Abstraktion und Einseitigkeit, in der der Begriff verloren ist. Das Urteil des Begriffs ist vielmehr das objektive und die Wahrheit gegen sie, eben weil ihm der Begriff, aber nicht in äußerer Reflexion oder in Beziehung auf ein subjektives, d. h. zufälliges Denken, in seiner Bestimmtheit als Begriff zugrunde liegt. (WdL 6/345)
Wie kann aber dieses Urteil mit seinem eingeschränkten Geltungsbereich die Objektivität des Urteils begründen, wenn nach Hegel alles Wirkliche den Charakter von Urteilen haben soll83? In Spannung zu diesem Objektivitätscharakter steht zweitens auch der deontisch-modale Status des Urteils des Begriffs als solcher. Zum einen beruhen Bewertungen von Gegenständen sehr häufig auf subjektiven Maßstäben und Präferenzen (z. B. Nützlichkeit, Geschmack usw.). Wie kann Hegel gerade hier den höchsten Grad von Objektivität verorten? Zum anderen beansprucht Hegel ausdrücklich für das Urteil des Begriffs nicht Objektivität im Sinne der objektiven Geltung eines präskriptiven Inhalts, sondern das Erfassen und Begreifen von deskriptiver Wahrheit hinsichtlich eines Gegenstandes: Das Subjekt enthält gleichfalls diese beiden Momente in unmittelbarer Einheit als die Sache. Es ist aber die Wahrheit derselben, daß sie in sich gebrochen ist in ihr Sollen und ihr Sein; dies ist das absolute Urteil über alle Wirklichkeit. – Daß diese ursprüngliche Teilung, welche die Allmacht des Begriffes ist, ebensosehr Rückkehr in seine Einheit und absolute Beziehung des Sollens und Seins aufeinander ist, macht das Wirkliche zu einer Sache; ihre innere Beziehung, diese konkrete Identität, macht die Seele der Sache aus. (WdL 6/349 f.)
Mit dem Urteil des Begriffs ist also der Anspruch verbunden, die Wahrheit über die Sache auszusagen, ihre eigentliche Natur und „Seele“ zu erkennen. Wie kann dies ausgerechnet von einem Urteil mit deontisch-modalem Inhalt erwartet werden? Hegels Diskussion des Urteils des Begriffs gibt auf diese naheliegenden Fragen keine ausdrücklichen Antworten. Daher führe ich im Folgenden im Anschluss an einige Erläuterungen Hegels ein eigenes Modell ein, das helfen wird, die logische Struktur des Urteils des Begriffs zu verstehen und Hegels überraschenden Behauptungen in diesem Zusammenhang mehr Sinn abzugewinnen.
83 Enz. § 167, 8/318: „Das Urteil wird gewöhnlich in subjektivem Sinn genommen, als eine Operation und Form, die bloß im selbstbewußten Denken vorkomme. Dieser Unterschied ist aber im Logischen noch nicht vorhanden, das Urteil ist ganz allgemein zu nehmen: alle Dinge sind ein Urteil […]“.
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
4.6.2 Hegel und die Tatsachen-Werte-Unterscheidung: Ein Modell zum Zusammenhang von Klassifikation und intrinsischer Evaluation Als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Modells, das die aufgeworfenen Fragen beantworten und Hegels Diskussion des Urteils des Begriffs klarer machen soll, kann uns eine Passage außerhalb der WdL dienen, in der Hegel die im Folgenden relevanten Punkte besonders klar benennt. In der Anmerkung zu Enz. § 472, die den Begriff des Sollens im Rahmen der Theorie des „praktischen Geistes“ kommentiert84, schreibt Hegel: Im Toten ist kein Übel noch Schmerz, weil der Begriff in der unorganischen Natur seinem Dasein nicht gegenübertritt und nicht in dem Unterschiede zugleich dessen Subjekt bleibt. Im Leben schon und noch mehr im Geiste ist diese immanente Unterscheidung vorhanden und tritt hiermit ein Sollen ein; und diese Negativität, Subjektivität, Ich, die Freiheit sind die Prinzipien des Übels und des Schmerzes. (10/293)
Hegel nennt hier als logische Bedingung des Auftretens eines Sollens, dass der Begriff „seinem Dasein […] gegenübertritt“; diese Bedingung ist nach Hegel in der organischen Natur und mehr noch im Geist gegeben.85 Die Rede vom Gegenübertreten von Begriff und Dasein kann dabei folgendermaßen verstanden werden. Begriffe, die wir auf Gegenstände oder Eigenschaften im Bereich der anorganischen Natur anwenden, sind gekennzeichnet durch eine Struktur des EntwederOder: Entweder ist eine Flüssigkeit Wasser oder nicht, entweder ist ein farbiges Ding gelb oder nicht.86 Im Falle von Entitäten der organischen Natur und des Geistes dagegen (Organismen, Personen und ihre Eigenschaften, Handlungen, Artefakte etc.)87 tritt eine logische Lücke zwischen der vollständigen Realität und
84 Für den Begriff des Sollens in diesem Kontext gilt abermals die sachliche Abgrenzung von Hegels Sollenskritik, die ich in Fußnote 79 in diesem Kapitel erläutert habe. 85 Entsprechend müssen hier Begriffe wie „Sollen“ und „deontische“ Modalität in einem weiten Sinne verstanden werden, der nicht auf das Befolgen von Normen eingeschränkt ist. 86 Dies drückt Hegel auch so aus, dass im Hinblick auf Gegenstände der anorganischen Natur Begriff und Realität nur in einer formellen, analytischen Weise unterschieden werden können, der kein realer Unterschied entspricht: „[D]ie tote Natur, die mechanische und chemische Welt – wenn nämlich das Tote für die unorganische Welt genommen wird, sonst hätte es gar keine positive Bedeutung –, die tote Natur also, wenn sie in ihren Begriff und ihre Realität geschieden wird, ist nichts als die subjektive Abstraktion einer gedachten Form und einer formlosen Materie“ (WdL 6/464). – Von Phänomenen der Vagheit, die der Struktur des Entweder-Oder zu widersprechen scheinen, können wir in diesem Kontext absehen. 87 Dass wir mit Hegel in dieser Hinsicht geistige Wesen und nichtrationale Lebewesen in eine logische Klasse zusammenfassen, bedeutet nicht, dass zwischen ihnen kein kategorischer Unterschied bestünde oder die Normativität des Geistigen als direkte Weiterentwicklung einer natürli-
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der vollständigen Irrealität eines Begriffes auf: Ein Tier z. B. ist zwar ein Elefant oder nicht, aber es kann ein gesunder oder kranker, in diesem Sinne ein guter oder schlechter Elefant sein. In der organischen Natur besteht also, anders als in der anorganischen Natur, die Möglichkeit einer defizitären Realisierung eines Begriffes, mithin auch der logische Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Realisierung, der in der anorganischen Natur nicht sinnvoll gemacht werden kann.88 Hegel vertritt nun die Position, dass der Begriff in diesem Kontext nicht ein beliebiger, von einem subjektiven Standpunkt aus an den Gegenstand herangetragener Bewertungsmaßstab ist, sondern ein Prinzip, das festlegt, was der Gegenstand ist, und das zugleich die Grundlage für nicht-äußerliche Bewertungen bietet. Im Folgenden rekonstruiere ich eine derartige Position aus sprachphilosophischer Perspektive, indem ich für einen direkten Zusammenhang zwischen normativen und deskriptiven Elementen und die Möglichkeit intrinsischer – im Gegensatz zu extrinsischer – Bewertung in solchen Kontexten argumentiere.89 Der dabei zu entwickelnde Zusammenhang kann vorweg durch zwei Thesen umrissen werden: (1) Begriffe als immanente Prinzipien von Gegenständen im organisch-natürlichen und im geistigen Bereich umfassen wesentlich zwei Dimensionen (diese können sich in Form von zwei verschiedenen Gebrauchsweisen mit je unterschiedlicher Kriteriologie oder in Form von zwei verschiedenen, aber miteinander verbundenen Begriffen äußern): eine Dimension der Klassifikation („Dies ist ein Elefant“) und eine Dimension der Bewertung („Dies ist ein gesunder Elefant“). Die beiden Dimensionen bedingen einander gegenseitig: (a) Um den Begriff in seiner deskriptiven oder klassifikatorischen Dimension zu verstehen, müssen wir wissen, was es für eine Instanz des Begriffs heißt, ihn angemessen zu realisieren, also gut zu funktionieren, richtig zu handeln usw. – wir müssen die evaluative Dimension des Begriffs verstehen. (b) Um die evaluative Dimension zu verstehen, müssen wir die klassifikatorische Dimension verstehen, denn wir können ein X nur als ein gutes, angemessenes etc. X bewerten, wenn wir es überhaupt als X klassifizieren können.
chen Proto-Normativität erklärt werden sollte. Die kategorische Differenz von Geist und Natur bestimmen wir genauer in Kapitel 6. 88 Offenkundig steht Hegel mit diesem Gedanken in der aristotelischen Tradition. Eine sachliche Nähe zur Position, die wir im Folgenden Hegel zuschreiben, hat die neo-aristotelische Theorie Korsgaards über den Zusammenhang zwischen der natürlichen Normativität „konstitutiver Standards“ und der Normativität rationaler Einstellungen und Praktiken: vgl. Korsgaard (2009), Kap. 2. Vgl. auch Thomson (2008). 89 Die metaphysische Natur des Hegelschen „Begriffs“ werde ich dagegen in Abschnitt 5.2.2 eigens betrachten.
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(2) Die evaluative Dimension eines Begriffs der fraglichen Art drückt eine intrinsische Bewertung aus: Der von ihr angelegte Maßstab verdankt sich nicht einer Zwecksetzung, die der Sache äußerlich ist – dies wäre eine extrinsische Bewertung –, sondern einem Zweck, der der Sache innewohnt.90 Um diesen Zusammenhang genauer zu entwickeln, setze ich bei dem ersten Punkt an, also der Verbindung von deskriptiver (oder „klassifikatorischer“) und normativer (oder „evaluativer“) Funktion eines Begriffs. Schon die Annahme einer solchen Verbindung ist rechtfertigungsbedürftig, weil in aller Regel kategorisch zwischen klassifikatorischen und evaluativen Begriffen bzw. Begriffsverwendungen unterschieden wird (die sogenannte „Tatsachen-Werte“- oder „fact-value“-Unterscheidung). Humes Kritik am naturalistischen Fehlschluss, die Dichotomie von Sein und Gelten im Neukantianismus und Sellars’ kategorische Unterscheidung des Normativen und des Nicht-Normativen sind Instanzen dieser Unterscheidung, deren Omnipräsenz auch außerhalb philosophischer Diskussionen Hilary Putnam so beschrieben hat: If the question of fact and value is a forced choice question for reflective people, one particular answer to that question, the answer that fact and value are totally disjoint realms, that the dichotomy ‚statement of fact or value judgment‘ is an absolute one, has assumed the status of a cultural institution. (Putnam (1981), 127)91
Gegen derartige dualistische Interpretationen des Verhältnisses von Sein und Sollen vertritt Hegel eine Position, nach der deskriptive Aussagen direkt mit einer evaluativen Perspektive auf ihren Gegenstand verbunden sein müssen, um diesen Gegenstand auf nicht-äußerliche Weise beschreiben zu können. Um dies verstehen zu können, gehen wir von einem Problem aus, mit dem zwar jede Theorie
90 Nach Hegels Darstellung des Urteils des Begriffs sind derartige intrinsische Bewertungen auch im Fall von Handlungen und Artefakten möglich. Wie sie sich (mitsamt den zugrunde liegenden Zwecken) zur Unterscheidung von äußerer und innerer Zweckmäßigkeit verhalten, bleibt bei Hegel unklar: Da ein Artefakt für Hegel einen ihm immanenten „Begriff“ hat, scheint die relevante Form von Teleologie nicht bloß die der äußeren Teleologie zu sein, die nur die Nützlichkeit für einen externen Standpunkt betrifft; andererseits schreibt Hegel aber die innere Zweckmäßigkeit, wie Kant, speziell dem Leben zu (WdL 6/440). 91 Putnam verfolgt aber eine ganz andere Strategie als Hegel, um diese Dichotomie in Frage zu stellen. Er argumentiert nämlich, dass deskriptive Aussagen und wissenschaftliche Praktiken (plurale) Werte voraussetzen (Putnam (1981), 128); nach unserer Interpretation erkennt Hegel dagegen bezüglich epistemischer Vernunft keine Pluralität von Werten an (vgl. 7.1). Ferner bezieht sich die evaluative Perspektive, die in Hegels Theorie auftritt, direkt auf den Gegenstand der deskriptiven Rede, während sie nach Putnam eine wertmäßige Dimension unserer Einstellungen betrifft.
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der Normativität konfrontiert ist, das aber in der Regel nicht die Beachtung findet, die es verdient. Dieses Problem kann folgendermaßen formuliert werden. Wer eine Norm N zu befolgen versucht, räumt damit anderen Subjekten das Recht ein, sein Verhalten am Maßstab der Norm N zu bewerten. In manchen Fällen sieht dies so aus, dass die Akteurin den Versuch, N zu befolgen, explizit ankündigt. Was geschieht aber, wenn das nicht der Fall ist? Welche Kriterien und normativen Mechanismen erlauben es uns, unsere gegenseitigen Zuschreibungen von Berechtigungen und Verpflichtungen so aufeinander abzustimmen, dass unsere Bewertungen des Verhaltens anderer nach dem Maßstab von Normen angemessen sind – also nicht Normen anlegen, die dem Verhalten der anderen gar nicht gerecht werden? Wir können beispielsweise jemanden, der Fußball spielt, nicht sinnvoll dafür kritisieren, dass er nach den Regeln von Handball ständig Fehler begeht. Unsere Evaluation des Verhaltens an Hand einer Norm setzt also eine Klassifikation voraus, in diesem Fall die Zuordnung des Verhaltens zu einem bestimmten Spiel. Diese Klassifikation wird sprachlich typischerweise in deskriptiver Rede ausgedrückt: „Er spielt Fußball, nicht Handball“. Doch ist dies eine Form der Deskription, die unmittelbar an Normen gebunden ist: Sie schreibt dem Verhalten, das sie charakterisiert, eine Ausrichtung an bestimmten Normen, hier den Spielregeln des Fußballs, zu. Eine solche Ausrichtung ist aber nicht eine Eigenschaft, die einfach am Verhalten abgelesen werden könnte wie z. B. die zeitliche Dauer einer Verhaltensepisode. Es muss also gefragt werden, auf welcher Grundlage derartige Formen der Deskription möglich sind. Diese Frage kann so verallgemeinert werden, dass sie alles Verhalten, Einstellungen etc. in normativen Kontexten betrifft: Denn stets erfordert die Bewertung mittels einer Norm die Feststellung, dass die Norm für das Bewertete gültig ist, d. h. dass sie einen angemessenen Bewertungsmaßstab für es abgibt. Insbesondere ist diese Struktur auch in intentionalen Handlungen zu finden: Im Regelfall können wir nämlich solche Handlungen bewerten, indem wir sie an einem Ziel oder einer Absicht messen und so beurteilen, ob sie erfolgreich sind oder nicht. Eine solche Bewertung setzt aber voraus, dass wir durch eine bestimmte Interpretation des Verhaltens des Akteurs einen Bewertungsmaßstab identifizieren. Desgleichen besteht in Kontexten, die von Artefakten und von Lebewesen handeln, ein direkter Zusammenhang von Klassifikation und Evaluation. Wenn wir ein Artefakt als solches beschreiben, beziehen wir es auf eine Funktion oder ein mit seiner Produktion verbundenes Ziel, woran wir es messen; diese Form der Bewertung setzt ihrerseits die Klassifikation des Artefakts als einer bestimmten Art zugehörig voraus. Lebewesen dagegen schreiben wir zusammen mit der Klassifikation eine spezifische Lebensfunktion zu, nach der wir sie z. B. als gesund und ungesund bewerten können. Dies ist nur auf der Grundlage der klassifikatorischen Zuordnung des Lebewesens zu einer biologischen Spezies möglich, weil
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das, was es für ein bestimmtes Lebewesen heißt, gesund oder ungesund zu sein, von seiner Zugehörigkeit zu einer Art abhängt. Die beobachtete Verbindung von klassifikatorischen und evaluativen Elementen können wir nun erklären, indem wir zwei Gruppen von Kriterien unterscheiden, die den Gebrauch der relevanten Begriffe regeln. Erstens gibt es Kriterien, die wir als Minimalkriterien bezeichnen können. Solche Kriterien bestimmen, wann ein Gegenstand als Instanz des Begriffes zählt, gleich ob er ihn angemessen oder nur defizitär realisiert. Beispielsweise können wir einen kranken Elefanten als Elefanten bestimmen, obwohl er die Lebensfunktion des Elefanten nicht angemessen ausübt, weil er bestimmte andere Kriterien erfüllt, die für die Zuordnung zur Spezies des Elefanten notwendig sind. Ein anderes Beispiel: Der Satz „Peter heimgeht“ zählt als deutscher Satz, obwohl er Normen der deutschen Sprache verletzt; er ist zwar nicht korrekt, erfüllt aber niedriger gesteckte Bedingungen dafür, die ihn als deutschen Satz erkenntlich machen. Dagegen erfüllt die Zeichenfolge „)23,kdc023“ diese Minimalbedingungen nicht, so dass sie auch nicht angemessen (intrinsisch) an Hand der Normen der deutschen Sprache bewertet werden kann.92 – Die zweite Gruppe von Kriterien besteht dagegen in solchen Kriterien, die wir als Erfolgskriterien bezeichnen können. Diese Kriterien legen fest, wann eine Instanz den Begriff angemessen realisiert, wann also z. B. ein Elefant als gesundes Exemplar zählt, ein Satz als korrekter Satz einer Sprache, oder eine Handlung als erfolgreiche Umsetzung des angestrebten Ziels. Die beiden Gruppen von Kriterien regeln nun unterschiedliche Gebrauchsweisen eines Begriffs, wobei wir hier davon abstrahieren können, wie sich diese Differenz sprachlich genau äußert – in der Regel tritt im Gebrauch des Begriffs an Hand der Erfolgskriterien ein evaluatives Adjektiv wie „gut“, „korrekt“ usw. hinzu, wie es ja auch Hegel als Ausdruck der Angemessenheit des Daseins an den Begriff im Urteil des Begriffs darstellt.93 Für den Zusammenhang beider Gruppen von Kriterien gilt nun das allgemeine Verhältnis, das wir bereits in den obigen
92 Dabei sollte angemerkt werden, dass Minimalkriterien auch von guten, korrekten usw. Instanzen des jeweiligen Begriffs erfüllt werden; sie sind also zu unterscheiden von den Kriterien, die wir gebrauchen, um ein schlechtes/inkorrektes usw. Exemplar zu identifizieren. (Solche Kriterien können darin bestehen, dass die Minimal-, nicht aber die im Folgenden eingeführten Erfolgskriterien erfüllt sind; es kann aber auch spezifischere Kriterien hierfür geben, etwa das Vorliegen von Krankheitssymptomen.) Außerdem ist es wichtig, dass rein extensionale Kriterien im Sinne von Hegels „Merkmalen“ (vgl. 4.4.4) ausgeschlossen werden; Minimalkriterien müssen zu einem Verständnis der Intension des Begriffs beitragen. 93 Auf den sprachlichen Ausdruck kommt es dabei deshalb nicht an, weil auch beim Zusatz eines Adjektivs wie „gut“ die Kriterien, die zum Tragen kommen, nicht Kriterien für den Gebrauch von „gut“, „korrekt“ usw. sind, sondern Kriterien, die zur Kriteriologie des Begriffs gehören, der hier durch solche wertende Adjektive qualifiziert wird.
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Thesen angegeben hatten: Beherrschung der Minimalkriterien erfordert Beherrschung der Erfolgskriterien, und vice versa.94 Dieses Verhältnis müssen wir nun aber noch genauer bestimmen: Damit die beiden Gruppen von Kriterien nicht auseinanderfallen, muss nämlich ein sachlicher Zusammenhang zwischen ihnen bestehen. Allerdings gibt es verschiedene Möglichkeiten dafür, wie dieser Zusammenhang bestimmt sein kann. Es hängt vom jeweiligen Begriff und dem Kontext des Gebrauchs ab, welche Möglichkeit zum Tragen kommt. Im Folgenden betrachte ich die drei wichtigsten Weisen, in denen dieses Verhältnis definiert sein kann. Erstens können die Minimalkriterien eine minimale Realisierung der Erfolgskriterien fordern, wobei das Beherrschen des Begriffs ein zumindest implizites Wissen davon voraussetzt, worin diese minimale Realisierung besteht oder bestehen kann. Eine solche minimale Realisierung liegt vor, wenn nur bestimmte notwendige Teilkriterien des Erfolgsfalls realisiert werden, und zwar solche Teilkriterien, ohne deren Erfüllung es sich nicht um eine Sache (ein Lebewesen, eine Handlung, ein Artefakt etc.) der fraglichen Art handelt. Während die beiden folgenden Weisen der Verhältnisbestimmung von minimalen und Erfolgskriterien auf rationale Wesen beschränkt sind, handelt es sich bei dieser Form um die wichtigste Verbindungsweise in Bezug auf nichtrationale Lebewesen; sie spielt aber auch in der Beurteilung des Verhaltens rationaler Wesen eine zentrale Rolle. Im Falle von biologischen Artbegriffen können als minimale Realisierung etwa der Besitz eines bestimmten Körperbaus, die Ausübung bestimmter Lebensfunktionen und die Abstammung von einem der Art zugehörigen Exemplar zählen. Kriterien wie diese bilden gemeinsam eine Kriteriologie, innerhalb derer einzelne Kriterien bis zu einem bestimmten Grad unerfüllt bleiben können, ohne dass der einzelne Gegenstand aufhört, eine Instanz der Art zu sein. Hegel selbst schreibt allgemein in Bezug auf Lebewesen: „Etwas Wirkliches zeigt […] an sich, was es sein soll“ (WdL 6/518), und zwar dadurch, dass „der ganze Habitus […]
94 Worin dabei diese Beherrschung genau besteht (bzw. was die Kriterien dafür sind, dass jemand die relevanten Kriterien beherrscht), ist extrem kontextabhängig. Insbesondere können die Erfolgskriteriologien in vielen Fällen sehr komplex werden – beispielsweise im Falle der Lebensfunktion eines Lebewesens, wo wir in der Regel nur wenige der Kriterien überhaupt kennen; im Falle der Handlung, wo zwar im Regelfall zumindest der Akteur die vollständige Erfolgskriteriologie kennen muss, aber diese Kriteriologie in ausgedehnteren Handlungen und Projekten sehr umfangreich sein kann; und im Falle von Kunstwerken, wo der „begriffliche Gehalt“ erst im Laufe des Rezeptions- und Interpretationsprozesses sukzessive erschlossen wird. Im Fall von Kunstwerken ist offensichtlich auch die Differenz zwischen Erfolgskriterien, Minimalkriterien und faktischer Realisierung nicht ohne weiteres zugänglich; es ist Aufgabe der Kunstkritik, in Bezug auf jedes einzelne Werk (bzw. Aspekte davon) das Spannungsfeld zwischen diesen drei Dimensionen zu erkunden.
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das zu definierende Konkrete erkennen läßt“ (WdL 6/518), auch wenn einzelne wichtige Eigenschaften fehlen. Ein kranker Elefant z. B. erfüllt zwar nicht die Erfolgskriterien eines guten, gesunden Elefantenexemplars, weil seine elefantenspezifische Lebensfunktion beeinträchtigt ist. Er hat aber dennoch mit dem gesunden Exemplar sehr viel gemeinsam, d. h. er erfüllt Teilkriterien des Erfolgsfalls.95 Dagegen wäre es absurd, ein neu entdecktes Tier, das völlig anders aussieht als ein Elefant, als defizitäres Exemplar eines Elefanten zu klassifizieren. Analog kann die Bestimmung von Minimalkriterien im Sinne der minimalen Realisierung der Erfolgskriterien im Fall von menschlichen Handlungen beschrieben werden. Hier spielt zwar auch die Absicht des Akteurs eine Rolle, aber damit jemandem eine Handlung oder zumindest ein Versuch zu einer Handlung zugeschrieben werden kann, muss dieser in vielen Fällen eine minimale Realisierung des Erfolgsfalls leisten. Wenn z. B. jemand am Kiosk eine Zeitung kaufen will und am Kiosk nach der Zeitung fragt, aber erfährt, dass die Zeitung ausverkauft ist, dann war seine Handlung zwar nicht erfolgreich, er hat aber zumindest versucht, die Zeitung zu kaufen, weil er notwendige Bestandteile des Erfolgsfalls umgesetzt hat. Wenn jemand dagegen, noch bevor er zum Kiosk kommt, einen Bekannten trifft und mit ihm spazieren geht, dann hat er den Erfolgsfall noch nicht einmal minimal realisiert, so dass wir ihm auch nicht den Versuch oder die erfolglose Handlung zuschreiben können, sondern allein die Absicht. Hegel beschreibt in der PhG sarkastisch den Versuch eines Akteurs, in einem derartigen Fall durch Verweis auf die Intention dennoch in Anspruch zu nehmen, etwas zur „Sache selbst“ beigetragen zu haben: Es mag gehen, wie es will, so hat es [sc. das Bewusstsein] die Sache selbst vollbracht […]. [E]s hat die Sache selbst auszuführen auch nicht einmal versucht und gar nichts getan, so hat
95 Hegel vertritt dabei ausdrücklich die Auffassung, dass es nicht eine oder mehrere strikt notwendige Eigenschaften gibt, die die Artzugehörigkeit festlegen. Dies zeigt der Kontext der zitierten Aussagen: „Der Begriff, indem er im Dasein in die Äußerlichkeit getreten ist, ist er in seine Unterschiede entfaltet und kann nicht an eine einzelne solcher Eigenschaften schlechthin gebunden sein. […] Etwas Wirkliches zeigt daher wohl an sich, was es sein soll, aber es kann auch nach dem negativen Begriffsurteil ebensosehr zeigen, daß seine Wirklichkeit diesem Begriffe nur unvollständig entspricht, daß sie schlecht ist. Indem die Definition nun in einer unmittelbaren Eigenschaft die Bestimmtheit des Begriffes angeben soll, so gibt es keine Eigenschaft, gegen welche nicht eine Instanz beigebracht werden könne, in der der ganze Habitus zwar das zu definierende Konkrete erkennen läßt, die Eigenschaft aber, welche für dessen Charakter genommen wird, sich unreif oder verkümmert zeigt“ (WdL 6/517 f.). In neueren Debatten über natürliche Arten entspräche dies einer Cluster-Theorie, der zufolge natürliche Arten durch Gruppen von Eigenschaften definiert sind, von denen keine strikt notwendig ist (vgl. z. B. Boyd (1999)).
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es nicht gemocht; die Sache selbst ist ihm eben Einheit seines Entschlusses und der Realität; es behauptet, daß die Wirklichkeit nichts anderes wäre als sein Mögen. (3/305 f.)96
Dabei handelt es sich freilich auch um eine bloße Behauptung, nicht um eine Weise, wie wir sinnvoll mit Handlungszuschreibungen umgehen können.97 Zweitens können die beiden Gruppen von Kriterien in der Anwendung auf rationale Wesen so verbunden sein, dass als Minimalkriterium der Ausdruck einer Intention zählt, die Erfolgskriterien zu erfüllen. Sagt z. B. jemand, dass er jetzt gleich φen wird, können wir ihn beim Wort nehmen und sein folgendes Verhalten danach bewerten, ob es einen Fall des erfolgreichen φens darstellt. – Freilich besteht auch die Gefahr, diese Form des Zusammenhangs von Klassifikation und Evaluation für die Bewertung intentionaler Handlungen zu verabsolutieren. Dies tut das Bewusstsein auf dem Standpunkt des „geistigen Tierreichs“ in der PhG, wenn es Handlungen als reinen Ausdruck des handelnden Individuums versteht und den Gehalt von Handlungen allein durch die Akteursintention bestimmt sieht: Es findet daher überhaupt weder Erhebung, noch Klage, noch Reue statt; denn dergleichen alles kommt aus dem Gedanken her, der sich einen anderen Inhalt und ein anderes Ansich einbildet, als die ursprüngliche Natur des Individuums und ihre in der Wirklichkeit vorhandene Ausführung ist. Was es sei, das es tut und ihm widerfährt, dies hat es getan und ist es selbst; es kann nur das Bewußtsein des reinen Übersetzens seiner selbst aus der Nacht der Möglichkeit in den Tag der Gegenwart, des abstrakten Ansich in die Bedeutung des wirklichen Seins und die Gewißheit haben, daß, was in diesem ihm vorkommt, nichts anderes ist, als was in jener schlief. (PhG 3/299 f.)
Kurz darauf schildert Hegel, wie dieses Bewusstsein lernt, dass sich seine eigene Handlung und ihre Bewertung in erheblichem Maße seiner Kontrolle entziehen: Das Werk ist, d. h. es ist für andere Individualitäten, und für sie eine fremde Wirklichkeit, an deren Stelle sie die ihrige setzen müssen, um durch ihr Tun sich das Bewußtsein ihrer Einheit mit der Wirklichkeit zu geben; oder ihr durch ihre ursprüngliche Natur gesetztes Interesse an jenem Werke ist ein anderes als das eigentümliche Interesse dieses Werks, welches hierdurch zu etwas anderem gemacht ist. Das Werk ist also überhaupt etwas Vergängliches, das durch
96 Der Kontext der Stelle legt nahe, sie so zu lesen, dass der Teilsatz „so hat es nicht gemocht“ das tatsächliche Fehlen einer Intention ausdrückt, während das Bewusstsein selbst in Anspruch nimmt, die fragliche Intention („Entschluss“, „Mögen“) gehabt zu haben und allein dadurch schon die „Realität“ bzw. „Wirklichkeit“ der „Sache selbst“ hervorgebracht zu haben. 97 Vgl. PhG 3/306: „Die Ehrlichkeit dieses Bewußtseins sowie die Befriedigung, die es allenthalben erlebt, besteht, wie erhellt, in der Tat darin, daß es seine Gedanken, die es von der Sache selbst hat, nicht zusammenbringt“.
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das Widerspiel anderer Kräfte und Interessen ausgelöscht wird und viel mehr die Realität der Individualität als verschwindend denn als vollbracht darstellt. (PhG 3/301)
Eine stabile Praxis der Handlungsinterpretation und -bewertung ist für Hegel nur möglich, wenn neben der Akteursintention auch andere Perspektiven, etwa die objektiv gültiger Normen und die der Interessen anderer Subjekte zu ihrem Recht kommen (die Handlung ist dann „ein Wesen, dessen Sein das Tun des einzelnen Individuums und aller Individuen, und dessen Tun unmittelbar für andere oder eine Sache ist und nur Sache ist als Tun Aller und Jeder […]“, PhG 3/310).98 Um dieser Einsicht Hegels gerecht zu werden, nehmen wir an, dass es drittens im Fall rationaler Wesen situationsbedingte Faktoren geben kann, die unabhängig von der Akteursintention eine bestimmte Interpretation des Verhaltens eines rationalen Wesens erlauben. Wenn z. B. in einer Gesprächssituation ein normaler Sprecher, von dem wir wissen, dass er die deutsche Sprache beherrscht, den Satz „Peter heimgeht“ äußert, sind wir dazu berechtigt, den Satz an Hand der Regeln der deutschen Sprache zu bewerten: In dieser Situation ist die Zuschreibung des Versuchs, einen diesen Regeln gehorchenden Satz zu äußern, die einzige Interpretation, die das Verhalten des anderen in rationalem Licht erscheinen lässt. Eine Bewertung dieses Satzes an Hand der genannten Normen zählt auch dann als intrinsische Bewertung, wenn der Sprecher keine explizite Intention zum Äußern eines deutschen Satzes hatte und etwa sogar im Nachhinein leugnet, er habe einen deutschen Satz äußern wollen. Wie die Beschreibung der einzelnen Verbindungsweisen zeigt, hängt es sehr vom einzelnen Begriff und vom Kontext seiner Anwendung ab, wie das Verhältnis von Minimal- und Erfolgskriterien genau bestimmt ist und in welcher Weise es im Einzelfall zum Tragen kommt. Im Falle rationaler Wesen können sowohl allgemein bezüglich eines Begriffs als auch in der einzelnen Anwendung alle drei Bestimmungen Teil einer komplexen Kriteriologie sein. Entsprechend kann aber auch nur in eingeschränktem Maße angenommen werden, dass von vornherein eine im Einzelfall objektiv angemessene Klassifikation feststeht. Hegel selbst untersucht in seinen handlungstheoretischen Diskussionen der PhG und der Rechtsphilosophie ausführlich, wie sich einseitige Praktiken der Handlungsbeurteilung (etwa die des „geistigen Tierreichs“ oder die der antiken Gesellschaft mit ihrem heroischen Handlungsverständnis, vgl. GPhR § 118 A, 7/219) als instabil
98 Vgl. auch GPhR §§ 119 f., 7/223 ff., und § 125, 7/236, sowie VPhG 12/42 f., wo Hegel am Beispiel einer Brandstiftung erläutert, inwiefern der Gehalt (oder die „Substanz“) einer Handlung z. T. von anderen Faktoren als denen festgelegt wird, die der Akteur bewusst beabsichtigt. – Brandom greift diesen Gedanken Hegels auf, um die Position des semantischen Externalismus auf die Handlungstheorie zu übertragen; vgl. dazu unten die Abschnitte 5.1.2, 5.2 und 9.1.
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erweisen und sich erst allmählich eine balancierte Praxis ausbilden kann. In Bezug auf die organische Natur kennt Hegel kein Pendant zu dieser komplexen Dynamik: Hier tritt allein die erstgenannte Art von Verhältnis auf, nämlich die, dass die Minimalkriterien in einer minimalen Realisierung von Erfolgskriterien bestehen. (Freilich können auch hier, wie wir gesehen haben, die relevanten Kriterien unscharf sein.) Mit dieser Klärung des Verhältnisses evaluativer und klassifikatorischer Elemente ein und desselben Begriffs ist auch die Grundlage für das Verständnis des Unterschiedes von extrinsischer und intrinsischer Bewertung geschaffen. Die Erfolgskriterien, auf Grund derer der evaluative Begriffsgebrauch erfolgt, legen nämlich zugleich einen immanenten Bewertungsmaßstab fest; eine Bewertung ist dann intrinsisch, wenn sie an Hand eines solchen Maßstabs erfolgt, andernfalls ist sie extrinsisch. „Dies ist ein gesunder Elefant“ wäre z. B. eine intrinsische Bewertung, „Äpfel sind gesund“ eine extrinsische Bewertung. Im Bereich des „Entweder/Oder“ der anorganischen Natur hingegen gibt es keine immanenten Bewertungsmaßstäbe. Hier ist deshalb nur extrinsische, keine intrinsische Bewertung möglich. So erklärt Hegel von den endlichen Gegenständen, insofern sie der anorganischen Natur (Mechanismus, Chemismus) angehören oder in ihr realisiert sind: „Das Höchste, was sie nach der Seite dieser Endlichkeit erreichen, ist die äußere Zweckmäßigkeit“ (WdL 6/465). Intrinsische Bewertungen sind dagegen den Bereichen der organischen Natur und des Geistes vorbehalten, in denen immanente Bewertungsmaßstäbe gegeben sind und sich in einem direkten Zusammenhang der evaluativen und der klassifikatorischen Dimension des Begriffsgebrauchs niederschlagen.99
4.6.3 Die teleologische Struktur des Begriffs Das im vorigen Abschnitt eingeführte Modell liefert einen ersten Schritt zur Beantwortung der Fragen, die ich in Bezug auf das Urteil des Begriffs formuliert hatte. Auf dieser Grundlage können wir nun auch nachvollziehen, weshalb Hegel dem Urteil des Begriffs mit seinem deontisch-modalen Gehalt einen besonders objektiven Charakter zusprechen kann und warum es die logische Struktur des Begriffs (im terminologischen Sinne) ist, die in dieser Urteilsform ausgedrückt wird. Wenn auf einen Gegenstand der organischen Natur oder des geistigen Bereichs mittels der im vorigen Abschnitt beschriebenen Doppelung von klassifika-
99 Zum problematischen Verhältnis zum Begriff der inneren Zweckmäßigkeit vgl. Fußnote 90 in diesem Kapitel.
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torischem und evaluativem Gehalt Bezug genommen wird, dann wird der Gegenstand dadurch als konkrete Realisierung eines immanenten Maßstabs präsentiert. Er hat also ein ihm internes Prinzip, das intrinsische Bewertungen der faktischen Beschaffenheit des Gegenstandes erlaubt, zugleich aber – damit die Bewertungen intrinsisch sein können – auch das Sein des Gegenstandes bestimmen muss. Auf Grund dieser Wirksamkeit ist jenes Prinzip auch das Erklärungsprinzip, das die wichtigeren Eigenschaften des Gegenstandes verständlich macht. (Während dabei im Fall eines Organismus das Prinzip im Wesen der biologischen Art besteht, die den Maßstab für die gelingende Funktionsweise des Organismus festlegt, handelt es sich im Fall geistiger Wesen um Prinzipien anderer Art – um selbstbestimmte Handlungsmaßstäbe, Ziele usw.) Zwischen dem immanenten Prinzip der Sache und den durch das Prinzip erklärten Eigenschaften besteht ein notwendiger Zusammenhang, der deshalb besonders transparent und verständlich ist, weil es sich bei ihm um eine teleologische Beziehung handelt: Das intrinsische Prinzip gibt ein Ziel vor; die konkreten Eigenschaften des Gegenstandes stellen Mittel dar, um dieses Ziel zu erreichen. Die Form von Intelligibilität, die die Gegenstände unseres Erkennens durch derartige teleologische Beziehungen erhalten, kann auch so bestimmt werden, dass hier explanatorisch autonome Konstellationen auftreten.100 Dies können wir an Hegels Beispiel des Hauses erläutern. Der Begriff des Hauses ist so beschaffen, dass sich aus ihm einzelne Merkmale wirklicher Häuser als notwendig begreifen lassen – z. B. dass Häuser Dächer, Fenster und Türen haben. Dabei handelt es sich nicht um analytische Wahrheiten (wir könnten uns auch Häuser vorstellen, die z. B. auf Grund anderer klimatischer Bedingungen ganz anders gebaut sind als die bei uns üblichen Häuser), aber auch nicht um derart kontingente Feststellungen wie die, dass die Rose vor mir rot ist. Vielmehr hat sich das Bauen von Dächern, Fenstern usw. als geeignete Weise erwiesen, den Zweck eines Hauses zu realisieren. Der Zusammenhang zwischen Allgemeinem und Einzelnem kann also hier als Zweck-Mittel-Beziehung verstanden werden, wobei der relevante Zweck dem Haus immanent ist. Ferner können auch solche Merkmale, die an den Einzelfall betreffende Gegebenheiten gebunden sind – z. B. die konkreten Ausmaße eines einzelnen Hauses usw. –, als Teil der Realisierung des Begriffs in dieser Situation und damit in gewissem Sinn als notwendig begriffen werden, wenngleich sie nicht in die allgemeine Bestimmung des Begriffs aufgenommen werden. 100 Vgl. die Deutungen von Schäfer (2006) und Winfield (2006), die beide die Entwicklung der Allgemeinheitsformen in der Urteilslogik so verstehen, dass der Einzelgegenstand mit seinen konkreten Beschaffenheiten in sukzessive größerem Maß vom Allgemeinen bestimmt ist (vgl. Schäfer (2006), 57 ff.; Winfield (2006), 92–94).
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Explanatorische Autonomie in diesem Sinne sorgt nicht nur für objektive Erkennbarkeit, sie hat auch eine ontologische Dimension. Der Maßstab intrinsischer Bewertung ist dem Gegenstand auch insofern immanent, als er die Ursache für die relevanten Eigenschaften des Gegenstandes ist. Das Dach des Hauses existiert z. B., weil es im Rahmen eines teleologischen Prozesses gebaut wurde, der auf die Realisierung des Begriffs von einem Haus hinzielt. Ohne diese teleologische Struktur würde es das Dach nicht geben, sondern allenfalls eine Ansammlung von Material. (Selbst wenn diese durch einen unwahrscheinlichen Zufall die Gestalt eines Hausdachs hätte, kann doch plausiblerweise negiert werden, dass hier tatsächlich ein Hausdach vorläge.) Die teleologische Beschreibung eines Gegenstandes erlaubt es uns daher, seine immanente Ordnung zu erkennen und diejenigen notwendigen Beziehungen zu erfassen, die seine Beschaffenheit und sein Verhalten bestimmen. Welche Rolle kommt aber der anorganischen Natur, hinsichtlich derer ja keine intrinsische Bewertung möglich ist, in diesem Bild zu? Hegels diesbezügliche Position wird in seiner Darstellung des „problematischen“ Urteils deutlich. In diesem Urteil wird von der Sache gesagt, dass es zufällig ist, ob sie ihrem Begriff entspricht oder nicht. Wir können dies so verstehen, dass ein solches problematisches Urteil in allen Fällen eines assertorischen oder apodiktischen Urteils auch Anwendung findet und einen berechtigten Aspekt ausdrückt: Die Realisierung eines Begriffs ist nämlich nicht möglich ohne kontingente Elemente. Hegel erklärt hierzu: [E]ine Sache ist auch wesentlich zufällig und hat eine äußerliche Beschaffenheit […]. Die Sache selbst ist eben dies, daß ihr Begriff als die negative Einheit seiner selbst seine Allgemeinheit negiert und in die Äußerlichkeit der Einzelheit sich heraussetzt. (WdL 6/348)
Diesen Sachverhalt, der im problematischen Urteil ausgedrückt wird, erläutert Hegel später im Ideen-Kapitel genauer: Begriffe müssen in einer Wirklichkeit realisiert werden, die selber gegenüber der Bestimmung durch den Begriff gleichgültig und in diesem Sinne äußerlich ist. Hierzu schreibt Hegel in einer wichtigen Passage im Kapitel über die „Idee des Lebens“: Die Gleichgültigkeit der objektiven Welt gegen die Bestimmtheit und damit gegen den Zweck macht ihre äußerliche Fähigkeit aus, dem Subjekt angemessen zu sein; welche Spezifikationen sie sonst an ihr habe, ihre mechanische Bestimmbarkeit, der Mangel an der Freiheit des immanenten Begriffs macht ihre Ohnmacht aus, sich gegen das Lebendige zu erhalten. (WdL 6/482)
Diese gleichgültige Wirklichkeit ist für Hegel der Bereich der Naturnotwendigkeit in Gestalt von Mechanismus und Chemismus. Während ein Lebewesen durch seine eigene Aktivität zur Realisierung seines Artbegriffs beiträgt, kann, wie wir
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schon sahen, im Bereich von Mechanismus und Chemismus keine Differenz zwischen Begriff und Realität auftreten; also ist hier auch keine Aktivität möglich, die auf die Realisierung eines Begriffs hin ausgerichtet ist. Wenn innerhalb dieser gleichgültigen Wirklichkeit ein organischer oder geistiger Begriff realisiert wird, dann ist dies daher in Bezug auf die Elemente dieser Wirklichkeit ein zufälliger und eben „gleichgültiger“ Sachverhalt.101 Die im Urteil des Begriffs ausgedrückte Form von Allgemeinheit und Notwendigkeit, die für den Begriff paradigmatisch ist, besteht also in der teleologischen Verbindung zwischen dem „Prinzip“ eines Gegenstands, das seinen intrinsischen Maßstab darstellt, und den Eigenschaften des Gegenstandes. Dabei handelt es sich um eine Form von deontischer Modalität, weil die Notwendigkeit die Wirklichkeit nicht impliziert: Die Möglichkeit eines Zurückbleibens hinter der Norm war gerade das Abgrenzungsmerkmal der beschriebenen Struktur von dem Bereich der anorganischen Natur mit ihrem Entweder-Oder. Wie hier die paradigmatische Form von Allgemeinheit vorliegt, so bildet für Hegel auch die deontische Modalität, die in den beschriebenen Prozessen und den sie darstellenden Erklärungen und Urteilen vorkommt, das Paradigma von Modalität; nur in dieser Modalität und der ihr entsprechenden teleologischen Erklärungsform wird die Verbindung der Explananda vollständig verständlich und transparent.102 Der Zweck ist, so Hegel, „das Vernünftige in seiner Existenz“; er „manifestiert darum Vernünftigkeit, weil er der konkrete Begriff ist, der den objektiven Unterschied in seiner absoluten Einheit hält“ (WdL 6/446). Vor diesem Hintergrund können wir nun auch wesentlich besser verstehen, inwiefern die Struktur des Begriffs als Einheit von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem einen rationalen Übergang vom Allgemeinen hin zum Besonderen und Einzelnen ermöglicht, als dies allein auf Grund von Hegels allgemeiner Darstellung in „Der Begriff“ möglich wäre (vgl. 3.2.2). Die Begriffsmomente, die Hegel am Anfang der Begriffslogik noch gänzlich unbestimmt einführt, um nicht ohne Rechtfertigung eine bestimmte Bedeutung für sie vorauszusetzen, haben hier nämlich einen konkreten Gehalt gewonnen, der auch der weiteren Entwicklung der Begriffslogik zugrunde liegt. Hegel selbst formuliert diesen Gehalt, den ontologischen Ertrag seiner Diskussion des Begriffsurteils, wie folgt: „Alle Dinge sind eine Gattung (ihre Bestimmung und Zweck) in einer einzelnen Wirklichkeit von einer besonderen Beschaffenheit […]“ (Enz. § 179, 8/331).103
101 Vgl. zu dieser Thematik insgesamt Henrich (1971d) und Houlgate (1995b). 102 Zum Primat teleologischer Erklärung bei Hegel vgl. deVries (1988), Kap. 1; deVries (1991). 103 Hegel fährt zwar fort: „[…] und ihre Endlichkeit ist, daß das Besondere derselben dem Allgemeinen gemäß sein kann oder auch nicht“ (Enz. § 179, 8/331). Diese Endlichkeit muss durch die weitere Entwicklung überwunden werden. Dies geschieht aber nicht dadurch, dass die
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Die Seite der Allgemeinheit wird in dieser zentralen Passage durch den Begriff der „Gattung“ gekennzeichnet. Wie wir im nächsten Kapitel noch genauer sehen werden, sind Gattungen oder natürliche Arten, wie sie auch schon im Zusammenhang mit dem Urteil der Reflexion und der Notwendigkeit aufgetreten waren, für Hegel objektiv existierende Universalien. Im paradigmatischen Fall, für den das Urteil des Begriffs steht, sind diese Gattungen oder natürliche Arten104 so organisiert, dass ihre Realisierung teleologisch strukturiert ist. Sie bilden teleologische Erklärungsprinzipien, sind also „Bestimmung und Zweck“ der Einzelgegenstände. Das Allgemeine geht nun deshalb notwendig und auf rationale Weise zum Besonderen und Einzelnen über, weil allgemeine teleologische Arten nur in Gestalt einzelner Gegenstände Realität haben können – sie sind nicht abstrakte Entitäten, die für sich genommen eine „platonische“ Existenz haben, sondern existieren nur insofern, als es eine „einzelne Wirklichkeit“ gibt, die sie instantiiert; umgekehrt existieren die Einzelgegenstände nur, insofern sie Gattungen instantiieren. Freilich handelt es sich bei diesem Instantiierungsverhältnis nicht um eine Beziehung der bloßen Subsumption von Gegenständen unter einen Begriff. Vielmehr erklärt die Tatsache, dass ein Einzelgegenstand diese und keine andere Art instantiiert, seine „besondere Beschaffenheit“ – die konkreten Eigenschaften, die er infolge seiner Zugehörigkeit zu dieser Art besitzt, weil sie notwendige oder zumindest geeignete Mittel darstellen, um die Art und so seine „Bestimmung und Zweck“ angemessen zu verwirklichen. Auch hier gilt, dass der einzelne Gegenstand nicht ohne diese besonderen Eigenschaften existieren würde, weil sie die Realisierung der Gattung und damit die Existenz des Einzelgegenstandes ermöglichen; umgekehrt gäbe es aber auch die besonderen Eigenschaften nicht ohne den Einzelgegenstand als ihren Träger. Der intrinsische wechselseitige Zusammenhang dieser drei Aspekte macht die Struktur von Hegels „Begriff“ aus, wie sie in der Entwicklung bis hin zum Urteil des Begriffs genauer bestimmt worden ist. Wo dabei im Einzelfall Gegenstände eine bestimmte Art ausprägen, redet Hegel von einem „bestimmten“ Begriff (WdL 5/29 f.; vgl. 5.2.3). Der Begriff als solcher bildet hingegen die logische Struktur, die in allen derartigen Fällen der Realisierung von teleologischen „Gattungen“ bzw. natürlichen Arten instantiiert ist. Der so verstandene Begriff ist es also, der für Hegel die logische Grundlage von Freiheit ausmachen muss.
genannte Deutung des Begriffs aufgegeben wird, sondern dadurch, dass mit der Idee eine Konstellation identifiziert wird, in der das Besondere (die Realität) wesensmäßig dem Allgemeinen (dem Begriff) entspricht und somit Unendlichkeit vorliegt. 104 Der Begriff der „natürlichen Art“ ist hier nicht auf den Bereich der Natur eingeschränkt: vgl. Fußnote 54 in diesem Kapitel.
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4.6.4 Der systematische Stellenwert des Urteils des Begriffs Die im Vorangegangenen entwickelte Deutung von Hegels logischer Struktur des Begriffs als teleologischer Struktur wirft mehrere wichtige Fragen auf, denen ich in diesem Abschnitt nachgehe. Ich bespreche dabei erstens den privilegierten Stellenwert der beschriebenen teleologischen Struktur in Bezug auf die anderen Urteilsformen und auf die anorganische Natur genauer und frage zweitens, welche Folgen die nun gewonnene Auffassung von Allgemeinheit und Notwendigkeit für die übergeordnete Frage nach der logisch-metaphysischen Grundlegung von Freiheit hat. (1) Wie wir gesehen haben, identifiziert Hegel im Laufe der Urteilslogik in Bezug auf die einzelnen Urteilsformen jeweils Voraussetzungen, die in weiteren Urteilsformen explizit gemacht werden. Die Voraussetzungsbeziehung nimmt dabei verschiedene Formen an. Eine erste Bedeutung, in der eine Urteilsform A eine weitere Form B voraussetzen kann, ist die, dass jede Instanz von A eine oder mehrere bestimmte Instanzen von B als Prämisse(n) hat. Ein solches Verhältnis besteht z. B. zwischen dem Urteil der Reflexion und dem Urteil der Notwendigkeit, wo induktiv gebildete universelle Urteile bestimmte Aussagen über natürliche Arten (kategorische Urteile) als implizite Prämissen voraussetzen; diese Prämissen rechtfertigen die Induktionsschlüsse, die zu den universellen Urteilen führen. Wir können diese Abhängigkeit als „inferentielle token-Abhängigkeit“ bezeichnen, weil sie die Rechtfertigungsbeziehung zwischen zwei Instanzen verschiedener Urteilsformen betrifft. Eine zweite relevante Abhängigkeitsform, die „pragmatische Typen-Abhängigkeit“, besteht darin, dass jemand nur dann Urteile der Form A verstehen und gebrauchen kann, wenn er auch Urteile der Form B versteht. Diese Form der Abhängigkeit besteht z. B. zwischen dem Urteil des Daseins und dem Urteil der Reflexion: Die Prädikatsbegriffe im Urteil des Daseins, z. B. Farbprädikate, können wir nur gebrauchen und verstehen, wenn wir zu Verallgemeinerungsleistungen in der Lage sind, wie sie im Urteil der Reflexion ausgedrückt werden.105 Mit der pragmatischen Typen-Abhängigkeit verbunden ist eine dritte Beziehung, die der „semantischen Typen-Abhängigkeit“. Diese Abhängigkeit besteht darin, dass die in der Urteilsform A ausgedrückten objektiven Gegebenheiten – insbesondere die Allgemeinheits- und Notwendigkeitsformen, die zum „logischen Inhalt“ des Urteils gehören –, nicht verstanden werden können, ohne dass die in B ausgedrückten Gegebenheiten verstanden werden: Die Definition des „logischen Inhalts“ von A muss auf den „logischen Inhalt“ von
105 Vgl. zu dieser Art von Beziehung Brandom, BSD 12 f. („semantic presupposition“ oder „vocabulary-vocabulary-necessity“).
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B Bezug nehmen.106 Eine vierte mögliche Abhängigkeitsbeziehung, die hier in Frage kommt, besteht in einer ontologischen Typen-Abhängigkeit: Die in A ausgedrückte Allgemeinheit und Notwendigkeit (und evtl. andere Faktoren) können nicht in realen Sachverhalten instantiiert sein, wenn nicht auch die in B ausgedrückte Allgemeinheit und Notwendigkeit instantiiert sind.107 Vor dem Hintergrund dieser Differenzierungen können wir den Stellenwert des Urteils des Begriffs zunächst so bestimmen, dass einzelne Urteile der anderen Urteilsformen nicht notwendigerweise bestimmte Urteile des Begriffs als Prämissen voraussetzen; es besteht also keine inferentielle token-Abhängigkeit. Ferner scheint klar, dass für Hegel die anderen Urteilsformen gegenüber dem Urteil des Begriffs pragmatische und semantische Typen-Abhängigkeit aufweisen: Die im Urteil des Begriffs ausgedrückte Allgemeinheit und Notwendigkeit sind nach Hegel die paradigmatischen Ausprägungen dieser Begriffe, der Inbegriff von Intelligibilität, explanatorischer Transparenz und Objektivität; ohne ein Verständnis dieses Paradigmas könnten auch die Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit, die in den anderen Urteilsformen zum Tragen kommen, nicht verstanden werden. Zwar haben auch jene anderen Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit eine semantische und metaphysische Funktion, doch sind sie pragmatisch und semantisch nicht autonom; Begriffsgebrauch wäre nicht möglich, wenn wir nicht auch die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Begriffs verstehen würden, und auch die objektive Realität der einfacheren Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit kann nur unter Rekurs auf die Form des Begriffs verstanden werden. Der Fehler derjenigen Auffassungen von Allgemeinheit und Notwendigkeit, die Hegel im Laufe der Urteilslogik kritisiert, besteht also nicht darin zu meinen, dass es z. B. rein extensionale Allgemeinheit gibt, sondern darin, Urteilsformen, die nur diese Allgemeinheit (und die anderen defizitären Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit) ausdrücken können, für autonom zu halten. – Offen bleibt dabei noch, ob die anderen Urteilsformen auch ontologisch Typenabhängig vom Urteil des Begriffs sind. Wenn dem so ist, dann muss u. a. auch die
106 Brandom führt hierfür den Begriff der „Sinnabhängigkeit“, im Gegensatz zur „Referenzabhängigkeit“ (der ontologischen Typenabhängigkeit), ein; vgl. unten 5.1.2. 107 Zwischen diesen Abhängigkeitsbeziehungen bestehen die folgenden logischen Verhältnisse: (i) Ontologische Typen-Abhängigkeit impliziert pragmatische und semantische TypenAbhängigkeit, aber nicht umgekehrt. (ii) Pragmatische und semantische Typen-Abhängigkeit implizieren sich gegenseitig. (iii) Inferentielle token-Abhängigkeit impliziert pragmatische und semantische Typen-Abhängigkeit, aber nicht umgekehrt. (iv) Inferentielle token-Abhängigkeit und ontologische Typen-Abhängigkeit sind logisch unabhängig voneinander.
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anorganische Natur, in deren Kontext nur die einfacheren Urteilsformen möglich sind, ontologisch Typen-abhängig von der organischen Natur und/oder dem Bereich geistiger Wesen sein, d. h. es gäbe keine mögliche Welt, in der es nur anorganisch-natürliche Gegenstände, aber keine Organismen und/oder Geister gibt. Der entscheidenden Frage, ob Hegel eine solche ontologische Abhängigkeit annimmt, gehen wir erst im nächsten Kapitel nach. Wir sollten an dieser Stelle aber zumindest schon klären, wie die semantische Typen-Abhängigkeit zwischen der anorganischen Natur und dem Gegenstandsbereich des Urteils des Begriffs, also der organischen Natur und dem Geistigen, zu verstehen ist. Wir haben bereits gesehen, dass Hegel die anorganische Natur als „Medium“ der Realisierung von Begriffen versteht, das ihnen und ihren teleologischen Strukturen gegenüber „gleichgültig“ ist; Hegel drückt diese Charakteristik auch durch Begriffe wie „Äußerlichkeit“, „Auseinander“, „Andersheit“ usw. aus. Zugleich muss der Bereich der anorganischen Natur aber dennoch eine gewisse begriffliche Strukturiertheit aufweisen, wenn er nicht als unbegreiflicher Wirklichkeitsbereich unserer vernünftigen Aktivität dualistisch entgegengesetzt sein soll. Der anorganischen Natur muss also eine defizitäre begriffliche Struktur zukommen, die als Antizipation teleologischer Erklärungsstrukturen gedeutet werden kann.108 Die Erklärungsformen, die diese Antizipation ausmachen, sind zwar selbst nicht teleologischer Art, sie identifizieren aber explanatorisch vergleichsweise selbständige Konstellationen, in denen gleichfalls eine allgemeine Gattung bzw. natürliche Art109 in Einzelgegenständen mit besonderen Beschaffenheiten realisiert wird. So stellt Hegel mechanische und chemische „Objekte“ und die Systeme, die sie bilden, als „äußerliche“ Manifestationsweisen des Begriffs in der anorganischen Natur dar, die zumindest denjenigen Erklärungsmodellen, die in der Wesenslogik thematisiert werden, an explanatorischer Geschlossenheit und vernünftiger Verständlichkeit überlegen sind. Gleichwohl bleibt in derartigen Systemen die explanatorische Autonomie in vielfacher Hinsicht eingeschränkt; die logische Form des Begriffs ist hier nur, wie Hegel immer wieder hervorhebt, in „innerlicher“ (vgl. Enz. § 248, 9/27) oder „ohnmächtiger“ (vgl. Enz. § 250, 9/34) Weise realisiert. Aus dieser Interpretation des Verhältnisses von teleologischer zu rein natürlicher Erklärung folgt, dass sich die so verstandene Hegelsche Position wesentlich von Auffassungen des Verhältnisses beider Erklärungstypen, und damit auch des 108 Ähnlich argumentiert Kreines (2008), 64. Seine Position diskutiere ich in Abschnitt 5.2.3. 109 Genauer handelt es sich dabei um die grundlegende Art „Materie“ (Enz. § 262, 9/60 f.) mit ihren weiteren Spezifikationen, aus denen sich die Eigenschaften mechanischer Systeme ergeben, sowie um chemische Arten (vgl. WdL 6/430).
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Verhältnisses von deontischer und alethischer Modalität (normativ vs. natürlich), innerhalb der Sellarsschen Tradition unterscheidet. Nach Hegel verhalten sich nämlich die beiden Bereiche nicht wie Geist und Natur zueinander; vielmehr muss innerhalb der Natur selbst bereits deontische Modalität wirksam und in Form von teleologischen Erklärungen zugänglich sein, damit die Natur für uns begreifbar ist. (2) Es bleibt nun noch zu sehen, inwiefern die logische Struktur des Begriffs, die sich als teleologische Struktur erwiesen hat, tatsächlich den Schlüssel zur logischen Grundlegung von Freiheit innerhalb und außerhalb der WdL bietet. Inwiefern wird durch diese Struktur die immanente Entwicklung begrifflichen Gehalts in der Logik transparent gemacht und Freiheit als rationale Persistenz im Kontext der Logik ermöglicht, worauf dann auch eine Theorie realer Freiheit aufbauen kann? Einen Anhaltspunkt für die Beantwortung dieser Frage bietet der Zusatz zu § 147 der enzyklopädischen Logik mit einem Kommentar zum Begriff der Notwendigkeit in der Wesenslogik. Gleich ob der Zusatz von Hegel selbst stammt oder nicht, bietet er einen aufschlussreichen Kommentar zu der Thematik.110 Es heißt dort zunächst mit Bezug auf die „blinde“ Notwendigkeit der Wesenslogik (vgl. 3.3): Von der Notwendigkeit pflegt gesagt zu werden, daß sie blind sei, und zwar insofern mit Recht, als in ihrem Prozeß der Zweck noch nicht als solcher für sich vorhanden ist. Der Prozeß der Notwendigkeit beginnt mit der Existenz zerstreuter Umstände, die einander nichts anzugehen und keinen Zusammenhang in sich zu haben scheinen. Diese Umstände sind eine unmittelbare Wirklichkeit, welche in sich zusammenfällt, und aus dieser Negation geht eine neue Wirklichkeit hervor. Wir haben hier einen Inhalt, welcher der Form nach in sich gedoppelt ist: einmal als Inhalt der Sache, um die es sich handelt, und zweitens als Inhalt der zerstreuten Umstände, die als ein Positives erscheinen und sich zunächst so geltend machen. Dieser Inhalt, als ein Nichtiges in sich, wird demgemäß in sein Negatives verkehrt und wird so Inhalt der Sache. Die unmittelbaren Umstände gehen als Bedingungen zugrunde, werden aber auch zugleich als Inhalt der Sache erhalten. Man sagt dann, aus solchen Umständen und Bedingungen sei etwas ganz anderes hervorgegangen, und nennt deshalb die Notwendigkeit, welche dieser Prozeß ist, blind. (Enz. § 147 Z, 8/289)
Blinde Notwendigkeit in diesem Sinne kennzeichnet z. B. kausale Verknüpfungen. Insofern solche Verknüpfungen eine reale Verbindung zwischen zwei Ereignissen (oder Substanzen) bilden, können sie als ein „Inhalt“ beschrieben werden. Dieser Inhalt zerfällt aber in zwei Seiten, nämlich die Seite der Bedingungen und die Seite der Folgen. Im Kausalprozess geht aus den Bedingungen etwas „ganz anderes“ hervor: Zwischen beiden Seiten besteht kein verständlicher Zusammen-
110 Vgl. zum Folgenden auch PhRel 17/24 ff.
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hang, sondern ihre Verknüpfung muss als gegeben hingenommen werden. Dies wird nun mit dem teleologischen Zusammenhang von Zweck und Handlung kontrastiert: Betrachten wir dagegen die zweckmäßige Tätigkeit, so haben wir hier am Zweck einen Inhalt, der schon vorher gewußt wird, und diese Tätigkeit ist deshalb nicht blind, sondern sehend. Wenn wir sagen, daß die Welt durch die Vorsehung regiert wird, so liegt darin, daß der Zweck überhaupt das Wirkende ist, als das vorher an und für sich Bestimmte, so daß das Herauskommende dem, was vorher gewußt und gewollt wurde, entsprechend ist. (Enz. § 147 Z, 8/289)
In diesem Fall ist es tatsächlich ein Inhalt, der auf der Seite der Bedingungen und auf der Seite der Folgen auftritt: nämlich der begriffliche Inhalt des Zwecks, der auf beiden Seiten nur in unterschiedlicher Form präsent ist. Würden wir hier die Einheit des Inhalts nicht sehen – also z. B. den Inhalt, den die Planung einer Handlung mit ihrer Ausführung gemeinsam hat –, dann würden wir den teleologischen Zusammenhang beider Elemente als Teile eines Handlungsprozesses nicht verstehen: Die Einheit des begrifflichen Inhalts in den verschiedenen Ausprägungen von Bedingung (Absicht, Planung, Ziel usw.) und Folge (Ausführung, Handlung, Mittel usw.) ist essentiell dafür, dass ein teleologischer Zusammenhang vorliegt. Damit ist in der teleologischen Struktur aber genau diejenige Anforderung erfüllt, die am Ende der Wesenslogik als Kennzeichen des logischen Begriffs der Freiheit eingeführt wird, nämlich das Manifestsein einer „Identität“, eines begrifflichen Zusammenhangs (oder „geistigen Bandes“: vgl. Enz. § 449 Z, 10/255; VL 10/189; Enz. § 38 Z, 8/110), der in der wesenslogischen Notwendigkeit innerlich und verborgen ist: „Die Notwendigkeit wird nicht dadurch zur Freiheit, daß sie verschwindet, sondern daß nur ihre noch innere Identität manifestiert wird […]“ (WdL 6/239), so die bereits mehrfach zitierte Schlüsselpassage im Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik. Teleologische Beziehungen ermöglichen entsprechend auch rationale Persistenz im Denken: Wenn das „Herauskommende dem, was vorher gewußt und gewollt wurde, entsprechend ist“ – wie es in der oben zitierten Passage heißt –, liegt darin eine rationale Identität des Denkens, das hingegen im Falle des kausalen Übergangs von Ausgangsbedingungen zu etwas „ganz anderem“ einen irrationalen Sprung machen muss.111 – Teleologische Strukturen ermöglichen also dem Denken rationale Persistenz. Inwieweit 111 Hierin zeigt sich abermals die besondere Bedeutung von explanatorischen Beziehungen für unsere Thematik (vgl. 4.4.4); das relevante Problem der kausalen Beziehung besteht nämlich auch dann, wenn unsere Überzeugungen hinsichtlich der Relata und ihrer Verknüpfung vollständig gerechtfertigt sind.
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macht dies aber die Notwendigkeit verständlich, mit der sich das logische Denken entwickelt (vgl. 3.3), und inwieweit schafft es die Grundlage für eine Theorie realer Freiheit? (a) Was den ersten Punkt, die Notwendigkeit des logischen Denkens, betrifft, so wird vom Standpunkt der Begriffslogik aus die gedankliche Entwicklung der WdL selbst als Prozess der Realisierung verständlich. Zwar findet innerhalb der WdL kein wirklicher Übergang von einer ideellen Größe (z. B. einem Plan, einer Absicht) zu einer real existierenden Instanz statt. Nichtsdestotrotz vollzieht die Begriffslogik eine sukzessive Ausdifferenzierung und Anreicherung mit begrifflicher Bestimmtheit, in der dennoch die Einheit des begrifflichen Gehaltes beibehalten wird. Deshalb nennt Hegel die „systematische Ausführung“ des Begriffs in der WdL eine „Realisation“ innerhalb der Sphäre des „reinen Gedanken[s]“ (WdL 6/572), und er charakterisiert das Urteil als „die nächste Realisierung des Begriffs […], insofern die Realität das Treten ins Dasein als bestimmtes Sein überhaupt bezeichnet“ (WdL 6/302).112 Während dabei im Zusammenhang der Realphilosophie die Realisierung eines Begriffs erfordert, dass ein Ausschnitt der anorganischen Natur (als „gleichgültigen Mediums“, s. o.) in eine vernünftige, begriffliche Form gebracht wird, kann als „bestimmtes Sein überhaupt“ im Rahmen der WdL nur logische Bestimmtheit fungieren. Logische Bestimmtheit ist demnach die innerlogische Vorläufergestalt der realen Verwirklichung von Begriffen. Ferner thematisiert Hegel innerhalb der Begriffslogik auch bereits den Gedanken außerlogischer Realisierung, den Übergang vom rein Begrifflichen zur konkreten Existenz innerhalb eines gleichgültigen, „äußerlichen“ Mediums: nämlich in Gestalt der Entwicklung von der subjektiven Sphäre der Begriffs-, Urteils- und Schlussformen über die objektive Sphäre von Mechanismus, Chemismus und Teleologie bis hin zur Idee, der logischen Struktur des realisierten Begriffs. Die Interpretation dieser Entwicklung ist notorisch problematisch, und insbesondere der Übergang vom Schluss der Notwendigkeit hin zur „Objektivität“ bereitet große exegetische Schwierigkeiten. Nun hat auffälligerweise in Hegels Schlusslehre von allen Urteilsformen nur das Urteil des Begriffs kein eigenes inferentielles Gegenstück.113 Wenn aber das Urteil des Begriffs wesentlich zum Ausdruck
112 Vgl. auch Sans (2004), 28 f., der der Thematik der innerlogischen „Realisierung“ des Begriffs eine zentrale Rolle für seine Studie der Schlusslehre einräumt. Allerdings erklärt Sans nicht, wie eine solche Realisierung innerhalb des rein Begrifflichen zu verstehen und von „gewöhnlichen“ Realisierungsprozessen abzugrenzen ist. 113 Rein technische Erklärungen für diesen Sachverhalt, die sich auf Hegels formale Systematisierungsmerkmale stützen – das jeweilige Verhältnis von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, das Verhältnis von Inhalt und Form usw. –, bieten u. a. Winfield (2006), 127 f. und Carlson (2005b).
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teleologischer Strukturen der Begriffsrealisierung dient, dann kann der Übergang zur Objektivität gerade als umfangreiche logische Explikation dessen gelesen werden, was im Urteil des Begriffs in nuce enthalten ist – mithin als übergreifender Schluss des Begriffs. Dieser Schluss geht aus von den Strukturen des „subjektiven“ Begriffs, geht dann zum „äußerlichen“ Medium über, das für deren Realisierung notwendig ist („Objektivität“ als logische Grundstruktur der anorganischen Natur) und gelangt schließlich zur Realisierung der begrifflichen Strukturen in jenem Medium („Idee“ als Grundstruktur von Organismus – „Idee des Lebens“ – und Geist – „Idee des Erkennens“, „Absolute Idee“).114 Die Begriffslogik ist somit durch eine logische Struktur teleologischer Realisierung artikuliert. Aber auch die Entwicklung der WdL als ganze weist die Struktur des Übergangs vom Allgemeinen und Unbestimmten hin zum Konkreten und Bestimmten auf; sie stellt somit selbst eine Realisierung dar, die von reiner Unbestimmtheit (Sein) ausgeht und zur expliziten Repräsentation der logischen Struktur von Realisierung überhaupt (Begriff) hinführt. In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass die WdL im Laufe ihrer gedanklichen Entwicklung nach Hegel die Notwendigkeit, die in ihr zunächst als „Trieb“ wirksam ist, aufklärt und so die vollständige Transparenz und „logische Freiheit“ des Denkens ermöglicht (vgl. 3.3): Die Kategorie des Begriffs stellt nicht nur die Grundstruktur der Wirklichkeit und des Denkens dar, sondern auch die Grundstruktur der speziell logischen Gedankenentwicklung. Die Kategorien in Seins- und Wesenslogik sowie die weiteren Bestimmungen innerhalb der Begriffslogik erweisen sich somit als (teils defizitäre, teils adäquate) notwendige Bedingungen und Spezifikationen, die auch gedacht bzw. realisiert werden müssen, damit die Struktur des Begriffs und damit die Struktur von Realisierung – die selbst erst im Laufe der logischen Entwicklung als deren zugrunde liegendes Ziel zutage tritt – überhaupt konsequent gedacht bzw. realisiert werden kann. Dieser Gedanke bietet zugleich die Erklärung dafür, inwiefern für Hegel in der WdL eine immanente Bestimmung begrifflichen Gehalts stattfindet (3.2.3). In der WdL wird das Denken beim Versuch, eine bestimmte Kategorie zu denken, auf eine andere Kategorie verwiesen – in Seins- und Wesenslogik in intransparenter und unkontrollierter Weise, im holistischen Kategoriensystem der Begriffslogik in kontrollierter Weise. Die Art von Notwendigkeit, die zu Beginn der WdL zunächst
114 Hegels eigene Darstellung des Übergangs von der Teleologie zur Idee als Schluss kann in diesem Sinne verstanden werden, vgl. Enz. § 212, 8/366 f.; WdL 6/460 f. Allerdings spricht Hegel nicht selbst davon, dass hierin der „Schluss des Begriffs“ in Entsprechung zum Urteil des Begriffs besteht. – Die Idee als Zielpunkt dieses „Schlusses des Begriffs“ ist als Einheit des Begriffs und seiner Realität bestimmt – also gerade als diejenige Einheit, die auch schon im apodiktischen Urteil ausgedrückt wird.
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als „Trieb“ auftritt (Enz. § 87 A, 8/186) und in der Begriffslogik als Notwendigkeit des Begriffs verständlich wird, ist die beschriebene Notwendigkeit von Bedingungen, die als Mittel zur Realisierung eines Zwecks erforderlich sind. Je mehr dieser Bedingungen sukzessive zutage treten, umso bestimmter wird der übergreifende Zweck, d. h. in der WdL: die Struktur des Begriffs als Struktur teleologischer Realisierung. Insofern kann hier sinnvoll von einem Prozess der sukzessiven Bestimmung begrifflichen Gehalts die Rede sein, der nicht – wie bei Kant – auf wirkliche oder mögliche Anschauung verweisen muss und auch nicht per se schon – wie Brandom annehmen würde – in eine soziale Dynamik synchroner und diachroner Anerkennungsbeziehungen eingebunden ist. Bei der Art von Notwendigkeit, die diesen Prozess leitet, handelt es sich mithin um diejenige Art von Modalität, die Hegel in Anspruch nehmen muss, um sein logisch-metaphysisches Projekt gegen Kants Kritizismus zu verteidigen (vgl. 3.5): eine Modalität, die über bloß analytische Modalität hinausgeht, aber dennoch ohne Rekurs auf wirkliche oder mögliche Erfahrung erkannt werden kann. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob das Problem, von dem Brandom in seiner Diskussion der Bestimmtheit begrifflichen Gehalts ausgeht (vgl. 2.6.4), in Bezug auf die notwendigen Zusammenhänge zwischen den einzelnen logischen Bestimmungen, wie wir sie nun interpretiert haben, nicht doch bestehen bleibt: Handelt es sich bei diesen Zusammenhängen nicht um Ausprägungen bestimmten begrifflichen Gehalts, die bei Hegel dem Denken vorgegeben sind und selbst unerklärt bleiben? Zwar hängt es vom Vollzug des Denkens ab, ob überhaupt etwas gedacht wird und somit auch jene Zusammenhänge zum Tragen kommen. Außerdem bilden die fraglichen Zusammenhänge in der Ordnung der Rechtfertigung nicht Voraussetzungen, sondern Resultate der WdL. Doch in der Ordnung der Sache scheinen sie dem Denken vorgegeben zu sein und ihm erst seine spezifische Struktur zu verleihen. Wenn dies zuträfe, wären die notwendigen Zusammenhänge, die die WdL offenlegt, nicht die „eigentümlichen Bestimmungen und Gesetze“ des Denkens, „die es sich selbst gibt“ (Enz. § 19 A, 8/67), sondern Formen gegebenen begrifflichen Gehalts, von dem völlig unklar ist, wie er zustande kommt und welchen ontologischen Status er besitzt. Auf diesen Einwand könnte zugunsten Hegels erstens erwidert werden, dass seine Position hier in derselben Situation wie jede Autonomie-Konzeption von Freiheit und Normativität im Anschluss an Kant ist. Dass wir z. B. für Kant auf Grund unserer Vernunftnatur an das Sittengesetz gebunden sind, kann gleichfalls als modale Tatsache beschrieben werden („Notwendigerweise gilt: Wenn etwas ein Vernunftwesen ist, ist es an das Sittengesetz gebunden“), die unserer eigenen vernünftigen Aktivität vorgängig ist und insofern dem Autonomie-Gedanken zu widersprechen scheint. Dieselbe Tatsache kann aber ebenso gut auch so ausgedrückt werden, dass die Bindung an das Sittengesetz uns als Vernunftwesen
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4 Hegels Urteilslehre und die logische Grundlegung von Freiheit
intrinsisch ist. In diesem Sinn können auch die notwendigen Zusammenhänge, die Hegels WdL sichtbar macht, als dem Denken intrinsisch beschrieben werden. Zweitens ist Brandoms eigene Position, die die Bestimmung begrifflichen Gehalts ausschließlich von sozialen Praktiken abhängig macht, zwar insofern plausibler als die Hegels, als sie ohne die starke Annahme von notwendigen Tatsachen auskommt, die im beschriebenen Sinn allem Denken zugrunde liegen. Das hat aber auch zur Folge, dass bei Brandom letztlich unbegründet bleiben muss, warum wir diese und nicht ganz andere begriffliche Normen verwenden (vgl. 3.1). Rationale begriffliche Bestimmtheit im Sinne der welche-Norm?-Frage (vgl. 2.6.4), die Hegel mit seinem verallgemeinerten Formalismus-Problem zum Thema macht, kann im Rahmen eines derartigen Ansatzes letztlich nicht kohärent konzipiert werden. (b) Die teleologische Struktur des Begriffs, die im Urteil des Begriffs explizit gemacht wird, schafft zugleich die Grundlage für reale Freiheit. Wir haben die Unterscheidung von logischer und realer Freiheit ursprünglich unter Bezugnahme auf Hegels Rezeption von Kants Lehre der synthetischen Einheit der Apperzeption eingeführt (3.2.4). Logische Freiheit besteht innerhalb dieses Modells in der von Hegel angenommenen begrifflichen Entwicklung ohne Rekurs auf Anschauung, während reale Freiheit auf einer anderen Ebene angesiedelt ist: Auf dieser Ebene werden die durch den Vollzug logischer Freiheit gewonnenen Kategorien in der Auseinandersetzung mit (anschaulich) Gegebenem eingesetzt, um durch Synthesisleistungen ein reales Selbst (und eine rationale Konzeption des Gegenstandes) zu konstituieren. Die rationale Selbstkonstitution, durch die reale Freiheit geschaffen wird, muss sich also, im Gegensatz zum Denken in der WdL, an vorgefundenen Gegebenheiten, Eindrücken, Umständen usw. „abarbeiten“, um – gemäß Hegels Verständnis von Realisierung – innerhalb dieser „äußerlichen“ und „gleichgültigen“ Bedingungen vernünftige Strukturen zu realisieren. Hegels Theorie der teleologischen Struktur des Begriffs ist aber gerade auch dazu in der Lage, rationale Persistenz auf dieser Ebene zu stiften, weil sie die Notwendigkeit einer Realisierung innerhalb eines „gleichgültigen“ Mediums bereits in der Logik mit thematisiert – im Falle des Urteils des Begriffs an Hand des „problematischen“ Urteils. Warum hier die teleologische Struktur besonders geeignet ist, kann an Hand von Brandoms Interpretation des Hegelschen Handlungsbegriffs verdeutlicht werden, die eine paradigmatische Struktur teleologischer Begriffsrealisierung betrifft. Wie wir schon gesehen haben (vgl. 3.1), rekonstruiert Brandom zentrale Teile der PhG im Sinne einer Handlungstheorie, um den Handlungsbegriff als Paradigma für Prozesse der Bestimmung begrifflichen Gehalts im Allgemeinen zu deuten. Dabei fungieren Handlungen, und zwar in erster Linie ausgedehnte Handlungsprozesse – wie z. B. das Bauen eines Hauses –, als paradigmatische Beispiele dafür, wie in einem Prozess eine kontinuierliche Einheit begrifflichen Gehalts bestehen kann, obwohl dieser Prozess auf vielfältige gegebe-
4.6 Urteil des Begriffs
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ne Umstände reagieren muss und daher auch sein begrifflicher Gehalt einer sukzessiven Transformation und Fortbestimmung unterliegt.115 Prozesse wie der des Hausbaus setzen bei einer Absicht an, die selbst zunächst noch weitgehend unbestimmt ist („Ich will ein Haus bauen“).116 In Auseinandersetzung mit konkreten Gegebenheiten (Finanzlage, Grundstücksmarkt, Bedürfnisse usw.) gewinnt diese Absicht in Form eines zunehmend konkreten Plans an Bestimmtheit, bis die Umsetzung dieses Plans beginnt. Diese Umsetzung ist aber ihrerseits wieder ein Prozess, in dem in Reaktion auf verschiedene Bedingungen, die im Laufe des Hausbaus auftreten, Entscheidungen getroffen werden müssen: Der Plan muss gegebenenfalls angepasst oder revidiert werden, usw. Am Ende steht im Erfolgsfall schließlich das fertige Haus. Dieser gesamte Prozess, so Brandom, wird von einer durchgängigen begrifflichen Einheit zusammengehalten. Diese Einheit besteht in einem begrifflichen Gehalt, nämlich dem des Hauses, der aber im Laufe des Prozesses angepasst, genauer bestimmt usw. und in einzelne Aspekte der Handlung (z. B. einzelne Bauabschnitte) ausdifferenziert wird. Zwar sind wir in unserer Untersuchung der WdL zu anderen Ergebnissen hinsichtlich der allgemeineren Thematik der Genese bestimmten begrifflichen Gehalts gekommen als Brandom. Seine Interpretation von Hegels Handlungsbegriff macht aber deutlich, wie gerade die teleologische Struktur, die sich als Inbegriff immanenter Entwicklung bestimmten begrifflichen Gehalts in der WdL erwiesen hat, auch grundsätzlich dazu geeignet ist, die Möglichkeit rationaler Persistenz auf der Ebene realer Freiheit zu verstehen. Wir haben an Hand des Zusatzes zu § 147 der Enzyklopädie schon gesehen, dass durch teleologische Zusammenhänge rationale Persistenz ermöglicht wird, weil diese Zusammenhänge durch eine Einheit begrifflichen Gehalts gekennzeichnet sind, nicht durch das Übergehen in etwas „ganz anderes“ wie im Falle kausaler Verknüpfungen. Bran-
115 Vgl. ASoT Kap. 7 („Hegel’s Expressive Metaphysics of Agency“), Abschnitt VII. Ein derartiges Verständnis von Handlungen sieht Brandom u. a. in der folgenden Passage aus der Einleitung des Vernunft-Kapitels auf den Punkt gebracht: „Das Tun verändert nichts und geht gegen nichts; es ist die reine Form des Übersetzens aus dem Nichtgesehenwerden in das Gesehenwerden, und der Inhalt, der zutage ausgebracht wird und sich darstellt, nichts anderes, als was dieses Tun schon an sich ist. Es ist an sich: dies ist seine Form als gedachte Einheit; und es ist wirklich: dies ist seine Form als seiende Einheit, es selbst ist Inhalt nur in dieser Bestimmung der Einfachheit gegen die Bestimmung seines Übergehens und seiner Bewegung“ (PhG 3/293 f.). – Zwar kann dafür argumentiert werden, dass Hegel in diesem Kontext – insbesondere auch im Abschnitt über das „Geistige Tierreich“, auf den sich Brandom vielfach stützt – in erster Linie eine kritische Stoßrichtung verfolgt. Es ist aber zumindest plausibel, dass im Laufe dieser Kritik an defizitären Handlungstheorien auch wichtige Aspekte von Hegels positivem Handlungsbegriff sichtbar werden. 116 Vgl. Bratman (1987), 3, 29 f. über die anfängliche Unvollständigkeit von Handlungsplänen.
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doms Interpretation des Handlungsbegriffs zeigt darüber hinaus, wie diese Einheit begrifflichen Gehalts in der Auseinandersetzung mit gegebenen, zufälligen Bedingungen bewahrt wird. Die teleologische Struktur des Urteils des Begriffs, die Hegel auf der Grundlage der kritischen Argumentation in der Urteilslogik als privilegierte Form von Allgemeinheit und Notwendigkeit identifiziert, bildet also die kategoriale Struktur sowohl von „logischer“ als auch von „realer“ Freiheit. Wir haben somit im Detail nachvollzogen, inwiefern – gemäß Hegels Hinweis in der Rechtsphilosophie – die Urteilslogik die begriffliche Grundlegung von Freiheit enthält. Die Aufgabe der folgenden Kapitel ist es, die Konsequenzen dieser zunächst logischen Resultate zu entwickeln. Im nächsten Kapitel untersuche ich, welche allgemeinen metaphysischen Implikationen sich aus der vorgeschlagenen Deutung von Hegels Grundlegung von Freiheit in der WdL ergeben.
5 Freiheit und Idealismus In diesem Kapitel untersuche ich, welche metaphysischen Konsequenzen unsere Deutung der Grundlegung von Freiheit in der WdL für ein kohärentes Weltverständnis auf dem Standpunkt der Freiheit hat. Dabei werde ich Hegels absoluten Idealismus als seine Version eines Freiheits-basierten Weltverständnisses interpretieren (5.2). Zum Zweck einer ersten Annäherung an Hegels Metaphysik der Freiheit wird sich eine Diskussion von Brandoms Interpretation des Hegelschen Idealismus (5.1) als hilfreich erweisen. Brandom schreibt Hegel in diesem Zusammenhang substantielle metaphysische Thesen zu, die in direktem Zusammenhang mit dem Thema rationaler Freiheit stehen (5.1.2). Allerdings ist die Tragweite dieser Thesen infolge von metaphysikkritischen Überlegungen Brandoms (5.1.1) gegenüber Hegels Position stark eingeschränkt. Bei Hegel werden wir dann das entgegengesetzte Extrem von sehr weitreichenden metaphysischen Behauptungen vorfinden (5.2). Die Konfrontation von Hegels Position und Brandoms Rekonstruktion wird aber auch erlauben, eine mittlere Position als sachlich plausible metaphysische Fundierung einer hegelianischen Freiheitstheorie zu identifizieren.
5.1 Freiheit und Metaphysik bei Brandom Wir haben bereits in Kapitel 1 gesehen, dass Brandoms philosophische Theorie einschließlich seiner Hegel-Interpretation u. a. deshalb für unsere Frage nach einem Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnis relevant ist, weil er eine „begriffliche Strukturiertheit“ der Wirklichkeit für eine notwendige Voraussetzung rationaler Freiheit hält. Wir können nach Brandom – und nach Brandoms Hegel – nur dann die Realisierung rationaler Freiheit in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit kohärent verstehen, wenn wir die natürliche Wirklichkeit nicht in Opposition zum Geistigen als eine amorphe, epistemisch letztlich unzugängliche Instanz deuten, sondern eine grundsätzliche Homogeneität zwischen beiden Sphären annehmen. Da Brandom ferner eine Irreduzibilität des Geistigen und Normativen auf nicht-normative Sachverhalte behauptet (vgl. insbesondere MIE 26–28), kann diese Homogeneität nicht als Angleichung des Geistigen ans Natürliche konzipiert werden. Vielmehr muss das Natürliche vom Geistigen her interpretiert und selbst als Teilbereich der Sphäre des Begrifflichen verstanden werden. Aussagen wie die über die begriffliche Strukturiertheit des Wirklichen, über die Homogeneität von Geist und Welt usw. sind metaphysische Aussagen, weil sie grundlegende Eigenschaften der Wirklichkeit betreffen. Nun haben wir in Kapi-
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5 Freiheit und Idealismus
tel 1 ein Problem für die Frage nach einem Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnis ausgemacht, das darin besteht, dass häufig die Möglichkeit von Metaphysik gerade auf Grund des Freiheitsbegriffes eingeschränkt oder ganz bestritten wird. Einer der dabei einschlägigen Traditionen der Metaphysikkritik (vgl. 1.5), nämlich der Tradition der pragmatistischen Metaphysikkritik, gehört Brandom an. Er äußert häufig Skepsis an der Möglichkeit von Metaphysik im traditionellen Sinne und grenzt entsprechend auch seine Hegel-Interpretation von Deutungen ab, die monistische, theologische und ähnliche Themen in Hegels Idealismus hervorheben; Brandom begründet diese Einstellung durch Überlegungen, die sich auf die irreduzible Verfügbarkeit alternativer Begriffsrahmen berufen – ähnlich, wie es vor Brandom Rorty und der spätere Carnap getan hatten, um die Möglichkeit von Metaphysik in Frage zu stellen. Ich werde mich daher im Folgenden zunächst mit Brandoms Metaphysikkritik auseinandersetzen (5.1.1), ehe ich die idealistischen Thesen prüfe, die Brandom in seiner Hegel-Interpretation unterscheidet und verteidigt (5.1.2).
5.1.1 Brandoms Metaphysikkritik Brandoms Metaphysikkritik, die ich im Folgenden diskutiere, gehört der pragmatistischen Tradition von Metaphysikkritik an, die wir in Abschnitt 1.5 von zwei anderen Versionen der Metaphysikkritik unterschieden haben. Während die Kantisch-verifikationistische Variante die Rechtfertigungsmöglichkeit (im Verifikationismus sogar die Sinnhaftigkeit) von Metaphysik im traditionellen Sinne negiert und Metaphysik deshalb als Mythologie, Unterwerfung unter den „Despotismus“ ungerechtfertigter Annahmen oder schwärmerische „Anarchie“ kennzeichnet, interpretiert die praktizistische Variante (wir hatten Kant und Sellars als Beispiel betrachtet) den Standpunkt der Freiheit als präskriptiven Standpunkt, der keine deskriptive Verortung von Freiheit in der Wirklichkeit zulässt. Gemäß der pragmatistischen Variante dagegen, die ich am Beispiel des späteren Carnap dargestellt hatte, ist eine Pluralität von verschiedenen Sprachen und durch sie verfolgten Zwecken eine notwendige Implikation unserer Autonomie; statt uns nach metaphysisch vorgegebenen Ordnungen zu richten, entwerfen wir eigene vielfältige Bezugssysteme. Aufgrund von verwandten Überlegungen negiert auch Brandom die Legitimität von Metaphysik im traditionellen Sinn – Brandom spricht von Metaphysik im „ontologischen“ Modus – und lässt stattdessen nur Metaphysik im formalen bzw. „semantischen“ Modus zu. Diese Unterscheidung zweier Arten von Metaphysik führt Brandom im Nachwort zu Between Saying and Doing ein (BSD 218 ff.). Dabei verwendet er die sprachphilosophische Unterscheidung zwischen forma-
5.1 Freiheit und Metaphysik bei Brandom
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lem und materialem Modus (BSD 230), die auf Carnap zurückgeht.1 Ein Beispiel für diese Unterscheidung sind die folgenden beiden Sätze: (1) Rot ist eine Eigenschaft. (2) Der Ausdruck „rot“ ist ein Eigenschaftswort. Der Satz (1) exemplifiziert den materialen Modus, Satz (2) den formalen Modus. Während im materialen Modus eine objektsprachliche Aussage getroffen wird, ist die Aussage im formalen Modus auf metasprachlicher Ebene angesiedelt und handelt allein von innersprachlichen Instanzen. Die Unterscheidung beider Modi hat in der frühen Geschichte der analytischen Philosophie große methodologische Bedeutung, weil nach der Auffassung v. a. von Vertretern des Wiener Kreises alle philosophischen Fragen und Diskussionen sprachlicher Natur sind, aber infolge sprachlicher Konfusion als Fragen über Aspekte der außersprachlichen Wirklichkeit missverstanden werden (vgl. Rortys „Introduction“ in Rorty (1967), 1–39). Das hat dann beispielsweise zur Folge, dass, wie im obigen Beispiel, die sprachliche Form irreführenderweise die Annahme abstrakter Entitäten wie z. B. Eigenschaften nahelegt; wird die jeweilige Aussage dagegen im formalen Modus formuliert, wird sichtbar, dass sie keine solche Existenzannahme nötig macht. Nach Brandoms Unterscheidung von „ontologischer“ und „semantischer“ Metaphysik operiert die ontologische Metaphysik im materialen, objektsprachlichen Modus, die semantische Metaphysik hingegen im formalen, metasprachlichen Modus. Ontologisch vollzogene Metaphysik redet also direkt über Gegenstände, semantisch betriebene Metaphysik primär über unser Reden von Gegenständen. Ein Beispiel für Metaphysik im ontologischen Modus ist etwa die Behauptung: (3) Eigentlich gibt es nur Elementarteilchen; im semantischen Modus wird dieselbe Aussage so ausgedrückt: (4) Das Vokabular der Elementarphysik ist das einzige Basisvokabular, in das alle wahren Aussagen in anderen Vokabularen übersetzt werden können, aber nicht umgekehrt. Brandom argumentiert nun, dass, wenn ontologische Aussagen in den semantischen Modus übersetzt werden, stets semantische Aussagen resultieren, die explizit oder implizit ein einzelnes Vokabular unter allen anderen privilegieren (BSD 219). Ontologische Sätze treffen nämlich, so Brandom, Aussagen darüber, was es eigentlich gibt. Aus der Identifikation der eigentlichen Wirklichkeit im materialen Modus wird im formalen Modus die Identifikation einer privilegierten
1 Vgl. z. B. Carnap (1968), u. a. 210 ff., sowie Quines einflussreiche Diskussion in Quine (1960), 270 ff.
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5 Freiheit und Idealismus
Sprache, in der alles gesagt werden kann (bzw. in die alles übersetzt werden kann), was überhaupt in irgendeiner Sprache gesagt werden kann: Metaphysische Argumente sind somit „[…] arguments to the effect that everything that can be known, said, or thought, every fact, must in principle be expressible in the base vocabulary in question“ (BSD 219). Bereits in dieser Formulierung der Problematik verkürzt Brandom allerdings die Sachlage in unzulässiger Weise, weil er davon ausgeht, dass alle metaphysischen Sätze im materialen Modus von der Art „Eigentlich gibt es nur ___“ sind und daher im semantischen Modus adäquat als Reduktionsthesen wiedergegeben werden können. Es fällt aber nicht schwer, hierfür Gegenbeispiele zu finden, wie etwa: (5) Jede Substanz ist eine Einheit aus Form und Materie. (6) Die Seele ist unsterblich. Hierbei handelt es sich um Sätze der Metaphysik im materialen Modus. Der erste Satz ist ontologisch im Sinne der metaphysica generalis; der zweite Satz gehört der metaphysica specialis an, ist aber nichtsdestotrotz ein metaphysischer Satz im materialen Modus. Es ist weder ersichtlich, wie die beiden Sätze in Sätze der Art „Eigentlich gibt es nur ___“ transformiert, noch wie sie in Aussagen über Reduktionen umgewandelt werden können. Auch sind sie nicht nur unter der Annahme sinnvoll, es gebe ein universal privilegiertes Vokabular. Beide Sätze wurden in der Philosophiegeschichte im Rahmen von ganz unterschiedlichen Vokabularen diskutiert und für wahr oder falsch gehalten; der zweite Satz kann sogar in völlig unphilosophische Vokabulare übersetzt werden. Nichtsdestotrotz kann plausiblerweise behauptet werden, dass die metaphysischen Systeme, innerhalb derer Aussagen wie (5) und (6) klassischerweise aufgestellt wurden, versucht haben, einen optimalen Begriffsrahmen zu identifizieren, um die Grundstruktur der Wirklichkeit zu erfassen. (Aristoteles’ hylemorphistisches Vokabular ist ein besonders deutliches Beispiel hierfür.) In jedem Fall liegt es auf der Hand, dass Hegel beansprucht, in seinem System einen derartigen Begriffsrahmen entwickelt zu haben. Auch wenn Brandoms Argumentation von vornherein zentrale Fragestellungen der traditionellen Metaphysik ausklammert, ist sie daher relevant für unsere Thematik. Brandom formuliert nun zwei Einwände gegen die Annahme eines privilegierten Begriffsrahmens, die beide von der pragmatistischen Metaphysikkritik beim späten Carnap beeinflusst sind.2 Der erste Einwand ist eine direkte Variante eines Arguments Carnaps. Wie wir in Abschnitt 1.5 gesehen haben, verwirft Carnap unter dem Eindruck der Möglichkeit kreativer Sprachschöpfung in der modernen
2 Brandoms direkte Quelle für diese Position ist Rorty: vgl. Brandom (2000b), 167 f.
5.1 Freiheit und Metaphysik bei Brandom
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Logik den Gedanken einer einzelnen „wahren“ Logik und allgemeiner eines einzelnen privilegierten Begriffsrahmens. Dort habe ich auch bereits eine Passage Brandoms zitiert, in der er unterschiedliche Konditionale (materiales Konditional, intuitionistisches Konditional, strikte Implikation usw.) als Beispiel anführt. Diese Junktoren und die logischen Sprachen, denen sie angehören, dienen Zwecken, die so vielfältig sind wie die jeweiligen Aspekte des logischen Raums und unserer inferentiellen Praktiken, die sie zum Ausdruck bringen. Ähnlich argumentiert Brandom in einer Passage, in der er seine Skepsis gegenüber Bemühungen, Hegel als Metaphysiker im traditionellen Sinne – und damit im ontologischen bzw. materialen Modus – zu verstehen, verteidigt: What is the right logic? Well, intuitionism is the right logic for the dimensions of inference that are made explicit by its vocabulary, und so weiter. And I think the same thing is true of logical vocabulary read more broadly, so as to include the other kinds of things that Hegel (and, in a different tone of voice, I), would like to include. And I would say the same thing about the sorts of vocabularies – normative vocabularies, modal vocabularies, intentional vocabularies, and so on – that I’m concerned with in my Locke Lectures. And naturalistic vocabulary, or the vocabulary of observation reports, has no global privilege over any of the others. The question is just ‚What can you use it to say?‘ So it is the privileging of one vocabulary over another that makes me suspicious of ontological idioms. (Brandom (2008b), 183)
Die Pluralität von Sprachen und damit verbundenen Zwecken, die exemplarisch in der modernen Logik sichtbar wird, macht also für Brandom, wie für Carnap und Rorty, den Gedanken eines durch seine repräsentationale Funktion privilegierten Vokabulars hinfällig. Der zweite Einwand bietet eine weitere Begründung dafür, den Gedanken eines solchen Vokabulars abzulehnen. Wenn wir ontologische Aussagen in semantische Aussagen übersetzen, resultieren für Brandom Aussagen, die eine Sprache identifizieren, in der alles gesagt werden kann, was in irgendeiner Sprache gesagt werden kann. Die Möglichkeit einer Allquantifikation über alle Sprachen bezweifelt Brandom nun deshalb, weil eine solche Quantifikation nicht klar definierbar ist: Wir können nicht bestimmen, welche Vokabulare überhaupt möglich sind. In Between Saying and Doing erklärt Brandom hierzu: What most gives me pause about the commitments underlying programs of the sort I am calling ‚metaphysical‘ is that they essentially require us to quantify over all possible vocabularies. Universal base languages are base languages from which every vocabulary that is legitimate in some sense (specific to the metaphysical program) can be elaborated as a target vocabulary. I have my doubts about that notion. It is not that I am confident that no sense can be made of the notion of all possible vocabularies. It is rather that I do not think it comes with a clear sense. If it is to make sense, we must give it a sense. And I don’t know how to do that. […] The worry is that no definite or determinate totality is being delineated. Maybe new vocabularies become possible all the time. (BSD 223)
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5 Freiheit und Idealismus
Der Bereich möglicher Vokabulare, so Brandoms Punkt, ist nicht klar begrenzbar, so dass eine Allquantifikation über diesen Bereich prinzipiell unklar bleiben muss; und zwar ist dieser Bereich deshalb nicht klar begrenzbar, weil immer neue Vokabulare möglich werden können. Brandom erklärt hier nicht genauer, was es heißt, dass Vokabulare möglich werden. Den hier fehlenden Argumentationsschritt können wir durch den folgenden Punkt ergänzen: Dadurch, dass wir neue Vokabulare verwenden, wird uns allererst die Möglichkeit zugänglich, bestimmte weitere Vokabulare zu entwickeln und zu gebrauchen: Ein antiker Physiker hätte das Vokabular der Quantenmechanik weder selbst entwerfen noch erlernen können; ein mittelalterlicher Logiker hätte das Vokabular von Principia mathematica weder entwickeln noch gebrauchen können.3 In diesem Sinne werden ständig neue Vokabulare möglich, so dass sich der Objektbereich der Allquantifikation über alle möglichen Vokabulare stetig verändert. Ich diskutiere die beiden metaphysikkritischen Einwände Brandoms, indem ich bei dem zweiten Argument beginne. Brandoms Bedenken scheinen den Sinn einer Allquantifikation über alle möglichen Vokabulare zu betreffen. Doch ist es für Allquantifikation nicht erforderlich, dass der Bereich, über den quantifiziert wird, von vornherein extensional klar festgelegt ist. Damit die Quantifikation einen klaren Sinn hat, muss lediglich in Bezug auf jeden möglichen Gegenstand entscheidbar sein, ob er zu dem Objektbereich, über den quantifiziert wird, gehört oder nicht. Nun ist nach Brandom die Quantifikation nicht deshalb unklar, weil sich die Anforderungen dafür, dass etwas überhaupt als Vokabular zählt, im Laufe der Zeit ändern. Brandoms Punkt sollte deshalb so verstanden werden, dass er eigentlich die Rechtfertigung der fraglichen Quantifikation betrifft. Diese Rechtfertigung ist problematisch, wenn sie auf die Bekanntschaft mit bestimmten einzelnen Mitgliedern im Objektbereich der Quantifikation gestützt ist, aber im Laufe der Zeit völlig andere neue Mitglieder zum Objektbereich hinzukommen können. Das ist besonders dann der Fall, wenn Übersetzungsbeziehungen zwischen einzelnen Vokabularen behauptet werden. Beispielsweise haben Vertreter von phämonenalistischen Ontologien innerhalb des logischen Positivismus versucht, die These, es gebe eigentlich nur Sinnesdaten, durch konkrete Übersetzungsprogramme zu rechtfertigen, in denen paradigmatische Sprachen – die Sprache, in der wir im Alltag von physikalischen Gegenständen und fremden mentalen Zuständen reden, die Sprachen einzelner Wissenschaften, usw. – in eine Sinnesdatensprache übersetzt wurden; Carnaps Logischer Aufbau der Welt ist das ambitionierteste Projekt dieses Typs. Ein solches Projekt hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn von vornherein ein klar definierter Bereich von Zielvo-
3 Vgl. Brandom (2000b), 169; Brandom übernimmt diesen Punkt von Rorty.
5.1 Freiheit und Metaphysik bei Brandom
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kabularen zur Verfügung steht, von denen dann entweder alle oder zumindest exemplarische Fälle in das Basisvokabular übersetzt werden. Wenn der Bereich möglicher Zielvokabulare sich aber ständig verändert, kann die Reduktionsthese nie hinreichend gerechtfertigt werden, weil auch für alle neuen Vokabulare gezeigt werden müsste, dass sie sich übersetzen lassen. (Auch die Beschränkung auf exemplarische Fälle der Übersetzung bietet dabei keinen Ausweg, weil nicht gewährleistet werden kann, dass diese Fälle wirklich aussagekräftig in Bezug auf alle anderen möglichen Fälle sind.) Wird Brandoms Einwand so verstanden, dann ist er in Bezug auf klassische Reduktions- und Rekonstruktionsprogramme plausibel. Allerdings folgt hieraus noch nicht, dass Allquantifikationen über mögliche Vokabulare als solche, und somit auch die Annahme eines privilegierten Vokabulars im erläuterten Sinn, nicht legitim sind. Der Einwand gegen traditionelle Reduktionsprogramme lässt nämlich die Möglichkeit von Rechtfertigungen unberührt, die nicht auf der Bekanntschaft mit einzelnen Elementen des Objektbereichs beruhen, sondern auf allgemeineren Gründen. Tatsächlich muss Brandom die Möglichkeit solcher Rechtfertigungen schon deshalb akzeptieren, weil er selbst Quantifikationen über alle Vokabulare vornimmt. Er selbst vertritt explizit metaphysische Thesen wie die begriffsrealistische These, dass die Wirklichkeit begrifflich strukturiert ist (vgl. 5.1.2). Im formalen Modus entspricht diese Aussage der, dass die Inhalte unserer wahren Behauptungen durch gegenseitige begriffliche Beziehungen artikuliert sind. Aus der Sicht Brandoms handelt es sich hier um eine implizite Voraussetzung aller Vokabulare. Doxastische Festlegungen, gleich in welchem Vokabular sie getroffen werden, sind nur möglich, wenn nicht nur unsere Einstellungen, sondern auch deren Inhalte durch begriffliche Beziehungen (materiale Inkompatibilitäten) strukturiert sind. Ohne derartige Beziehungen würden wir in unserem Reden keinen Halt finden, wir könnten zugleich widersprüchliche Inhalte vom selben Gegenstand aussagen usw. Wenn die begriffsrealistische These durch derartige Überlegungen begründet wird, greift aber der Einwand gegen Allquantifikationen über mögliche Vokabulare nicht mehr, weil hier eine Begründungsform gebraucht wird, die nicht von der Bekanntschaft mit bestimmten einzelnen Vokabularen abhängt. Derartig universale Begründungsformen, deren Geltung nicht von einzelnen kontingenten Eigenschaften unserer Begriffsrahmen abhängt, sind aber auch charakteristisch für die traditionelle Metaphysik. Ob solche Begründungsstrategien tatsächlich Erfolg haben, ist eine andere Frage; in jedem Fall ist aber Brandoms diskutierter Einwand für Metaphysik nicht schädlich, und zwar gleich, ob sie im ontologischen oder im semantischen Modus operiert. Der erste Einwand Brandoms gegen den Gedanken eines privilegierten Vokabulars ist stichhaltiger: Es erscheint tatsächlich nicht sinnvoll, beispielsweise
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5 Freiheit und Idealismus
entscheiden zu wollen, welches der verschiedenen Konditionale das „wahre“ Konditional ist. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen diese Beobachtung für die Möglichkeit von Metaphysik hat. Brandom verallgemeinert das Beispiel der Logik direkt auf die Philosophie als ganze. Wie Carnap und Rorty (vgl. 1.5), so sieht auch Brandom eine zentrale Aufgabe von Philosophie in der Konstruktion neuer Sprachen (vgl. insbesondere RiPh Kap. 5 („Philosophy and the Expressive Freedom of Thought“)). Durch die Entwicklung und Verwendung neuer Sprachen transformieren wir uns. Teil unseres Status als vernünftige, selbstbewusste Wesen ist es für Brandom, dass das, was wir sind, zu einem erheblichen Teil davon abhängt, wofür wir uns halten – welche Konzeption unserer selbst wir haben (vgl. auch Brandom (2007), 127 f.). Hierin sieht Brandom einen wesentlichen Aspekt von Freiheit, nämlich expressive Freiheit – die Fähigkeit, sich durch die Bildung neuer Mittel des Ausdrucks und der Selbstinterpretation selbst zu transformieren. Diese Fähigkeit können wir nur dann ausüben, wenn es Menschen gibt, die auf das Kreieren neuer Vokabulare spezialisiert sind. Für Brandom und Rorty teilen LogikerInnen und PhilosophInnen diese Aufgabe mit KünstlerInnen: The production of potentially self- and community-transforming vocabularies is not, to be sure, the exclusive province of philosophers. For instance, filmmakers and novelists (imagers and imaginers of lives and projects), poets (sculptors of language and linguistic images), and such hard-to-classify thinkers as Marx and Freud are all practitioners of this arcane, human-alchemical art. (RiPh 149)
Die Selbsttransformation, die durch die Konstruktion von Sprachen möglich wird, deutet Brandom nun schließlich (ganz wie Carnap und Rorty) im Sinne eines liberalistischen Freiheitsbegriffs, wie ihn in ähnlichen Kontexten etwa Humboldt und Mill vertreten haben: Selbsttransformation ist demnach Sache der freien Selbstentfaltung. Diese hat weder an äußeren Bedingungen noch an einem vorgegebenen Wesen einen Maßstab; vielmehr ist die äußerste Vielfalt dieser Entfaltung ein intrinsisches Gut.4 Wenn aber die Freiheit zur individuellen Selbstentfaltung zum Maßstab für den Umgang mit der Vielfalt möglicher Sprachen gemacht wird, dann ist in der Tat jegliche Privilegierung eines einzelnen Vokabulars oder Begriffsrahmens ausgeschlossen, allerdings aus stärkeren Gründen als dem Pro-
4 Vgl. RiPh 155: „[…] Hume, Kant, and Hegel himself have done their philosophical work well, and offered us candidate vocabularies whose adoption makes us into different sorts of beings. The lesson we should learn from studying their efforts is not a decision about who is right, but one concerning the importance of coming up with new, ever-more-interesting such vocabularies as candidates to identify with […]“; Brandom (2000b), 178 f.: „The vocabulary vocabulary brings into view the possibility that our overarching public purpose should be to ensure that a hundred private flowers blossom, and a hundred novel schools of thought contend“.
5.1 Freiheit und Metaphysik bei Brandom
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blem der Quantifikation über alle möglichen Vokabulare. Brandom schließt sich hiermit vielmehr der anti-metaphysischen Einstellung Rortys an, der von seiner liberalistischen Gesellschaftsutopie schreibt: „[I]t would regard the realization of utopias, and the envisaging of still further utopias, as an endless process – an endless, proliferating realization of Freedom, rather than a convergence toward an already existing Truth“ (Rorty (1989), xvi). Brandoms These, dass die Philosophie eine eigene Form von Freiheit zugänglich macht, ist attraktiv und für sich genommen ganz in Hegels Sinn. Allerdings sprechen aus der Sicht der Hegelschen Position, die wir hier rekonstruieren, gewichtige Gründe gegen die Weise, wie Brandom diesen Gedanken konkretisiert und gegen die Möglichkeit eines privilegierten Vokabulars ins Feld führt. Bereits die beschriebene liberalistische Deutung des Freiheitsbegriffs steht in einer Spannung zu dem, was wir bislang entwickelt haben. Zwar ist es sehr plausibel, dass Kreativität im Entwerfen neuer Begriffe, Vokabulare, Selbstverständnisse usw. eine wesentliche Voraussetzung intellektueller Freiheit ist; dabei handelt es sich nämlich um eine Ausprägung dessen, was ich in Abschnitt 1.6 als deliberative Wahl bezeichnet habe: die Fähigkeit, in epistemischen wie in praktischen Fragen offen für Alternativen zu sein, solche kreativ zu entwerfen usw. Doch beschreibt Brandom das Verfügen über eine unerschöpfliche Vielfalt von Sprachen und damit von Zwecken, denen diese Sprachen dienen können, und von Selbstentwürfen, die in diesen Sprachen formulierbar sind, als Selbstzweck, nicht als notwendige Voraussetzung für rationale Entscheidungen und Überzeugungsbildung. Damit interpretiert Brandom – entgegen seinem übergeordneten Verständnis von Freiheit als rationaler Autonomie – gerade die durch Philosophie zugängliche Freiheit im Sinne von Wahl-basierten Freiheitstheorien, für die die Verfügbarkeit von möglichst vielen Optionen, zwischen denen dezisionistisch gewählt werden kann, ein intrinsisches Gut ist. Auch was die Deutung der Philosophie angeht, erscheint aus der Sicht von Hegels Position Brandoms Argumentation wenig überzeugend. Hegel weist zwar ebenfalls der Philosophie eine wichtige expressive Rolle zu: Sie expliziert in der WdL die „Knotenpunkte“ (vgl. 3.5) unseres Denkens; in der Geistphilosophie ist sie nach Hegels bekanntem Diktum „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ (GPhR 7/26); und insgesamt ist sie die „sich wissende Vernunft“ (Enz. § 577, 10/394). Die Philosophie ist also von allen verschiedenen Diskursformen diejenige, die dem Geist in seinen verschiedenen Aspekten und Gestalten die besten expressiven Mittel bietet, um sich selbst auszudrücken, zu interpretieren und zu verstehen. Die Selbstinterpretation des Geistes stellt ferner auch für Hegel zugleich eine Selbsttransformation dar. Es gibt aber prinzipiell zwei Möglichkeiten, wie eine solche Transformation verstanden werden kann; beide sind jeweils auch an ein bestimmtes Verständnis von Freiheit geknüpft. Erstens kann die transformatorische
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Tätigkeit der Philosophie als offener Prozess verstanden werden, bei dem nicht von vornherein feststeht, in welche Richtung er sich entwickelt. Dies ist die erklärte Position Brandoms, wie wir sahen: In diesem Kontext bedeutet Freiheit den Freiraum zur kreativen Entwicklung, deren Verlauf nur durch sehr allgemeine praktische Ziele eingeschränkt ist (vgl. Brandom (2000b), 171). Zweitens – und dies ist die Position, die Hegel explizit vertritt – kann der Transformationsprozess als Prozess interpretiert werden, der auf ein notwendiges Ziel hin ausgerichtet ist, nämlich die vollständige Realisierung der Freiheit des Geistes, die für Hegel durch sehr spezifische inhaltliche und institutionelle Bestimmungen gekennzeichnet ist (vgl. z. B. GPhR § 27, 7/79; Enz. § 484, 10/303; VPhG 12/29 ff., 12/57, 12/75 ff.). Zwar kann aus der Perspektive der Individuen, die an diesem Prozess teilhaben, das eigentliche Ziel des Prozesses erst dann klar verstanden und formuliert werden, wenn der Prozess bereits zu seinem Ende gelangt ist. Entsprechend wird der Prozess erst in der Retrospektive als zielgerichtete Entwicklung begreifbar. Im Gegensatz zu Brandoms Modell der rationalen Rekonstruktion, in dem prinzipiell jeder Standpunkt sich selbst als Resultat eines Fortschrittsprozesses interpretieren kann (vgl. 3.1), macht diese Retrospektive aber eine notwendige Entwicklung hin zu einem alternativlosen Ziel sichtbar. Wenn ein derartiger notwendiger Prozess zugleich ein Prozess der Befreiung sein soll (vgl. 6.1), dann kann Freiheit in diesem Kontext nicht in der liberalistischen Freiheit zur ungebundenen Entfaltung à la Brandom und Rorty bestehen.5 Um die alternative Konzeption Hegels gegen Brandom zu verteidigen, können wir auf ein Resultat des vorigen Kapitels zurückgreifen. Eine der Pointen von Hegels Diskussion in der Urteilslogik war nach unserer Deutung, dass das Ziel epistemischer Prozesse wesentlich das Verstehen der Wirklichkeit umfasst (vgl. 4.4.4). Dieses Verstehen wird durch Erklärungen ermöglicht, die wir für einzelne Aspekte und Sachverhalte ausfindig machen. Solche Erklärungen erfüllen aber nur dann ihren Zweck, wenn sie objektiven modalen Strukturen entsprechen: Unsere Theorien und Erklärungen müssen die immanenten Prinzipien der jeweiligen Sache erfassen. Sie müssen die wirklichen Beziehungen einzelner Tatsachen zueinander begreifen, ein „carving at the joints“ leisten und erkennen, welche Unterschiede wichtig und stichhaltig sind und welche dagegen nur akzidentell und zufällig. Wenn Wissen so verstanden wird, dann genügt es nicht,
5 Hinzu kommt, dass Hegel die liberalistische Freiheitsauffassung, die zu seiner Zeit z. B. Wilhelm von Humboldt vertreten hat, im Abschnitt über „Das geistige Tierreich und der Betrug oder die Sache selbst“ der PhG direkt kritisiert: Hier wird nämlich ein Standpunkt des Bewusstseins dargestellt, der den einzigen Sinn und Maßstab von Handlungen und Kunstwerken im Ausdruck der „Individualität“ sieht. – Vgl. auch Theunissens Kritik am modernen Begriff der „Selbstverwirklichung“ in Theunissen (1981).
5.1 Freiheit und Metaphysik bei Brandom
279
innerhalb eines gegebenen Begriffsrahmens mit den verfügbaren Begriffen die Tatsachen möglichst genau zu erfassen. Wir müssen vielmehr dasjenige Begriffssystem identifizieren, das die wirklichen modalen und explanatorischen Beziehungen zu erfassen erlaubt – das tatsächlich die Wirklichkeit „an den Gelenkstellen schneidet“. Gerade wenn die Welt dem Geist epistemisch zugänglich und der Bereich des Begrifflichen „unbegrenzt“ sein soll (vgl. 1.2), muss ein solches privilegiertes Begriffssystem für möglich gehalten werden. Entsprechend kann die kreative Pluralität, die (im Sinne „deliberativer“ Freiheit) unsere begriffliche Aktivität auch kennzeichnet und die in der modernen Logik besonders deutlich zu Tage getreten ist, nicht auf unsere Versuche übertragen werden, die Wirklichkeit zu erkennen; die Philosophie kann sich nicht mit der freien Konstruktion neuer Sprachen begnügen, die nach Carnaps und Brandoms Auffassung die Logik kennzeichnet. Entsprechend muss auch in der dargestellten Auffassung die Freiheit, die uns durch Philosophie ermöglicht wird, so verstanden werden, dass die philosophische Wahrheit (im erläuterten Sinne) uns frei macht und nicht umgekehrt unsere freien Entscheidungen bestimmen, wie wir Wahrheit jeweils konzipieren. So gedeutete „philosophische“ Freiheit ist nicht nur kompatibel mit der Möglichkeit von Metaphysik im materialen Modus, sie bedarf ihrer sogar, weil wir sie nur durch ein begreifendes Erkennen der grundlegenden Struktur der Wirklichkeit erreichen können (vgl. auch Kapitel 9). Die liberalistische Freiheit, die Brandom, Rorty und Carnap in diesem Kontext annehmen, ist dagegen tatsächlich inkompatibel mit Metaphysik im materialen Modus und der Vorstellung eines privilegierten Begriffsrahmens. Sie gehört – anders als Brandoms „offizieller“ Begriff von Freiheit als Autonomie (2.6.4) – dem Wahl-basierten Paradigma von Freiheit an. Das ist freilich kein Zufall, weil dieses Paradigma (als Ausdruck des Standpunktes „subjektiver Freiheit“, vgl. 2.1) eine zentrale Rolle für die Herausbildung des modernen Autonomiedenkens gespielt hat. Die Vorstellung, dass Menschen sich weder in Theorie noch Praxis nach vorgegebenen metaphysischen Ordnungen richten, sondern ihr intellektuelles, moralisches und politisches Leben selbst in die Hand nehmen und ihre eigenen Bezugssysteme (Wissenschaften, Ethik, Gesellschaftsordnung usw.) entwerfen sollten, spielt dabei eine zentrale Rolle. Nichtsdestotrotz haben wir im bisherigen Verlauf der Untersuchung ausreichende Gründe dafür ermittelt, dass der Gedanke einer derartigen Selbstbestimmung besser im Rahmen eines nicht-Wahl-basierten Verständnisses von Freiheit als Autonomie konzipiert werden sollte. Brandoms Version der pragmatistischen Metaphysikkritik erweist sich so insgesamt als wenig stichhaltig und bietet keineswegs zwingende Gründe gegen die Möglichkeit „materialer“ bzw. „ontologischer“ Metaphysik, sofern wir von klassischen Reduktionsprogrammen absehen. – Im Folgenden betrachten wir nun
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5 Freiheit und Idealismus
Brandoms „semantische“ Metaphysik genauer, die vom Standpunkt seiner Metaphysikkritik aus die einzige legitime Art von Metaphysik ist.
5.1.2 Brandoms Idealismen Brandom legt zwar großes Gewicht auf die Kennzeichnung seiner Metaphysik als semantische, nicht ontologische Metaphysik, doch bedeutet dies nicht, dass diese Metaphysik nur die Grundlagen unseres Begriffssystems erhellen wollte, ohne etwas über die Wirklichkeit als solche auszusagen. Brandom strebt vielmehr eine Theorie der Voraussetzungen aller Begriffssysteme an, die zugleich auch sehr allgemeine Eigenschaften der Wirklichkeit identifiziert, auf die wir innerhalb unserer Begriffssysteme Bezug nehmen: Es geht ihm um „objective-ontological and subjective-practical sides of the coin of discursiveness“ (BSD 231).6 Die metaphysische Theorie, die Brandom am explizitesten in seinen Texten zu Hegel entwickelt, subsumiert er unter dem Schlagwort des absoluten Idealismus. Absoluter Idealismus ist für Brandom die Konjunktion aus drei einzelnen Theorien, nämlich Begriffsrealismus, objektiver Idealismus und Begriffsidealismus. (1) Der Inhalt von Brandoms Begriffsrealismus ist die schon mehrfach erwähnte These, dass die Wirklichkeit begrifflich verfasst ist. Brandom erläutert diese These wie folgt: The conceptual contents of our thoughts are articulated by material consequential and incompatibility relations they stand in to one another. […] But facts and objective states of affairs, too, stand in consequential and incompatibility relations to one another (and objects, we have seen, are to be understood in terms of the roles they play in those relations). The fact that the coin is metal is a consequence of the fact that it is copper. And that same fact objectively rules out the possibility that it is an electrical insulator. The principled parallel between the deontic modal relations of inclusion and exclusion that articulate our thought on the subjective side, and the alethic modal relations of inclusion and exclusion that articulate the world on the objective side […] define [sic] a structural conception of the conceptual according to which thought and the world thought about can both be seen to be conceptually structured. (RiPh 97 f.)
Wie wir schon gesehen hatten (vgl. 4.2), ermöglicht es ein modaler Realismus, die Struktur des Begrifflichen so zu verstehen, dass sie nicht speziell an mentale oder
6 Deshalb ist es irreführend, Brandoms philosophische Theorie einschließlich seiner HegelInterpretation als nicht-metaphysisch oder rein semantisch zu kennzeichnen, wie es teilweise geschieht, z. B. bei Kruck (2003), Sans (2004), 16 f., 226 ff. und Schnädelbach (2004). Es spricht dagegen für Habermas’ Lektüre von MIE, dass er gerade dessen metaphysische Dimension hervorhebt (Habermas (1999)). Vgl. auch Stekeler-Weithofer (2004).
5.1 Freiheit und Metaphysik bei Brandom
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psychische Aktivität gebunden ist, sondern auch in der objektiven, nicht-mentalen Wirklichkeit vorgefunden werden kann. In seiner Version des modalen Realismus deutet Brandom objektive Modalitäten als alethische Modalitäten. Diese sind für ihn durch Beziehungen materialer Inkompatibilität definiert und dadurch isomorph zu den deontischen Modalitäten, welche subjektiv-begriffliche Zusammenhänge artikulieren (4.2). Infolge dieses nicht-psychologischen Begriffs vom Begrifflichen wird das Begriffliche von subjektiver Tätigkeit entkoppelt. Damit begriffliche Strukturen objektiv existieren können, ist nicht etwa erst eine subjektive Tätigkeit nötig. Eine Implikation von Brandoms Begriffsrealismus, die eigens hervorgehoben werden sollte, ist ein Holismus (vgl. HI). Brandom charakterisiert den vom Begriffsrealismus implizierten Holismus als semantischen Holismus (HI 183), doch versteht er diesen Begriff hier wesentlich weiter, als er gewöhnlich gefasst wird. Normalerweise bezeichnet man als „semantischen Holismus“ Theorien, nach denen einzelne sprachliche Ausdrücke ihre Bedeutung nur im Kontext einer ganzen Sprache haben (vgl. z. B. Fodor/Lepore (1992), Kap. 1). Brandom überträgt diesen Punkt aber auch auf objektive begriffliche Verhältnisse. Entsprechend der nicht-psychologischen Deutung von Begriffen, die dem Begriffsrealismus zugrunde liegt, haben nämlich nicht nur Behauptungen, sondern auch Tatsachen einen begrifflichen Gehalt. Das Kennzeichen begrifflichen Gehalts ist aber für Brandom gerade die Artikuliertheit durch Beziehungen materialer Inkompatibilität. Wie dieser Punkt auf subjektiver Seite zu einem semantischen Holismus im gewöhnlichen Sinn führt, für den einzelne begriffliche Gehalte nicht unabhängig von ihrer Rolle in einem Ganzen aus inferentiellen Beziehungen verstanden werden können, resultiert nach Brandom auch auf der objektiven Seite ein Holismus. Diesem Holismus zufolge, der besser als ontologischer Holismus bezeichnet werden sollte, kann eine Tatsache nur dadurch einen bestimmten begrifflichen Gehalt haben (also diese Tatsache sein und nicht eine beliebige andere), dass sie in modal robusten Beziehungen wie Inkompossibilität und Implikation zu anderen Tatsachen steht (HI 183). Brandom spezifiziert diesen Holismus sowohl auf der subjektiv-semantischen Seite als auch auf der ontologischen Seite dahingehend, dass die holistische Abhängigkeit einzelner begrifflicher Gehalte von anderen Gehalten nur den Sinn der jeweiligen Gehalte betrifft: Ihre Intensionen sind durch einander definiert; ein Gehalt kann nur unter Rekurs auf den anderen verstanden werden. Dagegen besteht keine Abhängigkeit, was die Instantiierung der jeweiligen Gehalte angeht: Die holistische Abhängigkeit einer Tatsache von anderen Tatsachen, die sie impliziert oder ausschließt, bedeutet nicht, dass das Bestehen dieser Tatsache das Bestehen der anderen Tatsachen voraussetzt. Die nur die Begriffsintensionen betreffende Abhängigkeitsbeziehung bezeichnet Brandom als Sinnabhängigkeit und unterscheidet sie von Referenzabhängigkeit – einer
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5 Freiheit und Idealismus
Beziehung, die dann vorliegt, wenn ein Relat nicht ohne das andere existieren kann (HI 194 f.).7 Brandoms Holismus behauptet also eine gegenseitige Sinnabhängigkeit der holistisch miteinander verbundenen Gehalte, aber keine Referenzabhängigkeit.8 (2) Wie wir gesehen haben, deutet Brandom durch seinen Begriffsrealismus die Natur des Begrifflichen so, dass die Existenz objektiver begrifflicher Strukturen keine subjektive Tätigkeit voraussetzt, die diese Strukturen hervorbringt. Nichtsdestotrotz sind für Brandom und den von ihm rekonstruierten Hegel objektiv-begriffliche Strukturen im Sinne des Begriffsrealismus nicht gänzlich unabhängig von subjektiver begrifflicher Aktivität. Die genaue Form dieser Abhängigkeit spezifiziert Brandom in Gestalt der These des objektiven Idealismus. In ihr macht Brandom abermals von der Unterscheidung zwischen Sinn- und Referenzabhängigkeit Gebrauch. Die These des objektiven Idealismus besagt, dass objektive begriffliche Strukturen (Tatsachen, Implikationen, Inkompossibilitäten) und subjektive begriffliche Strukturen (Behauptungen, Inferenzen, Inkompatibilitäten) sinnabhängig voneinander sind. Referenzabhängigkeit besteht dagegen, so Brandom, nur insofern, als subjektive begriffliche Strukturen nicht ohne objektive begriffliche Strukturen existieren könnten, aber nicht vice versa (HI 196 ff.). Begriffsrealismus und objektiver Idealismus sind die ersten beiden Thesen, die nach Brandom den „absoluten Idealismus“ ausmachen. Wie lassen sich diese beiden Thesen rechtfertigen? Was die Begründung des Begriffsrealismus angeht, bietet Brandom u. a. die folgenden beiden Begründungen. Brandoms erstes Argument (HI 178 ff.)9 geht von der Annahme aus, es gebe eine bestimmte Weise, wie sich die Dinge in der Welt verhalten. Um diese Annahme zu vertreten, muss man erklären können, worin diese Bestimmtheit besteht. Die beste Antwort auf diese Frage ist für Brandom (und für Brandoms Hegel), dass es sich um die begriffliche Bestimmtheit von Tatsachen handelt, die durch Beziehungen materialer Inkompatibilität (Ausschluss, Implikation) zu an-
7 Brandom definiert den objektiven Idealismus „offiziell“ wie folgt: „The concepts of incompatibilityobj and incompatibilitysubj, and therefore the concepts of an objectively determinate world, on the one hand, and of error, and experience – which characterize the process of resolving incompatible commitments – on the other, are reciprocally sense dependent“ (HI 196). 8 Daneben präzisiert Brandom seinen Holismus auch dahingehend, dass die holistische Abhängigkeit für die Individuierung einzelner begrifflicher Gehalte (gleich ob subjektiver oder objektiver Art) notwendig ist, aber nicht hinreichend. Wäre sie hinreichend, gäbe es nur Relationen, aber keine Relata; diese Position lehnt Brandom als inkohärent ab (HI 183 ff.). 9 Vgl. die Zusammenfassung HI 201: „This, I think, is the ultimate shape of Hegel’s argument for objective idealism in the first part of the Phenomenology: determinateness requires a kind of holism, and that holism is intelligible only on the hypothesis of objective idealism“.
5.1 Freiheit und Metaphysik bei Brandom
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deren wirklichen und möglichen Tatsachen definiert ist. Daraus folgt der Begriffsrealismus. Das zweite Argument ist für uns besonders wichtig, weil es für Brandom eng mit dem Freiheitsbegriff zusammenhängt.10 Wie wir gesehen haben (3.1), interpretiert Brandom Freiheit bzw. Autonomie als Partizipation an balancierten reziproken Anerkennungsbeziehungen (sowohl synchroner als auch diachroner Art) innerhalb einer diskursiven Praxis, innerhalb derer begrifflicher Gehalt bestimmt wird. Im Rahmen einer derartigen Praxis müssen wir durch das Aufstellen von Behauptungen – nach Brandom die paradigmatische Form des Umgangs mit begrifflichen Normen (z. B. MIE 167 f.) – der Wirklichkeit, über die wir sprechen, in zweierlei Hinsicht normative Autorität über unsere Behauptungen zuweisen. Erstens machen wir das, worüber wir sprechen, zum Maßstab für die Korrektheit dessen, was wir behaupten (RiPh 34 f.). Und zweitens berufen wir uns auf Tatsachen als auf Gründe für unsere Behauptungen (Brandom (unveröffentlichtb), 9; vgl. Brandom (2000b), 163 ff.). Indem wir der Wirklichkeit diese beiden normativen Rollen in Bezug auf unsere Behauptungen zuschreiben, verpflichten wir uns zu der Annahme, dass die Wirklichkeit einen rationalen (und nicht nur kausalen) Einfluss auf unser Überzeugungssystem ausübt. Im Anschluss an McDowell spricht Brandom hier von einer „rationalen Einschränkung“ („rational constraint“) unseres Denkens durch die Wirklichkeit (Brandom (unveröffentlichtb), 9 ff.; vgl. McDowell (2006), 14 und passim). Eine derartige rationale Einschränkung kann etwas laut Brandom aber nur dann ausüben, wenn es selbst bestimmte ontologische Eigenschaften besitzt: [W]hat is represented must be intelligible as providing reasons for assessments of correctness and incorrectness of appearances or representings. […] Giving reasons for undertaking a commitment […] is endorsing a sample piece of reasoning, an inference, in which the premises provide good reasons for the commitment. It is to exhibit premises the endorsement of which entitles one to the conclusion. So the reasons, no less than what they are reasons for, must be conceptually articulated. (Brandom (unveröffentlichtb), 11)11
Um als Maßstab für die Korrektheit unserer Behauptungen sowie als Quelle für unsere Gründe dienen zu können, muss demnach die Wirklichkeit selbst begrifflich strukturiert sein, und genau dies behauptet der Begriffsrealismus. Auf der Grundlage des Begriffsrealismus kann ferner auch der objektive Idealismus gerechtfertigt werden. Dieser ist, was die Sinnabhängigkeit der subjektiven 10 Dieses Argument diskutiere ich ausführlicher in Knappik (im Ersch.a). 11 Brandom kommentiert in diesem Kontext die Einleitung von Hegels Phänomenologie des Geistes; er vertritt er die Positionen, die er dabei Hegel zuschreibt, auch selbst. Vgl. auch RiPh 98; HI; MIE 330 ff., 614 ff.
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5 Freiheit und Idealismus
von den objektiven Begriffen angeht (z. B. „‚Behauptung‘ ist sinnabhängig von ‚Tatsache‘“), für Brandom unkontrovers: Die relevanten subjektiven Begriffe strukturieren unsere diskursiven Praktiken, deren Punkt es gerade ist, über die gegenständliche Seite zu reden. Kontrovers ist hingegen die umgekehrte Richtung der Sinnabhängigkeit. Sie folgt nach Brandom aus dem Begriffsrealismus, wenn zusätzlich eine weitere These angenommen wird: nämlich die des „begrifflichen Pragmatismus“, dem zufolge das Verstehen begrifflichen Gehalts Sache einer praktischen Fähigkeit ist (HI 194). Um daher die relevanten Grundbegriffe der objektiven Seite (Tatsache, Implikation usw.) zu verstehen, muss man wissen, welche Konsequenzen sie für unsere Praktiken haben. Zu diesem Zweck muss man aber die korrelierten subjektiven Begriffe verstehen: Dass z. B. etwas eine Tatsache ist, hat zur Folge, dass es der Inhalt einer Behauptung sein kann, sofern diese wahr ist; dass zwei Tatsachen inkompossibel sind, hat zur Folge, dass wir nicht beide zugleich behaupten dürfen. (3) Brandoms „absoluter Idealismus“ wird schließlich vervollständigt durch die These des Begriffsidealismus. Diese These ist Brandoms Version von Hegelschen Äußerungen, nach der die Totalität alles Wirklichen eigentlich geistiger oder subjektiver Natur ist. Brandom deutet solche Aussagen nicht im Sinne einer Referenzabhängigkeit des Natürlichen vom Geistigen – für Brandom (und Brandoms Hegel) sind ohne weiteres mögliche Welten denkbar, in denen es keine Subjekte gibt, sondern nur natürliche Tatsachen: Der Gedanke, „that the world is always already there anyway, regardless of the activities, if any, of knowing and acting subjects“ (HI 208), steht für Brandom außer Frage. Stattdessen behauptet Brandom auch hier eine Sinnabhängigkeit, die allerdings asymmetrisch verläuft: Die Begriffe, die von Objektivem handeln, und die Begriffe, die von Subjektivem handeln, bilden eine Konstellation, die selbst nicht objektiv-faktischer Art ist, sondern subjektiv-normativer Art, weil sie durch dieselben synchronen und diachronen Anerkennungsprozesse etabliert wird, durch die selbstbewusste Subjekte konstituiert werden.12 So resultiert ein übergeordneter Prozess der „Erfahrung“, in
12 Vgl. Brandom (2002b), 52: „Conceptual idealism is a thesis about the conceptual itself – the whole structure of objective conceptual relations of material incompatibility and consequence and subjective conceptual processes of resolving incompatible commitments and drawing inferences. According to this thesis, the whole structured constellation of subject-defining processes and object-defining relations should itself be modeled on one of its aspects: the activities of the self-conscious self“. Brandom entwickelt seine Deutung des „Begriffsidealismus“ in SPT. Bei Hegel sieht er diese Position in der folgenden Aussage ausgedrückt: „Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, daß die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, als Einheit des ‚Ich denke‘ oder des Selbstbewußtseins erkannt wird“ (WdL 6/254, vgl. 3.2.2).
5.1 Freiheit und Metaphysik bei Brandom
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dem gleichzeitig objektive begriffliche Normen und subjektive Akteure (Individuen und Gemeinschaften) sukzessive bestimmt werden; Brandoms Deutung der Struktur dieses Prozesses haben wir in Abschnitt 3.1 betrachtet. Dabei haben wir auch schon gesehen, wie Brandom seine Deutung dieses Prozesses – und damit auch die These des Begriffsidealismus – rechtfertigt: nämlich als notwendige Voraussetzung dafür, dass wir über Begriffe mit bestimmtem Gehalt verfügen. Mit diesen drei Thesen – Begriffsrealismus, objektiver Idealismus und Begriffsidealismus – will Brandom den systematischen Gehalt von Hegels absolutem Idealismus erfassen. Bei all diesen Thesen handelt es sich um wichtige und fruchtbare Anstöße für eine systematische Erschließung Hegelscher Positionen. So haben wir bereits den von Brandom festgestellten Zusammenhang von Freiheit und Begriffsrealismus (vgl. 1.2) sowie Brandoms wichtige Einsicht in den Zusammenhang von modalem Realismus und Begriffsrealismus (vgl. 4.2) für unsere bisherige Untersuchung herangezogen. Im Folgenden werden wir auch auf Brandoms ontologischen Holismus sowie den dabei implizierten Externalismus zurückkommen, nach dem begrifflicher Gehalt – gleich ob subjektiver oder objektiver Art – nie allein durch seinen jeweiligen Ausdruck oder Träger (Tatsache, mentaler Zustand, sprachlicher Ausdruck usw.) festgelegt ist. Schließlich ist auch die exegetische Behauptung plausibel, dass Hegel tatsächlich Versionen dieser drei Thesen vertritt. Allerdings werden wir im nächsten Abschnitt sehen, dass Hegel darüber hinaus auch noch wesentlich stärkere Thesen vertritt, die nicht nur über Brandoms Deutung des absoluten Idealismus hinausgehen, sondern im Hinblick auf einzelne Aspekte – wie etwa die Leugnung einer Referenzabhängigkeit objektiver Tatsachen von subjektiven Prozessen – direkt mit ihr inkompatibel sind. Zunächst betrachte ich aber Brandoms „absoluten Idealismus“ und speziell seine Version des Begriffsrealismus. Ich argumentiere dafür, dass Brandoms Position (und seine Hegel-Rekonstruktion) mit einem Dilemma konfrontiert ist: Entweder wird der Begriffsrealismus in einer Weise verstanden, die Brandoms pragmatistischer Metaphysikkritik widerspricht; oder aber er kollabiert in eine Position, die der eigentlichen Motivation für den Begriffsrealismus direkt zuwiderläuft. Dieses Dilemma ergibt sich dann, wenn gefragt wird, ob die objektive Wirklichkeit unabhängig von subjektiver Tätigkeit bereits in einem substantiellen Sinn eine bestimmte begriffliche Struktur aufweist oder nicht. Dafür, dass eine bestimmte begriffliche Struktur in diesem substantiellen Sinn vorliegt, genügt es nicht, dass die Wirklichkeit durch inferentielle Beziehungen überhaupt artikuliert ist. Vielmehr sollte auch verlangt werden, dass manche der relevanten begrifflichen Beziehungen fundamentaler sind als andere. Beispielsweise sollte erwartet werden, dass, wenn die Wirklichkeit eine bestimmte begriffliche Struktur aufweist, in dieser Struktur inferentielle Zusammenhänge der Art a→b fundamentaler sind als inferentielle Zusammenhänge der Art ⊤→(a→b), die hiermit trivialer-
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weise logisch äquivalent sind (wobei „⊤“ für eine logische Tautologie steht); oder dass disjunktive Eigenschaften (z. B. „eine Katze sein oder ein Planet des Sonnensystems sein“) in dieser begrifflichen Struktur der Wirklichkeit weniger fundamental sind als nicht-disjunktive Eigenschaften („eine Katze sein“). Brandoms Begriffsrealismus kann nun erstens so verstanden werden, dass es eine bestimmte begriffliche Struktur in diesem anspruchsvolleren Sinn vor allen subjektiven Prozessen der Begriffsbestimmung gibt. Wenn aber die Wirklichkeit vor allen subjektiven Prozessen der Begriffsbestimmung eine begriffliche Struktur in diesem Sinn aufweist, dann spricht prinzipiell nichts gegen den Gedanken, dass es ein adäquates Vokabular geben kann, dessen Begriffe diese Struktur im Sinne des „carving at the joints“ wiedergeben – dessen Unterscheidungen die fundamentalen Unterscheidungen der Wirklichkeit erfassen, dessen Inferenzregeln den fundamentalen begrifflichen Zusammenhängen der Wirklichkeit entsprechen etc. Brandom lehnt aber, wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, im Rahmen seiner pragmatistischen Metaphysikkritik diesen Gedanken dezidiert ab. Die zweite Möglichkeit ist die, dass die Wirklichkeit an sich keine derartige bestimmte begriffliche Struktur im substantiellen Sinn aufweist. Dann kann die Wirklichkeit entweder gar nicht begrifflich strukturiert sein, was Brandom gleichfalls ablehnt. Oder es gibt zwar eine begriffliche Struktur der Wirklichkeit in einem schwächeren Sinn, z. B. im Sinne inferentieller Artikuliertheit, aber diese Struktur ist ein unendlich komplexes System inferentieller Beziehungen und Relata, die alle auf einer Stufe stehen. Unterschiedliche Vokabulare würden dann jeweils nur verschiedene Aspekte dieses unendlich komplexen Systems erfassen und gemäß den jeweils zugrunde liegenden pragmatischen Interessen eine privilegierte Einteilung in einzelne Gegenstände, Eigenschaften, Tatsachen usw. auf die Wirklichkeit projizieren, der gemäß manche begrifflichen Beziehungen fundamentaler erscheinen als andere. (Der Aspekt der Projektion besteht dabei wohlgemerkt nicht darin, dass diese Einteilung nicht adäquat ist, sondern darin, dass es ebenso unendlich viele andere Möglichkeiten der Einteilung gäbe.) In diesem Fall wäre Brandoms Begriffsrealismus zwar mit seiner Metaphysikkritik kompatibel, er würde sich aber als eine Variante der Position erweisen, die unter Putnams Bezeichnung als „interner Realismus“ bekannt ist.13 Nach dem internen Realismus ist es durch die Wirklichkeit nicht festgelegt, welcher von verschiedenen konkurrierenden, in sich konsistenten und empirisch adäquaten Begriffsrahmen sie am besten wiedergibt. Nur relativ zu einem Begriffsrahmen ist 13 Vgl. Putnam (1981), besonders Kap. 3, sowie Putnams weitere Entwicklung der Position u. a. in Putnam (1987) und (1999). Zur Diskussion vgl. u. a. die Beiträge im zweiten Teil von Conant/ Zeglen (2002). – Vgl. zur Nähe von Brandoms Position zu einer derartigen Theorie auch Rortys Erwiderung auf Brandom (2000b), in Brandom (2000a), 184.
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für die Fragen, die sich innerhalb seiner stellen lassen, die richtige Antwort durch die bestehende Wirklichkeit festgelegt.14 Von der Wirklichkeit selbst kann hingegen nicht sinnvoll gesagt werden, dass sie eine bestimmte Einteilung in Gegenstände, Eigenschaften, Tatsachen, inferentielle Beziehungen usw. aufweist. Eine derartige Position ist aber auf die Annahme einer unüberbrückbaren Dichotomie zwischen der eigentlichen Wirklichkeit und unserer begrifflichen Tätigkeit festgelegt: Sie geht davon aus, dass eine fundamentale Differenz zwischen der Wirklichkeit an sich, die sich unserem begrifflichen Zugang entzieht, und der Wirklichkeit, wie sie relativ zu einem bestimmten Begriffsrahmen konzeptualisiert wird, besteht. Dagegen wollte Brandom mit seinem Begriffsrealismus eigentlich gerade eine Alternative zur Annahme einer solchen Dichotomie entwickeln. Die begriffliche Struktur der Wirklichkeit, die Brandom nach dieser Lesart im Rahmen seines Begriffsrealismus annimmt, ist also zu schwach, um die gesuchte nicht-dualistische Beziehung zwischen Geist und Welt (vgl. 1.2) theoretisch auszuformulieren. Wie dieses Dilemma zeigt, stehen Brandoms Begriffsrealismus und seine Metaphysikkritik in einer erheblichen Spannung zueinander, und die semantisch-metaphysischen Voraussetzungen für rationale Freiheit in Brandoms Theorie erweisen sich als begrifflich instabil. Da wir ferner die pragmatistische Metaphysikkritik an sich für wenig überzeugend befunden hatten, besteht die plausibelste Lösung dieser Instabilität darin, die Möglichkeit privilegierter, die objektive begriffliche Struktur der Wirklichkeit nachvollziehender Begriffsrahmen und damit verbundener Theorien anzunehmen und entsprechend dem „absoluten Idealismus“ und insbesondere dem Begriffsrealismus eine stärker metaphysische und realistische Interpretation zu geben. – Wenn wir im Folgenden die metaphysischen Konsequenzen untersuchen, die aus Hegels Grundlegung von Freiheit in der WdL folgen, werden wir sehen, dass Hegels eigene Position einer solchen Strategie entgegenkommt, wenngleich sie so weit über die Thesen Brandoms hinausgeht, dass sie selbst mit großen Schwierigkeiten konfrontiert ist.
14 Für Brandom gilt dies freilich nur in dem Maße, in dem unsere Begriffe durch die nötigen Anerkennungsprozesse bestimmten Gehalt haben. Diese Differenz zu Putnam tut aber der hier relevanten Gemeinsamkeit keinen Abbruch.
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5 Freiheit und Idealismus
5.2 Hegels Idealismus 5.2.1 Epistemologischer Realismus und metaphysischer Idealismus Die Frage, welche metaphysischen Konsequenzen sich aus Hegels logischer Grundlegung der Freiheit ergeben, erfordert zunächst einige Differenzierungen hinsichtlich des Begriffs Idealismus15, der in höchst unterschiedlichen Kontexten und Bedeutungen gebraucht wird. – Von „Idealismus“ ist sowohl in der Epistemologie als auch in der Metaphysik die Rede. Die epistemologische Debatte zwischen Realisten und Idealisten (oder Antirealisten: beide Begriffe werden in diesem Kontext gewöhnlich mehr oder weniger synonym gebraucht) betrifft die Frage, ob wir die Wirklichkeit, wie sie an sich und unabhängig von unseren Repräsentationen ist, erkennen können oder nicht. Nach dem Realisten ist dies der Fall, nach dem Idealisten nicht. Nach der intuitiv plausiblen Position des Realisten besitzen wir Wissen, wenn wir einen Aspekt der Wirklichkeit, wie sie tatsächlich ist, in unserem Überzeugungssystem korrekt und auf gerechtfertigte Weise beschreiben; Wissen in diesem Sinn ist uns zugänglich. Der epistemologische Idealist leugnet diese Deutung von Wissen, weil er einerseits bestreitet, dass realistisch verstandenes Wissen möglich ist, andererseits aber kein Skeptiker ist, der die Möglichkeit von Wissen überhaupt leugnen würde. Stattdessen meint der epistemologische Idealist, Wissensansprüche so rekonstruieren zu können, dass sie nicht etwa potentiell erfolgreiche Repräsentationen einer von endlichen Geistern unabhängig existierenden Wirklichkeit darstellen, sondern ihr Erfolg oder Misserfolg ausschließlich von Faktoren innerhalb eines repräsentationalen Systems (Sprache, Begriffsrahmen, etc.) abhängen. Prominente Vertreter des epistemologischen Idealismus in modernen Debatten sind Michael Dummett und Hilary Putnam (dessen Begriff des „internen Realismus“ in dieser Hinsicht irreführend ist); beide interpretieren Wahrheit als idealisierte Behauptbarkeit (vgl. Dummett (1978), z. B. 17 f.; Dummett (1982); Putnam (1981), 55 f.; Dummett (2006)). Entsprechend unserer bisher entwickelten Interpretation ist Hegel innerhalb dieser Unterscheidung ein epistemologischer Realist (vgl. Westphal (1989); Halbig (2002)): Nur, wenn wir Sachen so begreifen können, wie sie wirklich sind, können wir rationale Persistenz im Denken erlangen; andernfalls ist unser Denken auf „äußerliche“ Standpunkte beschränkt und nimmt Positionen ein, die sich nicht seinem Objektivitätsbezug, sondern willkürlichen Entscheidungen und zu15 Einen hilfreichen Überblick über zahlreiche unterschiedliche Bedeutungen der RealismusIdealismus/Antirealismus-Unterscheidung bietet Alstons „Introduction“ in Alston (2002), 1–9. Speziell zur Verortung von Kant und Hegel gegenüber den verschiedenen vorkantischen Idealismen vgl. deVries (2009).
5.2 Hegels Idealismus
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fälligen Faktoren verdanken (vgl. 3.2.2, 4.4.4). Die Grundüberzeugung dieses Realismus und seiner Bedeutung für unsere Freiheit ist in Passagen wie der folgenden ausgedrückt: Durch das Nachdenken wird an der Art, wie der Inhalt zunächst in der Empfindung, Anschauung, Vorstellung ist, etwas verändert; es ist somit nur vermittels einer Veränderung, daß die wahre Natur des Gegenstandes zum Bewußtsein kommt. Indem im Nachdenken ebensosehr die wahrhafte Natur zum Vorschein kommt, als dies Denken meine Tätigkeit ist, so ist jene ebensosehr das Erzeugnis meines Geistes, und zwar als denkenden Subjekts, Meiner nach meiner einfachen Allgemeinheit, als des schlechthin bei sich seienden Ichs, – oder meiner Freiheit. (Enz. §§ 22–23, 8/78 ff.)
Die an sich seiende Wirklichkeit ist uns, so Hegel, nicht einfach gegeben16, sondern ihre unmittelbare Erscheinungsweise muss durch das Denken transformiert werden. Dies bedeutet aber nicht, wie der epistemologische Idealist meint, dass wir nie zur Wirklichkeit selbst kommen. Vielmehr ist es uns nur durch diese Transformation möglich zu begreifen, wie sich die Wirklichkeit tatsächlich verhält; nach Hegel erschließt uns das Denken die „wahre Natur des Gegenstandes“. Gerade weil uns diese wahre Natur aber nur durch unsere eigene transformatorische Tätigkeit zugänglich wird, ist ihre Erkenntnis eine Realisierung von Freiheit. (Die Theorie des Denkens, die dem zugrunde liegt, diskutiere ich in Kapitel 7.) Von der epistemologischen ist die metaphysische Realismus-Idealismus-Unterscheidung abzugrenzen, die ihrerseits in verschiedenen Ausprägungen auftritt. Diese Ausprägungen sind so unterschiedlich, dass de facto keine sinnvolle gemeinsame Grundbedeutung der Unterscheidung angegeben werden kann. Historisch gesehen ist die älteste Bedeutung der Unterscheidung die, dass raumzeitliche Gegenstände für den Realismus wirklich existieren, für den Idealismus dagegen nur Vorstellungen (ideas) sind, denen entweder gar nichts Vorstellungsunabhängiges entspricht oder von denen wir nicht wissen können, ob ihnen etwas Vorstellungsunabhängiges entspricht. So definiert etwa Kant den „materialen“ Idealismus (im Unterschied von seinem eigenen „formalen“ oder „transzendentalen“ Idealismus, hierzu gleich mehr) als Position, welche das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns entweder bloß für zweifelhaft und unerweislich, oder für falsch und unmöglich erklärt; der erstere ist der problematische des Cartesius […]; der zweite ist der dogmatische des Berkeley, der den Raum mit allen den Dingen, welchen er als unabtrennliche Bedingung anhängt, für etwas, was an sich selbst unmöglich
16 Pace Halbig (2002), der Hegel einen direkten Realismus zuschreibt (Halbig (2002), 360 ff.).
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sei und darum auch die Dinge im Raum für bloße Einbildungen erklärt. (KrV B 274; vgl. KrV B XXXIX n., B 55)17
An anderer Stelle hebt Kant hervor, dass der materiale oder „empirische“ Idealist im Gegenzug die Wirklichkeit eigener mentaler Zustände für unmittelbar gewiss hält: „Dagegen die [sc. absolute Realität] des Gegenstandes unserer innern Sinnen (meiner selbst und meines Zustandes) unmittelbar durchs Bewußtsein klar ist“ (KrV B 55). Orthogonal zur Unterscheidung zwischen materialem oder empirischem Idealismus und Realismus verläuft für Kant bekanntlich die Unterscheidung zwischen „formalem“ oder „transzendentalem“ Idealismus und Realismus: Während der empirische Realist und Idealist über die Wirklichkeit der Gegenstände in Raum und Zeit streiten, betrifft die Unterscheidung von transzendentalem Realismus und Idealismus die Frage, ob Raum und Zeit selbst wirklich sind (transzendentaler Realismus) oder „nichts als Vorstellungen“ (KrV B 520) bzw. Anschauungsformen (transzendentaler Idealismus) (KrV B 519 f.). Speziell Kants Bestimmung des „dogmatischen“ Idealismus in der zitierten Passage als These, dass keine raumzeitlichen Gegenstände existieren (und nicht nur zweifelhaft sind), legt eine weitere wichtige metaphysische Deutung von „Idealismus“ nahe, nämlich als die These, dass nur Mentales existiert. So kann Idealismus definiert werden als „thesis to the effect that everything is in some substantial sense mental or spiritual“, wie es Burnyeat formuliert hat (Burnyeat (1982), 3). Dieser Position ist dann der Realismus als die These entgegengesetzt, dass es nicht-mentale Gegenstände gibt. (Eine Spezies von so verstandenem Realismus ist der Materialismus, nach dem es nur nicht-mentale Gegenstände gibt.) Dieses Verständnis der Idealismus-Realismus-Unterscheidung ist besonders einflussreich geworden.18 Eine weitere verbreitete Auffassung besteht schließlich darin, dass für den Idealismus alles, was existiert, entweder selbst mental oder aber abhängig von Mentalem bzw. Geistigem (Sprache, Überzeugungen usw.) ist19; der Realismus ist
17 Streng genommen bildet dabei in Kants Unterscheidung der problematische Idealismus eine Form von epistemologischem Idealismus. 18 Sie entspricht der ontologischen Aussageform „Alles, was es gibt, ist eigentlich _____“ bzw. ihrer Negation „Nicht alles, was es gibt, ist eigentlich ____“. Diese Thesen können direkt in den formalen Modus übersetzt werden und bedeuten dann die Bejahung bzw. Verneinung einer Reduktionsthese („Alle Sprachen können in die Sprache eigenpsychischer Zustände übersetzt werden“ bzw. „Nicht alle Sprachen können in die Sprache eigenpsychischer Zustände übersetzt werden“); diese Formulierung der Unterscheidung war im logischen Positivismus besonders wichtig. 19 Vgl. die entsprechende Definition des Realismus in Miller (2010): „a, b, and c and so on exist, and the fact that they exist and have properties such as F-ness, G-ness, and H-ness is (apart from
5.2 Hegels Idealismus
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entsprechend die Negation dieser These. Diese Deutung teilt zwar den universalen Skopus der zuletzt genannten Deutung des metaphysischen Idealismus („Alles ist mental“), doch legt sie sich nicht auf eine generelle Reduktionsbeziehung fest, nach der jeder Gegenstand, den wir in nicht-mentalen Begriffen beschreiben, auch in mentalen Begriffen angemessen beschrieben werden kann: Sie lässt vielmehr Raum dafür, dass nicht-mentale Gegenstände eine zwar abhängige, aber potentiell irreduzible Existenz besitzen. Ich vertrete nun die Auffassung, dass unter diesen drei Deutungen der metaphysischen Idealismus-Realismus-Unterscheidung Hegels metaphysischer Idealismus der dritten Variante zuzurechnen ist. Um dies nachzuweisen, müssen wir etwas ausholen. Die expliziteste Charakterisierung, die Hegel von seinem Idealismus gibt, ist in einer längeren Passage aus der WdL enthalten, die ich wegen ihres zentralen Stellenwertes ganz zitiere: Der Satz, daß das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus. Der Idealismus der Philosophie besteht in nichts anderem als darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen. Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist. Die Philosophie ist es sosehr als die Religion; denn die Religion anerkennt die Endlichkeit ebenso wenig als ein wahrhaftes Sein, als ein Letztes, Absolutes, oder als ein NichtGesetztes, Unerschaffenes, Ewiges. Der Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie ist daher ohne Bedeutung. Eine Philosophie, welche dem endlichen Dasein als solchem wahrhaftes, letztes, absolutes Sein zuschriebe, verdiente den Namen Philosophie nicht; Prinzipien älterer oder neuerer Philosophien, das Wasser oder die Materie oder die Atome, sind Gedanken, Allgemeine, Ideelle, nicht Dinge, wie sie sich unmittelbar vorfinden, d. i. in sinnlicher Einzelheit, selbst jenes Thaletische Wasser nicht; denn obgleich auch das empirische Wasser, ist es außerdem zugleich das Ansich oder Wesen aller anderen Dinge, und diese sind nicht selbständige, in sich gegründete, sondern aus einem Anderen, dem Wasser, gesetzte, d. i. ideelle. (WdL 5/172)
Diese komplexe Passage bereitet viele Schwierigkeiten.20 Zunächst fallen besonders zwei Punkte auf. Erstens behauptet Hegel, jede Philosophie sei idealistisch, weshalb die Unterscheidung von Idealismus und Realismus eigentlich nichtig sei. Dies kann Hegel nur annehmen, wenn er den Begriff des Idealismus extrem weit fasst, ihm dadurch aber auch seine spezifische Bedeutung nimmt. Soll daher Hegels Begriff des Idealismus systematisch fruchtbar gemacht werden, empfiehlt es sich, Hegels Unterscheidung zwischen dem idealistischen „Prinzip“, das ihm
mundane empirical dependencies of the sort sometimes encountered in everyday life) independent of anyone’s beliefs, linguistic practices, conceptual schemes, and so on“. 20 Vgl. zu dieser Passage auch Ameriks (1991); Stern (2008), 150 ff.
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zufolge alle Philosophien gemeinsam haben, und dessen Ausführung hervorzuheben. Das Gegenstück zu eigentlich idealistischen philosophischen Theorien – realistische Theorien – sind demnach Philosophien, die zwar qua Philosophie ein idealistisches Prinzip haben, dieses aber nicht konsequent „durchführen“.21 Im Folgenden werden wir verstehen müssen, wie philosophische Theoriebildung als solche ein idealistisches Prinzip mit sich bringen kann und was es bedeutet, dieses Prinzip konsequent „durchzuführen“. Die zweite Auffälligkeit ist, dass Hegel in seiner Erläuterung des Begriffs „Idealismus“ nicht von Mentalem, Geistigem o. ä. redet. Tatsächlich kritisiert er im weiteren Verlauf der Stelle die Meinung, der Idealismus würde das Sein von Gegenständen auf das Sein von Vorstellungen zurückführen.22 Stattdessen ist derjenige privilegierte Bereich, von dem alles andere abhängig ist, der des Unendlichen – dessen, was als „ein Letztes, Absolutes, oder als ein Nicht-Gesetztes, Unerschaffenes, Ewiges“ existiert. Der komplementäre Bereich ist entsprechend nicht der des Materiellen oder Körperlichen, sondern der allgemeinere Bereich des Endlichen, also all dessen, was von etwas anderem abhängt. Als wichtigen Teilbereich des Endlichen nennt Hegel dabei die „Dinge, wie sie sich unmittelbar vorfinden, d. i. in sinnlicher Einzelheit“. Sowohl die These, dass endliche Gegenstände nicht ontologisch selbständig sind, als auch die These, dass die Wirklichkeit, wie wir sie in der Erfahrung unmittelbar vorfinden, durch allgemeinere Prinzipien erklärt werden muss, sind auffällig unkontrovers (vgl. Ameriks (1991), 387 f.). Wir können aber sehen, wie Hegels Idealismus mehr als ein Gemeinplatz ist, wenn wir die zitierte Passage im
21 Entsprechend heißt es in der enzyklopädischen Fassung: „Diese Idealität des Endlichen ist der Hauptsatz der Philosophie, und jede wahrhafte Philosophie ist deswegen Idealismus“ (Enz. § 95 A, 8/203). 22 WdL 5/172 f.: „Bei dem Ideellen wird vornehmlich die Form der Vorstellung gemeint und das, was in meiner Vorstellung überhaupt oder im Begriffe, in der Idee, in der Einbildung usf. ist, ideell genannt, so daß Ideelles überhaupt auch für Einbildungen gilt, – Vorstellungen, die nicht nur vom Reellen unterschieden, sondern wesentlich nicht reell sein sollen. […] Dieser subjektive Idealismus, er sei als der bewußtlose Idealismus des Bewußtseins überhaupt oder bewußt als Prinzip ausgesprochen und aufgestellt, geht nur auf die Form der Vorstellung, nach der ein Inhalt der meinige ist; diese Form wird im systematischen Idealismus der Subjektivität als die einzig wahrhafte, die ausschließende gegen die Form der Objektivität oder Realität, des äußerlichen Daseins jenes Inhalts behauptet. Solcher Idealismus ist formell, indem er den Inhalt des Vorstellens oder Denkens nicht beachtet, welcher im Vorstellen oder Denken dabei ganz in seiner Endlichkeit bleiben kann. Es ist mit solchem Idealismus nichts verloren, ebensowohl weil die Realität solchen endlichen Inhalts, das mit Endlichkeit erfüllte Dasein erhalten ist, als, insofern davon abstrahiert wird, an sich an solchem Inhalt nichts gelegen sein soll; und es ist nichts mit ihm gewonnen, eben weil nichts verloren ist, weil Ich, die Vorstellung, der Geist mit demselben Inhalt der Endlichkeit erfüllt bleibt“.
5.2 Hegels Idealismus
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Zusammenhang unserer Untersuchung der Hegelschen Urteilslogik in Kapitel 4 sehen. Einen Anknüpfungspunkt bietet hier Hegels Aussage: Eine Philosophie, welche dem endlichen Dasein als solchem wahrhaftes, letztes, absolutes Sein zuschriebe, verdiente den Namen Philosophie nicht; Prinzipien älterer oder neuerer Philosophien, das Wasser oder die Materie oder die Atome, sind Gedanken, Allgemeine, Ideelle, nicht Dinge, wie sie sich unmittelbar vorfinden […]. (WdL 5/172)
Philosophie sucht also nach Erklärungsprinzipien für das, was unmittelbar beobachtbar ist. Die Frage, wie Erklärungsprinzipien überhaupt aussehen können, war aber eine zentrale Thematik innerhalb der Urteilslogik. Hegel kommt dort, wie wir gesehen haben, zu dem Ergebnis, dass nur die logische Struktur des Begriffs, verstanden als teleologische Struktur der Realisierung eines begrifflichen Inhalts, Erklärungen zu liefern vermag, die das genuine Begreifen einer Sache ermöglichen. Ähnlich schreibt Hegel in einer wichtigen Passage in der Einleitung zur Begriffslogik: Das Begreifen eines Gegenstandes besteht in der Tat in nichts anderem, als daß Ich denselben sich zu eigen macht, ihn durchdringt und ihn in seine eigene Form, d. i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit, oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt. Der Gegenstand in der Anschauung oder auch in der Vorstellung ist noch ein Äußerliches, Fremdes. Durch das Begreifen wird das Anundfürsichsein, das er im Anschauen und Vorstellen hat, in ein Gesetztsein verwandelt; Ich durchdringt ihn denkend. Wie er aber im Denken ist, so ist er erst an und für sich; wie er in der Anschauung oder Vorstellung ist, ist er Erscheinung; das Denken hebt seine Unmittelbarkeit, mit der er zunächst vor uns kommt, auf und macht so ein Gesetztsein aus ihm; dies sein Gesetztsein aber ist sein Anundfürsichsein oder seine Objektivität. Diese Objektivität hat der Gegenstand somit im Begriffe […]. (WdL 6/255)
Um eine Sache zu begreifen, müssen wir sie auf den Begriff bringen; dadurch erkennen wir sie, wie sie objektiv ist, während ihre unmittelbaren Aspekte, z. B. in der Wahrnehmung, nur Formen ihrer Erscheinung sind. Erst durch das Begreifen aber hört die Sache auf, etwas „Äußerliches, Fremdes“ zu sein; wenn wir die Sache begreifen, identifizieren wir ihre begriffliche Struktur, also diejenige logische Form, die sie mit unserem Denken teilt und die überhaupt erst ihr Begreifen ermöglicht. In diesem Sinne ist im Begreifen eines Gegenstandes das Denken „bei sich“ und epistemisch frei, wie wir noch genauer in Kapitel 7 sehen werden. Diese Thematik aus der Urteils- und der ganzen Begriffslogik ist nun deshalb direkt relevant für Hegels Bestimmung des Idealismus, weil die Struktur des Begriffs explanatorisch mehr oder weniger autonome Strukturen schafft (vgl. 4.6). Wenn wir verschiedene reale Aspekte als Ausprägungen des Begriffs einer Sache erkennen, integrieren wir sie als abhängige Momente in eine Konstellation, die als ganze zumindest weniger von anderem abhängig ist als ihre einzelnen Ele-
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mente. Insofern ist hier im Einzelfall derjenige kognitive Übergang vom Endlichen, Abhängigen hin zum Unendlichen, explanatorisch Autarken vollzogen, der nach Hegel den Idealismus kennzeichnet. Nun ist für Hegel alles Denken und insbesondere das philosophische Denken durch die logische Struktur des Begriffs geprägt (vgl. Kapitel 7), was nicht zuletzt bedeutet, dass es seine Inhalte notwendigerweise in eine Gestalt bringt, in der die explanatorische Struktur des Begriffs so weit wie möglich zum Tragen kommt. Deshalb kann Hegel sagen, dass jede Philosophie zumindest dem „Prinzip“ nach idealistisch ist: Philosophisches Denken bedeutet gerade, unmittelbar vorgefundenes Endliches durch weniger bedingte explanatorische Prinzipien zu erklären, also das Sein des Endlichen zu relativieren und von allgemeineren Prinzipien abhängig zu machen. Die Frage ist nun, was es bedeutet, diese idealistische Perspektive, die jeder Philosophie als solcher zukommt, konsequent auszuformulieren und damit einen metaphysischen Idealismus im engeren Sinne zu entwickeln. Hierbei lassen sich in Hegels Theorie insgesamt drei Ebenen unterscheiden, die ich im Folgenden genauer untersuche: ein „Begriffsrealismus“ (5.2.2), ein „schwacher ontologischer Holismus“ (5.2.3) und ein „starker ontologischer Holismus“ (5.2.4).
5.2.2 Hegels Begriffsrealismus Die erste Hinsicht, in der für Hegel eine idealistische Position im engeren, nichttrivialen Sinne das „idealistische Prinzip“ aller Philosophie – das Prinzip der Erklärungsbedürftigkeit aller endlichen Gegenstände – konsequent umsetzen muss, betrifft eine begriffsrealistische Position. Wir haben bereits im vorigen Kapitel gesehen, dass für Hegel eine Erklärung nur dann wirklich greift und der Sache immanent ist, wenn sie sich auf ein Prinzip bezieht, das tatsächlich in der Sache wirksam ist. Hieraus folgt in ontologischer Hinsicht ein Begriffsrealismus, wobei damit eine wesentlich stärkere Theorie gemeint ist als Brandoms Begriffsrealismus (vgl. 5.1.2). „Begriffsrealismus“ steht hier für die Position, dass es real existierende Begriffe gibt, deren Realität in ihrer Wirksamkeit im Bestimmen der unterschiedlichen Aspekte und Verhaltensweisen einer Sache besteht.23 Ähnlich wie Aristoteles versteht Hegel derartige reale Begriffe so, dass sie nicht jenseits des Bereichs einzelner Gegenstände existieren, sondern ihre Realität in diesen Gegenständen haben. So schreibt Hegel:
23 Für ähnliche Deutungen vgl. deVries (1988), Kap. 1; Westphal (1989), 141 f.; deVries (1991); Horstmann (1990); Emundts/Horstmann (2002); Kreines (2008), 50 f.; Stern (2008).
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Wenn es aber an dem ist, was vorhin angegeben worden und was sonst im allgemeinen zugestanden wird, daß die Natur, das eigentümliche Wesen, das wahrhaft Bleibende und Substantielle bei der Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit des Erscheinens und der vorübergehenden Äußerung der Begriff der Sache, das in ihr selbst Allgemeine ist, wie jedes menschliche Individuum, [ob]zwar ein unendlich eigentümliches, das Prius aller seiner Eigentümlichkeit darin, Mensch zu sein, in sich hat, wie jedes einzelne Tier das Prius, Tier zu sein, so wäre nicht zu sagen, was, wenn diese Grundlage aus dem mit noch so vielfachen sonstigen Prädikaten Ausgerüsteten weggenommen würde, ob sie gleich wie die anderen ein Prädikat genannt werden kann, – was so ein Individuum noch sein sollte. (WdL 5/26)
Als Universalien, die immanent in Individuen existieren und deren sonstigen Eigenschaften zugrunde liegen, können so verstandene Begriffe – Hegel spricht auch von „objektiven“ Begriffen (WdL 5/25) – mit den „Gattungen“ bzw. natürlichen Arten identifiziert werden, von denen wir im vorigen Kapitel gesehen haben, dass sie die fundamentale Art von Entitäten in Hegels modalem Realismus ausmachen (vgl. 4.4.3, 4.5, 4.6.3). Wie wir ebenfalls gesehen haben, sind diese Gattungen oder Arten in den paradigmatischen Fällen teleologisch organisiert (4.6.3). Von den objektiven bestimmten Begriffen ist ferner noch der Begriff als höherstufige Universalie zu unterscheiden, die die logische Struktur der Realisierung von bestimmten Begriffen in Einzelgegenständen bildet (vgl. 5/29 f.). Um diese Theorie genauer zu verstehen, müssen wir zunächst auf ein Resultat des vorigen Kapitels zurückkommen: Die Realisierung eines Begriffs besteht in einem Prozess, in dem eine Einheit von begrifflichem Gehalt in einem Vorgang der Ausdifferenzierung und Bestimmung erhalten bleibt (vgl. 4.6). Diese Ausdifferenzierung ist zum einen nötig, weil abstrakter begrifflicher Gehalt bereits auf begrifflicher bzw. logischer Ebene bestimmt werden muss, um realisiert zu werden; so hatten wir gesehen, dass Hegel schon die rein logische Entfaltung der Kategorien als „Realisierung“ bezeichnet (4.6.4). Darüber hinaus erfordert aber wirkliche Realität (im Gegensatz zur bloß logischen Fortbestimmung und „Realisierung“ eines Begriffs) für Hegel, dass eine Sache innerhalb mannigfaltiger Zusammenhänge und Interaktionen mit anderen Gegenständen umfassend bestimmt ist. So schreibt Hegel: „Durch die Existenz tritt das Ding-an-sich in äußerliche Beziehungen; und die Existenz besteht in dieser Äußerlichkeit […]“ (WdL 6/ 134). Ähnlich heißt es im Zusammenhang mit dem Urteil der Reflexion, das – wie wir gesehen haben – durch dispositionale Ausdrücke das Subjekt des Urteils in jener „Äußerlichkeit“ verortet: „In der Existenz ist das Subjekt nicht mehr unmittelbar qualitativ, sondern im Verhältnis und Zusammenhang mit einem Anderen, mit einer äußeren Welt“ (Enz. § 174, 8/326). Hegel vertritt hier eine pointierte These über Existenz: Existenz erfordert, dass ein Gegenstand in ein Geflecht äußerer Beziehungen involviert ist, also Beziehungen, die selbst nicht durch das Wesen des Gegenstandes notwendig sind. Existenz
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ist also nur innerhalb von einer Sphäre der Äußerlichkeit und Zufälligkeit möglich. Innerhalb der WdL entwickelt Hegel mit der logischen Theorie der „Objektivität“ (insbesondere Mechanismus und Chemismus) eine logische Kennzeichnung dieser Sphäre, die in paradigmatischer Weise von der anorganischen Natur realisiert wird. Weshalb erfordert aber Existenz jene äußere Bestimmtheit? Hegels Position kann hier durch folgende Überlegung gerechtfertigt werden. Nach einer These, die etwa Meinong und Ingarden vertreten haben, sind nicht-existente (z. B. fiktive) Gegenstände u. a. dadurch von real existierenden Gegenständen unterschieden, dass sie im Hinblick auf manche Prädikate nicht bestimmt sind; es ist z. B. nicht bestimmt, welche Blutgruppe Sherlock Holmes hat.24 Nun kann zwar bezweifelt werden, dass reale Gegenstände wirklich im Hinblick auf alle möglichen Prädikate durchgängig bestimmt sind – gerade wenn, wie bei Brandom, die Verfügbarkeit bestimmten begrifflichen Gehalts zum Problem gemacht wird. Möglicherweise sind einzelne Gegenstände im Hinblick auf manche Prädikate noch nicht bestimmt, weil die Prädikate in dieser Hinsicht noch keine klare Bedeutung haben. Das vorgeschlagene Kriterium für fiktive Gegenstände kann diesem Punkt Rechnung tragen, wenn es auf einen Bereich relevanter Prädikate eingeschränkt wird; die Blutgruppe ist z. B. in Bezug auf Menschen ein solches relevantes Prädikat. Wie kann aber dieser Bereich relevanter Prädikate abgegrenzt werden? Er kann nicht nur in Prädikaten bestehen, in Bezug auf die die Bestimmung des Gegenstandes analytisch aus seinem Begriff folgt: Dann wäre nämlich die Bestimmung trivial und würde kein Kennzeichen für Existenz bieten. Also muss der Bereich jener Prädikate, wie immer er genau definiert wird, auch einen Teilbereich von Prädikaten umfassen, die der Sache äußerlich sind; in Bezug auf sie ist im Prozess der Realisierung des Gegenstandes eine Entscheidung nötig, sei es durch den Zufall oder durch Willkür. Existenz erfordert demnach wesentlich, dass etwas innerhalb eines Kontextes realisiert wird, der der Sache eigentlich fremd ist; nur so kann, wenn durchgängige Bestimmtheit als Kriterium für Existenz gelten soll, Existenz von Nichtexistenz unterschieden werden. Alles, was wirklich ist, hat daher eine Außenseite innerhalb eines Bereichs der Äußerlichkeit und „Gleichgültigkeit“ (vgl. 4.6). Hegel identifiziert diesen Bereich mit der anorganischen Natur, weil deren Grundbestimmung gerade in jener Äußerlichkeit besteht (z. B. Enz. § 247, 9/24). Alle Realität von Begriffen umfasst so für Hegel auch eine anorganisch-natürliche Beschaffenheit: Individu-
24 Vgl. Künne (1983), 318 mit Belegen. Die Theorie basiert ihrerseits auf dem Prinzip der durchgängigen Bestimmtheit alles Wirklichen im klassischen Rationalismus.
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elle subjektive Geister existieren nur, wenn sie einen Leib haben, der selbst anorganisch realisiert ist25; der gesellschaftliche, objektive Geist muss auch im Kontext der „äußeren Naturdinge“ realisiert sein, die Teil des „äußerliche[n] Material[s] für das Dasein des Willens“ (Enz. § 483, 10/303) sind; und sogar der göttliche, absolute Geist hat in der anorganischen Natur als solcher eine Außenseite.26 Die Realisierung eines objektiven Begriffs besteht also genauer darin, dass ein Ausschnitt der anorganischen Natur in eine Konstellation gebracht wird, die ihn zur „Außenseite“ des zu realisierenden begrifflichen Inhalts macht. (Diese Theorie ist freilich weit davon entfernt, eine Form von Materialismus zu sein. Vielmehr werden wir sehen, dass umgekehrt für Hegel die materielle Außenseite ontologisch abhängig vom Geist ist.) Infolge dessen enthält Hegels Begriffsrealismus auch eine ontologische Theorie des Unterschieds zwischen der wirklichen Seinsweise einer Sache und ihrer Erscheinung. Wenn nichts Realität haben kann, ohne eine zufällige und gleichgültige „Außenseite“ zu besitzen, hat es damit auch eine Dimension an sich, die als Erscheinungsweise fungieren kann, wenn nämlich vom Gegenstand als ganzem nur diese Dimension in den Blick eines epistemischen Subjekts gerät. Denn es ist die „Außenseite“ als ein Ausschnitt der anorganischen (mechanischen und chemischen) Natur, die uns in der Wahrnehmung und Beobachtung stets als erstes zugänglich ist. Erkennen können wir die fragliche Sache nur, indem wir derartige äußerliche Aspekte und Erscheinungsweisen nach und nach miteinander ver-
25 Entsprechend deutet Hegel Unsterblichkeit so, dass wir im Denken an der Ewigkeit des absoluten Geistes partizipieren können, nicht als Fortdauer der Seele nach dem körperlichen Tod: vgl. Kap. 9, Fußnote 34. 26 Es gibt also für Hegel trotz seines Begriffsrealismus keine „abstrakten Entitäten“ in der gängigen Bedeutung, die gerade das Fehlen einer solchen äußerlichen Existenz erfordern würde. Entsprechend schreibt Hegel mathematischen Wesenheiten, die ein klassisches Beispiel für abstrakte Entitäten ohne „Außenseite“ darstellen, keine eigene Existenz zu. Vielmehr versteht er die Mathematik als Verstandeswissenschaft, die durch Reflexion auf der Grundlage elementarer Bestimmungen der anorganischen Natur (räumliche Figuren; abstrakter, isolierter Zeit-Punkt) und unter Verwendung seins- und wesenslogischer Kategorien ihre eigenen Kalküle erzeugt. Den größeren Wahrheitsgehalt hat dabei noch die Geometrie als „Wissenschaft des Raums“. Die Arithmetik hingegen stuft Hegel ganz zur Verstandes-Kombinatorik herab: vgl. Enz. § 259 A, 9/53. Seine eigene Verwendung mathematischer Modelle in der Herausbildung philosophischer Begrifflichkeit erklärt Hegel dagegen wie folgt: „Andere mathematische Bestimmungen, wie das Unendliche, Verhältnisse desselben, das Unendlichkleine, Faktoren, Potenzen usf., haben ihre wahrhaften Begriffe in der Philosophie selbst; es ist ungeschickt, sie für diese aus der Mathematik hernehmen und entlehnen zu wollen, wo sie begrifflos, ja so oft sinnlos aufgenommen werden und ihre Berichtigung und Bedeutung vielmehr von der Philosophie zu erwarten haben“ (Enz. § 259 A, 9/54). – Zur Problematik der Mathematik in Hegels System vgl. Hösle (1987), Bd. 2, 291 ff.
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binden und den inneren, begrifflichen Zusammenhang erkennen, der ihre Wirklichkeit ausmacht. Hierin liegt freilich für Hegel nicht nur ein Unterschied epistemischer Perspektiven, sondern auch ein Unterschied zwischen zwei Dimensionen der Sache selbst. Eine weitere ontologische Differenzierung innerhalb von Hegels Begriffsrealismus ergibt sich unmittelbar aus der urteilslogischen Unterscheidung verschiedener Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit. Wie wir gesehen haben, ist Hegels Urteilstheorie im Sinne eines modalen Realismus zu verstehen (vgl. 4.5): Die verschiedenen Modalitäten, die in ihr unterschieden werden, haben objektive Realität. Der Begriffsrealismus stellt die metaphysische Theorie dieser objektiven Realität modaler Bestimmungen dar. Entsprechend steht die Differenzierung verschiedener Formen von Allgemeinheit und Notwendigkeit in der Urteilslogik für eine metaphysische Gliederung innerhalb des Begriffsrealismus. Das Paradigma realer Begriffe liegt dabei in der vernünftigen Aktivität geistiger Wesen – also in einem Kontext, in dem es nicht kontrovers ist, von der Realisierung von begrifflichen Gehalten (z. B. Absichten) zu reden. Die logisch gesehen selbe Art von deontischer Modalität tritt aber nach Hegel auch in der Natur auf, und zwar in der Lebenstätigkeit von Organismen, in der – wie im vernünftigen Handeln – ein logischer Unterschied zwischen dem immanent wirksamen Begriff als intrinsischem Bewertungsmaßstab und der konkreten Realisierung dieses Begriffs besteht. (Freilich ist diese Wirksamkeit von Begriffen unbewusst und unfrei und deshalb kategorisch von der geistigen Dimension unterschieden.) In der anorganischen Natur schließlich besteht kein derartiger Unterschied; anorganische natürliche Arten sind in Bezug auf einen einzelnen Gegenstand immer entweder vollständig oder überhaupt nicht instantiiert (ein metallischer Gegenstand ist entweder Gold oder nicht, usw.). Da hier die Realisierung des objektiven Begriffs keine teleologische Tätigkeit bildet, in der verschiedene Aspekte der Sache als Mittel zu einem Zweck erklärt werden können, ist im anorganischen Bereich auch die explanatorische Kraft möglicher Erklärungen für Hegel deutlich eingeschränkt.27 Zwar treten auch hier natürliche Arten auf (vgl. 4.5), doch ist die Einheitsstruktur des Begriffs, wie sie in teleolo-
27 So bemerkt Hegel zur deterministisch-mechanischen Erklärung eines Gegenstands, dessen kausale Verbindung zu einem anderen Gegenstand angegeben wird: „Darum ist das Erklären der Bestimmung eines Objekts und das zu diesem Behufe gemachte Fortgehen dieser Vorstellung nur ein leeres Wort, weil in dem anderen Objekt, zu dem sie fortgeht, keine Selbstbestimmung liegt. […] Indem nun die Bestimmtheit eines Objekts in einem anderen liegt, so ist keine bestimmte Verschiedenheit zwischen ihnen vorhanden; die Bestimmtheit ist nur doppelt, einmal an dem einen, dann an dem anderen Objekt, ein schlechthin nur Identisches, und die Erklärung oder das Begreifen insofern tautologisch“ (WdL 6/413).
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gischen Zusammenhängen zum Tragen kommt, in diesem Bereich nur in defizitärer Weise realisiert. Hegels so umrissener Begriffsrealismus ist offensichtlich wesentlich stärker als derjenige Brandoms. Brandom bestimmt die begriffliche Struktur der Wirklichkeit nur dahingehend, dass sie durch Inkompatibilitäts- und Implikationsbeziehungen inferentiell artikuliert sein muss. In welcher metaphysischen Art von Entitäten eine solche Artikulation fundiert ist, bleibt bei ihm offen. Dagegen legt sich Hegel auf eine bestimmte Art von Entitäten fest, die eine begriffliche Strukturierung der Wirklichkeit leisten, nämlich bestimmte objektive Begriffe als Ausprägungen der Struktur des Begriffs als solchen.28 Hegels Begründung für diese stärkere Position ähnelt aber durchaus einer der Argumentationen, die Brandom für seinen Begriffsrealismus angibt. Nach Brandom ist die Wahrheit des Begriffsrealismus eine Voraussetzung für die Möglichkeit einer rationalen Einschränkung unseres Denkens durch die Wirklichkeit, und somit von epistemischer Freiheit. Für Hegel hingegen macht gerade die Möglichkeit epistemischer Freiheit im begreifenden Erkennen von Sachen die stärkere Version des Begriffsrealismus nötig: Ohne immanent wirksame Prinzipien ist keine transparente Erklärung möglich, die einer Sache wirklich gerecht wird. Dieses durchaus stichhaltige Argument greift für Brandom deshalb nicht, weil er, wie wir gesehen hatten, die Möglichkeit eines privilegierten Begriffsrahmens und eines „carving at the joints“ ablehnt. Wir können deshalb für Brandom mittels unterschiedlicher Vokabulare unerschöpflich viele Aspekte unserer Erkenntnisgegenstände erfassen, aber niemals das eine „alle Einzelheiten zusammenhaltende geistige Band“ (Enz. § 449 Z, 10/255; vgl. VL 10/189; Enz. § 38 Z, 8/110), das nach Hegel die Sache ausmacht und in einem privilegierten Begriffssystem nachvollzogen werden kann. Wir haben aber auch gesehen, dass Brandoms Argumente für diesen Teil seiner Position schwach sind und gerade die Motivation, rationale Freiheit im Erkennen von Objektivität zu gewährleisten, eher für die Hegelsche Annahme der Möglichkeit eines privilegierten Vokabulars und einer immanenten Erkenntnis der Sache spricht. Wir haben somit eine erste Antwort auf die Frage gefunden, wie Hegel das allgemeine, jeder Philosophie als solcher zukommende idealistische „Prinzip“, nämlich die Notwendigkeit einer Erklärung für unmittelbar beobachtbares einzelnes Seiendes durch allgemeinere Explanantia, so ausformuliert, dass eine bestimmte ontologische Position resultiert. Diese Position bietet zugleich eine metaphysische Rechtfertigung für Hegels epistemologischen Realismus: Wir können die Wirklichkeit an sich durch das Denken (und seine Transformation empirischer
28 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch meine Diskussion von Brandoms und Hegels Begriffsrealismus in Knappik (im Ersch.a).
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Gehalte) erkennen, weil diese Wirklichkeit durch „objektive“, teleologisch-kausal wirksame Begriffe konstituiert ist. – Der so bestimmte Idealismus enthält wohlgemerkt noch keine Aussage über eine ontologische Abhängigkeit des NichtMentalen vom Mentalen oder des Nicht-Geistigen vom Geistigen; diese These wird erst in der weiteren Entwicklung des idealistischen „Prinzips“ auftreten. Für sich genommen impliziert Hegels Begriffsrealismus nur die viel schwächere These einer Sinnabhängigkeit objektiver Begriffe vom Geistigen (im Sinne von Brandoms „objektivem Idealismus“). Zum Begriffsrealismus müssen nun noch weitere Theorieelemente hinzukommen, damit eine idealistische Theorie resultiert, die Hegels Forderung nach der konsequenten „Durchführung“ des allen philosophischen Theorien gemeinsamen idealistischen „Prinzips“ Genüge leistet. Bislang haben wir nämlich nur Erklärungen für einzelne Gegenstände und Sachverhalte betrachtet, die durch den Begriffsrealismus ermöglicht werden. Diese Erklärungen können aber stets nur vorläufigen Charakter haben, weil durch sie nie vollständige explanatorische Autonomie erreicht wird: Alle Erklärungen für einzelne Sachen müssen früher oder später auf Faktoren rekurrieren, die nicht auf dem immanenten Begriff der Sache beruhen. Während in der anorganischen Natur dieser Punkt sehr schnell erreicht ist, besteht, wie wir sahen, in der organischen Natur und noch mehr im Geist ein höheres Maß an explanatorischer Autonomie und damit auch substantialer Selbständigkeit. Dennoch gilt auch hier, dass diejenige vollständige Transparenz und explanatorische Selbstgenügsamkeit, die Hegel in der Begriffslogik in Gestalt der logischen Struktur des Begriffs expliziert hat, von einzelnen Sachen (Organismen, geistigen Wesen, Handlungen usw.) prinzipiell nur unvollkommen ausgeprägt sein kann. Deshalb ist durch den Rekurs auf einzelne objektive Begriffe, der die erste Ebene von Hegels metaphysischem Idealismus ausmacht, diejenige Endlichkeit noch nicht überwunden, die Hegel in seiner Erklärung des Begriffs „Idealismus“ als das Merkmal der unmittelbaren, erklärungsbedürftigen Erscheinungsweise der Wirklichkeit angegeben hatte. Hegels metaphysischer Idealismus muss daher zwei weitere Ebenen umfassen, bei denen es sich im Wesentlichen um zwei Formen eines ontologischen Holismus handelt: eine schwache und eine starke Form.
5.2.3 Hegels schwacher ontologischer Holismus Um Hegels „schwachen ontologischen Holismus“ (der Grund für diese Bezeichnung wird im Folgenden deutlicher) zu rekonstruieren, beginnen wir bei einer damit unmittelbar zusammenhängenden These, nämlich der des ontologischen Externalismus. „Externalismus“ gebrauchen wir hier als Oberbegriff für Positionen, denen die Aussage gemeinsam ist, dass begrifflicher Gehalt nicht allein durch
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Eigenschaften seines Trägers festgelegt ist. Ein klassisches Beispiel für eine in diesem Sinne externalistische Position ist der semantische Externalismus in der Philosophie des Geistes und Sprachphilosophie. Nach dieser Theorie, die prominent u. a. von Wittgenstein und Putnam vertreten wurde, ist die semantische Bedeutung von Überzeugungen, Gedanken, sprachlichen Ausdrücken usw. weder durch intrinsische (z. B. neurophysiologische) Eigenschaften der relevanten mentalen Zustände festgelegt noch durch weitere Einstellungen oder Zustände des Subjekts (z. B. Akte des „Meinens“). Der semantische Externalismus kann beispielsweise als Konsequenz aus Wittgensteins Regelfolgediskussion begründet werden. Wittgenstein wendet sich in dieser Diskussion u. a. gegen die Vorstellung, es gebe Zeichen oder Regelausdrücke, die sich selbst interpretieren (vgl. z. B. PU §§ 189, 193), sowie gegen die Annahme eines besonderen mentalen Akts des Meinens, durch den die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks etc. festgelegt wird (PU §§ 186–190). Ihre Bedeutung haben Zeichen vielmehr nur, so Wittgenstein, im Kontext einer Praxis, in der sie gebraucht werden (vgl. PU §§ 199–202). Die Zeichen selbst sowie mentale Zustände und Akte haben keinen intrinsischen Gehalt: „Gott, wenn er in unsre Seelen geblickt hätte, hätte dort nicht sehen können, von wem wir sprachen“ (PU ii, 558d), so Wittgenstein in Bezug auf ein Beispiel, in dem wir von einer bestimmten Person sprechen. Der semantische Externalismus begünstigt den semantischen Holismus: Nach dem semantischen Holismus haben sprachliche Ausdrücke nur im Kontext einer ganzen Sprache Bedeutung; es handelt sich dabei also um eine bestimmte Weise, Kontextfaktoren anzugeben, die die externe Festlegung der sprachlichen Bedeutung einzelner Ausdrücke, mentaler Zustände usw. leisten.29 Brandom verallgemeinert die etablierte Position des semantischen Externalismus in verschiedener Weise. Er überträgt sie auf Handlungen, aber auch – wie wir im Zusammenhang mit seinem Begriffsrealismus schon kurz gesehen haben – auf den realen begrifflichen Gehalt von Tatsachen und anderen objektiven begrifflichen Strukturen. Nachdem für Brandom die Wirklichkeit begrifflich strukturiert ist, sind auch die Tatsachen, aus denen sie sich zusammensetzt, Träger begrifflichen Gehalts. Der begriffliche Gehalt der Tatsache, dass p, besteht genau in dem, was die Proposition „p“ ausdrückt. Indem Brandom den semantischen Externalismus und Holismus auf objektiven begrifflichen Gehalt überträgt, gelangt er, wie wir sahen, zu der Position eines ontologischen Holismus. Diesem Holismus zufolge ist der begriffliche Gehalt einer einzelnen Tatsache durch ihre
29 Mitunter werden die externen Faktoren im semantischen Externalismus auf kausale Faktoren eingeschränkt. In diesem Fall sind Externalismus und Holismus stärker unterschieden, teilen aber dennoch die gemeinsame Ablehnung einer intrinsischen Festlegung semantischen Gehalts.
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5 Freiheit und Idealismus
begrifflichen Beziehungen (also Beziehungen der Inkompossibilität, Implikation usw.) zu anderen Tatsachen festgelegt. Dasselbe Grundmodell gebraucht nun Hegel, um eine Erklärung für die einzelnen objektiven Begriffe zu entwickeln, die durch seinen Begriffsrealismus als Erklärungsprinzipien eingeführt worden waren. Obwohl es sich bei dem Gehalt dieser objektiven (teleologisch-kausal wirksamen) Begriffe um objektiven begrifflichen Gehalt handelt, ist dieser nicht durch intrinsische Eigenschaften festgelegt, sondern durch den Kontext innerhalb eines übergreifenden Bezugssystems. Das umfassendste Bezugssystem, innerhalb dessen der Gehalt einzelner (subjektiver oder objektiver) Begriffe holistisch bestimmt ist, ist für Hegel der Begriff als solcher: [T]eils aber ist ein Begriff sogleich erstens der Begriff an ihm selbst, und dieser ist nur einer und ist die substantielle Grundlage; fürs andere aber ist er wohl ein bestimmter Begriff, welche Bestimmtheit an ihm das ist, was als Inhalt erscheint; die Bestimmtheit des Begriffs aber ist eine Formbestimmung dieser substantiellen Einheit, ein Moment der Form als Totalität, des Begriffes selbst, der die Grundlage der bestimmten Begriffe ist. (WdL 5/29 f.)
Im Gegensatz zu „abstrakten Vorstellungen“, in denen wir durch Reflexion gemeinsame Merkmale von Gegenständen zusammenfassen (vgl. 4.4.4), sind eigentliche Begriffe ihrem Inhalt nach durch ihre Rolle in der Totalität des Begriffs definiert. Hinsichtlich des genaueren Verständnisses von Hegels holistischer Theorie der Bedeutung und der Verknüpfung einzelner objektiver Begriffe wurden nun in neueren Debatten zu Hegels Metaphysik zwei kontrastierende Lesarten von Hegels ontologischem Holismus vorgeschlagen. Kenneth Westphal liest diesen Holismus so, dass objektiv existierende Begriffe durch Polaritätsbeziehungen aufeinander bezogen sind und als Ganzes von derart verknüpften Begriffen den Begriff als holistische ontologische Struktur der Wirklichkeit ausmachen: On the one hand, sensible things have their ground only in the whole world-system, insofar as their characteristics obtain only in and trough contrast with opposed characteristics of other things and insofar as they are generated and corrupted through their causal interaction with other things. On the other hand, the concept, as the principle of the constitution of characteristics through contrast, obtains only in and as the interconnection of things and their properties in the world. (Westphal (1989), 144)
Hegels ontologischer Holismus gewährleistet also nach Westphal ein System durchgängiger ontologischer Bestimmung, durch das alle endlichen Phänomene, und zwar auch die objektiven Begriffe innerhalb der anorganischen Natur, eine vollständige Erklärung und Bestimmung erfahren. Gegen diese Deutung Hegels als eines Metaphysikers, der implizit am rationalistischen Prinzip des zureichenden Grundes festhält, wendet sich James Kreines.
5.2 Hegels Idealismus
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Kreines sieht in Hegels Theorie der anorganischen Natur nämlich eine massive Kritik am rationalistischen Prinzip des zureichenden Grundes (Kreines (2008), 50, 58). Die anorganische Natur, so Kreines, ist für Hegel die Stufe der völligen Grundlosigkeit, in der zwar alles von anderem abhängt, aber kein vollständiges System der Abhängigkeiten existiert, das die Bedeutung der einzelnen Elemente festlegen würde: Hegel is […] arguing that this level of physical reality [sc. die anorganische Natur] is ‚strangely insubstantial‘. There is something missing on this level of nature – it is marked by a lack of anything independently substantial. […] And what is crucial is that even the whole network, on this lower level of nature, is nothing over and above the relations of its parts; not even the whole has an independently substantial nature that determines why there are distinct parts or nodes, and why they are linked in the way that they are. (Kreines (2008), 53; vgl. auch Henrich (1971d))
Mit dieser Theorie der anorganischen Natur, so Kreines, weist Hegel alle Erklärungsansprüche der rationalistischen Metaphysik zurück; das Wesen der anorganischen Natur besteht vielmehr gerade darin, dass hier keine zureichenden Gründe identifiziert werden können. Beide Interpretationen sehen wichtige Punkte: Einerseits beansprucht Hegel tatsächlich eine durchgängige holistische Integration aller Begriffe in die Totalität des einen Begriffs, andererseits betont Hegel auch, wie wir bereits gesehen hatten, die Grenzen möglicher Erklärung im Bereich der anorganischen Natur. Diese Aspekte der beiden entgegengesetzten Positionen können in einer mittleren Deutung vereinigt werden, die Hegels expliziten Erklärungsansprüchen gerecht wird, andererseits aber auch die Grenzen möglicher Erklärung berücksichtigt, die Hegel in Bezug auf die anorganische Natur sieht. Hierzu muss eine weitere Erklärungsressource herangezogen werden, auf die Hegel zumindest Anspruch erhebt und die weder Westphal noch Kreines beachten. Die Wissenschaften können nämlich für Hegel nicht nur einzelne Phänomene durch Bezug auf objektive Begriffe ordnen; sie können auch die grundlegenden Begriffe der Natur und des Geistes durch immanente begriffliche Entwicklung bestimmen, ordnen und erklären. Dies beansprucht Hegel in der Natur- und Geistphilosophie seines Systems zu leisten. Speziell in Bezug auf die Natur kann dieses Vorhaben problematisch erscheinen, weil hier nach Hegel „das Spiel der Formen […] seine ungebundene, zügellose Zufälligkeit“ (Enz. § 248 A, 9/28)30 hat. Nichtsdestotrotz,
30 Vgl. auch Enz. § 250 A, 9/35: „Jene Ohnmacht der Natur setzt der Philosophie Grenzen, und das Ungehörigste ist, von dem Begriffe zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begreifen – und, wie es genannt worden, konstruieren, deduzieren […]“.
304
5 Freiheit und Idealismus
so Hegel, kann in der Natur ein „System von Stufen“ ausgemacht werden, „deren eine aus der andern notwendig hervorgeht“ (Enz. § 249, 9/31). Grundbegriffe und -ordnungen der Natur wie Raum, Zeit, Materie, Bewegung, gravitationale Systeme usw. können, so Hegel, als Bestandteile einer begrifflichen Ordnung verstanden werden, innerhalb derer sich die einzelnen Begriffe durch eine immanente gedankliche Entwicklung ergeben. Wenngleich also die Natur durch eine „Ohnmacht“ gekennzeichnet ist, „den Begriff in seiner Ausführung festzuhalten“ (Enz. § 250 A, 9/35), ist in ihr nach Hegel neben der Wirksamkeit von Begriffen auf einer niedrigen Stufe (natürliche Arten und die auf ihnen beruhenden Gesetze, Prozesse, Systeme usw.) auch eine höherstufige begriffliche Ordnung vorzufinden, die wir in der naturphilosophischen Organisation isolierter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nachvollziehen können.31 Eine solche höherstufige Ordnung, die durch wissenschaftliche und philosophische Systematik nachvollziehbar ist, bestimmt also auf holistische Weise den tatsächlichen Gehalt der einzelnen „objektiven“ Begriffe, die der Begriffsrealismus annimmt, und ergänzt diesen somit um eine weitere Erklärungsebene. Wie sich im Folgenden zeigen wird, sieht Hegel aber neben diesem schwachen ontologischen Holismus auch die Notwendigkeit einer noch stärkeren holistischen Erklärung, um die „Endlichkeit“ des unmittelbar gegebenen einzelnen Wirklichen ganz durch seine Integration in explanatorische Zusammenhänge zu überwinden.
5.2.4 Hegels starker ontologischer Holismus Für Hegel sind auch die Erklärungsleistungen, die der schwache ontologische Holismus in Bezug auf einzelne „objektive“ Begriffe ermöglicht, noch durch ein erhebliches Defizit eingeschränkt, das eine weitere Ebene des metaphysischen Idealismus nötig macht. Durch die Erklärungen auf der Ebene des schwachen ontologischen Holismus kann nämlich noch nicht begreifbar gemacht werden, warum es die unterschiedlichen Wirklichkeitsbereiche als solche gibt. Auch wenn beispielsweise im Sinne des schwachen ontologischen Holismus die Grundbegrif-
31 Ob und wie Hegels diesbezüglicher Anspruch verteidigt werden kann, ist eine andere Frage. Vgl. hierzu besonders die Arbeiten von Gerd Buchdahl, der die Notwendigkeit einer philosophischen Konstruktion naturwissenschaftlicher Grundbegriffe verteidigt und Hegels Naturphilosophie im Sinne einer solchen Konstruktion interpretiert; z. B. Buchdahl (1993). Die Frage nach dem Verhältnis von apriorischen und aposteriorischen Elementen in Hegels Naturphilosophie ist Gegenstand umfangreicher exegetischer Debatten; vgl. dazu, mit weiterer Literatur, Stone (2005), Kap. 1.
5.2 Hegels Idealismus
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fe der anorganischen Natur erklärt werden können, ist damit doch immer noch die Frage offen, warum es die anorganische Natur als solche gibt. Um das Erklärungsdefizit zu beheben, das Hegel hier noch sieht, ist eine weitere Theorieebene nötig, die ich – in Abgrenzung zur zuvor behandelten Ebene – als starken ontologischen Holismus bezeichne. Nun haben wir im Hinblick auf die anorganische Natur bereits einen Ansatz zu einer Erklärung dieser Art betrachtet. Nach unserer Rekonstruktion ist nämlich für Hegel eine „Außenseite“, ein Involviertsein in mannigfaltige äußerliche Zusammenhänge und Interaktionen eine notwendige Bedingung für Existenz, die einen existenten Gegenstand von seinem bloßen Begriff unterscheidet (vgl. 5.2.2). Diese logische Bedingung stellt den Nukleus für eine teleologische Erklärung der Natur als solcher dar. Es muss die Natur geben, damit geistige Wesen existieren können: und zwar zum einen die anorganische Natur als Medium aller Existenz, zum anderen die organische Natur, weil ein geistiges Wesen nur in einem lebendigen Körper seine „Außenseite“ haben kann. Dieses Argument unter Bezug auf den Existenzbegriff wird bei Hegel durch eine weitere Hinsicht ergänzt, in der der Geist „die Natur zu seiner Voraussetzung“ (Enz. § 381, 10/17) hat: Wie wir noch sehen werden, ist es nach Hegel wesentlich für den Geist und seine Freiheit, dass er sich selbst durch Prozesse der rationalen Transformation aus einem ursprünglichen Zustand der Äußerlichkeit und mangelnden begrifflichen Transparenz befreit. Diese Anforderung ist für Hegel nicht zuletzt die Konsequenz aus der Kritik an Formen der Gegebenheit im Kontext des Freiheitsbegriffs, die wir bereits untersucht haben (Kapitel 2). Auch aus diesem Grund kann es aber nur dann geistige Wesen geben, wenn es auch eine Sphäre der Wirklichkeit gibt, die durch jene Intransparenz und Formlosigkeit geprägt ist. Die somit skizzierte Argumentation ist also auch idealistisch in dem Sinne, dass sie eine Abhängigkeit des Natürlichen vom Geistigen annimmt. Dabei sind aber Präzisierungen der Abhängigkeitsbeziehung in mehreren Hinsichten nötig; wir besprechen fünf derartige Hinsichten. (1) Erstens besteht die Abhängigkeit des Nicht-Geistigen vom Geistigen für Hegel offenkundig nicht darin, dass – im Sinne eines „subjektiven“ Idealismus – individuelle menschliche Subjekte die Natur in irgendeiner Weise hervorbringen oder aber die Natur eigentlich in den Vorstellungen, Eindrücken o. ä. individueller Geister besteht. Vielmehr ist es die Existenz von geistigen Wesen als solche, die den Erklärungsgrund für die Existenz der Natur ausmacht. Deshalb schreibt Hegel, „[d]er Geist“ – und nicht etwa einzelne Geister – sei als solcher in Bezug auf die Natur deren „Wahrheit und damit deren absolut Erstes“ (Enz. § 381, 10/17). (2) Zweitens ist die genannte Abhängigkeit der Natur vom Geist abermals Aspekt einer holistischen Beziehung: Indem sie als notwendige Voraussetzung des Geistes begriffen wird, wird die Natur in ein holistisches Ganzes eingeordnet.
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5 Freiheit und Idealismus
Dieses Ganze betrifft nun aber nicht mehr in erster Linie die Grundbegriffe einzelner Wirklichkeitsbereiche, wie es innerhalb des schwachen ontologischen Holismus der Fall war, sondern diese Wirklichkeitsbereiche als solche. Wie im schwachen ontologischen Holismus besteht auch hier das Ganze letztlich in der logischen Struktur des Begriffs; Natur und Geist können selbst als sehr allgemeine, hochstufige objektive Begriffe verstanden werden, die gemeinsam das holistische System des Begriffs in seiner Realität ausmachen. Der hier vorliegende Holismus ist genauer dadurch gekennzeichnet, dass er eine teleologische Struktur aufweist: Das holistische Ganze besteht in der Realisierung des Begriffs, und die Elemente des Ganzen (Natur und Geist) sind notwendige Momente dieser Realisierung. Dieser teleologische Charakter ist freilich selbst kein Zufall, sondern folgt direkt aus dem Begriff, dessen logische Struktur – wie wir in Abschnitt 4.6 gesehen haben – die der teleologischen Realisierung eines begrifflichen Gehaltes überhaupt ist. Der Begriff kann daher prinzipiell nur in Gestalt eines umfassenden teleologischen Realisierungsprozesses instantiiert sein. (3) Drittens muss die Abhängigkeitsbeziehung zwischen Natur und Geist danach differenziert werden, welcher Aspekt von Geistigkeit gerade thematisch ist. Der Geist ist nämlich selbst in Form eines teleologischen Prozess strukturiert (vgl. 6.1), der bei elementaren individuell-geistigen Vermögen und Aktivitäten ansetzt und deren Partikularität und Endlichkeit sukzessive überwindet. Insofern also die Natur in Abhängigkeit von der Existenz des subjektiven Geistes gesehen wird, ist sie noch nicht – gemäß dem idealistischen Programm – durch das wirklich Unendliche und wahrhaft Seiende erklärt. Diese explanatorisch endgültige Abhängigkeit besteht zwischen der Natur und dem absoluten Geist, dem gegenüber sich auch der endliche subjektive und objektive Geist in Abhängigkeit befinden. Der absolute Geist ist die vollständige Realisierung des Begriffs, der in allen endlichen Phänomenen immer nur vorläufig und unvollkommen auftritt: Er ist „der an und für sich seiende Geist der Natur und des Geistes“ (Enz. § 565, 10/ 374). Da aber der Begriff selbst die logische Struktur von Realisierung als solcher ist, muss auch der absolute Geist als Prozess einer freien, transparenten Realisierung von begrifflichem Gehalt – dem begriffslogischen Kategoriensystem – verstanden werden. Der absolute Geist als dieser Prozess bildet somit das eigentliche holistische Ganze der Wirklichkeit, in Bezug auf das die Natur als abhängig verstanden werden muss. Vom Geist in diesem Sinn ist die Natur nach Hegel nicht nur – wie in Bezug auf den endlichen, individuellen (subjektiven) und kollektiven (objektiven) Geist – teleologisch abhängig, insofern sie die notwendige Voraussetzung für seine Realität darstellt. Sie verdankt ihm auch ihr Sein, insofern der absolute Geist notwendig existiert (sein Begriff – die logische Idee – enthält seine Existenz) und das Sein der Natur wie auch des endlichen Geistes Teil dieses notwendigen Seins ist. Entsprechend ist das Sein des Endlichen nicht selbständi-
5.2 Hegels Idealismus
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ges Sein, sondern „Gesetztsein“ oder „Idealität“ oder auch, wie Hegel in theologischem Vokabular sagt, geschaffenes Sein.32 Das gilt zum einen in Bezug auf alles endliche Sein, das vom absoluten Geist abhängig ist33; zum anderen gilt es in Bezug auf die Natur und ihre Abhängigkeit vom Geist. (4) Viertens hatten wir in der Diskussion der WdL gesehen, dass die logische Struktur des Begriffs in erster Linie dadurch gegenüber seins- und wesenslogischen Strukturen privilegiert ist, dass sie die logische Freiheit des reinen Denkens ermöglicht und einen transparenten Zusammenhang von Kategorien schafft; die begriffslogische Entwicklung stellt daher, so hatten wir gesehen, eine Manifestation von zuvor „inneren“, intransparenten Zusammenhängen dar. Entsprechend muss auch die Realisierung der Struktur des Begriffes als Prozess der Manifestation gefasst werden. Tatsächlich ist nach Hegel der Geist insgesamt nichts anderes als Manifestation oder Offenbarung schlechthin: Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die Manifestation. Er ist nicht irgendeine Bestimmtheit oder Inhalt, dessen Äußerung oder Äußerlichkeit nur davon unterschiedene Form wäre; so daß er nicht etwas offenbart, sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst. (Enz. § 383, 10/27)
Ganz allgemein folgt aus diesem Gedanken, dass die einzelnen Elemente des umfassenden Prozesses (Natur und endlicher Geist) als vorläufige und partielle Manifestationen verstanden werden können. Da sie defizitäre Manifestationen sind, können sie auch als Erscheinungen bezeichnet werden, in denen in unvollkommener Weise zu Tage tritt, was im Prozess als ganzem völlig transparent manifestiert wird (nämlich der Begriff, also die logische Form von Realisierung oder Manifestation selbst34). Insofern kann Hegel das abhängige Sein endlicher Gegenstände in Natur und Geist auch als Erscheinung oder Manifestation kenn-
32 Vgl. besonders die im Folgenden unter (5) zitierte Passage (VB 17/398). Zur Rolle des Schöpfungsgedankens in diesem Zusammenhang vgl. Hösle/Wandschneider (1983), 179 f. Die genannte Bestimmung unterscheidet sich offensichtlich wesentlich vom traditionellen Schöpfungsgedanken, weil nach diesem der Schöpfergott für sich genommen „vor“ – oder unabhängig von – der Schöpfung Existenz hat. Vgl. Houlgate (2005b), 19. 33 Vgl. z. B. PhRel 16/93: „Die Dinge, Entwicklungen der natürlichen und geistigen Welt sind mannigfache Gestalten, unendlich vielgeformtes Dasein; sie haben ein Sein von unterschiedenem Grad, Kraft, Stärke, Inhalt. Aber das Sein aller dieser Dinge ist ein solches, das nicht selbständig, sondern schlechthin nur ein getragenes, gesetztes ist, nicht wahrhafte Selbständigkeit hat. Wenn wir den besonderen Dingen ein Sein zuschreiben, ist das nur ein geliehenes Sein, nur der Schein eines Seins, nicht das absolut selbständige Sein, das Gott ist“. 34 Nur deshalb kann Hegel in der zitierten Passage pointiert schreiben, dass der Geist nicht „Etwas“ – nämlich einen weiteren, unterschiedenen Inhalt – manifestiere, sondern das Manifestieren selbst sein Inhalt sei.
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5 Freiheit und Idealismus
zeichnen und die fraglichen Beziehungen der Abhängigkeit – der Abhängigkeit des Endlichen vom Unendlichen sowie der Natur vom Geist – als Beziehungen des „Erscheinens“ oder der „Manifestation“ beschreiben. (5) Fünftens erlaubt es Hegel die Abhängigkeit alles Endlichen (Natur, subjektiver und objektiver Geist) vom absoluten Geist, in zweierlei Hinsicht einen ontologischen Monismus zu vertreten. Der erste Monismus ist ein Monismus hinsichtlich ontologischer Typen und besagt, dass es nur eine Art von Seiendem gibt, nämlich Geistiges. Diese Behauptung interpretiert Hegel aber nicht im Sinne einer Reduktion, also so, dass alle endlichen Gegenstände eigentlich geistiger oder unendlicher Art sind; wir können für Hegel nicht alles, was wir etwa in der Sprache der Naturwissenschaften sagen, auch z. B. in einer mentalistischen oder theologischen Sprache ausdrücken. Vielmehr gibt es insofern nur Geistiges, als alles, was wahrhaft seiend ist, geistig ist – nämlich der absolute Geist als umfassender Prozess der Realisierung des logischen Begriffs. Dies schließt nicht aus, dass die Welt, die im Abhängigkeitsmodus der Idealität oder Erscheinung existiert (s. o.), eine relative Selbständigkeit und explanatorische Autonomie hat und die begrifflichen Bestimmungen, die in diesen Kontexten auftreten, eine irreduzible Anreicherung des eigentlich Seienden darstellen. So schreibt Hegel in einer Passage, die mehrere der besprochenen Aspekte zusammenfasst, in den Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes: Die Natur ist im Geiste gehalten, von ihm erschaffen, und des Scheines ihres unmittelbaren Seins, ihrer selbständigen Wirklichkeit unerachtet, ist sie an sich nur ein Gesetztes, Geschaffenes, im Geiste Ideelles. Wenn im Gange des Erkennens von der Natur zum Geiste fortgegangen, die Natur als Moment nur des Geistes bestimmt wird, entsteht nicht eine wahrhafte Mehrheit, ein substantielles Zwei, deren eines die Natur, das andere der Geist wäre, sondern die Idee, welche die Substanz der Natur ist, zum Geiste vertieft, behält in dieser unendlichen Intensität der Idealität jenen Inhalt in sich und ist reicher um die Bestimmung dieser Idealität selbst, die an und für sich, der Geist ist. (17/398)
Hegel betont hier den monistischen Charakter seiner Metaphysik – zwischen Natur und Geist besteht keine substantielle Differenz –, drückt aber ebenso den Gesichtspunkt aus, dass die Natur nicht einfach (im Sinne des subjektiven Idealismus, s. o.) reduzierbar ist. Die Idee, die in Natur und Geist realisiert wird, „behält“ nach Hegel auch in ihrer angemesseneren Wirklichkeit, dem Geist, den „Inhalt in sich“, den die Natur darstellt; sie ist „reicher um die Bestimmung“ der Natur, auch wenn diese doch eigentlich nichts anderes als der Geist ist. Innerhalb dieser Konzeption können also nicht einfach alle Begriffe, die dem Bereich der Natur angehören, durch Übersetzung in Begriffe des geistigen Bereichs eliminiert werden; trotz seiner ontologischen Abhängigkeit leistet der Bereich der Natur als solcher vielmehr einen wesentlichen Beitrag zur Entfaltung und Konkretisierung
5.2 Hegels Idealismus
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des begrifflichen Gehalts des Begriffs als solchen (bzw. der Idee), die sich durch den Prozess des Wirklichkeitsganzen bzw. des absoluten Geistes vollzieht. Neben diesem Typen-Monismus vertritt Hegel zweitens einen ontologischen Monismus hinsichtlich Token. Diese Position besagt, dass es überhaupt nur einen Gegenstand gibt, nämlich bei Hegel den absoluten Geist als Inbegriff des Realisierungsprozesses der logischen Struktur des Begriffs. Hegel folgt hiermit Spinozas Substanzmonismus, doch abermals ermöglicht es der skizzierte Abhängigkeitsmodus der freien, transparenten Manifestation, eine relative Autonomie des Endlichen zu denken und so den Monismus nicht-reduktionistisch zu konzipieren. Damit haben wir die wichtigsten Thesen formuliert, die die dritte Stufe von Hegels Idealismus ausmachen: Nach dem starken ontologischen Holismus dieser Stufe ist alles Endliche Teil eines Prozesses, in dem die logische Struktur des Begriffs, mithin die logische Struktur teleologischer Realisierung von Begrifflichem, verwirklicht wird; in diesem Prozess besteht der absolute Geist. Die Natur wird in diesem Bild als nötige Voraussetzung des Geistes überhaupt und als vorläufige Manifestation bzw. Erscheinung der logischen Struktur des Begriffs, und zwar im Modus der Äußerlichkeit und Intransparenz, gedeutet. Die Frage nach Hegels Rechtfertigung für diese Position ist nicht einfach zu beantworten, weil nach seiner „offiziellen“ Darstellung das gesamte System die Rechtfertigung hierfür bietet. Im Rahmen unserer Untersuchung bleibt nur die Möglichkeit, innerhalb der Rechtfertigung durch das ganze System, die Hegel in Anspruch nimmt, einzelne Begründungszusammenhänge zu identifizieren und für sich genommen zu betrachten. Für unsere Zwecke sind dabei zwei Rechtfertigungsstrategien besonders wichtig. Die erste Strategie kann folgendermaßen zusammengefasst werden. Gemäß Hegels ontologischem Holismus und dem dabei vorausgesetzten Externalismus wird der tatsächliche begriffliche Gehalt der (infolge des Begriffsrealismus angenommenen) „objektiven“ Begriffe zumindest teilweise durch ihre Rolle in einem holistischen System objektiver Begriffe festgelegt. Dieser Sachverhalt kann prinzipiell auf zwei Weisen gedeutet werden. Nach einer antirealistischen Interpretation des holistischen Externalismus wird durch die Verortung im System nie eine abgeschlossene Bestimmung des Begriffs erreicht, weil dieses System selbst prinzipiell offen ist. Die zweite Deutung des Externalismus ist realistischer Art: Ihr zufolge gibt es ein Bezugssystem, das die Bedeutung der einzelnen Elemente abschließend festlegt. Das antirealistische Modell ist beispielsweise in Bezug auf semantischen Holismus hinsichtlich natürlicher Sprachen vertreten worden: Die Bedeutung von deren Ausdrücken, und damit auch von unseren Überzeugungen, ist nach dieser Auffassung beständig im Fluss; da die Bedeutung jedes Ausdrucks durch die Sprache als ganze festgelegt wird, haben bereits minimale lokale Veränderungen im Überzeugungssystem Auswirkungen auf den semanti-
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5 Freiheit und Idealismus
schen Gehalt aller Elemente im Überzeugungs- und Begriffssystem (z. B. Harman (1973), 109). Gleich, für wie plausibel man die Annahme derartiger begrifflicher Instabilität in Bezug auf sprachliche Bedeutung hält, ist doch die analoge Instabilität, die sich aus einem antirealistisch verstandenen Externalismus in Bezug auf objektive Formen begrifflichen Gehalts ergibt, sehr problematisch. Wenn der objektive begriffliche Gehalt von begrifflichen Strukturen in der Wirklichkeit durch Veränderungen in einem nicht abschließbaren holistischen System modifiziert wird, resultiert ein starker ontologischer Antirealismus. Jede einzelne Repräsentation objektiver begrifflicher Strukturen könnte dann vorübergehend wahr sein und durch eine spätere Veränderung im holistischen System falsizifiert werden. Die antirealistische Deutung des ontologischen Holismus ist also offenkundig mit einem epistemologischen Realismus inkompatibel, weil sie die Möglichkeit genuiner Wirklichkeitserkenntnis auf die Dauer unterläuft. Wer daher – wie Hegel – einen epistemologischen Realismus vertreten will, muss die realistische Deutung des ontologischen Holismus wählen. Diese Deutung erfordert aber ein abgeschlossenes holistisches Bezugssystem, das alle objektiven Begriffe umfasst. Damit resultiert ein starker ontologischer Holismus, der ein objektiv existierendes umfassendes und abgeschlossenes System annehmen muss, entsprechend Hegels absolutem Geist.35 Die zweite relevante Rechtfertigungsstrategie für die Position des starken ontologischen Holismus baut auf unserer Deutung der „logischen“ Freiheit in der Begriffslogik auf. Damit das Denken auch außerhalb der Logik frei sein kann, muss angenommen werden, dass die in der WdL entwickelten freiheitsermöglichenden logischen Strukturen, speziell die teleologische Struktur des Begriffs, auch die Realität artikulieren, mit der wir in epistemischen Kontexten konfrontiert sind (vgl. 3.2.2). Für Hegel ist aber nur eine Wirklichkeit, wie sie vom starken ontologischen Holismus beschrieben wird, eine vollständig adäquate Realisierung der begriffslogischen Strukturen. Die ersten beiden Stufen von Hegels Idealismus – der Begriffsrealismus und der schwache ontologische Holismus – hatten nämlich wichtige metaphysische Erklärungslücken offen gelassen: Der Begriffsrealismus allein kann keine Erklärung der einzelnen objektiven Begriffe leisten; der schwache ontologische Holismus kann zwar einzelne Begriffe innerhalb von ontologischen Bereichen erklären, muss aber die Existenz und Natur dieser Berei-
35 Hegels weitere Kennzeichnungen dieses Systems, insbesondere seine teleologische Struktur, folgen aus dieser Überlegung zwar nicht direkt, doch können sie hergeleitet werden, wenn zusätzlich Hegels in der Begriffslogik entwickelte Anforderungen an ein derartiges umfassendes System berücksichtigt werden. – Bei Hegel selbst ist die genannte Argumentationsstruktur nur in Andeutungen enthalten, auf die wir in Abschnitt 9.3.3 näher eingehen werden.
5.2 Hegels Idealismus
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che selbst unerklärt lassen. Der starke ontologische Holismus dagegen schließt diese Erklärungslücken und präsentiert die Wirklichkeit als ganze Realisierung des Begriffs, die unserem Verstehen offensteht. Diese Theorie dient dabei nicht lediglich als eine Art von Kantischem Postulat, das wir aus praktischen, nicht aus epistemischen Gründen annehmen müssen. Vielmehr haben wir schon in der Diskussion von Hegels Begriffsrealismus gesehen, dass er Unterschiede in der Transparenz und Intelligibilität von Wirklichkeitsausschnitten als ontologische Unterschiede interpretiert. Ein Kontext in der Wirklichkeit, der sich der rationalen Erkenntnis nicht erschließt und sich als Nebeneinander von isolierten Einzelaspekten präsentiert, ist ontologisch durch die Abhängigkeit seiner Bestandteile von anderem gekennzeichnet: „Das Besondere ist aber eben dies, sich auf Anderes außer ihm zu beziehen“, so Hegel; die Einsicht, dass ein derartiger Inhalt des Denkens „nicht selbständig, sondern durch ein Anderes vermittelt ist, setzt ihn auf seine Endlichkeit und Unwahrheit herab“ (Enz. § 74, 8/163 f.). Explanatorische Autonomie entspricht also substantialer Selbständigkeit.36 Dementsprechend müssen die genannten explanatorischen Defizite von Begriffsrealismus und schwachem ontologischem Holismus selbst als Folgen ontologischer Abhängigkeitsverhältnisse interpretiert werden: Die Natur und der Bereich der endlichen Geister sind jeweils als ganze hinsichtlich ihrer Existenz und ihrer Grundbestimmungen erklärungsbedürftig, setzen also eine übergeordnete ontologische Instanz voraus. Indem der starke ontologische Holismus die Erklärung liefert, die auf den beiden anderen Theorieebenen noch fehlt, identifiziert er auch diejenige ontologische Instanz – nämlich den absoluten Geist als Inbegriff des ganzen Wirklichkeitsprozesses –, auf die die genannten Abhängigkeitsstrukturen verweisen. Deswegen ist der starke ontologische Holismus eine konsequente Folge aus der begriffslogischen Bestimmung der rationalen Freiheit und der Rolle realer explanatorischer Beziehungen für solche Freiheit. Ein wichtiger Einwand gegen diese Argumentation besagt, sie sei zu optimistisch hinsichtlich der Möglichkeit von Erklärungen. Warum sollten nicht die Grundbestimmung und die Existenz der genannten ontologischen Bereiche Punkte sein, wo wir, mit Wittgenstein zu reden, „auf dem harten Felsen angelangt“ sind und sich gleichsam der Spaten zurückbiegt (PU § 217)? Es scheint nur dann auch hier auf eine Erklärung gedrungen werden zu können, wenn das rationalis-
36 Dies ist abermals eine notwendige Folge aus dem modalen Realismus, den wir im vorigen Kapitel in Hegels Urteilslogik vorgefunden hatten: Explanatorische Aussagen, so hatten wir dort gesehen, müssen beanspruchen, tatsächlich wirksame Beziehungen zu identifizieren; der objektive Sachverhalt, der der explanatorischen Autonomie eines Inhaltes entspricht, ist die substantiale Selbständigkeit.
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5 Freiheit und Idealismus
tische Prinzip vom zureichenden Grunde anerkannt wird37, das aber allgemein als überkommener Bestandteil dogmatisch-rationalistischer Metaphysik gilt. Dagegen kann erwidert werden, dass Hegel das Prinzip vom zureichenden Grunde einer kritischen Revision unterzieht. Erstens macht Hegel Begriffe wie „Grund“ und „Erklärung“ zum Gegenstand einer kritischen Diskussion38, unterscheidet (v. a. in der Wesenslogik) zahlreiche verschiedene Erklärungsformen, stellt die explanatorischen Grenzen der meisten solchen Formen heraus und argumentiert für das Privileg teleologischer Erklärungen. Kein Metaphysiker des klassischen Rationalismus hat eine derartige kritische Prüfung von Erklärung geleistet. Zweitens sind für Hegel – wie wir bereits gesehen haben – gerade nicht überall Erklärungen möglich, sondern es ist eine wichtige und selbst erklärbare metaphysische Tatsache, dass es einen Bereich der Wirklichkeit geben muss, in dem sehr vieles nicht erklärbar ist: nämlich die Natur und speziell die anorganische Natur, die zugleich, so haben wir gesehen, einen Aspekt jeder Sache ausmacht. Hegel macht sich also zumindest keines unkritischen Gebrauches des Prinzips vom zureichenden Grunde schuldig. Darüber hinaus kann zu seinen Gunsten argumentiert werden, dass immer dann, wenn der Wittgensteinsche Spaten geltend gemacht wird, eine Rechtfertigung dafür verlangt werden kann; andernfalls handelt es sich hierbei nämlich nur um eine dogmatische Festlegung, in der ohne Rechtfertigung eine Situation der epistemischen Intransparenz (und damit Unfreiheit) als alternativlos dargestellt wird.39
37 Vgl. zum Prinzip des zureichenden Grundes Pruss (2006); Della Rocca (2010). 38 Vgl. Hegels Diskussion des Prinzips des zureichenden Grundes WdL 6/82 f. Dabei nimmt er Leibniz’ Deutung des Prinzips von der Kritik aus, weil Leibniz in ihm auch teleologische Erklärungen berücksichtigt; Hegel bemerkt dazu: „Diese Beziehung, das Ganze als wesentliche Einheit, liegt nur im Begriffe, im Zwecke. Für diese Einheit sind die mechanischen Ursachen nicht zureichend, weil ihnen nicht der Zweck als die Einheit der Bestimmungen zugrunde liegt. Unter dem zureichenden Grunde hat Leibniz daher einen solchen verstanden, der auch für diese Einheit zureichte, daher nicht die bloßen Ursachen, sondern die Endursachen in sich begriffe. Diese Bestimmung des Grundes gehört aber noch nicht hierher; der teleologische Grund ist ein Eigentum des Begriffs und der Vermittlung durch denselben, welche die Vernunft ist“ (WdL 6/83). 39 Ähnlich argumentiert Hegel in Passagen wie der folgenden: „Die Vernunft weiß sich [als] etwas [Endliches] nach der Behauptung jener, welche sagen, der Mensch könne nichts von etwas Höherem, von Gott, wissen. Ihre Demut wird daher stolz, weil sie dieses behaupten und sich daher etwas Besonderes, nämlich die Erkenntnis von der Unmöglichkeit jener Erkenntnis, anmaßen“ (VL 11/7). Vgl. dazu auch PhRel 16/189: „Das Wirken und Leben in der Objektivität ist das wahrhafte Bekenntnis der Endlichkeit, die reale Demut“; Enz. § 95 A, 8/201: „Indem die Behauptung von dem festen Beharren des Endlichen dem Unendlichen gegenüber über alle Metaphysik hinweg zu sein meint, steht sie ganz nur auf dem Boden der ordinärsten Verstandesmetaphysik“. Vgl. auch Enz. § 23 A, 8/80 zum Begriff der „Bescheidenheit“.
5.2 Hegels Idealismus
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Obwohl es also argumentative Ressourcen gibt, um Hegel gegen den Einwand überzogener Erklärungsansprüche im Kontext des starken ontologischen Holismus zu verteidigen, ist doch jedenfalls die Art von Behauptungen, die wir unter diesem Titel zusammengefasst haben, im Bereich derjenigen konservativen metaphysischen Hegel-Interpretationen angesiedelt, denen üblicherweise – und zwar auch von den Vertretern solcher Lesarten selbst – systematische Relevanz für die heutige Philosophie abgesprochen wird (z. B. Horstmann (1999); Taylor (1975), Kap. 20). (Die ersten beiden Ebenen von Hegels Idealismus – der Begriffsrealismus und der schwache ontologische Holismus – gehen dagegen zwar wesentlich über die „semantische“ Metaphysik Brandoms hinaus, können aber ohne weiteres im Kontext von Debatten der analytischen Metaphysik sinnvoll verortet und vertreten werden.) Es ist freilich nicht einfach, die Einschätzung von Positionen wie dem starken ontologischen Holismus als „anachronistisch“ präzise zu begründen. Mitunter sind derartige Wertungen durch die Meinung motiviert, dass die analytische Philosophie seit ihren Anfängen im logischen Empirismus durch eine allgemeine metaphysikkritische Einstellung gekennzeichnet ist. Ameriks kennzeichnet allgemein in Bezug auf die Interpretation und Rezeption der klassischen deutschen Philosophie eine verbreitete Einstellung treffend wie folgt: There is a remarkably strong presumption, common to ‚post-Kantians‘ and ‚pure Kantians‘ alike, that metaphysics is a weak and dying discipline, hence that it is all the better to keep it some distance from one’s Germanic philosophical heroes. (Ameriks (2000), 11; vgl. Kreines (2006), 6)
Ameriks kritisiert diese Haltung durch Hinweise auf neuere metaphysische Debatten (vgl. dazu auch Glock (2008), 48 ff., 117 ff.), und es ließe sich auch auf Vertreter von explizit metaphysischen Theorien bereits innerhalb des logischen Empirismus verweisen, wie z. B. Russell.40 In Bezug auf die analytische Philosophie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert kann sogar ein Mangel an Metaphysikkritik beobachtet werden; moderne MetaphysikerInnen argumentieren nämlich häufig nicht eigens für die Möglichkeit von Metaphysik und lassen ungeklärt, wodurch die Bedeutung ihrer Aussagen festgelegt ist. Angesichts dessen wäre es dogmatisch, aus der Sicht der analytischen Philosophie zu behaupten, dass eine Position wie Hegels starker ontologischer Holismus prinzipiell nicht gerechtfertigt werden kann.41
40 Vgl. z. B. Russell (1940), Kap. 25 („Language and Metaphysics“); Russell (1940), 341: „I do not think the structure of non-verbal facts is wholly unknowable, and I believe that, with sufficient caution, the properties of language may help us to understand the structure of the world“. 41 Ferner gibt es in der analytischen Metaphysik und Religionsphilosophie durchaus Positionen, die der Hegels in diesen Fragen ähneln. Dabei sind insbesondere religionsphilosophische Posi-
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5 Freiheit und Idealismus
Eine weitere potentielle Quelle für Unbehagen mit Hegels Position (vgl. Horstmann (1999)) ist die in der analytischen Philosophie seit dem logischen Positivismus verbreitete Skepsis gegenüber dem Gedanken eines philosophischen Systems, der für Hegel – und speziell für die Begründung des starken ontologischen Holismus – zentrale Bedeutung hat. Doch auch hier handelt es sich nicht um eine argumentativ ausgearbeitete Position, und Gegenbeispiele von relativ strikter und umfangreicher Systembildung (z. B. Quine, Davidson, Sellars) sind unschwer zu finden (vgl. auch Glock (2008), 165 f.). Es spricht also einiges dafür, dass die geläufigen Vorbehalte gegenüber Positionen wie Hegels starkem ontologischem Holismus in erster Linie Vorurteile sind. Nichtsdestotrotz werden wir sehen, dass Hegels konkrete Bestimmungen des Geistes und seiner realen Freiheit in großem Umfang auch ohne den Hintergrund des starken ontologischen Holismus sinnvoll nachvollzogen werden können. Erst die Frage, inwiefern die epistemische und praktische Freiheit von Individuen durch weitere Freiheitsformen komplementiert werden kann und muss, wird nur unter Rekurs auf den starken ontologischen Holismus zu beantworten sein (Kapitel 9).
5.2.5 Zusammenfassung: Vier Grade metaphysischer Festlegung Aus unserer Untersuchung der allgemein-metaphysischen Konsequenzen von Hegels logischer Grundlegung der Freiheit resultiert als Beitrag Hegels zur Frage nach einem Freiheits-basierten Weltverständnis eine metaphysische Position, die wir in der folgenden Unterscheidung von vier Graden metaphysischer Festlegung von anderen Interpretationsansätzen abgrenzen können. (1) Der erste Grad ist durch sogenannte nicht-metaphysische Lesarten des Hegelschen Systems (und besonders der WdL) als transzendentalen – und damit subjektiven – Kategoriensystems markiert (Hartmann, Pippin); wir haben gesehen, dass eine solche Position instabil ist und zudem im Falle von Pippin selbst eine naturalistische Metaphysik zur unreflektierten Voraussetzung hat.
tionen in der Tradition von Alfred North Whitehead und Charles Hartshorne zu nennen. Diese und andere, durch sie beeinflusste AutorInnen vertreten eine „panentheistische“ Metaphysik und ein „prozessuales“ Verständnis Gottes: Gott realisiert sich demnach in einem Prozess, der die Welt und ihre Prozesse umfasst; das Verhältnis von Welt und Gott wird dabei als Mittelweg zwischen theistischer Transzendenz und pantheistischer Immanenz konzipiert; vgl. z. B. Hartshorne/Reese (1953) und die Diskussion in Alston (1984). – Eine sachliche Nähe Hegels zum „Panentheismus“ – der Begriff stammt von Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832) – schlagen z. B. Lobkowicz/Ottmann (1981), 106–112 vor.
5.2 Hegels Idealismus
315
(2) Der zweite Grad ist durch Brandoms semantische Metaphysik und ihre Theorieelemente „Begriffsrealismus“, „objektiver Idealismus“ und „Begriffsidealismus“ markiert. Es hat sich gezeigt, dass diese Interpretation wichtige Anstöße für das systematische Verständnis von Hegels Metaphysik gibt, insbesondere durch die Betonung des Zusammenhangs zwischen epistemischer Freiheit, Begriffsrealismus und modalem Realismus. Dennoch ist Brandoms Position, wie sich gezeigt hat, mit internen Schwierigkeiten konfrontiert. Um ferner aus Hegels Sicht genuine epistemische Freiheit zu gewährleisten und eine Überwindung der von Brandom und McDowell zu Recht kritisierten Kluft zwischen Geist und Welt zu erreichen, muss gegen Brandoms pragmatistische Metaphysikkritik die Möglichkeit eines privilegierten Begriffssystems und eines „carving at the joints“ bezüglich realer Sachverhalte zugestanden werden. Diese Annahmen machen entsprechend die stärkeren metaphysischen Thesen des dritten Grades nötig. (3) Der dritte Grad metaphysischer Festlegung besteht in Hegels Begriffsrealismus und seinem schwachen ontologischen Holismus, also den ersten beiden Elementen, die wir in Hegels Idealismus unterschieden haben. Dabei handelt es sich um metaphysische Implikationen der Theorie logischer Freiheit, die Hegel in der Begriffslogik entwickelt, und um notwendige Voraussetzungen realer Freiheit. (Auf derselben Ebene metaphysischer Theoriebildung sind auch neuere, „moderate“ metaphysische Lesarten Hegels angesiedelt, die wir teilweise diskutiert haben (Westphal, Kreines).42) Die metaphysischen Aussagen, die hier und auf der nächsten Stufe getroffen werden, gehören der Metaphysik im traditionellen Sinn und im materialen Modus an. Die Möglichkeit solcher Metaphysik verteidigt Hegel – wie wir in Kapitel 3 gesehen hatten – durch seine kritische Auseinandersetzung mit Kants Metaphysikkritik einerseits und der dogmatischrationalistischen Metaphysik andererseits; er rechtfertigt sie positiv durch die Theorie der freien, immanenten Entwicklung des Denkens im Ausgang von einem voraussetzungslosen Anfang. (4) Der vierte Grad entspricht dem dritten Element von Hegels Idealismus, nämlich seinem starken ontologischen Holismus. Auch diese Position ist für Hegel eine notwendige Konsequenz der Begriffslogik, weil sie die Bedingungen darstellt, unter denen die logische Struktur des Begriffs allein angemessen realisiert wird; ferner handelt es sich hierbei für Hegel um den ontologischen Rahmen, in dem allein die explanatorischen Defizite der Wirklichkeit, wie sie sich unmittelbar präsentiert, vollständig aufgelöst werden können, mithin um die notwendige Konsequenz aus dem „idealistischen“ Prinzip, das die Philosophie als solche
42 Weitere Arbeiten, die auf dieser Ebene anzusiedeln sind, sind Stern (1990); Kreines (2006); Stern (2008).
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5 Freiheit und Idealismus
verfolgt (vgl. 5.2.1). Wir haben Rechtfertigungsstrategien für diese Position identifiziert und gesehen, dass Vorbehalte gegen sie – wie gegen verwandte Theorien, die in „konservativen“ metaphysischen Hegel-Interpretationen rekonstruiert werden – häufig nur unzureichend begründet sind. Nachdem wir in diesem Kapitel die allgemein-metaphysischen Konsequenzen aus Hegels logischer Grundlegung von Freiheit untersucht haben, wenden wir uns im nächsten Kapitel der speziell-metaphysischen Frage nach den Grundbestimmungen des Geistes zu. Dabei wird sich zeigen, dass wir diese Grundbestimmungen weitgehend erfassen können, ohne auf die Position des starken ontologischen Holismus zu rekurrieren. Wenngleich die einzelnen Theorieelemente Hegels nicht einfach säuberlich voneinander getrennt werden können, sondern einander gegenseitig inhaltlich bestimmen und rechtfertigen, ist es doch auch dann möglich, von Hegels Metaphysik und seiner Theorie der Freiheit zu lernen, wenn seine Position des starken ontologischen Holismus nicht akzeptiert wird, sondern nur die ersten drei der eben unterschiedenen vier Grade metaphysischer Festlegung von Hegel übernommen werden.
6 Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes Aufgabe dieses Kapitels ist es, auf der Basis unserer Interpretation von Hegels logischer Grundlegung von Freiheit die für unsere Thematik wichtigsten metaphysischen Bestimmungen zu rekonstruieren, die für Hegel den Geist kennzeichnen. In diesem Zusammenhang müssen wir zunächst Hegels allgemeine Auffassung des Verhältnisses zwischen Geist und Natur untersuchen (6.1). Die Bestimmung des Geistes als Tätigkeit der Befreiung seiner selbst von der Natur, die sich dabei ergeben wird, bedarf ihrerseits der genaueren Klärung. Erstens vollzieht sich diese Tätigkeit für Hegel in elementaren Aktivitäten, in denen sich ein Subjekt als mit sich identisch begreift (6.2). Zweitens muss sich ein Subjekt, um sich von der Natur zu befreien, seine Inhalte durch deren rationale Transformation aneignen; hier muss gefragt werden, wie eine solche Transformation in ihren Grundzügen verstanden werden kann (6.3). Schließlich resultiert für Hegel drittens aus der Selbstbefreiung des Geistes von der Natur eine komplexe interne Struktur des Geistes, deren wichtigste Merkmale wir rekonstruieren müssen (6.4). Im letzten Abschnitt des Kapitels wende ich mich der Frage zu, ob Freiheit für Hegel mit dem Determinismus kompatibel ist oder nicht, und vertrete eine inkompatibilistische Deutung (6.5).
6.1 Der Geist als Befreiung von der Natur Um die Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes1, wie sie sich aus der logischen Grundlegung von Freiheit ergeben, zu verstehen, setzen wir beim Gedanken von Freiheit als rationaler Persistenz an. Wir haben in Bezug auf die WdL gesehen, dass das Denken dort am Anfang noch intransparent ist, seine Inhalte durch Unmittelbarkeit gekennzeichnet sind und die logische Notwendigkeit seine begriffliche Entwicklung nur als instinkthafter Trieb anleitet (vgl. 3.3).
1 Auch wenn – wie Fulda beobachtet (Fulda (1991a), 15 f.) – Hegel selbst die Natur- und Geistphilosophie nicht als Metaphysik bezeichnet, erscheint der Begriff der „Metaphysik des Geistes“ doch geeignet, um die Hegelsche Geistphilosophie von anderen philosophischen Projekten abzugrenzen. Der Begriff des Geistes markiert nämlich einen klaren Unterschied gegenüber dem Seelenbegriff in der rationalen Psychologie der Tradition (vgl. deVries (1988), 19 ff.; Wolff (1992), 114 ff.), während die Kennzeichnung als „Metaphysik“ den weit über den Bereich der heutigen „philosophy of mind“ hinausgreifenden Themenbereich und systematischen Stellenwert von Hegels Geistphilosophie verdeutlicht. – Vgl. zur Frage nach den allgemeinen Bestimmungen des Geistes und seinem Verhältnis zur Natur auch deVries (1988), Kap. 3; Wolff (1991); Fulda (2003), 162 ff.
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6 Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes
Erst im Laufe der logischen Entwicklung befreit sich das Denken hin zum transparenten Verständnis seiner eigenen Tätigkeit und derjenigen inferentiellen Zusammenhänge, die seine vermeintlich unmittelbar gegebenen Inhalte korrigieren, rechtfertigen und strukturieren – also hin zu derjenigen Manifestheit begrifflicher Zusammenhänge, als die Hegel innerhalb der WdL Freiheit bestimmt. Dass diese Transparenz und Persistenz in der WdL nicht von Anfang an gegeben ist, ist eine Folge der Voraussetzungslosigkeit, die Hegel für die WdL beansprucht. Zugleich kann dieser Punkt aber auch als Konsequenz einer Einsicht Hegels verstanden werden, die wir in Kapitel 2 als Grundlage seiner Kritik an Wahl-basierten Freiheitstheorien rekonstruiert hatten: Freiheit erfordert, dass die Inhalte unseres Geistes (unserer Erkenntnis, unseres Willens) nicht einfach gegeben sind (wie z. B. Wünsche nach der Standardauffassung der empiristischen Tradition), sondern wir sie uns aneignen – sie müssen „der Inhalt und das Werk“ unserer Freiheit werden (GPhR § 13, 7/64) –, damit sie nicht als fremde Größen unsere Freiheit beschränken.2 Während freilich die WdL von vornherein im „Medium des Denkens“ operiert und die Notwendigkeit von Aneignungsprozessen daher nur in eingeschränktem Maß gegeben ist, erfordert reale Freiheit die Auseinandersetzung mit einer schier unendlichen Vielfalt von Inhalten, Situationen und Gegebenheiten. Diese Auseinandersetzung muss sich als Transformation des Gegebenen durch eine rationale Aktivität – Hegel spricht häufig von „Arbeit“ – vollziehen, die letztlich die
2 Dagegen stellt Wildenauer (2004), die zu Recht den Zusammenhang zwischen der Freiheit des Denkens in der Logik und realer Freiheit in Theorie und Praxis hervorhebt (Wildenauer (2004), 230 ff.), den Prozess, in dem reale Freiheit verwirklicht wird, einseitig als Einnehmen einer privilegierten epistemischen Einstellung dar, durch die wir die bereits vorliegende begriffliche Strukturiertheit unserer (natürlichen und geistigen) Erkenntnisgegenstände begreifen; in dieser epistemischen Einstellung, die für Wildenauer in der absoluten Idee der WdL expliziert ist (Wildenauer (2004), 228 ff.), erkennen wir alles vermeintlich unabhängig von uns Existierende als Produkte unserer Tätigkeit (z. B. Wildenauer (2004), 125, 265). Mit dieser Deutung negiert Wildenauer de facto diejenigen Formen von Freiheit, die Hegel explizit an vielen Stellen den verschiedenen Formen des endlichen Geistes zuschreibt, und schränkt Freiheit auf die philosophische Weltsicht ein. Die eigentliche Motivation für diese Deutung liegt in einem Verständnis von Freiheit als unbedingter Spontaneität: Wenn wir einen Faktor, der für unser Denken und Handeln eine Rolle spielt, nicht selbst verursacht haben, sind wir durch ihn fremdbestimmt. (Vgl. z. B. Wildenauer (2004), 125: „[Zur] Freiheit des Denkens würde es gehören, daß es das ihm Gegebene selbst spontan bestimmt“.) Dieses Freiheitsverständnis entspricht aber der libertarischen Tradition, von der sich Hegel gerade absetzt: Wenngleich für Hegel kausale Spontaneität in Bezug auf unser Handeln eine notwendige Bedingung für Freiheit ist (vgl. 6.5), bedeutet dies doch nicht, dass wir auch die Faktoren, die als Gründe unser Verhalten rational leiten, selbst kausal hervorbringen müssten, um frei zu sein. Vgl. auch die im Folgenden zitierte Passage GPhR § 187 A, 7/344.
6.1 Der Geist als Befreiung von der Natur
319
vernünftige Selbstkonstitution realer Selbste erklären muss (vgl. 2.6.1). So schreibt Hegel etwa im Hinblick auf die Entwicklung verschiedener Begründungsformen praktischer Rationalität: Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweit, in den Naturbedürfnissen und in dem Zusammenhange dieser äußeren Notwendigkeit sich diese Schranke und Endlichkeit gibt und eben damit, daß er sich in sie hineinbildet, sie überwindet und darin sein objektives Dasein gewinnt. Der Vernunftzweck ist deswegen […] [,] daß die Natureinfalt, d. i. teils die passive Selbstlosigkeit, teils die Roheit des Wissens und Willens, d. i. die Unmittelbarkeit und Einzelheit, in die der Geist versenkt ist, weggearbeitet werde […]. Auf diese Weise nur ist der Geist in dieser Äußerlichkeit als solcher einheimisch und bei sich. Seine Freiheit hat so in derselben ein Dasein, und er wird in diesem seiner Bestimmung zur Freiheit an sich fremden Elemente für sich, hat es nur mit solchem zu tun, dem sein Siegel aufgedrückt und [das] von ihm produziert ist. (GPhR § 187 A, 7/344)
Das „Wegarbeiten“ der logischen Form, in der sich der Geist und seine Umwelt zunächst befinden, ermöglicht demzufolge diejenige Aneignung, deren Notwendigkeit Hegel gegen die Vertreter Wahl-basierter Freiheitstheorien behauptet hatte (vgl. 2.2): Der Geist hat es infolge dieser Tätigkeit nur „mit solchem zu tun, dem sein Siegel aufgedrückt“ ist. Hegel kennzeichnet den Prozess, um den es hier geht, auch als „Bildung“ – in der folgenden Passage speziell mit Bezug auf die Genese der Sittlichkeit (vgl. Kapitel 8): Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. (GPhR § 187 A, 7/344 f.)
Hegel geht es hier in erster Linie nicht um Bildung im üblichen Sinne als pädagogisches und kulturelles Thema, sondern um Bildung „in ihrer absoluten Bestimmung“, nämlich als grundlegende Leistung, die den Geist als solchen auszeichnet und von der Natur abgrenzt. Entsprechend müssen in der Struktur des Prozesses, den Hegel als Bildung, Arbeit, Aneignung usw. beschreibt, die Grundbestimmungen rationaler Selbstkonstitution, realer Freiheit und damit auch des Geistes, dessen Wesen in seiner Freiheit besteht (Enz. § 382, 10/25), gesucht werden.3 3 In einem verwandten Kontext hat auch McDowell den Begriff der Bildung verwendet, um das Verhältnis von Geist und Natur zu erklären. Nach McDowell können wir uns dann einen Mittelweg zwischen den gleichermaßen unplausiblen Optionen eines „bald naturalism“ und eines „rampant platonism“ bahnen, wenn wir annehmen, dass Menschen sich durch einen Prozess der
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6 Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes
Wie kann die Struktur dieses Prozesses bestimmt werden? Die Grundgestalt des Prozesses muss in einer Realisierung der logischen Form des Begriffs – also der Form teleologischer Begriffsrealisierung – bestehen. Gemäß unseren bisherigen Ergebnissen müssen im Rahmen dieser Realisierung in einem Kontext, der zunächst durch Intransparenz und Zufälligkeit gekennzeichnet ist, rationale Kontinuität und Transparenz geschaffen werden. Diesen Prozess beschreibt Hegel, wie wir schon gesehen haben, als Prozess der Befreiung, in dem der Geist seine Freiheit entwickelt und sich dadurch von der Natur löst. Reale Freiheit kann daher für Hegel nur als Befreiung gedacht werden, nämlich als Selbstbefreiung des Geistes von der Natur. So sind für Hegel die einzelnen spezifischen Tätigkeiten und Ausprägungen des Geistes nur „Stufen seiner Befreiung“ (Enz. § 386, 10/34), und vom Geist als solchen kann Hegel in einer prägnanten Passage schreiben: Wo er herkommt, – es ist von der Natur; wo er hingeht, – es ist zu seiner Freiheit. Was er ist, ist eben diese Bewegung selbst, von der Natur sich zu befreien. Dies ist so sehr seine Substanz selbst, daß man von ihm nicht als einem so feststehenden Subjekte sprechen darf, welches dies oder jenes tue und wirke, als ob solche Tätigkeit eine Zufälligkeit, eine Art von Zustand wäre, außer welchem es bestehe, sondern seine Tätigkeit ist seine Substantialität, die Aktuosität ist sein Sein. (11/528)
Was dies für die Selbstkonstitution rationaler Subjekte bedeutet, kann vorläufig durch den folgenden Punkt veranschaulicht werden. Um rationale Freiheit zu gewinnen, müssen wir u. a. unmittelbar gegebene Überzeugungs- und Handlungsimpulse hinterfragen und in eine vernünftige, durch geeignete Rechtfertigungszusammenhänge artikulierte Ordnung bringen. Indem wir dies tun, leisten wir einen Übergang von einer Situation, die logisch als Situation des Nebeneinander isolierter Elemente (Impulse), mithin auch der Äußerlichkeit und der Intransparenz beschrieben werden kann, hin zu einer Situation, die eine transparente rationale Ordnung aufweist. Auf diese Weise machen wir uns ferner die jeweiligen
Bildung eine „zweite Natur“ zulegen, die ihnen Zugang zu normativen Tatsachen („requirements of reason that are there whether we know it or not“ (McDowell (1996), 79)) verschafft (McDowell (1996), 78 ff.). Die Anlage zu diesem Prozess kann als Teil der menschlichen Natur begriffen werden, wenn „Natur“ hier weiter verstanden wird als im strikten Naturalismus. – Von einem derartigen „Naturalismus der zweiten Natur“ muss Hegels Deutung des Verhältnisses von Geist und Natur allerdings klar unterschieden werden. Während Bildung im Sinne McDowells ein Prozess ist, der innerhalb der Natur angesiedelt ist (sofern der Naturbegriff ausreichend weit verstanden ist), besteht für Hegel Bildung gerade in der Befreiung des Geistes von der Natur; die Normen, die diesen Prozess leiten, sind nicht Teil der Natur, sondern erlauben es uns vielmehr, die Natur durch unsere Transformationstätigkeit dem Geist anzugleichen. – Zu weiteren wichtigen Differenzen zwischen Hegels und McDowells Position vgl. Halbig (2006).
6.1 Der Geist als Befreiung von der Natur
321
Gehalte zu eigen: Wir bringen sie in diejenige Form der Intelligibilität, die unser eigenes Wesen als rationale Geister ausmacht. Mit seiner Aussage, dass der Geist nichts anderes ist als die Tätigkeit seiner Befreiung von der Natur, leistet Hegel nicht nur eine elementare Charakterisierung des Prozesses der rationalen Transformation, die wir im Folgenden genauer verstehen müssen; er bietet damit auch seine Version einer Beschreibung des Verhältnisses von Natur und Geist, die dem Gedanken eines Freiheits-basierten Weltverständnisses Rechnung trägt: Wie wir gesehen haben, muss dafür nämlich einerseits eine wesentliche Heterogeneität zwischen Geist und Natur angenommen werden – entsprechend der von den Sellarsianern betonten, antireduktionistischen Differenz von Normativem und Nicht-Normativem –, andererseits aber auch eine Dimension der Homogeneität beider Seiten – entsprechend der „Unbegrenztheit des Begrifflichen“ (vgl. 1.2). Um Hegels einschlägige Position genauer zu verstehen, ist es nötig, zwei Bedeutungen von „Natur“ zu unterscheiden, die beide für den Prozess der „Selbstbefreiung des Geistes von der Natur“ eine Rolle spielen. (1) In einer ersten Bedeutung, die wir als „materialen“ Sinn von „Natur“ bezeichnen können, ist Natur die ontologische Sphäre, innerhalb derer wir unsere Freiheit – und insgesamt unser Sein als geistige Wesen – realisieren können und müssen. Unsere intentionalen Einstellungen und sozialen Relationen müssen in Form von Handlungen und Äußerungen konkretes Dasein gewinnen. Hieran sind körperliche Handlungen und Zustände beteiligt, die selbst eine organische Seite haben; diese organische Seite ist ihrerseits innerhalb der anorganischen Natur, also für Hegel in mechanischen und chemischen Prozessen, verwirklicht. In diesen Zusammenhängen ist die Natur, und zwar speziell, wie wir gesehen haben (vgl. 4.6, 5.2.2), die anorganische Natur derjenige Bereich, innerhalb dessen alles, was Dasein haben soll, realisiert werden muss. Diese Realisierung stellt ein Bilden und Formieren der Natur dar, wie sie ohne unser Zutun vorhanden ist. In diesem Bildungsprozess wird aber die Natur nicht etwa eliminiert, sondern sie wird in Konfigurationen gebracht, die Realisierungen geistiger Entitäten bilden. Beispielsweise ist ein Haus qua Artefakt für Hegel eine Entität, die dem Bereich des Geistigen angehört; gleichwohl ist es in Form einer bestimmten komplexen Konstellation von Materieausschnitten im Rahmen mechanischer und chemischer Systeme realisiert. Diese natürlichen Elemente sind dabei für Hegel nicht etwa ein Faktor, der der Realisierung von Nicht-Natürlichem einen Widerstand leistet und sich jener Realisierung zum Trotz erhält.4 Vielmehr machen wir uns (ebenso wie bereits
4 Vgl. WdL 6/482: „Die Gleichgültigkeit der objektiven Welt gegen die Bestimmtheit und damit gegen den Zweck macht ihre äußerliche Fähigkeit aus, dem Subjekt angemessen zu sein; welche
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6 Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes
nicht-rationale Lebewesen) die Eigenschaften, Dispositionen und kausalen Interaktionen von Instanzen natürlicher Arten (also objektiver Begriffe im Sinne Hegels) im Bereich der anorganischen Natur zunutze, um Zwecke in diesem Bereich zu realisieren (vgl. WdL 6/450 f.). Wenn es dagegen z. B. keine chemischen natürlichen Arten mit feststehenden, modal robusten Eigenschaften gäbe, wäre es auch nicht möglich, dass chemische Substanzen in Organismen bestimmte physiologische Funktionen ausüben. (2) Die zweite oder „formale“ Bedeutung der Natur bei Hegel ist die des Gegenpols zur Freiheit. Während Natur zuvor als eine Ermöglichungsbedingung der Wirklichkeit und Freiheit des Geistes fungiert hatte, tritt sie nun als etwas auf, das durch den Prozess, in dem sich der Geist seine Freiheit erarbeitet und sie erweitert, eliminiert wird: als etwas, von dem wir uns befreien müssen, um frei sein zu können. In dieser Hinsicht besteht also ein Gegensatz zwischen Natur und Freiheit. Dabei kommt aber ein sehr spezifischer Begriff von Natur zum Tragen, nämlich Natur im Sinne der logischen Form natürlicher Äußerlichkeit. Während diese Form, deren logische Interpretation wir im Kontext der Urteilslogik betrachtet hatten (vgl. 4.6), allen natürlichen Gegenständen als solchen notwendigerweise zukommt, sind geistige Entitäten durch sie nur kontingenterweise gekennzeichnet: Um gelingende rationale Persistenz und damit Freiheit zu realisieren, müssen wir unseren Einstellungen, Verhaltensmustern usw. diese Form, in der sie zunächst gegeben sind, nehmen und sie stattdessen in die logische Form des Begriffs bringen. (Wie dieser Vorgang jeweils genauer zu verstehen ist, werden wir in den nächsten beiden Abschnitten und in den folgenden Kapiteln betrachten.) Damit bringen wir auch die natürlichen Entitäten, die die jeweiligen geistigen Entitäten, Fähigkeiten usw. realisieren, in eine rationale Form, die aber die Form der Äußerlichkeit, welche diese Entitäten qua Teil der Natur haben, nicht verändert. Ein Beispiel sind rationale Wahrnehmungsfähigkeiten, durch die wir begriffliche Unterschiede in der unmittelbaren Wahrnehmung diskriminieren können. Diese Fähigkeiten setzen Übung voraus, durch die wir Dispositionen zur Überzeugungsbildung entwickeln, welche auch physiologisch realisiert sein müssen. So wird durch Übung die natürliche Ordnung unserer Wahrnehmungsphysiologie in eine Form gebracht, durch die sie eine rationale Struktur erhält. (Z. B. können bestimmte Reaktionen, die sonst bedeutungslos waren, nun zur Rechtfertigung von Überzeugungen dienen.) Dadurch hört aber die natürliche Ordnung nicht auf
Spezifikationen sie sonst an ihr habe, ihre mechanische Bestimmbarkeit, der Mangel an der Freiheit des immanenten Begriffs macht ihre Ohnmacht aus, sich gegen das Lebendige zu erhalten“; vgl. WdL 6/450.
6.2 Aspekte geistiger Identität
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zu existieren. Vom Standpunkt anorganischer Elemente und Gesetze aus macht es keinen signifikanten Unterschied, ob die Sinnesorgane eines Menschen in rationalen Diskriminierungen geübt sind oder nicht; die rationale Formierung des natürlich geordneten physiologischen Materials ist für die natürliche Ordnung gleichgültig5, und nur vom Standpunkt der rationalen Ordnung aus kann die durch Übung gewonnene rationale Disposition von der zuvor herrschenden Abwesenheit rationaler Beziehungen kategorisch unterschieden werden.6 Auf der Grundlage dieser Differenzierung zwischen zwei Bedeutungen von „Natur“ kann nun das Verhältnis von Homogeneität und Heterogeneität zwischen Geist und Natur wie folgt erklärt werden. Der Natur im materialen Sinn (Bedeutung (1)) ist der Geist homogen, weil beide Ausprägungen der logischen Struktur des Begriffs darstellen. Deshalb kann Hegel in einer Passage, die wir bereits in Abschnitt 5.2.4 zitiert haben, schreiben: „Wenn im Gange des Erkennens von der Natur zum Geiste fortgegangen, die Natur als Moment nur des Geistes bestimmt wird, entsteht nicht eine wahrhafte Mehrheit, ein substantielles Zwei […]“ (VB 17/ 398). Hegel verwirft also ausdrücklich einen Substanzdualismus im Sinne Descartes’ (vgl. Wolff (1991)). Heterogen ist der Geist der Natur hingegen im formalen Sinn (Bedeutung (2)); der Geist besteht nach der oben zitierten Aussage Hegels nur darin, sich von der Natur in diesem Sinne zu befreien (11/258).
6.2 Aspekte geistiger Identität Wie wir gesehen haben, muss sich der Geist von der Natur befreien, indem er deren logische Form eliminiert. Insofern Freiheit in rationaler Persistenz besteht, die stets aktiv durch rationale Arbeit hervorgebracht werden muss, wird durch alle Formen von freier Tätigkeit natürliche Äußerlichkeit transformiert. Während manche dieser Formen spezifischen Ausprägungen von Vernunft angehören und wir sie daher erst in den nächsten Kapiteln untersuchen, beschreibt Hegel auch allgemeine Aspekte der Befreiung von der Natur, die für jede Art vernünftiger Existenz und Tätigkeit unabdingbar sind. Solche Aspekte sind dafür erforderlich, dass überhaupt ein – wenngleich zunächst noch abstraktes – rationales Selbst konstituiert wird, das sich dann in der Auseinandersetzung mit Heterogenem und
5 Zwar kann diese Formierung auch in rein natürlichen Begriffen beschrieben werden, aber eine solche Beschreibung gibt lediglich zwei Konstellationen des physiologischen Materials an, an deren Stelle ebenso gut völlig andere Konstellationen treten könnten. Der eigentliche Punkt der Unterscheidung kann auf dieser Beschreibungsebene also nicht rekonstruiert werden. 6 Nichtsdestotrotz ist Hegel, wie wir in Abschnitt 6.5 sehen werden, der Auffassung, dass die Ausübung geistiger Fähigkeiten kausale Spontaneität erfordert.
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6 Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes
der Anreicherung mit besonderen Einstellungen und Identitäten bewähren muss. Dabei können wir zwei Formen relevanter Leistungen unterscheiden, die jeweils grundlegende normative Einstellungen des Subjekts herstellen; die eine Form betrifft dabei die intersituative Selbst-Identifizierung des Ich in verschiedenen Situationen, die andere die intersubjektive Identifizierung des Ich mit anderen Subjekten.7 (1) Die intersituative Identität des Selbst besteht darin, dass das Ich als Subjekt mannigfaltiger Zustände, Einstellungen und Tätigkeiten mit sich selbst unabhängig von bestimmten Inhalten, Festlegungen und Zielen identisch ist. Diese Identität setzt eine Aktivität der Selbstidentifizierung durch mannigfaltige Situationen hindurch voraus, wie deutlicher wird, wenn das Subjekt mit dem Proto-Subjekt rein leiblicher Empfindung verglichen wird. Der Inhalt solcher Empfindung ist allein durch kausale Faktoren bestimmt, und das bloß empfindende Lebewesen geht ganz in der jeweiligen Situation auf.8 Anders das selbstbewusste Lebewesen; es kann von der Bestimmung durch die jeweilige Situation abstrahieren, indem es die gegenwärtige Situation und mögliche andere Situationen, in die es geraten kann oder schon geraten ist, in Bezug zueinander setzt und sich durch alle Situationen hindurch als deren gemeinsames Subjekt identifiziert. Diese Identifizierung setzt erstens die Fähigkeit voraus, seiner selbst gewahr zu sein. Diese Fähigkeit wäre aber nur ein rein psychologisches Phänomen, wenn nicht zweitens eine normative Einstellung des Subjekts gegenüber sich selbst gegeben wäre. Diese Einstellung besteht darin, dass das mit sich selbst in verschiedenen Situationen identische Subjekt sich als Träger von Verantwortung und als Subjekt normativ bewertbarer Zustände und Einstellungen versteht. Diese normative Dimension des Selbstbezugs hat besonders klar Kant – bei dem häufig nur die
7 Im Folgenden verwende ich den Begriff „Identifizierung“, um die Tätigkeit zu kennzeichnen, in der sich ein Ich als selbstidentisch in bestimmten Hinsichten versteht oder erkennt; „Identifikation“ steht dagegen für die „starke Eignerschaft“ eines Subjekts in Bezug auf seine Einstellungen und Handlungen. – Einige Aspekte der im Folgenden behandelten Thematik sind auch in Knappik (2011) besprochen. 8 Vgl. Enz. § 400 A, 10/98: „[W]as man so im Kopfe hat, ist im Bewußtsein überhaupt und der Inhalt demselben so gegenständlich, daß ebensosehr, als er in mir, dem abstrakten Ich, gesetzt ist, er auch von mir nach meiner konkreten Subjektivität entfernt gehalten werden kann; in der Empfindung dagegen ist solcher Inhalt Bestimmtheit meines ganzen, obgleich in solcher Form dumpfen Fürsichseins; er ist also als mein Eigenstes gesetzt“. Vgl., gleichfalls in Bezug auf die Empfindung, Enz. § 402 Z, 10/119: „Was ich auf diesem Standpunkt empfinde, das bin ich, und was ich bin, das empfinde ich. Ich bin hier unmittelbar gegenwärtig in dem Inhalte […]“; Enz. § 381 Z, 10/25: „[D]as Tier […] stellt nur die geistlose Dialektik des Übergehens von einer einzelnen, seine ganze Seele ausfüllenden Empfindung zu einer anderen, ebenso ausschließlich in ihm herrschenden einzelnen Empfindung dar […]“.
6.2 Aspekte geistiger Identität
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Dimension des Selbstgewahrseins gesehen wird – herausgestellt und als freiheitstheoretisch relevantes Problem erkannt, etwa wenn er in der Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (1783) vom Autor schreibt: Er hat aber im Grunde seiner Seele, obgleich er es sich selbst nicht gestehen wollte, voraus gesetzt: daß der Verstand nach objectiven Gründen, die jederzeit gültig sind, sein Urtheil zu bestimmen das Vermögen habe und nicht unter dem Mechanism der blos subjectiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können, stehe; mithin nahm er immer Freiheit zu denken an, ohne welche es keine Vernunft giebt. Eben so muß er auch Freiheit des Willens im Handeln voraus setzen, ohne welche es keine Sitten giebt, wenn er in seinem, wie ich nicht zweifle, rechtschaffenen Lebenswandel den ewigen Gesetzen der Pflicht gemäß verfahren und nicht ein Spiel seiner Instincte und Neigungen sein will […]. (AA 8/14)
Rationale Orientierung an Gründen und die Übernahme von Verantwortung für Überzeugungen setzen also eine Einstellung zu sich voraus, der gemäß wir uns in zukünftigen und kontrafaktischen Situationen stets am Maßstab der für – situationsunabhängig – gültig gehaltenen Gründe orientieren. Würde dieses normative Selbstverhältnis nicht vorausgesetzt, käme auch der Selbstbezug in der transzendentalen Apperzeption über ein nur psychologisches Gewahrsein seiner selbst nicht hinaus. Dabei lassen sich in Kants Darstellung ein negativer und ein positiver Aspekt der hier involvierten Freiheit unterscheiden: Der negative Aspekt besteht in der Unabhängigkeit von dem „Mechanism der blos subjectiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können“; der positive Aspekt besteht in der Fähigkeit, sich „nach objectiven Gründen, die jederzeit gültig sind“, zu richten. Den Gedanken, dass Selbstidentität eine normative Einstellung zu sich selbst ist, die eine Unabhängigkeit von gegebenen Umständen und eine Fähigkeit zur Selbstbestimmung nach Gründen erfordert, übernimmt Hegel direkt von Kant. Hegel redet in diesem Zusammenhang häufig von „formeller“ oder „abstrakter“ Freiheit. Diese Form von Freiheit erklärt er u. a. im Rahmen der Grundbestimmungen des Geistes, die er zu Beginn der Geistphilosophie in der Enzyklopädie entwickelt, wie folgt9: Das Wesen des Geistes ist deswegen formell die Freiheit, die absolute Negativität des Begriffes als Identität mit sich. Nach dieser formellen Bestimmung kann er von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst abstrahieren; er kann die Negation seiner individuellen Unmittelbarkeit, den unendlichen Schmerz ertragen, d. i. in dieser Negativität affirmativ sich erhalten und identisch für sich sein. Diese Möglichkeit ist seine abstrakte für sich seiende Allgemeinheit in sich. (Enz. § 382, 10/25 f.)
9 Vgl. daneben z. B. auch GPhR § 5, 7/49. Dazu s. Houlgate (1995a), 864 f.
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6 Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes
In Hegels Charakterisierung lassen sich wie bei Kant ein negativer und ein positiver Aspekt unterscheiden. Den negativen Aspekt beschreibt Hegel hier und an anderen Stellen als Vermögen der Abstraktion. Damit meint er offenbar nicht in erster Linie die Fähigkeit, einzelne Faktoren für einen bestimmten Zweck (z. B. die Formulierung einer allgemeinen Aussage oder die Bildung einer Überzeugung) nicht zu berücksichtigen und ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken: Für die Bildung rationaler Überzeugungen und Absichten ist es ja gerade wichtig, dass alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Vielmehr scheint Hegel hier mit „Abstraktion“ die Fähigkeit zu meinen, uns von allem, was einen Einfluss auf unser Denken und Handeln nimmt, distanzieren und seine Wirksamkeit blockieren zu können. Das bezieht sich zum einen auf Umstände, denen gegenüber wir passiv sind: Wir können jeden Eindruck, den wir in der Wahrnehmung erhalten, in Frage stellen; wir können jeden Wunsch, der uns zum Handeln drängt, zurückstellen. In der Rechtsphilosophie bezieht Hegel die Fähigkeit zur Abstraktion aber ausdrücklich auch auf bestehende Einstellungen, die wir selbst hervorgebracht haben, wenn er sie als die „absolute Möglichkeit“ charakterisiert, „von jeder Bestimmung, in der Ich mich finde oder die Ich in mich gesetzt habe, abstrahieren zu können“ (GPhR § 5 A, 7/50). Wir können also z. B. auch jede bestehende Überzeugung in Frage stellen, jede Entscheidung, die wir getroffen haben, neu überdenken usw. – In Abschnitt 6.5 werde ich diese Fähigkeit zur „Abstraktion“ in zweierlei Hinsicht genauer bestimmen. Erstens argumentiere ich dort, dass diese Fähigkeit für Hegel (wie für Kant in der Schulz-Rezension) kausale Spontaneität erfordert. Zweitens werde ich zeigen, dass sie von der Fähigkeit zur dezisionistischen Wahl unterschieden werden muss. Die Abstraktionsfähigkeit ist eine Fähigkeit, unter unterschiedlichen Umständen dasselbe zu tun. Die dezisionistische Fähigkeit, unter denselben Umständen zwischen verschiedenen Optionen zu entscheiden („Willkür“), ist dagegen nach Hegel eine Voraussetzung speziell von praktischer Freiheit. Die negative Fähigkeit der „Abstraktion“ ist für Hegel, wie für Kant, eine notwendige Voraussetzung einer positiven Fähigkeit. In der zitierten Passage beschreibt Hegel diese positive Fähigkeit so, dass der Geist „in dieser Negativität affirmativ sich erhalten und identisch für sich sein“ kann. Einen hilfreichen Kommentar hierzu bietet der Zusatz zu dem Paragraphen. Dort heißt es: Das der äußeren Natur Angehörende geht durch den Widerspruch unter; würde z. B. in das Gold eine andere spezifische Schwere gesetzt, als es hat, so müßte es als Gold untergehen. Der Geist aber hat die Kraft, sich im Widerspruche, folglich im Schmerz (sowohl über das Böse wie über das Üble) zu erhalten. (Enz. § 382 Z, 26 f.)
Dieser Vergleich ist im Kontext dessen zu sehen, was wir zum Urteil des Begriffs ausgeführt haben (4.6.2): In der anorganischen Natur herrscht das Entweder-
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Oder, während Organismen und Geister in ihrer konkreten Realität ihrem Begriff widersprechen und dennoch existieren können. Schmerz und Böses bezeichnen hier verschiedene Ausprägungen eines solchen Widerspruchs, wie sie Hegel in Enz. § 472 A unterscheidet (vgl. 4.6.2): Im Organismus äußert sich jener Widerspruch nur im Schmerz; im geistigen Wesen, das in freier Verantwortung für oder gegen Normen handeln kann, ist darüber hinaus auch die Normenverletzung, das Böse, möglich. In § 382 sollte die Rede vom „unendlichen Schmerz“ im weiten Sinne als Bezeichnung dieses Widerspruchs zwischen Norm (immanentem Bewertungsmaßstab) und faktischer Realität verstanden werden. Der Schmerz ist hier „unendlich“, weil der Geist allem, was zunächst als bestimmender Maßstab seines Handelns erscheinen könnte (die verschiedenen Aspekte seiner „individuellen Unmittelbarkeit“), auch zuwiderhandeln kann. Dass sich das Individuum dabei dennoch „affirmativ […] erhalten“ kann, ist freilich nicht als Möglichkeit des physischen Fortbestehens zu verstehen, weil der Geist sogar hierauf – auf sein „Dasein“, wie es in § 382 heißt – zu verzichten vermag.10 Es kann sich hier also bei der „Selbsterhaltung“ des Geistes nur um rationale Selbsterhaltung11 handeln, nämlich die Fähigkeit des Geistes, unter allen Umständen eine normative Einstellung zu sich selbst als identischem Subjekt (seine „abstrakte für sich seiende Allgemeinheit“) einzunehmen und sich eigene Maßstäbe zu setzen. Entsprechend übernimmt Hegel von Kant auch den Gedanken, dass das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption nicht nur eine Form von Bewusstsein beinhaltet, sondern auch ein normatives Selbstverhältnis, durch das sich das Subjekt in verschiedenen Situationen und als Träger verschiedener Einstellungen, Zustände und Akte zu identifizieren vermag.12 Deshalb hat für Hegel die Struktur des „Ich denke“ eine unmittelbare freiheitstheoretische Bedeutung. So ist etwa aus einer Vorlesung Hegels die folgende Bemerkung überliefert:
10 Hegel denkt hier zum einen an die Möglichkeit, sein Leben aufzuopfern oder zu riskieren, wie sie in der Dialektik von Herr und Knecht thematisiert wird (PhG 3/148 ff.); und zum anderen an die Möglichkeit des Selbstmordes, vgl. Rechtsphilosophie (Ilting) IV, 112 (Nachschrift Griesheim 1824/25): „Das Thier kann keinen Selbstmord begehen, der Mensch kann sein Leben endigen. Dieß ist der Stempel der Möglichkeit alles aufzugeben“. 11 Vgl. 3.2.2 für den Hintergrund dieses Begriffs in Kants Rede von der „Selbsterhaltung der Vernunft“ (AA 8/147). 12 Zum normativen Charakter dieses Selbstbezugs vgl. auch die in Abschnitt 7.2 zitierte Stelle aus Enz. § 20 A (8/74), wo Hegel Kant für die Rede vom Begleiten der Vorstellungen durch das „Ich denke“ kritisiert und als Gegenbegriff zu einer solchen „Gemeinschaftlichkeit“ implizit die deontisch-modale Allgemeingültigkeit des Begriffs voraussetzt. – Vgl. daneben zur Dimension eines normativen Selbstverhältnisses in Kants transzendentaler Apperzeption auch Kitcher (2011), Kap. 9; zum sachlichen Zusammenhang zwischen Selbstbewusstsein und normativem Selbstverhältnis vgl. die in Abschnitt 1.6 zitierte Passage aus Korsgaard (1996), 93.
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6 Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes
Der Mensch ist Geist, und was ist das innerste, konzentrierte Wesen, die Wurzel des Geistes? Die Freiheit, Ich, Denken. Ich bin Geist, bin das Konkrete, und wenn ich alles dies mir Vorschwebende zusammennehme, so sage ich: Ich, und das kann nur der Mensch. (VL 13/12)13
Der Zusammenhang, den Hegel hier zwischen dem „Ich“ und der Freiheit herstellt, wird verständlich, wenn die intersituative Selbstidentifizierung als elementare Form rationaler Persistenz verstanden wird: Wenn wir uns unabhängig (unter „Abstraktion“) von jeweils gegebenen Umständen als Träger und Adressaten normativer Einstellungen verstehen, verwirklichen wir dadurch in minimaler Weise diejenige rationale Persistenz, als die Hegel Freiheit versteht. (2) Mit der so bestimmten Selbstidentifizierung ist die zweite Dimension der subjektiven Identität, nämlich die intersubjektive Identität des Individuums mit anderen Subjekten, unmittelbar verbunden. Indem ein Subjekt gegenüber sich selbst die genannte normative Einstellung einnimmt, betrachtet es sich als Träger von Verantwortung qua Vernunftwesen und richtet sich entsprechend nach Normen, die es als für sich qua Vernunftwesen gültig ansieht. Zu diesen Normen zählen zum einen die formalen Prinzipien der Logik, zum anderen epistemische Gründe, die für alle Subjekte gleichermaßen gültig sind (vgl. 7.1). Bei praktischen Gründen ist die Sachlage komplexer, weil eine Überlegung, die für ein Subjekt einen Grund darstellt, für ein anderes Subjekt ohne Belang sein kann; ich werde diese Problematik in Kapitel 8 diskutieren. Auch in Bezug auf praktische Vernunft gibt es aber zumindest einen Teilbereich von Gründen, nämlich den der moralischen Gründe, der für ein Subjekt qua Vernunftwesen Gültigkeit hat. Somit setzt Rationalität ein Selbstverständnis voraus, in dem sich Subjekte als mit allen anderen Subjekten in bestimmter Weise identisch betrachten; ihnen allen ist der Status eines Vernunftwesens mitsamt der daraus resultierenden Rechte und Pflichten gemeinsam – und zwar „gemeinsam“ nicht im Sinne komparativer Allgemeinheit, sondern im Sinne allgemeiner Geltung. Diese Dimension von Selbstidentität ist also gleichfalls in erster Linie eine Angelegenheit normativer Einstellungen und entsprechenden, an Normen ausgerichteten Verhaltens. Auch diesen Aspekt rationaler Selbstidentität hat Kant klar benannt – etwa in seiner Deutung des „sensus communis“ als eines
13 Vgl. z. B. Enz. § 20 A, 8/74 f.: „Ich aber, abstrakt als solches, ist die reine Beziehung auf sich selbst, in der vom Vorstellen, Empfinden, von jedem Zustand wie von jeder Partikularität der Natur, des Talents, der Erfahrung usf. abstrahiert ist. Ich ist insofern die Existenz der ganz abstrakten Allgemeinheit, das abstrakt Freie. Darum ist das Ich das Denken als Subjekt, und indem Ich zugleich in allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, Zuständen usf. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen“.
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Beurtheilungsvermögens […], welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde. (AA 5/293)
An Kants Darstellung der normativ verstandenen intersubjektiven Identität in diesem und in anderen Kontexten14 knüpft Hegel an, wenn er z. B. von einer „Gemeinschaft der Vernünftigkeit“ (Enz. § 447 A, 10/248) spricht, der wir uns entziehen, wenn wir uns im Urteil auf Privatbedingungen – etwa die rein subjektive Empfindung und Anschauung – zurückziehen; an anderer Stelle redet Hegel von dem abstrakten Ich, das „nur das Allgemeine tut, in welchem es mit allen Individuen identisch ist“ (Enz. § 23 A, 8/80). Hegel hebt häufig hervor, dass in der Selbstidentifizierung des Ich die Allgemeinheit des Begriffs am Werke ist (vgl. z. B. Enz. § 382, 10/25 f.; Enz. § 439, 10/ 229). Dies kann so verstanden werden, dass die beiden genannten Leistungen der Selbstidentifizierung elementare Formen dessen sind, wie wir die logische Kategorie des Begriffs anwenden. Da wir durch die Anwendung dieser Kategorie Inhalte in die Form des Begriffs bringen, vollziehen wir hierdurch auf einer grundlegenden Ebene den Prozess der rationalen Transformation und schaffen damit basale Formen von Freiheit, die Voraussetzung für alle konkreteren Freiheitsformen sind.15 Insbesondere wird sich auch in unserer Diskussion dieser konkreteren Freiheitsformen immer wieder zeigen, wie die intersituative und intersubjektive rationale Identität, die aus den genannten Identifizierungsleistungen resultiert, den spezifischeren Freiheitsformen zugrunde liegt. Um diese Identität von spezifischeren Weisen der Selbstidentifizierung zu unterscheiden, wie sie speziell den praktischen Bereich kennzeichnen („partielle praktische Identitä-
14 Ähnlich stellt Kant die Rolle der normativ verstandenen intersubjektiven Identität im Zusammenhang mit dem Objektivitätsbegriff heraus, z. B. AA 4/298: „Alle unsere Urtheile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurtheile: sie gelten blos für uns, d. i. für unser Subject, und nur hinten nach geben wir ihnen eine neue Beziehung, nämlich auf ein Object, und wollen, daß es auch für uns jederzeit und eben so für jedermann gültig sein solle; denn wenn ein Urtheil mit einem Gegenstande übereinstimmt, so müssen alle Urtheile über denselben Gegenstand auch unter einander übereinstimmen, und so bedeutet die objective Gültigkeit des Erfahrungsurtheils nichts anders, als die nothwendige Allgemeingültigkeit desselben. […] Es sind daher objective Gültigkeit und nothwendige Allgemeingültigkeit (für jedermann) Wechselbegriffe, und ob wir gleich das Object an sich nicht kennen, so ist doch, wenn wir ein Urtheil als gemeingültig und mithin nothwendig ansehen, eben darunter die objective Gültigkeit verstanden“. 15 Häufig gebraucht Hegel den Begriff des Denkens, um speziell diese Leistung der Transformation – sowohl auf der elementaren als auch den höherstufigen Ebenen – zu kennzeichnen; vgl. z. B. GPhR § 13 A, 7/64, und Abschnitt 7.3 unten.
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6 Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes
ten“, vgl. Kapitel 8), werde ich in diesem Zusammenhang von der rationalen Grundidentität sprechen. Diese rationale Grundidentität ist eine Beschreibung, unter der wir auf uns als rationale Wesen überhaupt Bezug nehmen; die Art von Selbstbezug, die hierbei zum Tragen kommt, wird durch die genannten Formen der intersituativen und intersubjektiven Identifizierung etabliert und aufrecht erhalten.
6.3 Die Realisierung von Freiheit durch rationale Transformation Hegels Deutung der Selbstidentität des Ich als elementares Resultat der Selbstbefreiung des Geistes durch Anwendung der Kategorie des Begriffs ist ein wichtiger Teil seiner Freiheitstheorie und seiner Philosophie des Geistes. Um das Formalismus-Problem, bei dem seine Freiheitstheorie ansetzt (vgl. 2.6.2, 3.2.1), lösen zu können, muss Hegel aber auch eine Erklärung für die weitergehende Tätigkeit der rationalen Transformation anbieten, durch die wir über die zunächst abstrakte Selbstidentität des Ich hinaus, in der alle vernünftigen Individuen gleich sind, auf rationale Weise zu konkreteren, individuell bestimmten Selbsten gelangen, die überdies in Bezug auf ihre Einstellungen und Handlungen „starke Eignerschaft“ besitzen (vgl. 2.2). Wir werden in den nächsten Kapiteln sehen, welche genaueren Vorgaben diese Transformation in theoretischen und praktischen Kontexten leiten und strukturieren. Schon hier im Zusammenhang mit den Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes stellt sich aber die Frage, wie eine solche Transformation in Grundzügen zu verstehen ist. – Hegels Ausführungen zu dem Prozess der rationalen Transformation können Anforderungen entnommen werden, die zum einen die inhaltliche Transformation der Einstellungen und Handlungen des Individuums (6.3.1) betreffen, zum anderen die sozialen Praktiken und Institutionen, in die das Individuum eingebettet ist (6.3.2).
6.3.1 Die inhaltliche Transformation unserer Einstellungen: Identifikation, rationale Kohärenz und Gründe-Internalismus Bereits im Zusammenhang mit Hegels Kritik an Wahl-basierten Freiheitstheorien haben wir gesehen, dass für Hegel gelingende Freiheit eine „starke Eignerschaft“ in Bezug auf unsere Überzeugungen, Wünsche, Absichten und Handlungen erfordert: Es genügt für Freiheit nicht, dass wir diese Einstellungen haben (bzw. die Handlungen ausführen), sondern wir müssen uns auch mit ihnen identifizieren. Eine zentrale Aufgabe des Prozesses der rationalen Transformation, durch den
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sich in Hegels Formulierung der Geist selbst von der Natur befreit, besteht darin, eine derartige Eignerschaft bzw. Identifikation durch Veränderungen auf der inhaltlichen Ebene herzustellen.16 Ein erstes Element eines derartigen Prozesses besteht darin, dass wir unsere Einstellungen (Überzeugungen, Absichten, usw.) prüfen und sie, wo nötig, im Lichte der verfügbaren Gründe korrigieren bzw. an laufende Veränderungen der Gründe-Situation anpassen. Wie eine derartige Revision und Adaption grundsätzlich möglich ist, erklärt Hegels Theorieelement der „Abstraktion“ bzw. „formellen Freiheit“, das wir im vorigen Abschnitt betrachtet haben. Ebenso wie uns die Fähigkeit, uns unter „Abstraktion“ von allen gegebenen Umständen eigene Maßstäbe zu geben, die Selbstidentifizierung als Ich ermöglicht, erlaubt sie uns auch, bestehende Einstellungen in Frage zu stellen und gegebenenfalls zu revidieren: Denn auch von diesen Einstellungen können wir uns zugunsten eventueller vernünftigerer Optionen distanzieren. Daneben müssen wir speziell im Fall praktischer Einstellungen Entscheidungen darüber treffen, welches von verschiedenen konfligierenden praktischen Zielen wir in der gegenwärtigen Handlungssituation umsetzen wollen, welche mittel-
16 Neben der inhaltlichen Transformation seiner Einstellungen muss das Individuum nach Hegel diese Einstellungen auch in Form von Gewohnheiten und Fähigkeiten habitualisieren. Ohne eine solche Habitualisierung müsste das Subjekt in jeder Situation von neuem überlegen, was es denken und tun soll; es würde ganz in der jeweiligen Gegenwart aufgehen und dabei wieder riskieren, sich dabei nur von seinen momentanen Impulsen leiten lassen. Hegel hebt die Bedeutung solcher Gewohnheiten für rationale Aktivität oft hervor und erblickt plausiblerweise in der Souveränität, die sie dem Geist verleihen, auch einen Beitrag zur Freiheit des Subjekts und seiner Eignerschaft hinsichtlich der Inhalte seiner Einstellungen; so führt er in der Philosophie des subjektiven Geistes in Bezug auf die Seele aus: „Die Seele hat den Inhalt auf diese Weise [sc. durch die Gewohnheit] in Besitz und enthält ihn so an ihr, daß sie in solchen Bestimmungen nicht als empfindend ist, nicht von ihnen sich unterscheidend im Verhältnisse zu ihnen steht noch in sie versenkt ist, sondern sie empfindungs- und bewußtlos an ihr hat und in ihnen sich bewegt. Sie ist insofern frei von ihnen, als sie sich in ihnen nicht interessiert und beschäftigt; indem sie in dessen Formen als ihrem Besitze existiert, ist sie zugleich für die weitere Tätigkeit und Beschäftigung – der Empfindung sowie des Bewußtseins des Geistes überhaupt – offen“ (Enz. § 410, 10/ 183 f.). – Einen derartigen Zusammenhang zwischen Gewöhnung und Aneignung nimmt Hegel auch an, wenn er in der Rechtsphilosophie (im Anschluss an Lockes Theorie der Besitznahme) die Formierung und Ausbildung des eigenen Körpers als Voraussetzung dafür anführt, dass wir uns unseren Körper aneignen: „Der Mensch ist nach der unmittelbaren Existenz an ihm selbst ein Natürliches, seinem Begriffe Äußeres; erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere“ (GPhR § 57, 7/122). Vgl. auch Enz. § 208 Z, 8/365: „Die menschliche Seele hat viel damit zu tun, sich ihre Leiblichkeit zum Mittel zu machen. Der Mensch muß seinen Körper gleichsam erst in Besitz nehmen, damit er das Instrument seiner Seele sei“.
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und langfristigen Ziele wir auf Kosten anderer pro-Einstellungen verfolgen wollen, welche Wünsche wir im Fall eines direkten Konflikts mit anderen Wünschen, Werten etc. ganz fallenlassen wollen usw. Während hier in manchen Fällen durch die verfügbaren Gründe klar festgelegt ist, in welcher Weise der Konflikt aufgelöst werden sollte, ist diese Frage in zahllosen Fällen durch Gründe unterbestimmt. Auch wenn für Hegel der Prozess rationaler Transformation – wie wir gleich noch sehen werden – diese Unterbestimmtheit reduzieren soll, kann er sie nicht gänzlich eliminieren. In Fällen derartiger Unterbestimmtheit sind dezisionistische Entscheidungen nötig (vgl. 1.6), durch die wir Hierarchisierungen unter unseren praktischen pro-Einstellungen vornehmen und so die fraglichen Konflikte auflösen. Wir können z. B. einen gegenwärtigen Konflikt zwischen dem Wunsch, Laufen zu gehen, und der Verpflichtung, einen Aufsatz fertigzuschreiben, auflösen, indem wir für die jetzige Situation das Aufsatzschreiben dem Laufen überordnen und letzteres für einen späteren Zeitpunkt zurückstellen. Ähnlich können wir auch mit konfligierenden Einstellungen bezüglich der längerfristigen Ausrichtung unseres Handelns umgehen: Wir entscheiden, dass uns ein Projekt A wichtiger ist als ein anderes Projekt B und verwenden unsere Zeit, Ressourcen etc. vorwiegend für A, wenngleich wir nach wie vor auch wünschen, B zu verwirklichen, und geeignete Schritte ergreifen, sofern A dafür Zeit und Ressourcen lässt. Hegel bezeichnet derartige Vorgänge der Priorisierung und Hierarchisierung von praktischen Einstellungen durch dezisionistische Entscheidungen als Beschließen (GPhR § 12, 7/63) und als Ausübung der Willkür: Der Widerspruch, welcher die Willkür ist (§ 15), hat als Dialektik der Triebe und Neigungen die Erscheinung, daß sie sich gegenseitig stören, die Befriedigung des einen die Unterordnung oder Aufopferung der Befriedigung des anderen fordert usf.; und indem der Trieb nur einfache Richtung seiner Bestimmtheit ist, das Maß somit nicht in sich selbst hat, so ist dies unterordnende oder aufopfernde Bestimmen das zufällige Entscheiden der Willkür, sie verfahre nun dabei mit berechnendem Verstande, bei welchem Triebe mehr Befriedigung zu gewinnen sei, oder nach welcher anderen beliebigen Rücksicht. (GPhR § 17, 7/68)
Wie wir schon gesehen haben (vgl. 2.2), wehrt sich Hegel vehement gegen eine Gleichsetzung von Freiheit und Willkür; nichtsdestotrotz ist das „unterordnende oder aufopfernde Bestimmen“ der Willensinhalte eine notwendige Voraussetzung für rationales Handeln, und die Willkür stellt dementsprechend eine wesentliche Bedingung für praktische Freiheit dar. Die beschriebene Revision und Adaption von epistemischen und praktischen Einstellungen schafft Konsistenz, d. h. Widerspruchsfreiheit: zum einen insofern, als wir hierdurch direkte Widersprüche zwischen Einstellungen auflösen, z. B. zwischen der Überzeugung, dass p, und der Überzeugung, dass ~p, oder dem Wunsch, jetzt zu φen, und dem nicht gleichzeitig erfüllbaren Wunsch, jetzt zu
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ψen; zum anderen auch in dem weiteren Sinne, dass wir Widersprüche zwischen erst- und höherstufigen Einstellungen beseitigen, also z. B. zwischen der Überzeugung, dass p, und der höherstufigen Überzeugung, dass die verfügbaren Gründe nicht hinreichend sind, um die Überzeugung, dass p, rational zu machen (oder auch zwischen der Überzeugung, dass p, und der impliziten Akzeptanz einer epistemischen Norm, aus der sich ergibt, dass die verfügbaren Gründe für die Überzeugung, dass p, nicht hinreichend sind). Dadurch leistet die Revision und Adaption unserer Einstellungen einen wichtigen Beitrag zur rationalen Kohärenz des Selbst mit seinen konkreten Überzeugungen, Wünschen, Absichten usw. Für eine Maximierung dieser Kohärenz sind darüber hinaus aber weitere Leistungen nötig, die ebenfalls eine wichtige Rolle im Prozess der rationalen Transformation spielen. Prinzipiell kann nämlich z. B. auch ein in Hegels Sinn „natürliches“ Wunschsystem, eine „Menge und Mannigfaltigkeit von Trieben, deren jeder der meinige überhaupt neben andern“ (GPhR § 12, 7/63) ist, zufälligerweise widerspruchsfrei sein – wenn dieses System etwa nur wenige Wünsche umfasst, die alle ohne Konflikt erfüllt werden können, und die verfügbaren Gründe bzw. Normen es offenlassen, ob man diese oder andere Wünsche haben sollte. Für Hegel würde dieser Fall die Anforderungen an einen rationalen Willen aber klarerweise nicht erfüllen. Eine deshalb erforderliche weitere Bedingung für rationale Kohärenz, die über bloße Konsistenz hinausgeht, besteht darin, dass die Elemente eines individuellen Systems von Einstellungen und Handlungen in möglichst großem Maß auf Gründe gestützt sein müssen, dass also möglichst wenig Raum für willkürliche Entscheidungen und zufälliges Gegebensein bestehen darf. Das Formalismus-Problem, das Hegel durch seine Grundlegung von Freiheit in der logischen Theorie des Begriffs zu lösen versucht, betrifft gerade diesen Aspekt von rationaler Kohärenz. Hegel beschreibt diese Dimension der rationalen Transformation deshalb so, dass wir darin die Inhalte unserer Einstellungen in die Form des Begriffs bringen und dadurch ihren modalen Status von der Zufälligkeit hin zur Notwendigkeit verändern: das „Denken“, so Hegel in einem verwandten Zusammenhang17, behauptet in dem absoluten Rechte seiner Freiheit die Hartnäckigkeit […], mit dem gediegenen Inhalte sich nur zu versöhnen, insofern dieser sich die seiner selbst zugleich würdigste Gestalt, die des Begriffs, der Notwendigkeit, welche alles, Inhalt wie Gedanken, bindet und eben darin frei macht, zu geben gewußt hat. (Enz., Zweite Vorrede, 8/31)
17 Im Kontext dieser Passage geht es um das Verhältnis von Religion und Philosophie. Dieses Verhältnis interpretiert Hegel nach dem Modell des Verhältnisses von Vorstellung und Denken, das selbst eine Ausprägung des Prozesses rationaler Transformation darstellt (vgl. Kapitel 7).
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Dem Denken wird infolge der befreienden Transformation seiner Inhalte eine Notwendigkeit zugänglich, die die „Gedanken“ „bindet und eben darin frei macht“. (Auf den weiteren Punkt, dass diese Notwendigkeit neben den Gedanken auch den Inhalt bindet, werde ich gleich noch zurückkommen.) Der relevante Begriff von Notwendigkeit kann dabei im Sinne epistemischer Modalität verstanden werden: Dass es epistemisch notwendig ist, dass p, bedeutet, dass es rational obligatorisch ist, p zu glauben. (Diese Form von Modalität findet auch im praktischen Bereich Anwendung, weil der Inhalt von p z. B. auch ein evaluatives Urteil sein kann.) Indem die rationale Transformation also die epistemische Modalität unserer Einstellungen (oder unserer „Gedanken“) verändert, verringert sie das Maß, in dem diese Einstellungen normativ unterbestimmt sind (bzw. das Maß, in dem unsere Einstellungen die epistemische Modalität der Kontingenz oder bloßen Möglichkeit besitzen). Eine solche Veränderung der epistemischen Modalität bereits bestehender Einstellungen ist aber nur dadurch möglich, dass zusätzliche Gründe für sie zugänglich gemacht werden. Auf welche Weise die logische Struktur des Begriffs in Bezug auf theoretische und praktische Einstellungen jeweils zusätzliche Gründe zugänglich machen und dadurch die rationale Kohärenz des Selbst maximieren kann, werden wir in den folgenden Kapiteln gesondert betrachten. (Zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bestehen hier nach Hegels Theorie nämlich wesentliche Unterschiede.) Die zitierte Passage gibt aber bereits einen wichtigen Hinweis: Neben den „Gedanken“ soll nämlich die Notwendigkeit, die sich infolge der rationalen Transformation einstellt, auch den „Inhalt“ binden. Hegel scheint sich hiermit auf diejenigen Formen von „inhaltlicher“ Modalität zu beziehen, die die Inhalte unserer Einstellungen im Gegensatz zu den Einstellungen selbst qualifizieren – also z. B. logische, metaphysische und physikalische Modalität. Demnach ist Hegel der Auffassung, dass – zumindest in paradigmatischen Fällen – epistemische Notwendigkeit dadurch erzeugt wird, dass die inhaltliche Notwendigkeit der Gegenstände, auf die wir uns beziehen, erkannt wird. Nehmen wir z. B. an, dass jemand zunächst von p und von q überzeugt ist, aber keine zwingenden Gründe dafür hat – dass also die epistemische Modalität der Kontingenz vorliegt. Später stellt die Person fest, dass im Sinne der inhaltlichen Notwendigkeit zwischen p und q ein Zusammenhang der Art ◻(p→q) besteht. In diesem Fall wird für die Person unter der Voraussetzung der anderen beiden Überzeugungen p und ◻(p→q) die Überzeugung, dass q, epistemisch notwendig. Ebenso kann in praktischen Kontexten z. B. eine bestimmte, zuvor fakultative praktische Bewertung dann obligatorisch werden, wenn man einsieht, dass das ihr zugrunde liegende Gut einen notwendigen, allgemein verbindlichen Wert und nicht nur einen kontingenten Wert besitzt. Der hier von Hegel angesprochene Zusammenhang von epistemischer und inhaltlicher Modalität entspricht ganz dem Zusammenhang zwischen Rechtfer-
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tigung und Erklärung, von dem wir gesehen haben, dass er in Hegels Urteilslehre eine wichtige Rolle spielt (4.4.4): Die epistemische Modalität hängt nämlich davon ab, welche Art von Rechtfertigung man für eine Einstellung besitzt; und Erklärungen basieren typischerweise auf der Einsicht in inhaltlich notwendige Zusammenhänge. Die rationale Kohärenz, nach deren Maximierung der Prozess der rationalen Transformation strebt, muss also auch explanatorische Kohärenz einschließen. Zur explanatorischen Kohärenz eines Überzeugungssystems kann z. B. die Annahme von wissenschaftlichen Theorien beitragen, die die bestehenden Überzeugungen explanatorisch vereinheitlichen. In der oben zitierten Passage hat Hegel gerade einen solchen Fall, nämlich den Übergang von einem religiösen zu einem philosophischen (und damit wissenschaftlichen) Überzeugungssystem, vor Augen. – In den folgenden beiden Kapiteln werden wir sehen, wie der erläuterte Prozess der Reduzierung rationaler Unterbestimmtheit in theoretischen und praktischen Kontexten mit Hegel genauer verstanden werden kann. Die Revision und Adaption unserer Einstellungen, durch die wir Konsistenz unter ihnen herstellen können, und die darüber hinausgehende Optimierung rationaler Kohärenz durch die Maximierung des Ausmaßes, in dem unsere Einstellungen durch Gründe gestützt sind, sind wesentliche Aspekte des Prozesses rationaler Transformation, durch den sich der Geist von der Natur befreit. Sie sind aber noch nicht für das Gelingen dieses Prozesses hinreichend. Denn wie wir schon in der Diskussion der Freiheitskonzeptionen Frankfurts und Watsons gesehen haben (vgl. 2.5.1 und 2.5.2), lässt die durchgängige Harmonie und Rationalität unserer Überzeugungs- und Wunschsysteme noch Raum für Entfremdung: Wie Velleman bemerkt, können wir nämlich auch von unseren Gründen dissoziiert sein (vgl. 2.5.2). Im Rahmen der Hegelschen Freiheitstheorie könnte z. B. ein Akteur all seine Wünsche und Absichten an die vernünftige soziale Ordnung der modernen Sittlichkeit angepasst haben und erst durch diese Anpassung ein kohärentes Selbst gewonnen haben. Er könnte aber dennoch unfrei sein, weil er sich nicht wirklich mit dieser Ordnung identifiziert, sondern sich ihre Akzeptanz nur einredet – z. B. infolge eines zwanghaften Bedürfnisses nach Sicherheit und Stabilität – und daher seine Wünsche, Wertschätzungen und Absichten nur halbherzig revidiert; oder aber auch deshalb, weil er von anderen im Sinne dieser sozialen Ordnung erfolgreich indoktriniert wurde. Bei Hegel selbst können derartige Szenarien z. B. in Bezug auf die Individuen in der vormodernen Sittlichkeit – also der Phase der rein „objektiven“ Freiheit, in der geteilte Normen unhinterfragt als gültig akzeptiert werden (vgl. 2.1) – auftreten. Besonders Hegels Darstellung der Polis von Sparta kann in diesem Sinne verstanden werden: In Sparta, so Hegel,
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sehen wir […] die starre abstrakte Tugend, das Leben für den Staat, aber so, daß die Regsamkeit, die Freiheit der Individualität zurückgesetzt ist. Die Staatsbildung Spartas beruht auf Anstalten, welche vollkommen das Interesse des Staates sind, die aber nur die geistlose Gleichheit und nicht die freie Bewegung zum Ziel haben. (VPhG 12/319 f.)18
Hegel äußert sich nicht genauer zur Erziehung in Sparta, doch muss angenommen werden, dass diese aus seiner Sicht in einer Art von Indoktrination besteht: Denn obwohl ihre Freiheit und ihre Interessen nicht respektiert werden, folgen die spartanischen Bürger für Hegel offenbar den geltenden Normen nicht widerwillig, sondern haben sie infolge ihrer Erziehung internalisiert. Um Fälle wie die genannten auszuschließen, muss erstens gewährleistet sein, dass das Subjekt seine für sich genommen rationalen Einstellungen auch aus den richtigen Gründen hat. Wenn z. B. die Überzeugung, dass q, aus Sicht des Subjekts deshalb gerechtfertigt ist, weil gilt: p und p→q, dann muss das Subjekt nicht nur von p, p→q, und q überzeugt sein – die Überzeugung, dass gilt: p und p→q, muss auch der Grund sein, aus dem das Subjekt die Überzeugung hat, dass q. Analoges gilt für Wünsche, Absichten und Handlungen. Bei Hegel ist in diesem Zusammenhang eine Passage in seiner kritischen Diskussion der Kategorie „Grund“ (gemeint ist der „zureichende Grund“ der Rationalisten) einschlägig: Die moralischen Beweggründe z. B. sind wesentliche Bestimmungen der sittlichen Natur, aber das, was aus ihnen folgt, ist zugleich eine von ihnen verschiedene Äußerlichkeit, die aus ihnen folgt und auch nicht folgt; erst durch ein Drittes kommt sie zu ihnen hinzu. Genauer ist dies so zu nehmen, daß es der moralischen Bestimmung, wenn sie Grund ist, nicht zufällig sei, eine Folge oder ein Begründetes zu haben, aber ob sie überhaupt zum Grund gemacht werde oder nicht. […] Aus einem moralischen Beweggrunde kann also eine Handlung hervorgehen oder nicht. Umgekehrt kann eine Handlung mancherlei Gründe haben; sie enthält als ein Konkretes mannigfaltige wesentliche Bestimmungen, deren jede deswegen als Grund angegeben werden kann. (WdL 6/108)
Diese Passage kann so verstanden werden, dass gegebene Handlungen häufig in mehr als einer Weise rationalisiert werden können. Sie haben stets verschiedene Aspekte – heute würde man sagen: wir können auf das Handlungsereignis unter verschiedenen Beschreibungen Bezug nehmen (vgl. Davidson (1980b), 4 f.) –, von denen mindestens einer, oft aber auch mehrere die Handlung aus Sicht der Akteurin als wünschenswert erscheinen lassen. In diesem Fall gab es für die Akteurin mehrere Gründe für die Handlung. Um die Handlung aber angemessen
18 Vgl. auch PhG 3/331 zur Polis-Gesellschaft im Allgemeinen: „Diese Bestimmung [sc. die ‚höhere Bestimmung‘ der Familie] fällt nicht in die Familie selbst, sondern geht auf das wahrhaft Allgemeine, das Gemeinwesen; sie ist vielmehr negativ gegen die Familie und besteht darin, den Einzelnen aus ihr herauszusetzen, seine Natürlichkeit und Einzelheit zu unterjochen und ihn zur Tugend, zum Leben in und fürs Allgemeine zu ziehen“.
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verstehen und bewerten zu können, müssen wir wissen, welches die Perspektive ist, aus der die Akteurin die Handlung wirklich intendiert hat – welches also der Grund ist, aus dem sie tatsächlich gehandelt hat (vgl. Davidson (1980b), 11), oder in Hegels Worten die „Bestimmung“, die sie „zum Grund“ der Handlung „gemacht“ hat. Wenn dementsprechend zwischen der Rechtfertigungsbeziehung (Handlung/ Überzeugung – Grund, der für die Handlung/Überzeugung spricht) und der sogenannten „basing relation“ (Handlung/Überzeugung – Grund, aus dem man die Handlung ausübt/die Überzeugung hat) unterschieden wird19, dann kann für die rationale Kohärenz unserer Einstellungssysteme gefordert werden, dass wir nicht nur Einstellungen haben (Handlungen ausüben), die unseren Gründen entsprechen, sondern die Einstellungen auch aus den richtigen Gründen haben (bzw. unsere Handlungen aus den richtigen Gründen ausüben). Wenn z. B. ein indoktriniertes Mitglied der spartanischen Polis zwar seinen Aufgaben als Familienmitglied nachkommt, aber dies eigentlich aus zwanghafter Furcht vor Strafe tut und nicht auf Grund seiner (tatsächlich vorhandenen, aber nicht handlungswirksamen) Wertschätzung für seine Familie, dann ist die genannte Anforderung nicht erfüllt. Neben diesem Faktor, der eine weitere Qualifikation des Endzustands der rationalen Transformation bildet und als zusätzlicher Aspekt der rationalen Kohärenz verstanden werden kann, ist zweitens ein Kriterium nötig, das den Verlauf des Prozesses rationaler Transformation selbst betrifft. Es ist nämlich z. B. denkbar, dass ein Subjekt, das die soziale Ordnung nur infolge von Indoktrination akzeptiert, die relevanten Einstellungen durchaus aus den richtigen Gründen hat: Denn ebenso wie durch Manipulation bestimmte Einstellungen hervorgebracht werden können, ist prinzipiell denkbar, dass auch die „basing relations“ zwischen solchen Einstellungen durch Fremdeinwirkung erzeugt werden.
19 Hegel lässt allerdings offen, was dafür erforderlich ist, dass man etwas „zum Grund“ seiner Handlung macht. Gut zu Hegels Darstellung in der zitierten Passage würde eine kausale Deutung passen, wie sie Davidson für Handlungen ausformuliert und verteidigt hat (vgl. Davidson (1980a)). Der Grundgedanke einer solchen Theorie ist der, dass die „basing relation“ eine kausale Beziehung zwischen der begründenden Einstellung und der begründeten Einstellung (bzw. Handlung) darstellt. (Anders als bei Handlungen liegt es dabei im Fall von Einstellungen nahe, diese kausale Beziehung nicht im Sinne einer kausalen Produktion zu verstehen, sondern im Sinne eines kausalen Stützens („causal sustain“).) – Eine solche kausale Deutung der „basing relation“ ist auch mit dem inkompatibilistischen Modell freien Handelns vereinbar, das ich Hegel in Abschnitt 6.5 zuschreibe. Die direkte Äußerung der kausalen Spontaneität des Akteurs könnte nämlich darin bestehen, dass er eine seiner pro-Einstellungen dazu bestimmt, kausal wirksam zu werden (und sie in diesem Sinne „zum Grund macht“, wie Hegel es ausdrückt).
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Eine mögliche Anforderung an den Verlauf der rationalen Transformation, die diesem Problem Rechnung trägt, wäre die, dass dieser Prozess selbst seitens des Akteurs – bzw. seitens anderer relevanter Personen, etwa in der Erziehung – durch bestimmte Gründe, wie z. B. das Streben nach Rationalität und Freiheit, motiviert sein muss. Das passt allerdings schlecht zu Hegels Lehre von der „List der Vernunft“ (vgl. unten 6.4), der zufolge die Realisierung von Freiheit auch und gerade dort stattfinden kann, wo die Akteure aus ihrer Sicht nicht nach Freiheit, sondern nach der Befriedigung egoistischer Bedürfnisse streben. Außerdem kann auch jede Manipulation eines Subjekts durch ein Streben nach Rationalität und Freiheit seitens der Manipulierenden motiviert sein.20 Eine aussichtsreichere Option wird durch Hegels Diskussion der rein „objektiven“ Freiheit – wie in der antiken Polis – im Gegensatz zur „subjektiven“ Freiheit nahegelegt (vgl. 2.1). Wir hatten gesagt, dass im Rahmen der objektiven Freiheit, in der geteilte Normen vom Individuum unhinterfragt akzeptiert werden, Szenarien von Manipulation und Indoktrination auftreten können. Die Einseitigkeit der rein objektiven Freiheit wird nach Hegel in der modernen Sittlichkeit durch die Anerkennung der subjektiven Freiheit kompensiert, die Hegel in der Rechtsphilosophie als das „Recht des subjektiven Willens“ (GPhR § 107, 7/205) interpretiert. Dieses Recht präzisiert Hegel in Gestalt mehrerer genauer bestimmter Rechte, die zur Definition der Kriterien für die Imputation von Handlungen in modernen Gesellschaften beitragen (vgl. Quante (1993) und Quante (2011), Kap. 10). Für unsere Zwecke ist hier besonders das „Recht des Subjekts“ wichtig, „in der Handlung seine Befriedigung zu finden“ (GPhR § 121, 7/229). Dieses Recht weist auf ein wichtiges internalistisches Element in Hegels Theorie von (hier zunächst: praktischer) Rationalität hin. Der Begriff „Internalismus“ steht hier für die Auffassung, dass Gründe stets interne und nicht externe Gründe sein müssen. Gemäß dieser von Bernard Williams eingeführten Unterscheidung (B. Williams (1981c)) sind interne Gründe solche Gründe, die ein Subjekt entweder deshalb motivieren können, weil sie selbst Teil seines motivationalen Systems sind, oder weil von diesem System eine Route der rationalen Deliberation hin zu diesen Gründen führt. Externe Gründe sind Gründe, die auf keine der beiden Weisen mit dem motivationalen System des Subjekts verbunden sind. Dass nach Hegel das Subjekt das Recht hat, „in der Handlung seine Befriedigung zu finden“, kann so verstanden werden, dass für das Subjekt nur eine solche Handlung rational bzw. gerechtfertigt sein kann, in der Wünsche oder andere Einstellungen, die Teil seines motivationalen Systems sind, befriedigt werden. Das Recht des subjektiven
20 In literarischer Form hat das besonders eindrücklich B.F. Skinner in Walden Two deutlich gemacht.
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Willens kann also als Recht verstanden werden, nur interne Gründe als Gründe für das eigene Handeln und für dessen Bewertung akzeptieren zu müssen. Auf der Grundlage dieses Internalismus kann der folgende Kandidat für das gesuchte weitere Kriterium in Bezug auf rationale Transformation formuliert werden. Es muss erstens eine rationale Route geben, die vom Anfangszustand des Prozesses zum Endzustand führt und zeigt, dass es für das Subjekt rational ist, die Einstellungen des Endzustandes anzunehmen. Das heißt nicht, dass alle natürlich gegebenen Triebe und Neigungen im Laufe dieser Transformation erhalten bleiben müssen. Aber zumindest einige der Interessen des Subjekts, die ursprünglich seinen „natürlichen Willen“ ausmachen, müssen im Lauf der rationalen Transformation bewahrt werden. Zweitens muss der Prozess der rationalen Transformation zumindest in Grundzügen auch dieser rationalen Route entsprechen21: Die einzelnen Schritte der Transformation müssen im Wesentlichen so beschaffen sein, dass das Subjekt in den jeweiligen Veränderungen seine Interessen wiedererkennt oder bei ausreichender Überlegung wiedererkennen würde.22 Einzelne Übergänge im Rahmen des Prozesses können de facto irrational sein, aber das Prozessresultat darf nicht wesentlich durch massive Veränderungen der Systeme subjektiver Einstellungen in Form von Fremdeinwirkung, Selbstmanipulation o. ä. zustande gekommen sein, in der die Interessen des Subjekts massiv verletzt werden – selbst wenn dieses Resultat für sich genommen vernünftig im Sinne der rationalen Kohärenz ist. Ich habe das fragliche Kriterium an Hand von praktischen Kontexten eingeführt, aber es lässt sich auch auf den theoretischen Bereich übertragen. Hegel selbst konstruiert eine derartige epistemische Parallele zum „Recht des subjektiven Willens“ in seiner Deutung des Empirismus (vgl. 2.4): Es liegt im Empirismus dies große Prinzip, daß, was wahr ist, in der Wirklichkeit sein und für die Wahrnehmung da sein muß. […] Nach der subjektiven Seite ist ebenso das wichtige Prinzip der Freiheit anzuerkennen, welches im Empirismus liegt, daß nämlich der Mensch, was er in seinem Wissen gelten lassen soll, selbst sehen, sich selbst darin präsent wissen soll. (Enz. § 38 A, 8/108)
Die beiden Kennzeichnungen des Empirismus hängen miteinander zusammen: Der Empirismus verteidigt die Freiheit, nur das als epistemisch gültig zu akzeptie-
21 Es muss also auch die Möglichkeit einer rationalen Rekonstruktion des faktischen Prozesses gegeben sein, wobei es dafür – anders als bei Brandom (vgl. 3.1) – nicht genügt, passende vergangene rationale Prozesse zu fingieren. 22 Eine ähnliche Interpretation verteidigt Moyar (2011), 56 ff., gegen die externalistische Deutung von Patten (1999).
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ren, was man selbst sieht und worin man sich „präsent“ weiß, dadurch, dass er nur das, was in der Wahrnehmung gegeben ist, als wahr anerkennt. Hegels Charakterisierung dieser Freiheit ist zunächst mehrdeutig. Denn es gibt für Hegel auch einen Sinn, in dem wir gerade in denjenigen Inhalten ganz „präsent“ und frei sind, die nicht in der Wahrnehmung, sondern nur im expliziten Denken epistemisch zugänglich sind (vgl. Kapitel 7). Im Unterschied zu dieser gelingenden, nicht-einseitigen epistemischen Freiheit hat Hegel in Bezug auf den Empirismus offensichtlich eine rein subjektive Freiheit vor Augen. Diese Freiheit bemisst sich – analog zur subjektiven Freiheit im praktischen Bereich – nicht daran, wie sehr ein Inhalt unserer Natur als Vernunftwesen angemessen ist, sondern daran, wie sehr wir unsere ursprünglich gegebenen epistemischen Einstellungen in dem jeweiligen Inhalt erhalten sehen. Bei diesen Einstellungen handelt es sich zum einen um unsere Wahrnehmungen und Anschauungen, wie sie im Empirismus privilegiert werden; daneben zählen hierzu aber auch die Ansichten des common sense, die Hegel zufolge moderne Philosophen der „Unmittelbarkeit“ wie Jacobi zum letzten Maßstab des Philosophierens machen (vgl. Enz. §§ 61 ff.). Hegel lässt keinen Zweifel daran, dass er die subjektive epistemische Freiheit, die der Empirismus und die common-sense-Philosophie propagieren, für eine einseitige Form von Freiheit hält. Außerdem fordert er speziell für die Philosophie in Gestalt des voraussetzungslosen Anfangs einen radikalen Bruch mit diesen „natürlichen“ epistemischen Einstellungen (vgl. 9.4). Dennoch räumt er auch im theoretischen Bereich der rein subjektiven Freiheit ein eigenes Recht ein. Beispielsweise schreibt er vom voraussetzungslosen Denken der Philosophie: Der Geist darf nicht fürchten, etwas zu verlieren, was wahrhaftes Interesse für ihn hat; es ist seine …23, auf welcher das beruht, was sich in der Philosophie für ihn ergibt. Sie wird ihm daher alles wiedergeben, was Wahres in den Vorstellungen ist, welche der Instinkt der Vernunft zuerst hervorbrachte […]. (Berliner Antrittsrede, 10/417)
Obwohl wir für Hegel, um philosophisch denken zu können, mit allen Voraussetzungen und also auch mit den vermeintlichen Gewissheiten der Wahrnehmung und des common sense brechen müssen, haben doch die „natürlichen“ epistemischen Einstellungen des Subjekts zumindest in einem gewissen Maß – nämlich insofern sie „wahrhaftes Interesse“ haben – ein Eigenrecht, das von der Philosophie respektiert werden muss.24 Auch im theoretischen Bereich ist also dafür, dass sich ein Subjekt infolge der rationalen Transformation mit seinen
23 Fehlt im Manuskript; wohl „Natur“ o. ä. zu ergänzen. 24 Vgl. auch Hegels Beschreibung der begreifenden Versöhnung mit der Wirklichkeit in der Terminologie der subjektiven Freiheit in GPhR 7/26 f.
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Einstellungen identifiziert, erforderlich, dass von seinen ursprünglichen Einstellungen eine rationale Route hin zu diesen transformierten Einstellungen führt und die Genese dieser Einstellungen in ihren Grundzügen dieser rationalen Route entspricht.25 Mit diesem weiteren, internalistischen Theorieelement hat Hegel den Prozess der rationalen Transformation soweit bestimmt, dass Gegenbeispiele wie das der Manipulation ausgeschlossen werden können. Freilich ist entscheidend, dass das internalistische Kriterium im Zusammenhang der weiteren Anforderungen an die rationale Transformation gesehen wird. Denn wie wir schon wissen, vertritt Hegel mit Nachdruck die Thesen, dass die Befriedigung gegebener Einstellungen für sich genommen gerade keine starke Eignerschaft sicherstellen kann, und dass subjektive Freiheit allein eine einseitige Form von Freiheit ist. Zugleich hat sich aber gezeigt, dass auch die Maximierung rationaler Kohärenz als solche noch Raum für Phänomene der Entfremdung lässt. Wirkliche Identifikation ist nur dann möglich, wenn beide Seiten – die Maximierung rationaler Kohärenz und die (partielle) Bewahrung der gegebenen Einstellungen und Interessen des Subjekts – ineinandergreifen. Auf diese Weise resultiert eine komplexe Auffassung der Aneignung von Inhalten durch rationale Transformation, die Hegels Ausführungen zu den spezifischen Freiheitsformen in Theorie und Praxis zugrunde liegt. Für rationale Transformation und mithin für Identifikation und „starke Eignerschaft“ ist demnach erstens nötig, dass wir die rationale Kohärenz unserer Einstellungen und Handlungen maximieren, und das heißt: (a) Konsistenz unter ihnen herstellen (durch Prüfung, Revision, Adaption und hierarchisierende Entscheidungen), (b) das Maß, in dem einzelne Einstellungen und Handlungen nicht durch Gründe gestützt sind, minimieren (und zwar durch das Erkennen von Notwendigkeit auf der inhaltlichen Ebene), und (c) dafür sorgen, dass wir die Einstellungen und Handlungen auch aus den richtigen Gründen haben bzw. ausführen. Zweitens muss eine rationale Route vom Anfangs- zum Endzustand der rationalen Transformation führen, und der tatsächliche Verlauf des Transformationsprozesses muss im
25 Dieses Eigenrecht des alltäglichen gegenüber dem philosophischen Denken (bzw. der „Vorstellung“ gegenüber dem „Begriff“) betont Hegel besonders in der Rezension von Göschels „Aphorismen“, 11/378 f. – Wie sich freilich für Hegel die epistemische von der praktischen Vernunft insgesamt dadurch unterscheidet, dass die Partikularität des einzelnen Subjekts in ihr eine viel geringere Rolle spielt (vgl. die folgenden beiden Kapitel), ist anzunehmen, dass im Laufe des Transformationsprozesses nicht von jedem einzelnen Schritt Kontinuität zu den früheren Einstellungen erwartet werden kann: denn „[i]n der Philosophie verläßt man allerdings den Boden des Anschauens, ihre Welt ist im Gedanken; es muß einem Hören und Sehen vergangen sein“ (Berliner Antrittsrede, 10/415).
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Wesentlichen (und im Theoretischen weniger als im Praktischen) dieser Route entsprechen.26 Die genannten Kriterien haben einige wichtige Konsequenzen, die eigens benannt werden sollten. Erstens beansprucht Hegel, dass nur die normativen Anforderungen, die sich aus seiner logischen Grundlegung von Freiheit durch die Theorie des Begriffs ergeben, rationale Selbstkonstitution ermöglichen. Dazu zählen so material gehaltvolle Anforderungen wie die, eine Identität als Familienmitglied zu entwickeln, die mit bestimmten Wertschätzungen, der Akzeptanz bestimmter Normen etc. verbunden ist (vgl. Kapitel 8); oder die Anforderung, die logische und metaphysische Kategorie des Begriffs als grundlegendes konzeptuelles Mittel zu verwenden, um die Wirklichkeit theoretisch zu erfassen (vgl. Kapitel 7). Die Maximierung der rationalen Kohärenz unserer Einstellungen und Handlungen ist also für Hegel nicht nur eine Frage der rein formalen internen Übereinstimmung von ansonsten beliebig wählbaren Einstellungen. Das liegt aber nicht daran, dass es für Hegel normative Vorgaben für solche Systeme gibt, die ihnen von außen her auferlegt wären. Vielmehr ist wohlverstandene interne Kohärenz im Sinne der erläuterten Anforderungen für Hegel nur möglich, wenn bestimmte materiale Rationalitätsstandards erfüllt werden. Dieser Punkt hängt direkt mit einer wichtigen anthropologischen Implikation von Hegels Position zusammen. Damit bei der Umsetzung materialer Rationalitätsstandards, wie z. B. der Bildung einer Identität als Familienmitglied, auch das internalistische Kriterium für rationale Transformation erfüllt sein kann, muss es einen gewissen Grundbestand an Trieben, Neigungen und Annahmen geben, den die „natürlichen Willen“ von Individuen teilen. Wenn verschiedene Individuen z. B. komplett disjunkte motivationale Systeme haben, dann kann nicht garantiert werden, dass von allen diesen Systemen eine rationale Route hin zur Akzeptanz einer Identität als Familienmitglied (sowie dem möglicherweise damit verbundenen Verzicht auf Wünsche, die dem ursprünglichen motivationalen System angehören) führt. In diesem Fall könnte Hegel aber nicht mehr beanspruchen, dass die Bildung einer solchen Identität eine notwendige Voraussetzung für gelingende Freiheit und rationale Transformation ist – es sei denn, er wäre bereit, einzelne Menschen von der Möglichkeit solcher Freiheit auszuschließen (nämlich auf Grund der inhaltlichen Beschaffenheit ihres „natürlichen Willens“), was er aber ausdrücklich von sich weist (Enz. § 482 A, 10/ 302).
26 Allerdings sind diese Kriterien zusammengenommen immer noch nicht hinreichend, u. a. deshalb, weil Identifikation und Freiheit auch bestimmte soziale Voraussetzungen haben: s. den nächsten Abschnitt.
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Tatsächlich vertritt Hegel explizit die Annahme eines solchen geteilten Grundbestands an Einstellungen. Im theoretischen Bereich entspricht er dem, was Hegel in der oben zitierten Passage als die Wirksamkeit des „Instinkts der Vernunft“ bezeichnet. Ähnlich behauptet Hegel in Bezug auf den praktischen Bereich, der Inhalt der Rechtsphilosophie könne nach allen seinen einzelnen Momenten, z. B. Recht, Eigentum, Moralität, Familie, Staat usf., in der Form vorgetragen werden, daß der Mensch von Natur den Trieb zum Recht, auch den Trieb zum Eigentum, zur Moralität, auch den Trieb der Geschlechterliebe, den Trieb zur Geselligkeit usf. habe. (GPhR § 19 A, 7/70)
Dabei handelt es sich zwar für Hegel natürlich nicht um eine adäquate Darstellungsform der Rechtsphilosophie, doch zeigt die Bemerkung, dass er durchaus die Existenz bestimmter natürlicher Triebe annimmt. – Es ist freilich hierbei von entscheidender Bedeutung, einen Punkt zu berücksichtigen, den Hegel selbst häufig betont: Erst im Laufe des Prozesses rationaler Transformation stellt sich heraus, welche dieser geteilten Einstellungen tatsächlich vernünftig und berechtigt sind. Die Tatsache, dass eine Einstellung (z. B. ein Trieb) von allen Menschen geteilt wird, trägt nichts zur Rechtfertigung dieser Einstellung bei.27 Mit den beiden genannten Implikationen von Hegels Position steht schließlich ein drittes Merkmal seiner Theorie in engem Zusammenhang: Die Möglichkeit von „starker Eignerschaft“ bzw. von Identifikation ist nach dieser Theorie an engere Voraussetzungen geknüpft, als üblicherweise angenommen wird. Erstens können wir uns nach dieser Theorie nicht mit etwas identifizieren, das nicht auf rationale Weise mit unserem ursprünglichen System von Einstellungen verbunden ist. Wir können also nicht – z. B. durch eine existentielle Entscheidung – eine ganz neue Wertschätzung stipulieren und uns zugleich mit ihr identifizieren, oder sinnvoll von anderen erwarten, dass sie sich mit bestimmten Werten identifizieren, deren Anerkennung nicht in ihrem Motivationssystem schon angelegt ist: In solchen Fällen wäre das Recht der subjektiven Freiheit verletzt. Zweitens können wir uns auch nicht mit etwas identifizieren, das wir selbst für irrational halten28 – selbst dann, wenn wir de facto keinen Wunsch haben, die als irrational betrachtete Einstellung aufzugeben. In diesem Fall wäre nämlich die Anforderung rationaler Kohärenz nicht erfüllt. Und drittens können wir uns, wenn die von Hegel formulierten materialen Anforderungen an rationale Kohärenz wirklich alterna-
27 Umgekehrt zeigt auch das Fehlen einer Einstellung in gewöhnlichen „natürlichen“ Willenssystemen keineswegs, dass diese Einstellung falsch ist; es ist nur unter Umständen nicht möglich, sich vollständig mit ihr zu identifizieren. 28 Die Bereitschaft, etwas als Grund zu verwenden, die Bratman (1996) als hinreichende Bedingung für Identifikation vorschlägt, ist also für Hegel zumindest eine notwendige Bedingung.
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tivlos sind, nicht wirklich und dauerhaft mit etwas identifizieren, das diesen Anforderungen widerspricht. Das hat z. B. die prima facie sehr unplausible Konsequenz, dass sich ein Anarchist nicht wirklich mit seiner politischen Meinung identifizieren kann. Besonders der dritte Punkt verdeutlicht schließlich ein weiteres Merkmal von Hegels Theorie: Freiheit sowie „starke Eignerschaft“ bzw. Identifikation als wesentliches Element von Freiheit sind für Hegel Phänomene, die im Vollsinn nur als Vollendungsgestalt eines Prozesses und als holistische Eigenschaft unserer Systeme von Einstellungen und Handlungen als ganzer auftreten können. Die vollständig gelingende Freiheit, die die durchgängige rationale Transformation unserer Einstellungen zur Voraussetzung hat, ist ein Zustand, den Individuen kaum jemals erreichen, und den sie nach Hegel in früheren Phasen der Geschichte auch gar nicht erreichen konnten. Zugleich können für Hegel durchaus auch weniger entwickelte Phasen im Prozess der Selbstbefreiung des Geistes und der rationalen Transformation mit Recht als (vorläufige) Realisierungen von Freiheit und „starker Eignerschaft“ beschrieben werden. Speziell in Bezug auf die Frage, wann eine einzelne Einstellung (oder Handlung) frei ist und wir uns mit ihr identifizieren, scheint hierfür die folgende Anforderung sinnvoll zu sein: Die genannten Kriterien für rationale Transformation – rationale Kohärenz und die Wahrung subjektiver Freiheit – müssen lokal in Bezug auf die fragliche Einstellung (Handlung) und diejenigen weiteren Elemente unserer Einstellungs-Systeme erfüllt sein, die damit in engerem rationalem und kausalem Zusammenhang stehen.29 – Den graduellen Charakter von Hegels Freiheitsbegriff und die Folgen, die sich daraus für die Struktur des Geistes ergeben, werden wir in Abschnitt 6.4 genauer untersuchen.
6.3.2 Die sozialen Voraussetzungen von Freiheit: Praktiken und Institutionen Wie wir in Abschnitt 6.2 gesehen haben, ist bereits auf der elementaren Ebene geistiger Befreiung, der Selbstidentifikation des Subjekts, in Form der „intersubjektiven Identität“ eine Bezugnahme auf andere Subjekte erforderlich. Allgemein
29 In diesem Sinne kann also für Hegel auch der Anarchist eine vorläufige Form von Identifikation in Bezug auf seine politischen Überzeugungen besitzen. Diese ist (auf lokaler Ebene bezüglich dieser Überzeugungen) phänomenal unter Umständen auch gar nicht von der vollständigen Identifikation zu unterscheiden, die für Hegel das Ziel des Prozesses rationaler Transformation bildet. Hegel muss lediglich annehmen, dass die rationale Inkohärenz, die er dem politischen Standpunkt des Anarchisten zuschreiben muss, früher oder später in Form von Konflikten auf individueller und sozialer Ebene zutage tritt.
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gilt für Hegel, dass rationale Aktivität nur im Rahmen geteilter intersubjektiver Praktiken möglich ist (vgl. 3.1). Die Bildung solcher Praktiken, die durch gegenseitige Anerkennungsbeziehungen realisiert und durch Normen und Institutionen strukturiert werden, stellt einen weiteren wesentlichen Faktor in der Selbstbefreiung des Geistes von der Natur dar. Speziell in Bezug auf die praktischen Normen und Institutionen des objektiven Geistes erklärt Hegel, dass die gegebenen Motivationen einzelner Subjekte („das Anthropologische der partikulären Bedürfnisse“), die „äußeren Naturdinge“ und das zunächst durch den Naturzustand des Kampfes auf Leben und Tod30 definierte „Verhältnis von einzelnen zu einzelnen Willen“ gemeinsam „das äußerliche Material für das Dasein“ des Geistes ausmachen (Enz. § 483, 10/303). Die Realisierung und Selbstbefreiung des Geistes zielt darauf, aus diesem Material die „Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet“ zu schaffen (Enz. § 484, 10/303). In Bezug auf die von Hegel angenommenen sozialen Voraussetzungen individueller Freiheit stellen sich im gegenwärtigen Kontext v. a. zwei Fragen: (a) Welchen ontologischen Status besitzen soziale Beziehungen und Institutionen – also der sogenannte „objektive Geist“ – für Hegel? (b) Inwieweit trägt die Entwicklung rationaler sozialer Beziehungen zur rationalen Persistenz des Individuums bei? (a) Hegels Begriff „objektiver Geist“ wird häufig explizit oder implizit als Sammelbegriff für soziale, politische und geschichtliche Phänomene interpretiert, die ontologisch auf der Ebene der Handlungen und Interaktionen einzelner individueller (oder „subjektiver“) Geister angesiedelt sind. Zwar ist der einzelne Wille nach Hegel „die Tätigkeit […], [die Idee] zu entwickeln und ihren sich entfaltenden Inhalt als Dasein, welches als Dasein der Idee Wirklichkeit ist, zu setzen“ (Enz. § 482, 10/301) – ein Dasein, das Hegel als objektiven Geist bezeichnet. Somit sind auch die sozialen Institutionen für den individuellen Geist die „Produkte seiner Tätigkeit“ (GPhR § 257, 7/398). Die Grundform der Tätigkeit, durch die soziale Beziehungen und Institutionen etabliert werden, analysiert Hegel in seiner Diskussion der Anerkennungsbeziehung in der berühmten Dialektik von Herr und Knecht.31 Dabei bietet die Tatsache, dass Hegel diese Analyse in Kurzform in die enzyklopädische Theorie des „Bewusstseins“ aufnimmt, einen wichtigen Hinweis darauf, dass für Hegel nicht nur praktische, sondern auch epistemische Freiheit die Einbettung des Individuums in soziale Beziehungen zur Voraussetzung hat. Gleichzeitig muss jedoch betont werden, dass mit dem Gedanken einer „Produktion“ des objektiven Geistes durch die Tätigkeit geistiger Individuen nur eine 30 Vgl. Enz. § 432, 10/221; PhG 3/148 f. 31 Eine Interpretation der Details von Hegels Anerkennungsbegriff würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen. Vgl. dazu, mit weiterer Literatur, die hilfreiche Diskussion verschiedener Deutungsrichtungen bei Pippin (2008), Kap. 8.
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Seite von Hegels Theorie des objektiven Geistes erfasst ist, die durch eine komplementäre Sichtweise ergänzt werden muss: eine Perspektive, aus der das eigentlich Wirkliche im Spannungsfeld von Individuum und objektivem Geist die soziale, politische und historische Realität ist, die den objektiven Geist ausmacht und an der die Individuen nur partizipieren. Diese Perspektive nimmt Hegel beispielsweise ein, wenn er die Sittlichkeit eine „Substanz“ nennt, deren „Akzidenzen“ die individuellen Subjekte sind (z. B. GPhR §§ 145 f., 7/294 f.), wenn er den Staat als überindividuellen selbstbewussten Willen beschreibt (z. B. GPhR § 257, 7/398), und wenn er mit den „Volksgeistern“ und dem „Weltgeist“ überindividuelle Akteure der Weltgeschichte benennt (Enz. §§ 549 f., 10/347 ff.). Diese Doppelung zweier Sichtweisen kann am besten dadurch erklärt werden, dass im Rahmen von Hegels starkem ontologischem Holismus (vgl. 5.2.4) der objektive Geist eine eigene Realitätsform darstellt, von der die Ebene individueller Geister abhängig ist. Die individuellen Geister, ihre Aktivitäten und Interaktionen bilden, entsprechend der allgemeinen Struktur von Hegels Begriffsrealismus (vgl. 5.2.2), dasjenige Medium, in dem sich diese Form von Geistigkeit realisiert (Enz. § 483, 10/303). („Gleichgültig“ sind die individuellen Geister insofern, als sie immer nur ein partielles Bewusstsein von dem eigentlichen begrifflichen Gehalt des objektiven Geistes und den Prozessen seiner Realisierung haben: vgl. unten Abschnitt 6.4.) Entsprechend kann einerseits die Tätigkeit der Individuen als das „Produzieren“ des objektiven Geistes betrachtet werden, andererseits kann aber in dieser Tätigkeit auch ein übergreifender Prozess am Werke gesehen werden.32 Vom Standpunkt des Hegelschen absoluten Idealismus ist die zweite Sichtweise die adäquatere, weil dem objektiven Geist gegenüber den Individuen in metaphysischer Hinsicht die größere Realität zukommt.33
32 Treffend beschreibt Ottmann (1997), 277 diese Perspektivdoppelung speziell in Bezug auf Hegels Deutung der Geschichte so: „Geschichte wird auf diese Weise doppeldeutig erklärt, zum einen durch das, was die Subjekte tun, zum anderen durch das, was in der Geschichte geschieht. Geschichte ist Machen und Geschehen zugleich. Und wenn die Vernunft nicht in den Absichten der Subjekte liegt, dann kann sie – so es Vernunft in der Geschichte gibt – nur im Geschehen selbst verborgen sein“. 33 Von vielen Exegeten wird diese Perspektive ausgeblendet, weil sie die These einer evaluativen Unterordnung des Individuums unter die Gesellschaft zu implizieren scheint, die mit einem modernen Freiheitsverständnis inkompatibel ist und nicht zuletzt häufig politisch missbraucht wurde. Da es sich hier aber zunächst um eine metaphysische Hierarchisierung handelt, ist diese Folgerung keineswegs zwingend; tatsächlich stellt Hegel auch klar, dass dem Individuum ein unbedingter Wert als Selbstzweck zukommt, der durch keine überindividuellen Interessen überboten werden kann (VPhG 12/50 f.). – Westphal (1993), 265 n. 5 argumentiert dafür, dass die überindividuelle Perspektive de facto für Hegel nicht existiert und insbesondere die Rede von der Substanz nur die Interaktion der Subjekte meint. Dabei stützt er sich aber auf eine Ambiguität in
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Wird der Begriff des „objektiven Geistes“ auf diese Weise verstanden, dann wird sichtbar, dass Hegel eine „soziale Ontologie“ vertritt, die – wie moderne analytische Theorien zu diesem Thema (z. B. Searle (1995); vgl. Brandom (2000c)) – sozialen Institutionen, Status und Prozessen eine eigene Form objektiver Realität zuschreibt, diese Realität darüber hinaus aber nicht nur als Ergebnis der „produzierenden“ Tätigkeit von Individuen begreift, sondern ihr zugleich eine ontologische Priorität im Rahmen der im starken ontologischen Holismus angenommenen Realisierungsprozesse zuschreibt. (b) In Bezug auf die Abhängigkeit individueller Freiheit von sozialen Beziehungen und Institutionen können bei Hegel die folgenden drei Aspekte unterschieden werden. Erstens ist die rationale Struktur der individuellen Systeme von Einstellungen und Handlungen unmittelbar an normative Status wie z. B. Rechte und Pflichten geknüpft: Überzeugungen und Handlungen können z. B. nur rational sein, wenn das Subjekt zu ihnen berechtigt ist. Ferner erheben wir durch Überzeugungen, praktische Bewertungen u. ä. Geltungsansprüche in Bezug auf andere Subjekte, wie wir schon in Bezug auf die „intersubjektive Identität“ des Geistes (6.2) gesehen haben. Derartige normative Status können für Hegel nur im Rahmen von sozialen Praktiken bestehen, in denen sie zugeschrieben und vertreten werden. Zweitens ist speziell im Rahmen praktischer Freiheit die Minimierung der Unterbestimmtheit unserer Einstellungen und Handlungen durch Gründe, die, wie wir sahen, für rationale Kohärenz erforderlich ist, für Hegel nur durch Rekurs auf soziale Institutionen möglich. Diesen Zusammenhang werden wir in Kapitel 8 genauer untersuchen. Drittens kann das individuelle Subjekt nur dann Freiheit als rationale Persistenz realisieren, wenn es nicht systematisch in der Interaktion mit anderen Subjekten Enttäuschungen erlebt und in seinen sozialen Beziehungen entfremdet ist. Wir können uns etwa Situationen vorstellen, in denen ein Subjekt feststellen muss, dass die Geltungsansprüche, die es kraft seiner rationalen Identität an andere Subjekte erhebt, von diesen Subjekten permanent missachtet werden. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn die anderen Subjekte die Überzeugungen eines Individuums nicht nur nie teilen, sondern sie auch nicht einmal als vernünftige Optionen ernst nehmen. Ebenso kann es Situationen geben, in denen das Individuum praktischen Ansprüchen seiner Mitmenschen ausgesetzt ist, die
der Übersetzung von Hegels Bemerkung „Die Substanz ist aber wesentlich das Verhältnis zu ihr selbst von Akzidenzen“ (GPhR § 163 A, 7/313 f.): In der von Westphal verwendeten Übersetzung heißt es „substance is in essence the relation of accidents to itself“; Westphal liest dies irrtümlich als Behauptung einer bloß gegenseitigen Beziehung der Akzidenzen, während Hegel klarerweise von der Beziehung der Akzidenzen zur Substanz redet.
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6 Grundlagen von Hegels Metaphysik des Geistes
in seinen Augen nicht gerechtfertigt sind und nicht auf Wertschätzungen oder Normen beruhen, die es teilen oder auch nur gelten lassen kann. In solchen Situationen ist das Individuum in einer Weise entfremdet, die seine rationale Persistenz einschränkt. Im Rahmen der Logik hatten defizitäre Kategorien unkontrollierte Übergänge und massive Divergenzen zwischen dem veranlasst, worauf das Subjekt sich durch den Gebrauch einer Kategorie festzulegen meint, und dem, worauf es sich damit tatsächlich festlegt (vgl. 3.3). In ganz ähnlicher Weise führen auch konflikthafte soziale Beziehungen dazu, dass die Einstellungen, die das Individuum in seiner rationalen Aktivität gegenüber anderen Subjekten einnimmt, durch die faktische Interaktion mit anderen systematisch unterlaufen und enttäuscht werden. Derartige Divergenzen und Phänomene der Entfremdung können dabei unterschiedliche Ursachen haben. Sie können allein „von außen“ verursacht sein – wie wenn z. B. ein Individuum mit an sich vernünftigen Einstellungen und Ansprüchen in einem ungerechten Staat lebt. Es ist auch möglich, dass das Subjekt selbst permanent irrational ist und daher die Konflikthaftigkeit seiner sozialen Interaktionen selbst verursacht. Am interessantesten sind aber für Hegel diejenigen sozialen Pathologien, die sich aus gemeinsamen Auffassungen und Standpunkten der beteiligten Individuen ergeben: Solche Standpunkte können zwar eine partielle rationale Berechtigung haben, sie kranken aber dennoch für Hegel an inhaltlichen Fehlern und Einseitigkeiten, die sich in der Instabilität der resultierenden sozialen Beziehungen niederschlagen. Viele der „Gestalten des Bewusstseins“, die Hegel im Vernunft- und im Geist-Kapitel der PhG untersucht, sind von dieser Art.34 Wohlgemerkt spielen dabei neben praktischen auch theoretische Bewusstseinsgestalten (z. B. Aufklärung) eine Rolle: Auch epistemische Einstellungen können also zu einer Entfremdung von sozialen Beziehungen führen, und umgekehrt kann eine solche Entfremdung neben der praktischen auch die epistemische Freiheit einschränken oder gefährden.
6.4 Die interne Hierarchie des Geistes Die bislang in diesem Kapitel rekonstruierten Grundbestimmungen des Hegelschen Geistbegriffes müssen nun noch durch ein weiteres Element ergänzt werden: nämlich ein allgemeines Modell der Ausdifferenzierung des Geistes in unter-
34 Besonders deutlich ist dies etwa in den Abschnitten „Das geistige Tierreich und der Betrug oder die Sache selbst“, „Die sittliche Handlung“ und „Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit“ der Fall.
6.4 Die interne Hierarchie des Geistes
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schiedliche Formen und Grade von Freiheit, wie wir sie in den folgenden Kapiteln besprechen werden. Erneut können wir uns auf unsere Deutung des Urteils des Begriffs stützen, um dieses Modell zu entwickeln. Dabei wird es darum gehen, die folgenden Thesen Hegels in ihrem Zusammenhang zu rekonstruieren: (1) Freiheit ist das Wesen des Geistes, durch das er sich von der Natur unterscheidet. (2) Die einzelnen Vermögen, Leistungen und Institutionen des Geistes sind verschiedene Stufen und Grade seiner Realität, „Stufen seiner Befreiung“ (Enz. § 386, 10/34). (3) Diese Stufen sind teleologisch auf ein übergeordnetes Ziel idealer Freiheit hin ausgerichtet. (4) Diese ideale Freiheit ist ein Ziel aller vernünftigen Aktivität: Der eigentlich freie und vernünftige Wille ist „der freie Wille, der den freien Willen will“ (GPhR § 27, 7/79). (5) Dieses Ziel idealer Freiheit leitet auch die überindividuelle, geschichtliche Realisierung von Freiheit, und zwar mittels der Struktur der „List der Vernunft“ ohne das explizite Wissen der beteiligten Individuen. Wir beginnen bei einer Beobachtung, die den Gebrauch von Begriffen wie „frei“, „vernünftig“, „rational“ u. ä. betrifft. Es ist ein wichtiges Merkmal dieser Begriffe, dass wir sie – gemäß der in Abschnitt 4.6.2 eingeführten Terminologie – sowohl in klassifikatorischer als auch in evaluativer Bedeutung verwenden. Mittels der klassifikatorischen Bedeutung drücken wir aus, ob ein Wesen oder eine einzelne seiner Handlungen und Einstellungen zum Bereich des Freien, Rationalen, Vernünftigen etc. gehört oder nicht. Insbesondere können wir auf diese Weise ein Wesen der Klasse der freien, vernunftbegabten Wesen im Gegensatz zu nichtrationalen Lebewesen und anorganischer Natur zuordnen. Wenn wir im Folgenden vom klassifikatorischen Gebrauch der fraglichen Prädikate reden, beziehen wir uns speziell auf diese zuletzt genannte Gebrauchsweise, also die demarkatorische Anwendung auf Wesen im Gegensatz zu einzelnen Handlungen oder Einstellungen. – Dagegen verorten wir mit dem evaluativen Gebrauch der genannten Prädikate ein Wesen oder seine einzelnen Handlungen und Einstellungen auf einer Skala von Graden der Freiheit und Vernunft. Eine Option kann vernünftiger als eine andere sein; eine Handlung eines Wesens kann freier als eine andere sein; ein Mensch kann freier als ein anderer sein. Dabei handelt es sich nicht um eine beliebige Art des mehr und weniger, sondern um eine Bewertung: Indem wir einer Person oder einer Handlung ein größeres Maß an Freiheit oder an Vernünftigkeit zusprechen, drücken wir ein Lob oder eine positive Bewertung aus; wenn wir jemanden als unfrei und/oder unvernünftig bezeichnen, stellt dies einen Tadel dar. Diese Unterscheidung im Gebrauch der genannten Begriffe ist sowohl für Theorien von Freiheit als auch für Theorien der Rationalität relevant, weil beide
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Theorien eine Klärung der jeweiligen Begriffe in beiden Bedeutungen zur Aufgabe haben. Eine Theorie der Rationalität muss erklären können, weshalb manche Optionen, Handlungen oder Menschen vernünftiger als andere sind; sie muss aber auch Kriterien dafür angeben können, was nötig ist, damit sich ein Wesen überhaupt als geeigneter Kandidat für derartige Bewertungen qualifiziert. Dasselbe gilt analog für Freiheitstheorien. Die Weise, in der diese Doppelung in Hegels Theorie des freien Geistes zum Tragen kommt, ist in den oben genannten Thesen (1) und (2) ausgedrückt. Einerseits schreibt Hegel etwa über die Tätigkeit, in der der Geist sein Wesen, also die Freiheit manifestiert: „Die verschiedenen Stufen dieser Tätigkeit, auf welchem als dem Scheine zu verweilen und welche zu durchlaufen die Bestimmung des endlichen Geistes ist, sind Stufen seiner Befreiung […]“ (Enz. § 386, 10/34). Die einzelnen unterschiedenen Vermögen und Ausprägungen des Geistes stellen somit bei Hegel spezifische Grade von Freiheit dar und sind daher an den evaluativen Gebrauch der Begriffe „frei“ und „vernünftig“ (oder „geistig“) gebunden.35 Andererseits bezeichnet Hegel, wie wir schon gesehen haben, in der Abgrenzung des Geistes von der Natur die Freiheit des Geistes als zentrales Wesens- und Abgrenzungsmerkmal. Daher gilt, dass in einer bestimmten Hinsicht jedes Wesen (und jede Handlung etc.) im Bereich des Geistigen frei ist36, während die Natur „in ihrem Dasein keine Freiheit“ zeigt, „sondern Notwendigkeit und Zufälligkeit“ (Enz. § 248, 9/27). Nun besteht ein Problem für jede Rationalitäts- und Freiheitstheorie, das noch zu wenig Beachtung gefunden hat37, darin, dass die beiden jeweils unterschiedenen Begriffsbedeutungen in ihren semantischen Eigenschaften verschieden sind und unterschiedlichen Typen von Begriffen angehören – einerseits Begriffen, deren Anwendung eine Frage des Entweder-Oder ist (wie z. B. „Wasser“), und andererseits Begriffen, deren Anwendung eine Frage des mehr oder weniger ist (wie z. B. „groß“ und „klein“). Nach gängigen semantischen Auffassungen muss das Verhältnis dieser Begriffe daher als bloße Äquivokation gedeutet werden, so dass ihre Bedeutungen auseinanderfallen. Dann wird aber unklar, wie eine Rationalitäts- und eine Freiheitstheorie die oben unterschiedenen Aufgaben
35 Vgl. zur teleologischen Struktur des Geistes Halbig (2002), 102 ff. 36 Vgl. VL 13/4: „Wenn der Mensch geistig ist, und der Geist frei, so ist in allem, auch was als das Schlechteste erscheint, der Geist, die Freiheit. In allem Menschlichen ist der unendliche Stempel des Geistes, die Freiheit, enthalten“. 37 Eine Ausnahme bilden Brandoms Unterscheidung einer „konstitutiven“ von einer „evaluativen“ oder „komparativen“ Dimension von Rationalität, RiPh 2 f., sowie die theoretisch ausgearbeitete Unterscheidung eines „flachen“ von einem „variablen“ Gebrauch von „rational“ bei Grice (2001), 28 ff.
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erfüllen können, ohne selbst in zwei unverbundene Teile zu zerfallen. Deshalb ist für jede Rationalitäts- und Freiheitstheorie eine semantische Deutung, die einen positiven Zusammenhang zwischen den beiden Gebrauchsweisen herstellen kann, ein wesentliches Desiderat. Für eine solche Deutung können wir uns nun direkt auf das Modell stützen, das wir in Kapitel 4 für das Verhältnis der klassifikatorischen und der evaluativen Gebrauchsweise im Kontext von Hegels Urteil des Begriffs eingeführt haben (vgl. 4.6.2). Ich habe in diesem Zusammenhang dafür plädiert, dass die beiden Gebrauchsweisen direkt miteinander verbunden sein können, wenn der Gegenstand, auf den die jeweiligen Begriffe angewandt werden, eine Bewertung an Hand eines ihm immanenten, nicht bloß äußerlich angelegten Bewertungsmaßstabes zulässt. In diesem Fall ist der klassifikatorische Begriffsgebrauch durch Kriterien bestimmt, die Bezug nehmen auf eine optimale Realisierung, wie sie mittels des evaluativen Gebrauchs ausgedrückt werden kann; umgekehrt setzt der evaluative Gebrauch eine entsprechende Klassifikation des Gegenstands voraus, weil andernfalls nicht gewährleistet ist, dass der Bewertungsmaßstab immanent ist. Ich habe bereits in Abschnitt 4.6.2 dafür argumentiert, dass dieser semantische Zusammenhang durch zwei unterschiedliche Arten von Kriterien vermittelt ist. Die erste Art von Kriterien sind Erfolgskriterien; sie legen fest, wann der evaluative Begriff in optimaler Weise erfüllt ist. Die zweite Art besteht in Minimalkriterien; sie stellen die Bedingungen dafür dar, dass etwas oder jemand unter den klassifikatorischen Begriff fällt, also überhaupt ein Kandidat für die Bewertung mittels des evaluativen Begriffs ist. Ich hatte ferner gezeigt, dass die Verbindung beider Arten von Kriterien im geistigen Bereich kontextabhängig ist, und verschiedene mögliche Weisen der Verbindung zwischen ihnen beschrieben. Wenn dieses Modell auf die Begriffe „frei“ und „vernünftig“ angewendet wird, stellt sich die Frage, ob bezüglich dieser Begriffe in allgemeiner Weise festgestellt werden kann, wie sich bei ihnen Minimal- und Erfolgskriterien und mithin auch klassifikatorischer und evaluativer Gebrauch zueinander verhalten. Dabei kann zunächst festgehalten werden, dass die intentionale Verbindung beider Kriterien – der Fall, in dem das Minimalkriterium im Vorliegen einer Intention, das Erfolgskriterium zu erfüllen, besteht – hier nur in besonderen Fällen eine Rolle spielt, weil Freiheit und Vernunft nur in besonderen Fällen explizite Ziele intentionaler Tätigkeit bezeichnen. Beispiele für solche Fälle sind politische Aktivitäten, die explizit größere politische Freiheit anstreben; der Versuch eines Häftlings, sich zu befreien; oder die Bemühungen einer Person in einer schweren Konfliktsituation, sich vernünftig zu verhalten. Hier liegen Fälle bewusster Unfreiheit bzw. Unvernunft vor. Plausiblerweise kann aber angenommen werden, dass wir in sehr vielen Fällen unfrei und unvernünftig handeln, ohne dass uns dies als Defizit bewusst
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wird. Epistemische und praktische Vorurteile, Kants „selbstverschuldete Unmündigkeit“ sowie das Handeln auf Grund von Präferenzen, die wir uns nicht durch rationale Transformation angeeignet haben, sind Beispiele für „unbewusste“ Phänomene von Unfreiheit. Entsprechend ist auch die Tätigkeit der „Befreiung“, als die Hegel den Geist fasst, nicht generell als bewusstes Ankämpfen gegen Unfreiheit und Natur zu verstehen. Ein solches explizites Bemühen um Freiheit tritt vielmehr nur in bestimmten Kontexten der politischen Geschichte und der Philosophiegeschichte auf, während Hegel allgemein feststellt, dass keine Idee „mit so wenigem Bewußtsein geläufig“ ist wie die der Freiheit (Enz. § 482 A, 10/301). Diese Beobachtung spricht dafür, die Verbindung von Minimal- und Erfolgskriterien in Bezug auf „frei“ und „vernünftig“ so zu deuten, dass – ähnlich wie in den Beispielen der Lebensfunktion nichtrationaler Lebewesen und des Sprachverhaltens, die wir in Abschnitt 4.6.2 hierfür herangezogen hatten – die minimale Realisierung der Erfolgskriterien als Minimalkriterium dient: Minimale Realisierungen von freiem und vernünftigem Verhalten, also z. B. das freie und vernünftige Verhalten in besonders einfachen Fällen, dienen hier als Kriterium dafür, dass ein Wesen überhaupt dem Bereich von freien und rationalen Wesen zugerechnet wird. Wenngleich Freiheit und Vernunft nicht generell als bewusstes, intentionales Ziel unseres Verhaltens auftreten, könnte es allerdings immerhin der Fall sein, dass wir mit der Zuschreibung von Freiheit und Vernunft im Sinne einer Erfüllung der Minimalkriterien zugleich ein zumindest implizites Streben nach der Realisierung der Erfolgskriterien zuschreiben. Ein Analogon findet sich z. B. in der Rede über Lebewesen: Indem wir ein Wesen als Elefanten klassifizieren, schreiben wir ihm ein – wie immer genau zu deutendes – Streben zu, die Erfolgskriterien für das Elefantsein zu erfüllen, also in optimaler Weise die artspezifische Lebenstätigkeit auszuüben. Ähnlich schreiben wir dem Sprecher eines Satzes, den wir als (wenn auch gegebenenfalls fehlerhaften) Satz der deutschen Sprache klassifizieren, das implizite Bemühen um die Bildung korrekter deutscher Sätze zu. Dagegen können wir etwas auch als Handlung mit einem bestimmten Gehalt klassifizieren (z. B. als ein Verbrechen: vgl. VPhG 12/42 f.), ohne dem Akteur ein Streben nach der Erfüllung der entsprechenden Erfolgskriterien zuzuschreiben.38 Sowohl der Begriff „vernünftig“ als auch der Begriff „frei“ (und zwar auch in der Bedeutung, die Hegel diesen Begriffen gibt) können plausiblerweise derjeni-
38 Ebenso können wir z. B. Kunstwerke in Begriffen beschreiben, deuten und werten, die einen intrinsischen Bewertungsmaßstab anwenden, ohne dass wir damit dem Künstler ipso facto bestimmte (auch nur implizite) Bemühungen zuschreiben. Eine derartige Auffassung vertritt auch Hegel insgesamt in seiner Ästhetik, die dem Künstler nur eine untergeordnete Rolle zuspricht, sowie im Abschnitt „Das geistige Tierreich“ in der PhG.
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gen Klasse von Fällen zugerechnet werden, in denen durch die Zuschreibung des Begriffs auf Grund der Erfüllung von Minimalkriterien auch ein zumindest implizites Streben nach Erfüllung der Erfolgskriterien zugeschrieben wird. Ohne ein zumindest implizites Bemühen, in all ihren relevanten Verhaltensweisen den Anforderungen der Vernunft gerecht zu werden, könnte eine Person nämlich nicht für Gründe empfänglich sein – sie wäre der Stimme der Vernunft gegenüber gleichgültig.39 Eine analoge Einordnung des Freiheitsbegriffs ist zumindest dann nötig, wenn man Freiheit – wie Hegel es tut – als etwas versteht, das wir in unserem Handeln immer erst aktiv hervorbringen und aufrecht erhalten müssen.40 In diesem Fall ist es gerade wesentlich für Freiheit, dass aus der Erfüllung der Minimalkriterien ein zumindest implizites Streben nach Realisierung der Erfolgskriterien folgt: Auch eine minimale Form von Freiheit kann nach einer solchen Deutung nur dann realisiert sein, wenn das jeweilige Subjekt die rationale Arbeit, sich von der logischen Form der Natur zu befreien, auf sich genommen hat. Hierfür genügt es ferner nicht, dass das Subjekt nur danach strebt, die Minimalbedingungen zu erfüllen; es muss vielmehr implizit nach einer optimalen Realisierung von Freiheit streben. – Wir können also folgern, dass wir durch die Anwendung des Freiheitsbegriffs in dem hier entwickelten Sinne ein zumindest implizites Streben nach Freiheit zuschreiben. Somit dient für den klassifikatorischen Gebrauch des Freiheitsbegriffs die minimale Realisierung von Freiheit als Minimalkriterium; notwendiger Teil dieser Realisierung ist das implizite Bemühen, die Erfolgskriterien zu erfüllen. Hegel selbst vertritt eine derartige Position in Gestalt seines Lehrstücks von der Selbstbezüglichkeit des freien Willens, demzufolge wirklich frei nur derjenige Wille ist, der seine eigene Freiheit will (die obige These (4)). Dieser Befund wirft eine weitere Frage auf: Inwiefern ist das implizite Streben, das wir im Gebrauch des Freiheitsbegriffs zuschreiben, auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet? Gibt es eine Konzeption von idealer Freiheit, die unserem Gebrauch des Freiheitsbegriffs zugrunde liegt? – Die Zuschreibung eines impliziten Strebens, die sich als Element des relevanten Gebrauchs von „frei“ erwiesen
39 Vgl. Grice (2001), 32 f.; Grice macht den interessanten Vorschlag, dass der Versuch, rational zu sein, zugleich notwendig und hinreichend dafür ist, um (zumindest in einem minimalen Sinn) rational zu sein. 40 Dagegen können wir in Bezug auf Bedeutungsaspekte wie Handlungsfreiheit sehr wohl einer Person Freiheit zuschreiben, ohne ihr ein implizites Streben danach zuzuschreiben: Handlungsfreiheit wird häufig erst dann zum Gegenstand eines Bemühens, wenn sie nicht gewährleistet ist. Allerdings ist dieses Bedeutungsmoment von „frei“ auch nicht direkt mit dem klassifikatorischen Gebrauch dieses Begriffs zur Demarkation freier von prinzipiell der Freiheit nicht fähigen Wesen verbunden.
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hat, macht zunächst nur den Bezug auf ein Ziel des Strebens überhaupt nötig. Ein solches Ziel kann in einer Idealkonzeption bestehen, es kann aber auch bloß relativ durch eine komparative Bestimmung (z. B. Streben nach mehr Einkommen) oder durch die Negation eines unerwünschten Zustandes (z. B. Streben nach dem Lösen eines Problems) definiert sein. Wenn die Realisierung von Freiheit im Sinne Hegels als Befreiung von der logischen Form der Natur gedeutet wird, dann scheint dies gerade eine solche relative Lesart nahezulegen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich dieser Schluss aber als voreilig. Für die Befreiung von der logischen Form der Natur genügt es nicht, den eigenen Einstellungen, Gedanken und Handlungen irgendeine andere als ihre ursprünglich gegebene Form zu verleihen; hierdurch ist kein Fortschritt in Sachen Freiheit geleistet, also besteht auch die logische Form der Natur weiter. Stattdessen müssen wir das relevante mannigfaltige Material unserer Zustände, Einstellungen und Tätigkeiten hin zu einer bestimmten logischen Form, nämlich der des Begriffs, transformieren; diese transformatorische Tätigkeit muss daher auf das Ziel jener logischen Form und damit auf ein Ideal von Freiheit ausgerichtet sein. Die These, dass alles Denken und Handeln von Vernunftwesen, da es sich als solches für die Klassifikation als „frei“ qualifiziert, auf ein Ideal der Freiheit hin ausgerichtet ist, ist freilich kontrovers. Insbesondere liegt der Einwand nahe, dass kaum eine Bestimmung von Freiheit, und erst recht nicht von idealer Freiheit, ausfindig zu machen ist, von der tatsächlich behauptet werden kann, dass sie ein geteiltes – wenn auch nur implizites – Ziel des Strebens rationaler Subjekte darstellt. Bereits mehrfach haben wir eine Passage zitiert, in der Hegel dies selbst ausdrücklich hervorhebt: „Über keine Idee weiß man es so allgemein, daß sie unbestimmt, vieldeutig und der größten Mißverständnisse fähig und ihnen deswegen wirklich unterworfen ist als [über] die Idee der Freiheit“ (Enz. § 482, 10/ 301). Wie kann es also eine bestimmte Form von Freiheit geben, nach der implizit alle rationalen Akteure streben? Auf diesen Einwand kann folgendermaßen reagiert werden. Hinsichtlich eines Ziels, nach dem ein Subjekt A strebt, können zwei Weisen unterschieden werden, in denen das Ziel aus der Außenperspektive beschrieben werden kann. Erstens kann es in einer Weise beschrieben werden, die beansprucht, die Perspektive As wiederzugeben: In diesem Fall liegt eine Beschreibung de dicto vor. Zweitens kann ein Ziel seiner eigentlichen Natur nach beschrieben werden, unabhängig davon, wie es dem Subjekt A erscheint, das nach ihm strebt; in diesem Fall wird es de re beschrieben. Ein Sprecher kann eine korrekte Beschreibung de re von dem Ziel geben, auch wenn diese nicht von A akzeptiert wird. Die hier rekonstruierte Hegelsche Position erscheint nur dann im Lichte dieses Einwands unplausibel, wenn die relevanten philosophischen Bestimmungen von Freiheit und speziell idealer Freiheit als Beschreibungen de dicto eines impliziten
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Ziels alles Denkens und Handelns interpretiert werden. Die These hört auf, offensichtlich falsch zu sein, sobald die angegebenen Bestimmungen de re interpretiert werden. Wir können uns nämlich sehr wohl über die eigentliche Beschaffenheit dessen, was wir wollen, täuschen – nicht nur in dem Sinn, dass uns auf Grund von unbewussten Wünschen o. ä. unser eigener Wille opak ist, sondern auch in dem Sinn, dass wir einen Gegenstand des Willens identifizieren können, uns aber dennoch in seiner Natur täuschen.41 Wenn wir diese Möglichkeit berücksichtigen, erscheint es relativ unproblematisch, dass eine philosophische Bestimmung eines Ziels, nach dem wir implizit streben – wie eben der Freiheit –, von unseren gewöhnlichen Auffassungen von diesem Ziel stark abweicht und dennoch beide Beschreibungen auf dasselbe Ziel Bezug nehmen. In diesem Sinne können wir dann auch sagen, dass unserer rationalen Aktivität das Streben nach der Idealform von Freiheit innewohnt, wie sie eine philosophische Theorie beschreibt, selbst wenn nur wenige Menschen dieser Theorie Recht geben würden. Die interne Struktur des freien Geistes im Sinne Hegels umfasst also nicht nur unterschiedliche Grade von Freiheit, sondern weist auch – im Sinne der obigen These (3) – insofern eine teleologische Ordnung auf, als unser Wollen und Denken auf ideale Freiheit als ein implizites Ziel hin ausgerichtet ist. Die adäquate Bestimmung de re dieser idealen Freiheit bleibt dabei aber Sache der philosophischen Theoriebildung. Vor diesem Hintergrund lässt sich schließlich auch ein weiteres wichtiges Element der Hegelschen Freiheitstheorie besser verstehen, nämlich die Lehre von der List der Vernunft (These (5)) – Hegels These, dass sich die Freiheit in der Geschichte Wirklichkeit verschafft, ohne dass die Individuen, die in ihrer Tätigkeit hierzu beitragen, sie als expliziten Zweck ihrer Tätigkeit vor Augen haben (vgl. VPhG 12/49). Auf Grund des Status von idealer Freiheit als implizitem Ziel unserer Tätigkeit sowie der de re-/de dicto-Unterscheidung folgt aus der rekonstruierten Position, dass die Idealgestalt von Freiheit im Handeln der Menschen, vermittelt durch deren Willen, kausal wirksam sein kann, ohne dass sie allgemein in adäquater Weise bekannt sein müsste. Dieser Punkt wird klarer, wenn wir erneut die Vernunft als Parallele heranziehen. Auch von den Normen der Vernunft können wir nämlich sinnvoll sagen, dass sie durch das Handeln rationaler Wesen in großem Umfang kausal wirksam sind, ohne dass sie allgemein explizit und in der angemessenen Weise bekannt wären.42
41 Ein einfaches Beispiel für diese zweite Täuschungsmöglichkeit ist jemand, der an einem Büffet nach einer Speise langt und von ihr enttäuscht ist, weil er sie für etwas anderes gehalten hatte. 42 Vgl. zur relevanten Art kausaler Wirksamkeit VPhG 12/36: „Was an sich ist, ist eine Möglichkeit, ein Vermögen, aber noch nicht aus seinem Inneren zur Existenz gekommen. Es muß ein
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6.5 Hegels Inkompatibilismus Hegel nimmt zwar mehrfach auf die Debatte zwischen Kompatibilisten und Inkompatibilisten Bezug, doch bezieht er dabei nie eindeutig Stellung zugunsten einer der beiden Optionen. Stattdessen scheint er die Frage nach der Kompatibilität von Freiheit und Determinismus eher als Scheinproblem zu betrachten. So schreibt er etwa in einer Passage aus der Einleitung zur Rechtsphilosophie, die wir bereits in Abschnitt 2.2 besprochen haben, „die Willkür“ könne „allerdings, wenn sie die Freiheit sein soll, eine Täuschung genannt werden“ (GPhR § 15 A, 7/ 66 f.). Damit gibt Hegel zwar vordergründig den Leugnern der Willensfreiheit recht – aber nur deshalb, weil Freiheit eben nicht, wie in der Debatte aus Hegels Sicht vorausgesetzt wird, mit Willkür identisch ist. Ich habe in Kapitel 2 dafür argumentiert, dass Hegel mit guten Gründen die traditionellen, Wahl-basierten Versionen von Kompatibilismus und Libertarismus ablehnt; insofern diese Positionen die Debatte über Willensfreiheit jahrhundertelang dominiert haben, muss Hegel deshalb auch die ganze Debatte für fehlgeleitet halten. Doch ist hier zwischen der traditionellen Form, in der die Willensfreiheitsdebatte geführt wurde, und der Fragestellung der Debatte selbst strikt zu unterscheiden. Die Fragestellung selbst gibt noch keine der traditionellen Positionen vor; sie fragt nur danach, ob die Aussagen „Es gibt menschliche Freiheit“ und „Der Determinismus ist wahr“ gleichzeitig wahr sein können oder nicht. Diese Frage muss prinzipiell mit ja oder nein beantwortet werden können – für eine Antwort wie „Diese Frage ist sinnlos“, „sie beruht auf einem Kategorienfehler“ o. ä. besteht hier kein Raum. Hegels eigenen Vorbehalten gegenüber der Willensfreiheits-Debatte zum Trotz ist es deshalb jedenfalls eine legitime Frage, ob Freiheit im Sinne von Hegels Theorie (wie wir sie bisher rekonstruiert haben) kompatibel mit dem Determinismus ist oder nicht – ob also Hegel Kompatibilist oder Inkompatibilist ist. Während diese Frage in der neueren Forschung häufig dahingehend beantwortet wurde, dass Hegel Kompatibilist sei43, vertrete ich die Auffassung, dass
zweites Moment für die Wirklichkeit hinzukommen, und dies ist die Betätigung, Verwirklichung, und deren Prinzip ist der Wille, die Tätigkeit des Menschen überhaupt. Es ist nur durch diese Tätigkeit, daß jener Begriff [sc. der Freiheit] sowie die an sich seienden Bestimmungen realisiert, verwirklicht werden, denn sie gelten nicht unmittelbar durch sich selbst“. Diese Art der kausalen Wirksamkeit kann mit derjenigen Kausalität verglichen werden, die Aristoteles dem Unbewegten Beweger qua Zweckursache der Fixsterne zuschreibt. Vgl. auch Frege (1993), 52 f. über die kausale Wirksamkeit von (Fregeschen) Gedanken. 43 Vgl. z. B. Pippin (2008), Kap. 2; Beiser (2005), 75; Wallace (2005), 82 f. – Wood (1990), 150 f. wendet zu Recht gegen diese Deutungen ein, dass Hegels Äußerungen über die Kompatibilität
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Hegel ein (libertarischer, d. h. die Möglichkeit von Freiheit auf Kosten des Determinismus behauptender) Inkompatibilist ist, und zwar in Bezug auf alle Interpretationen von „Determinismus“, die hier in Frage kommen. Dabei handelt es sich um die folgenden Interpretationen von Determinismus: erstens Hegels eigenen Begriff von Determinismus; zweitens das heute allgemein gängige Verständnis von Determinismus; und drittens einen Begriff von Determinismus, der häufig mit Hegel in Verbindung gebracht wird, nämlich Determinismus im Sinne der Nezessitation individuellen Handelns durch notwendige historische Prozesse („historischer Determinismus“). Hegel gebraucht den Begriff „Determinismus“ sehr selten, und es gibt nur eine einzige – allerdings, wie sich zeigen wird, sehr wichtige – Stelle, an der er eine „offizielle“ Begriffsklärung bietet. Dabei handelt es sich um seine Diskussion des „mechanischen Objekts“ im Objektivitäts-Kapitel der Begriffslogik. Die vollständige Passage lautet: Indem also das Objekt in seiner Bestimmtheit ebenso gleichgültig gegen sie ist, weist es durch sich selbst für sein Bestimmtsein außer sich hinaus, wieder zu Objekten, denen es aber auf gleiche Weise gleichgültig ist, bestimmend zu sein. Es ist daher nirgend ein Prinzip der Selbstbestimmung vorhanden; der Determinismus – der Standpunkt, auf dem das Erkennen steht, insofern ihm das Objekt, wie es sich hier zunächst ergeben hat, das Wahre ist – gibt für jede Bestimmung desselben die eines anderen Objekts an; aber dieses andere ist gleichfalls indifferent, sowohl gegen sein Bestimmtsein als gegen sein aktives Verhalten. – Der Determinismus ist darum selbst auch so unbestimmt, ins Unendliche fortzugehen; er kann beliebig allenthalben stehenbleiben und befriedigt sein, weil das Objekt, zu welchem er übergegangen, als eine formale Totalität in sich beschlossen und gleichgültig gegen das Bestimmtsein durch ein anderes ist. Darum ist das Erklären der Bestimmung eines Objekts und das zu diesem Behufe gemachte Fortgehen dieser Vorstellung nur ein leeres Wort, weil in dem anderen Objekt, zu dem sie fortgeht, keine Selbstbestimmung liegt. (WdL 6/412 f.)
Das mechanistische Erklärungsmodell, das Hegel in diesem Kontext diskutiert, führt die Eigenschaften von beobachtbaren Gegenständen, Prozessen und Systemen zurück auf die fundamentalen Eigenschaften, die deren Teile qua Materieteile besitzen – also Eigenschaften wie Ausdehnung, Position bzw. Arrangement und Bewegung.44 Aus der mechanischen Interaktion (Druck, Stoß …) der so
von Freiheit und Notwendigkeit bzw. das nicht-dualistische Verhältnis von Geist und Natur, die von kompatibilistischen Exegeten gewöhnlich zitiert werden, nichts über die Vereinbarkeit von Freiheit mit kausaler Notwendigkeit bzw. Determinismus aussagen. Vgl. ferner zur Kritik an kompatibilistischen Deutungen Yeomans (2012), Kap. 1. 44 In Hegels Worten: „Die Bestimmtheiten, die es [sc. das mechanische Objekt] an ihm hat, kommen ihm also zwar zu; aber die Form, welche ihren Unterschied ausmacht und sie zu einer Einheit verbindet, ist eine äußerliche, gleichgültige; sie sei eine Vermischung oder weiter eine
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bestimmten Teile resultieren dem mechanistischen Paradigma zufolge die komplexeren Eigenschaften von Aggregaten.45 Ein „mechanisches Objekt“ in Hegels Sinn ist ein Materie-Ausschnitt, der entweder einfach oder zusammengesetzt (Aggregat) sein kann. Wenn es sich um ein zusammengesetztes Objekt handelt, lassen sich die Eigenschaften auf die mechanischen Eigenschaften der Teile zurückführen; die Eigenschaften einfacher Objekte dagegen lassen sich auf die mechanische Einwirkung anderer Objekte zurückführen (ein Partikel hat nach diesem Erklärungsmodell z. B. eine bestimmte Position und einen bestimmten Impuls, weil es von einem anderen Partikel angestoßen wurde). Charakteristisch für derartige Erklärungen ist nach Hegel, dass sie die zu erklärenden Eigenschaften stets als „fremdbestimmt“ auffassen – sie haben ihren Grund nie im Träger der Eigenschaften selbst (dieser ist ihnen gegenüber „gleichgültig“), sondern werden immer durch externe Faktoren bedingt. In Bezug auf dieses Erklärungsparadigma präsentiert Hegel nun den Determinismus als Kombination zweier Thesen. Erstens gibt der Determinismus „für jede Bestimmung“ eines mechanischen Objekts „die eines anderen Objekts an“. Gemeint ist damit wohl die folgende These, die auch als „explanatorische Geschlossenheit des Mechanismus“ bezeichnet werden kann: (D1) Für jede mechanische Eigenschaft E1 eines mechanischen Objekts O1 gibt es eine mechanische Eigenschaft E2 eines anderen mechanischen Objekts O2, so dass gilt: Die Tatsache, dass O2 E2 besitzt, ist hinreichend dafür, dass O1 E1 besitzt. Als „mechanische Eigenschaften“ gelten dabei die genannten fundamentalen Eigenschaften von Materieteilen – also z. B. Ausdehnung, Position, Bewegung usw. Wie Hegels weitere Ausführungen zum Mechanismus sowohl in der WdL als auch in der Naturphilosophie zeigen, sind die explanatorischen Beziehungen zwischen den Eigenschaften mechanischer Objekte durch mechanische Gesetze festgelegt (vgl. z. B. Enz. § 267 A, 9/75 ff.). Wohlgemerkt setzt (D1), ebenso wie Hegels eigene Formulierungen, voraus, dass die aktualen Naturgesetze herrschen und alle anderen relevanten Faktoren gleich bleiben, also z. B. keine mechanische Intervention eintritt, die die Verursachung des Sachverhalts „O1 besitzt E1“ durch den Sachverhalt „O2 besitzt E2“ blockieren würde. Um dies hervorzuheben, können wir (D1) folgendermaßen präzisieren:
Ordnung, ein gewisses Arrangement von Teilen und Seiten, so sind dies Verbindungen, die den so Bezogenen gleichgültig sind“ (WdL 6/412). 45 Vgl. Ginsborg (2004), 40 ff. zum Mechanismus-Verständnis Kants, mit dem Hegel grundsätzlich übereinstimmt. Vgl. auch Hegels Deutung von Descartes’ mechanistischer Philosophie VGPh 20/151 f.
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(D1*) Für jede mechanische Eigenschaft E1, die ein mechanisches Objekt O1 zum Zeitpunkt t0 besitzt, gibt es eine mechanische Eigenschaft E2, die ein anderes mechanisches Objekt O2 zum Zeitpunkt t–1 besitzt, so dass für alle möglichen Szenarien, in denen dieselben Naturgesetze wie im aktualen Szenario gelten und in denen alle weiteren mechanischen Eigenschaften mechanischer Objekte im Universum zum Zeitpunkt t–1 gleich sind wie im aktualen Szenario, gilt: (O2 besitzt E2 zum Zeitpunkt t–1) → (O1 besitzt E1 zum Zeitpunkt t0) Zugleich kennzeichnet Hegel den Determinismus als den „Standpunkt, auf dem das Erkennen steht, insofern ihm das Objekt, wie es sich hier zunächst ergeben hat, das Wahre ist“. Dass dem Deterministen das mechanische Objekt „das Wahre“ ist, kann als These einer mechanistischen Ontologie verstanden werden: (D2) Es gibt eigentlich nur mechanische Objekte und deren Eigenschaften. Aus dieser Begriffsbestimmung folgt nun direkt, dass Freiheit für Hegel mit dem Determinismus inkompatibel ist. Denn wie wir im Zusammenhang mit Hegels starkem ontologischem Holismus gesehen haben (5.2.4), gehört es für ihn zu den metaphysischen Voraussetzungen für Freiheit, dass alles Natürliche ontologisch von etwas Geistigem abhängig ist: „Die Natur ist im Geiste gehalten, von ihm erschaffen, und des Scheines ihres unmittelbaren Seins, ihrer selbständigen Wirklichkeit unerachtet, ist sie an sich nur ein Gesetztes, Geschaffenes, im Geiste Ideelles“, so hatte Hegel erklärt (VB 17/398). Diese Aussage – deren Wahrheit für Hegel eine notwendige Voraussetzung für Freiheit darstellt – ist mit (D2) inkompatibel, und da (D2) nach Hegel Teil des Determinismus ist, folgt, dass Freiheit mit dem Determinismus in Hegels technischem Sinn inkompatibel ist. Zugleich liegt allerdings auf der Hand, dass Hegel hier einen sehr engen Begriff von Determinismus verwendet. Hegel könnte durchaus zwar (D2) ablehnen, aber dennoch z. B. eine durchgängige Determination alles Wirklichen durch Naturgesetze annehmen und diese für kompatibel mit Freiheit halten. Dass Hegel in einem solchen weiteren Sinne Kompatibilist sein könnte, legt besonders die folgende Überlegung nahe. Wie wir gesehen haben, umfasst Hegels Metaphysik der Freiheit auch die Annahme, dass alles, was existiert und nicht selbst der anorganischen Natur angehört, eine „Außenseite“ innerhalb der anorganischen Natur besitzen muss bzw. in dieser Sphäre realisiert sein muss. Gemäß Hegels Deutung des Mechanismus ist zu erwarten, dass eine solche Realisierung in Form von (komplexen) mechanischen Objekten erfolgt, die in mechanischen Systemen interagieren. Also muss gelten: (1) Zu jedem Zeitpunkt tn, zu dem ein organisches bzw. geistiges Wesen W existiert, gibt es genau ein mechanisches Objekt O mit bestimmten mechanischen Eigenschaften E1, E2, …, En, das W realisiert.
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Ferner hatte Hegel in der oben zitierten längeren Passage die These (D1*), die Teil des Determinismus in seinem Sinn ist, zunächst unabhängig vom Determinismus als Aussage über eine wesentliche Eigenschaft mechanischer Objekte eingeführt („Indem also das Objekt in seiner Bestimmtheit ebenso gleichgültig gegen sie ist, weist es durch sich selbst für sein Bestimmtsein außer sich hinaus, wieder zu Objekten, denen es aber auf gleiche Weise gleichgültig ist, bestimmend zu sein“). Da Hegel den Mechanismus im Rahmen des Objektivitäts-Kapitels (ebenso wie in der Naturphilosophie) nicht etwa als verfehltes kategoriales Modell ablehnt, sondern durchaus annimmt, dass es eine Sphäre der Wirklichkeit gibt, die mechanisch verfasst ist, scheint er auch (D1*) als korrekte Aussage bezüglich eines bestimmten Bereichs der Wirklichkeit zu akzeptieren. Aus der Kombination von (D1*) und (1) folgt aber, dass organische und geistige Wesen selbst zumindest indirekt den mechanischen Gesetzen unterworfen sind, die die explanatorischen Beziehungen zwischen mechanischen Eigenschaften (im Sinne von (D1*)) regeln. Betrachten wir eine Situation, in der eine Akteurin W zum Zeitpunkt t–1 entschieden hat, ihren Arm zu heben, um in einer Wahl eine Stimme abzugeben, und im nächsten Moment t0 den Arm hebt. Wir können dann die folgende Zuordnung vornehmen (E1 und E2 stehen hier für sehr komplexe mechanische Eigenschaften)46: Zeitpunkt t–1 t0
Handlung W’s Arm ist gesenkt; W hat entschieden, ihn zu heben W hebt den Arm
mechanische Realisierung O mit E2 O mit E1
Nehmen wir an, dass das Heben des Arms tatsächlich durch die Entscheidung der Akteurin erklärt wird (und nicht z. B. durch eine kausale Intervention von außen). In diesem Fall muss im Sinne von (D1*) Folgendes gelten: Die Tatsache, dass das die Akteurin realisierende mechanische Objekt O zum Zeitpunkt t–1 die (komplexe) Eigenschaft E2 hat, ist kraft der mechanischen Gesetze hinreichend dafür, dass O zum folgenden Zeitpunkt t0 die Eigenschaft E1 hat. Hieraus folgt aber: Wenn O zum Zeitpunkt t–1 tatsächlich E2 besitzt, kann es nicht ausbleiben, dass O zum
46 Dafür nehmen wir an, dass die ganze Akteurin jeweils durch dasselbe mechanische Objekt O realisiert wird. Hegels Aussage, dass im Mechanismus die mechanischen Eigenschaften eines Objekts durch die eines anderen Objektes erklärt werden, kann dadurch Rechnung getragen werden, dass erstens die relevanten Eigenschaften E1 und E2 jeweils lokalen Teil-Objekten (z. B. den mechanischen Realisierungen von Gehirn und Arm) zugewiesen werden und zweitens das Auftreten beider komplexer Eigenschaften selbst mittelbar auf die Einwirkung äußerer mechanischer Objekte zurückgeführt wird.
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Zeitpunkt t0 die Eigenschaft E1 besitzt. Da O mit E1 aber die Akteurin, die den Arm hebt, realisiert, kann unter diesen Umständen auch die Akteurin nicht anders, als zum Zeitpunkt t0 den Arm zu heben. Denn wie immer die von Hegel angenommene Realisierungsbeziehung genau zu verstehen ist, muss doch ausgeschlossen werden, dass ein und derselbe mechanische Zustand gleichzeitig die Realisierung zweier entgegengesetzter Körperbewegungen bzw. -zustände bilden kann. Wenn Hegel sowohl (1) als auch (D1*) akzeptiert, ergibt sich also für seine eigene Position die Konsequenz einer Bestimmung organischer und geistiger Wesen durch mechanische Ursachen und Gesetze, die zwar nicht Hegels eigene Definition von „Determinismus“ erfüllt, aber doch in einem etwas weiteren Sinn als Determinismus bezeichnet werden kann. Entsprechend ist zu erwarten, dass Hegel eine kompatibilistische Position vertritt, um z. B. im eben skizzierten Szenario trotz der Tatsache, dass die Akteurin unter diesen Umständen nicht anders handeln kann, ihr dennoch Freiheit zuschreiben zu können. Dieses Resultat scheint überdies sehr gut dazu zu passen, dass Hegel – wie wir gesehen haben – eine Alternative zu traditionellen Wahl-basierten Freiheitstheorien zu entwickeln versucht. Die Akteurin, so könnte man meinen, ist nach Hegels freiheitstheoretischem Ansatz in der beschriebenen Situation trotz der Unfähigkeit, ihre Handlung zu unterlassen, dann frei, wenn sie fürs Heben des Arms Gründe hat, die Teil eines rational transformierten motivationalen Systems sind. Dennoch kann ein so verstandener Kompatibilismus nicht Hegels Position sein. Hegel vertritt nämlich an anderen Stellen Auffassungen, die klar inkompatibel mit dieser theoretischen Option sind: Hegel nimmt mit Ausnahme der Sphäre, die er als „endlichen Mechanismus“ bezeichnet (hierzu gleich mehr), in allen ontologischen Bereichen Formen kausaler Spontaneität an. Diejenige „Selbstbestimmung“, die nach Hegels Kennzeichnung dem mechanischen Objekt abgeht, ist also in Bezug auf alle anderen Formen von Gegenständen durchaus gegeben. Da all diese Gegenstände aber (gemäß (1)) einer mechanischen Realisierung bedürfen, kann Hegel die explanatorische Geschlossenheit des Mechanismus ((D1*)) nicht selbst behaupten; vielmehr führt er sie im Mechanismus-Kapitel nur als Teil einer Position ein, die er kritisiert, und behält selbst, wie wir sehen werden, bloß eine schwächere Version dieser These bei. Kausale Spontaneität oder „Selbstbestimmung“ tritt – überraschenderweise – bereits in einem Teilbereich des Mechanismus auf. Hegels Aussagen über die explanatorische Geschlossenheit des Mechanismus und den hierauf basierenden Determinismus hatten sich, wie wir gesehen haben, auf mechanische Objekte, also einfache oder komplexe Materieausschnitte bezogen, deren mechanische Eigenschaften gemäß mechanischer Gesetze durch andere Objekte bestimmt sind. Wie Hegels weitere Diskussion in der WdL ebenso wie in der enzyklopädischen Naturphilosophie zeigt, handelt es sich bei dieser Form von Mechanismus aber speziell
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um die endliche oder irdische Mechanik, im Gegensatz zum absoluten Mechanismus, der die Mechanik der Himmelskörper auszeichnet. Gegen die Newtonianische Physik, die das Verhalten der Himmelskörper und das Verhalten von Körpern auf der Erde durch dieselben Gravitationsgesetze erklärt, hält Hegel ausdrücklich an der älteren Auffassung fest, die zwischen beiden Bereichen (d. h. dem sublunaren und dem superlunaren Bereich in der traditionellen aristotelischen Kosmologie) einen qualitativen Unterschied annimmt (vgl. Enz. § 264 A, 9/65; Enz. § 269 Z, 9/85; Shea (1986), 35). Eine der wesentlichen Differenzen zwischen beiden Arten von Mechanik besteht für Hegel nun darin, dass nicht alle Eigenschaften von Himmelskörpern durch die Eigenschaften anderer Gegenstände bedingt sind. Die Bewegung der Himmelskörper kommt nicht durch äußere Einwirkung durch andere Körper zustande; vielmehr werden die Systeme der Himmelskörper durch ein ihnen immanentes Gesetz – das Gravitationsgesetz – gesteuert, das selbst auf spontane Weise diese Körper in Bewegung versetzt und „als Unterschied an sich selbst unvergängliche Quelle sich selbst entzündender Bewegung“ ist (WdL 6/427; vgl. Enz. § 264 A, 9/64 f.).47 Das Gravitationsgesetz als immanente Bewegungsursache der Himmelskörper steht also für eine erste Form der kausalen Spontaneität bei Hegel, die noch innerhalb des Mechanismus auftritt. Bereits diese Form von kausaler Spontaneität steht in Konflikt mit der explanatorischen Geschlossenheit des (endlichen) Mechanismus gemäß (D1*). Denn der endliche Mechanismus wird von Hegel nicht als ein System eingeführt, das lokal beschränkt ist (z. B. auf die Erde) und von anderen möglichen mechanischen Systemen (wie der Himmelsmechanik) kausal isoliert ist, sondern es bildet für Hegel selbst das „Universum“ (WdL 6/ 412). Also muss angenommen werden, dass die These (1) – jedes organische und geistige Wesen muss mechanisch (und zwar im Sinne des endlichen Mechanismus) realisiert werden – auch für die Objekte der absoluten Mechanik gilt, dass also Himmelskörper selbst aus endlich-mechanischen Objekten bestehen. In diesem Fall hat jedes mechanische Objekt, das Teil eines Himmelskörpers ist, eine mechanische Eigenschaft – nämlich eine bestimmte, der Geschwindigkeit und Bahn des Himmelskörpers entsprechende Bewegung –, die selbst nicht
47 Auch Descartes beschreibt in Principia philosophiae II,37 die Naturgesetze als (sekundäre) Ursachen mechanischer Bewegung, doch liegt es hier nahe, den Begriff der „Ursache“ in einem weiteren Sinn als „Explanans“ zu deuten. Hegels Formulierungen schließen diese Möglichkeit dagegen aus. Außerdem wird für Hegel die kausale Wirksamkeit des Gravitationsgesetzes nicht selbst durch eine primäre Bewegungsursache (wie bei Descartes Gott) erklärt. Vielmehr dürfte in Hegels Ablehnung eines traditionellen Schöpfungsmodells (vgl. Kap. 5, Fußnote 32) eine wesentliche Motivation dafür liegen, im Gravitationsgesetz der Himmelsmechanik einen alternativen, der Natur immanenten Ursprung mechanischer Bewegung zu suchen.
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durch andere mechanische Objekte bedingt ist (wie es gemäß (D1*) der Fall sein müsste), sondern aus dem Gravitationsgesetz qua immanentem Gesetz und Bewegungsquelle astronomischer Systeme entspringt. Bereits Hegels Ausführungen zum absoluten Mechanismus zeigen also, dass er (D1*) in der ursprünglichen Form nicht akzeptieren kann. Hegels Auffassung der Himmelsmechanik mutet heutzutage kurios an. Sie ist aber in Bezug auf die Frage nach Kompatibilismus und Inkompatibilismus insofern sehr aufschlussreich, als sie zeigt, wie leicht Hegel bereit ist – nämlich noch innerhalb der Sphäre des Mechanismus selbst –, auf die Annahme nomologischer Geschlossenheit zu verzichten. Tatsächlich räumt Hegel auch in seiner Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie Naturgesetzen nur einen sehr eingeschränkten Stellenwert ein: Laut Hegel ist nämlich nur der (irdische und himmlische) Mechanismus durch Naturgesetze gesteuert48, während es für magnetische (bzw. elektrische), chemische und biologische Phänomene keine Naturgesetze gibt. Das Erkenntnisziel der entsprechenden naturwissenschaftlichen Disziplinen besteht in diesen Fällen auch nicht in der Erkenntnis von Naturgesetzen und in Erklärungen und Vorhersagen, die auf Gesetzeshypothesen beruhen. Vielmehr ist die logische Form des Begriffs in diesen Bereichen durch eine Differenzierung der Natur in natürliche Arten („Gattungen“) realisiert; die entsprechenden Naturwissenschaften zielen darauf, diese Arten korrekt zu erfassen (also insbesondere ihre jeweiligen objektiven „Begriffe“ oder Essenzen zu erkennen) und die Phänomene auf ihrer Grundlage (und nicht auf der Grundlage von Gesetzeshypothesen) zu erklären. (Dagegen kennt Hegel im mechanischen Bereich nur eine natürliche Art, nämlich Materie.) Vor diesem Hintergrund wird besser verständlich, warum Hegel ebenso wie den Himmelskörpern auch Organismen und später geistigen Wesen die Fähigkeit zur Selbstbewegung und damit zur kausalen Spontaneität beilegt, die er den endlich-mechanischen Objekten abspricht. Sowohl im Teleologie- und im Lebens-Kapitel der WdL als auch in der Naturphilosophie stellt Hegel klar, dass er – im Anschluss an Aristoteles – Lebewesen die Fähigkeit zur Selbstbewegung in einem robusten Sinn zuschreibt: Das lebendige Individuum ist laut Hegel „das Leben als Seele, als der Begriff seiner selbst, der in sich
48 Vgl. Enz. § 270 Z, 9/93: „Es treten hier, im Mechanischen, Gesetze im eigentlichen Sinne ein; denn Gesetze heißen Verknüpftsein zweier einfacher Bestimmungen, so daß nur ihre einfache Beziehung aufeinander das ganze Verhältnis ausmacht, die beiden aber den Schein der Freiheit gegeneinander haben müssen. Im Magnetismus ist dagegen die Untrennbarkeit der beiden Bestimmungen schon gesetzt; daher nennen wir dies nicht Gesetz. In höheren Gestalten ist das Individualisierte das Dritte, worin die Bestimmungen verknüpft sind, und wir haben nicht mehr die direkten Bestimmungen Zweier, die aufeinander bezogen sind“.
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vollkommen bestimmt ist, das anfangende, sich selbst bewegende Prinzip“ (WdL 6/475). Speziell in Bezug auf tierische Organismen kritisiert Hegel jegliche mechanische oder auf sonstige Weise nomologische Interpretation der Irritabilität und interpretiert diese stattdessen als Äußerung der irreduziblen Spontaneität, die dem Organismus qua lebendigem Wesen zukommt (vgl. Enz. § 359 A, 9/469 f.). Während die spontane Bewegung der Himmelskörper durch das Gravitationsgesetz reguliert ist und der spontanen Bewegung von Organismen durch ihre Zugehörigkeit zur jeweiligen biologischen Art („Gattung“) enge Grenzen gesetzt sind (z. B. durch Instinkte), sind geistige Wesen durch eine Form kausaler Spontaneität gekennzeichnet, die zunächst ungebunden ist und erst durch die Selbstbestimmung des Individuums eine Ausrichtung erhält. Der Ort dieser Spontaneität ist die bereits mehrfach angesprochene, nach Hegel für den Geist grundlegende Fähigkeit, von allem zu abstrahieren. Kraft dieser Fähigkeit sind wir in der Lage, in unserem Denken, Wollen und Handeln jegliche externe Bestimmung zu blockieren: Der Geist kann „[n]ach dieser formellen Bestimmung […] von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst abstrahieren“ (Enz. § 382, 10/25 f.) und sich stattdessen eine eigene Bestimmung geben. Hegels Beschreibungen dieser Fähigkeit lassen keinen Raum für eine kompatibilistische Deutung, nach der wir insofern auch immer anders denken, wollen und handeln können als wir es tun, weil wir stets auch durch andere externe Faktoren bestimmt sein könnten (vgl. 2.1). Im Gegenteil hebt Hegel im Zusammenhang mit seiner logischen Analyse teleologischer Handlungsprozesse hervor: „Der Zweck“ – gemeint ist hier der „subjektive“ Zweck, also in erster Linie der willentliche Vorsatz, etwas zu tun – kann wohl auch als Kraft und Ursache bestimmt werden, aber diese Ausdrücke erfüllen nur eine unvollkommene Seite seiner Bedeutung; wenn sie von ihm nach seiner Wahrheit ausgesprochen werden sollen, so können sie es nur auf eine Weise, welche ihren Begriff aufhebt, – als eine Kraft, welche sich selbst zur Äußerung sollizitiert, als eine Ursache, welche Ursache ihrer selbst oder deren Wirkung unmittelbar die Ursache ist. (WdL 6/445)
Kausale Erklärungsformen stoßen hier also an ihre Grenze – nicht weil der Wille nicht kausal wirksam wäre, sondern weil er kausal selbstbestimmt oder spontan ist. Hegel vertritt demnach auch in Bezug auf die Definition von Determinismus, die sich aus der Kombination von (D1*) und (1) ergibt, eine inkompatibilistische Position: Freiheit erfordert für ihn eine Form der kausalen Spontaneität, die mit der Annahme der notwendigen mechanischen Realisierung aller organischen und geistigen Entitäten (gemäß (1)) und der Annahme der explanatorischen Geschlossenheit des Mechanismus (gemäß (D1*)) nicht zusammen bestehen kann.
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Hieraus folgt schließlich auch, dass Hegel in einem weiteren relevanten Sinn Inkompatibilist ist – nämlich in Bezug auf die Vereinbarkeit von Freiheit mit dem Determinismus, wie er heute gewöhnlich verstanden wird. Van Inwagens einflussreiche Definition des Determinismus als die Konjunktion der beiden folgenden Thesen kann hier als repräsentativ gelten: For every instant of time, there is a proposition that expresses the state of the world at that instant; If p and q are any propositions that express the state of the world at some instants, then the conjunction of p with the laws of nature entails q. (van Inwagen (1983), 65)
Wird diese Formulierung des Determinismus zugrunde gelegt, dann muss gar nicht auf die Notwendigkeit einer mechanischen Realisierung geistiger Entitäten (im Sinne der oben behandelten These (1)) Bezug genommen werden, um die Inkompatibilität von Hegels Freiheitsverständnis mit dem so verstandenen Determinismus zu erweisen. Der Sachverhalt (2) „W hebt den Arm“ beispielsweise wird hier als Teil einer Proposition q, die den Zustand der Welt zum Zeitpunkt t0 ausdrückt, betrachtet. Kausale Spontaneität, wie sie Hegel als notwendige Bedingung für Freiheit ansieht, erfordert nun, dass der kausal spontane Akteur bei gleichbleibender Vergangenheit in unterschiedlicher Weise handeln kann. Möge z. B. die Proposition p den Zustand der Welt vor einer Million Jahre ausdrücken. Wenn W als freie Akteurin tatsächlich kausale Spontaneität als „Kraft, welche sich selbst zur Äußerung sollizitiert“ besitzt, dann muss es ihr möglich sein, unabhängig davon, was vor einer Million Jahre der Fall war, den Arm zu heben oder dies zu unterlassen. Sowohl p und (2) als auch p und ~(2) müssen also zusammen wahr sein können. Da nach van Inwagens Formulierung des Determinismus aber aus der Konjunktion von p mit den Naturgesetzen q folgt und (2) Teil von q ist, wäre dies nur dann gegeben, wenn jeweils andere Naturgesetze herrschen würden. Hegel schreibt aber weder menschlichen Akteuren in irgendeinem Sinn die Fähigkeit zu, die Naturgesetze zu verändern, noch erklärt er ihre Freiheit durch Rekurs auf die Kontingenz der Naturgesetze.49 Im Gegenteil ist für ihn die Unabhängigkeit und „Gleichgültigkeit“ der Naturgesetze (sowie allgemeiner der Ordnung mechanischer und chemischer Prozesse) gegenüber unserer Aktivität eine notwendige Bedingung dafür, dass wir die Regularitäten der Natur als Mittel zu unseren Zwecken nutzen können (vgl. WdL 6/148 ff.). Also ist Hegels Auf-
49 Nachdem Hegel einen „Vernunftbeweis“ der mechanischen Gesetze auf der Grundlage der Begriffe von Raum und Zeit für möglich hält (Enz. § 270 A, 9/89), scheint er die gängige Annahme ihrer Kontingenz (es gibt mögliche Welten mit anderen Naturgesetzen) ohnehin nicht zu teilen, so dass ihm diese kompatibilistische Option von vornherein verschlossen ist.
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fassung von Freiheit mit dem Determinismus auch in der heute gängigen Formulierung inkompatibel. Aus diesem Befund ergeben sich allerdings zwei wichtige Fragen. Erstens: Warum ist Hegel nicht einfach ein traditioneller Libertarier, wenn er – wie wir gesehen haben – unserem Willen und auch unserem Denken kausale Spontaneität zuschreibt? Und zweitens: Wie kann Hegel überhaupt noch die Existenz mechanischer Systeme (und die Notwendigkeit der Realisierung aller nicht-mechanischen Gegenstände in dieser Sphäre) annehmen, wenn er (D1*) nicht akzeptieren kann? (Diese zweite Frage lässt sich auch als Version des kompatibilistischen Zufalls-Einwands (vgl. 2.2) formulieren: Ist Hegel durch die Ablehnung von (D1*) nicht auf ein indeterministisches Chaos festgelegt, in dem kontrollierte Handlungen unmöglich sind?) In Bezug auf die erste Frage ist es wichtig, mehrere Unterscheidungen zu treffen. Die erste Unterscheidung ist die zwischen einer Wesensbestimmung von Freiheit und einer Aussage über die notwendigen Voraussetzungen von Freiheit. Ich habe dafür plädiert, dass Hegel kausale Spontaneität für eine notwendige Voraussetzung von Freiheit hält; wie wir schon gesehen haben, identifiziert Hegel aber Freiheit nicht mit kausaler Spontaneität, kausaler Kontrolle oder verwandten Fähigkeiten. Der traditionelle Libertarismus dagegen sieht in kausaler Spontaneität, verstanden als die Fähigkeit, unter denselben Umständen so oder anders zu wollen bzw. zu handeln, das Wesen von Freiheit. Diese Differenz zur libertarischen Tradition hebt Hegel hervor, wenn er in seiner Willensanalyse die „Willkür“ – also die Fähigkeit zur dezisionistischen Wahl – als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für praktische Freiheit behandelt und dafür argumentiert, dass die „formelle“ Kontrolle bzw. Eignerschaft, die wir durch kausale Spontaneität bezüglich unserer Willensinhalte gewinnen, noch Raum für Entfremdung und damit Unfreiheit lässt (vgl. 2.2). Zweitens müssen in Bezug auf die Begriffe „kausale Spontaneität“, „Verfügbarkeit alternativer Möglichkeiten“, „Fähigkeit, anders zu handeln“ und „dezisionistische Wahl“ mehrere Differenzierungen vorgenommen werden. Unter „kausaler Spontaneität“ verstehe ich kausale Unabhängigkeit: die Fähigkeit eines Wesens, von sich aus Wirkungen hervorzubringen, ohne dass es dazu von außen bestimmt wäre. Die libertarische Tradition buchstabiert diese Fähigkeit so aus, dass der kausal spontane Akteur zwischen verschiedenen Möglichkeiten frei entscheiden kann (im Sinne der dezisionistischen Wahl, vgl. 1.6), und dass entsprechend in Bezug auf eine gegebene Handlung gilt, dass der Akteur auch anders hätte handeln können („Fähigkeit, anders zu handeln“). Hegel deutet die Willkür als notwendige Voraussetzung für einen freien Willen in diesem Sinne. Das heißt aber nicht, dass für ihn jeder Fall von kausaler Spontaneität ein Fall von Willkür wäre. Wenn dem so wäre, müssten wir
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nämlich für Hegel auch frei über unsere Überzeugungen entscheiden können, denn auch für diese (als Ausprägung des Denkens) beansprucht er kausale Spontaneität. Dann wäre Hegel aber auf einen doxastischen Voluntarismus festgelegt. Wie kann aber kausale Spontaneität in Bezug auf die Überzeugungsbildung verstanden werden, wenn nicht als freie Entscheidung oder als Ausübung von Willkür im Sinne Hegels? Aufschluss bietet hier Hegels oben zitierte Kennzeichnung der „formellen“ Freiheit des Geistes als dessen Fähigkeit, „von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst“ zu „abstrahieren“. Um von allem Äußerlichen abstrahieren zu können, müssen wir nicht die Fähigkeit haben, uns zwischen verschiedenen Optionen ungebunden zu entscheiden. Es genügt, dass wir die Fähigkeit haben, eine – als rational erkannte – Option zu ergreifen und an ihr festzuhalten, gleich welche äußeren Umstände herrschen. Um rational und frei zu sein, ist es z. B. nicht erforderlich, dass ich die Überzeugung bilden und nicht bilden kann, dass der Mond aus Käse besteht. Erforderlich ist vielmehr, dass ich eine Überzeugung, für die ich gute Gründe zu haben glaube, bilden und beibehalten kann, gleich welche Impulse auf mich von außen einwirken – solange die äußeren Umstände nicht gute Gründe gegen die fragliche Überzeugung bieten.50 Bei der fraglichen Fähigkeit handelt es sich nicht um eine Fähigkeit, unter denselben Umständen etwas anderes zu tun, sondern um eine Fähigkeit, unter anderen Umständen dasselbe zu tun. Diese Fähigkeit stellt eine Form kausaler Spontaneität dar, weil wir uns durch ihre Ausübung von äußeren kausalen Einflüssen unabhängig machen. Ferner sind hierfür in einem bestimmten Sinn alternative Möglichkeiten erforderlich. Unter gegebenen kausalen Umständen muss es einerseits möglich sein, dass das Subjekt die fragliche Fähigkeit ausübt und an seiner Überzeugung festhält; andererseits muss es unter denselben Umständen möglich sein, dass das Subjekt die Fähigkeit nicht ausübt und in seinem Verhalten von den gegebenen äußeren kausalen Faktoren bestimmt wird (und infolgedessen z. B. die Überzeugung irrationalerweise aufgibt). In einem anderen Sinn von alternativen Möglichkeiten sind hierfür aber keine alternativen Möglichkeiten erforderlich: nämlich in dem Sinn, in dem dann alternative Möglichkeiten verfügbar sind, wenn das Subjekt aktiv so oder anders handeln bzw. wählen kann. Alternative Möglichkeiten in diesem zweiten Sinn erfordern
50 Dieselbe Fähigkeit benennt Kant, wenn er in der in Abschnitt 6.2 zitierten Passage aus der Schulz-Rezension erklärt, es sei für rationale Überzeugungsbildung erforderlich, dass „der Verstand nach objectiven Gründen, die jederzeit gültig sind, sein Urtheil zu bestimmen das Vermögen habe und nicht unter dem Mechanism der blos subjectiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können, stehe“ (AA 8/14).
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eine „two-way-power“ – eine Fähigkeit, deren Ausübung in zwei (oder mehr) konträre Richtungen gehen kann. Dagegen ist die Fähigkeit, die ich zuvor beschrieben habe, eine „one-way-power“ – eine Fähigkeit, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten (z. B. an einer Überzeugung festzuhalten), gleich welches die äußeren Umstände sind. In dem Fall, in dem das Subjekt sich irrational und fremdbestimmt verhält, übt es nicht dieselbe Fähigkeit auf andere Weise oder zugunsten eines anderen Resultats aus, sondern es übt die Fähigkeit gerade nicht aus. Wird auf diese Weise zwischen kausaler Spontaneität qua Wahlfähigkeit (two-way-power) einerseits und kausaler Spontaneität qua Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen andererseits unterscheiden, so kann Hegels Position wie folgt interpretiert werden. Die Abstraktionsfähigkeit, die für alle Ausprägungen des Geistes wesentlich ist, entspricht der zweiten Fähigkeit – der Unabhängigkeit, verstanden als „one-way-power“. Speziell die praktische Vernunft bzw. der Wille ist zusätzlich durch die „two-way-power“ des Wahlvermögens, in Hegels Terminologie die „Willkür“, ausgezeichnet (während die epistemische Vernunft nur kausale Spontaneität im Sinne der ersten Fähigkeit besitzt). Bei beiden Fähigkeiten handelt es sich um notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen der jeweiligen Freiheitsformen.51 (Dagegen setzt der traditionelle Libertarier Freiheit mit kausaler Spontaneität im Sinne des Wahlvermögens gleich; sofern er epistemische Freiheit zulässt, ist er gezwungen, diese im Sinne des doxastischen Voluntarismus zu deuten.) Ich komme nun zur zweiten der beiden oben genannten Fragen: Wie kann Hegel noch an der Annahme festhalten, dass es eine Sphäre des (endlichen) Mechanismus gibt und alles Wirkliche eine Realisierung in dieser Sphäre besitzen muss, wenn er die These der explanatorischen Geschlossenheit des Mechanismus (also die These (D1*)) nicht akzeptiert? Hegel kann jedenfalls nicht zulassen, dass
51 Dies schließt nicht aus, dass der Wille seine Spontaneität auch in praktischen Fragen innerhalb epistemischer Kontexte (z. B. Wahl von Begriffsrahmen, Untersuchungsperspektiven) ausüben kann. – Eine Implikation dieser Lesart ist, dass Hegel mit seiner metaphysischen Bestimmung des Willens der libertarischen Tradition insofern nahesteht, als er eine akteurskausalistische Deutung des Willens im Sinne der aristotelischen Tradition annimmt. Freilich lässt Hegel die metaphysischen Eigenschaften dieser Akteurskausalität weitgehend unterbelichtet und konzentriert sich stattdessen auf die Frage, was zusätzlich zu ihr noch erforderlich ist, damit Freiheit und intentionales Handeln möglich werden. (Dagegen vertreten Taylor (2010) und durch ihn beeinflusste AutorInnen wie Pippin (2008) eine Lesart, nach der Hegels Handlungstheorie gar keine kausale Dimension besitzt, sondern rein mit normativen Fragen der Handlungsbegründung und -interpretation befasst ist. Nach Quante (1993), 237 ff. lässt Hegels Handlungstheorie zwar durchaus Raum für kausale Elemente, doch interpretiert er diese Elemente im Sinne einer (ereignis)kausalen Handlungstheorie à la Davidson).
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die Sphäre mechanischer Objekte gänzlich indeterministisch organisiert ist oder die Eigenschaften mechanischer Objekte nur durch die spontane Wirksamkeit derjenigen Gegenstände bedingt sind, die im Mechanismus realisiert werden – in diesem Fall gäbe es nämlich keine mechanische Interaktion gemäß der mechanischen Gesetze mehr. Hegels Ablehnung von (D1*) zwingt ihn aber auch keineswegs zu einem derartigen Manöver. Vielmehr kann Hegels Position so verstanden werden, dass der Mechanismus zwar nomologisch geordnet ist, aber die mechanischen Gesetze immer nur konditional, nämlich vorbehaltlich der direkten Intervention durch kausal spontane Tätigkeit gelten. (Die Form solcher Gesetze würde dann in etwa lauten: „Wenn Zustand A zum Zeitpunkt t0 herrscht, herrscht Zustand B zum Zeitpunkt t1, es sei denn, der Zustand zum Zeitpunkt t1 wird durch die Ausübung einer Fähigkeit zur kausal spontanen Intervention hervorgebracht“.) Wenn beispielsweise ein Mensch absichtlich den Arm hebt, findet in seinem Organismus eine Zustandsveränderung mechanischer Objekte statt, die selbst nicht durch die Eigenschaften anderer mechanischer Objekte gemäß den mechanischen Gesetzen, sondern nur durch die kausale Spontaneität des Akteurs erklärt werden kann.52 Durch diese Zustandsveränderung werden dann selbst wieder mechanische Prozesse in Gang gesetzt, die gemäß den mechanischen Gesetzen zur Körperbewegung (und eventuellen kausalen Folgen dieser Körperbewegung) führen. In einem derartigen Fall liegt also eine Intervention (durch die kausal spontane Tätigkeit des Akteurs bzw. seines Willens) in das mechanische System vor, die zur Folge hat, dass einer der Parameter in diesem System – nämlich die Position und/oder Bewegung bestimmter mechanischer Objekte – geändert wird, ohne dass diese Änderung eine mechanische Erklärung hätte. Dennoch führt diese „Lücke“ in der mechanischen Erklärbarkeit der Ereignisfolge nicht dazu, dass nach ihrem Auftreten indeterministisches Chaos herrschen würde, denn sobald der spontan verursachte Zustand des mechanischen Systems einmal eingetreten ist, dient er selbst wieder als Antezedensbedingung für die mechanischen Gesetze, denen der weitere Verlauf nun wieder folgt. Wir können dies an folgendem Beispiel erläutern: Eine Person hält einen schweren Gegenstand in der Hand, weshalb der Arm allmählich sinkt. In Szenario A findet dieser Vorgang auf rein mechanische Weise zwischen den Zeitpunkten t1 und t3 statt, in Szenario B interveniert die Person absichtlich, indem sie zwischen t1 und t2 den Arm hebt.
52 Wenngleich Hegel hierüber keine Aussagen trifft, kann es sich bei dieser Zustandsveränderung prinzipiell um eine Veränderung auf neuronaler Ebene handeln, die durch eine komplexe mechanische Interaktion (welche ihrerseits elektrische, chemische und biologische Entitäten realisiert) kraft mechanischer Gesetze die Körperbewegung hervorruft.
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Zeitpunkt t1 t2 t3
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Szenario A: ohne Intervention Arm in Position X Arm 5 cm niedriger als X Arm 10 cm niedriger als X
Szenario B: mit Intervention Arm in Position X Arm 30 cm höher als X Arm 25 cm höher als X
In Szenario A ist der Zustand des Arms zum Zeitpunkt t2 auf Grund mechanischer Gesetze und des vorangehenden Zustands zum Zeitpunkt t1 erklärbar. In Szenario B dagegen ist der Zustand zum Zeitpunkt t2 nicht mechanisch, sondern nur durch die Intervention des Akteurs zu erklären. Aus diesem veränderten Zustand folgt aber der nächste Zustand (t3) genauso auf gesetzmäßige mechanische Weise wie im Szenario A. Wenn Hegel den Mechanismus so versteht, dann nimmt er zwar mechanische Gesetze an, er gibt aber die These der explanatorischen Geschlossenheit des Mechanismus auf. Das eigentliche Kennzeichen des mechanischen Objekts ist nicht die Fremdbestimmung durch andere mechanische Objekte (dies würde die explanatorische Geschlossenheit erfordern), sondern das schwächere Merkmal der Fremdbestimmung überhaupt. Statt (D1*) nimmt Hegel also nur die folgende schwächere These an: (D1**) Für jede mechanische Eigenschaft E1, die ein mechanisches Objekt O1 zum Zeitpunkt t0 besitzt, gibt es eine Eigenschaft E2, die ein anderes Objekt O2 zum Zeitpunkt t–1 besitzt, so dass für alle möglichen Szenarien, in denen dieselben Naturgesetze wie im aktualen Szenario gelten und in denen alle weiteren Eigenschaften von Objekten im Universum zum Zeitpunkt t–1 gleich sind wie im aktualen Szenario, gilt: (O2 besitzt E2 zum Zeitpunkt t–1) → (O1 besitzt E1 zum Zeitpunkt t0) Dabei bleibt offen, ob das Explanans („O2 besitzt E2 zum Zeitpunkt t–1“) selbst mechanischer Natur ist oder nicht (es kann z. B. auch ein Akt eines kausal spontanen Willens sein). Dieser Deutungsvorschlag erklärt, wie Hegel an der Existenz mechanischer Objekte und der Annahme, dass alles Wirkliche in Form solcher Objekte realisiert sein muss, festhalten kann und dennoch den Inkompatibilismus vertreten kann, den wir ihm zugeschrieben haben. – Ist es aber nicht äußerst unplausibel, dass die geltenden Naturgesetze konditional in Bezug auf unsere Intervention (sowie die Intervention anderer Formen kausal spontaner Tätigkeit: also die Selbstbewegung der Himmelskörper und die Selbstbewegung nicht-geistiger Organismen) sein sollen? Nicht, wenn man wie Hegel die Existenz der Natur (und speziell des Mechanismus) ontologisch darin begründet sieht, dass sie eine notwendige Bedingung für die Existenz geistiger Wesen darstellt. Denn in diesem Fall ist es gerade zu erwarten, dass die Naturgesetze so beschaffen sind, dass sie Raum für Intervention durch geistige
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Wesen lassen – zumindest dann, wenn Hegel mit seinem Inkompatibilismus Recht hat und kausale Spontaneität eine Voraussetzung von Freiheit ist. Umgekehrt erfordert es die Möglichkeit von Freiheit für Hegel auch, dass es eine elementare, mechanistisch strukturierte Ebene in der Natur gibt, denn andernfalls würde es der Freiheit und dem Geist an einem ihnen gegenüber „gleichgültigen“ Medium fehlen, in dem sie realisiert werden können. Die Natur kann also nicht völlig indeterministisch und gesetzlos sein, sondern muss – zumindest auf der Ebene des Mechanismus – durch Naturgesetze geordnet sein.53 Die vorgeschlagene konditionale Deutung der mechanischen Gesetze trägt diesen beiden komplementären Anforderungen an den Mechanismus Rechnung, die sich aus Hegels Deutung der Natur als notwendiger Bedingung für Freiheit ergeben. Hegel selbst vertritt nirgends ausdrücklich eine derartige Analyse der mechanischen Gesetze. Er kommt ihr aber recht nahe, wenn er in seiner logischen Analyse teleologischer Prozesse, in denen Zwecke innerhalb der mechanischen (und chemischen) Natur durch die Verwendung mechanischer Objekte als Mittel realisiert werden, vom Mittel (also einem mechanischen Objekt) erklärt: Seine Unselbständigkeit besteht eben darin, daß es nur an sich die Totalität des Begriffs ist; dieser aber ist das Fürsichsein. Das Objekt hat daher gegen den Zweck den Charakter, machtlos zu sein und ihm zu dienen; er ist dessen Subjektivität oder Seele, die an ihm ihre äußerliche Seite hat. (WdL 6/450 f.)
Wenn wir ein mechanisches Objekt als Mittel verwenden, dann verändern wir gerade durch spontane Intervention seine mechanischen Eigenschaften (seine Position, seine Bewegung, seine Zusammensetzung mit anderen Objekten …) so, dass die Anfangsbedingungen für einen mechanischen Prozess geschaffen sind, welcher seinerseits das von uns gewünschte Resultat („Zweck“) hervorbringt. Die Tatsache, dass die mechanischen Objekte einer derartigen Intervention offenstehen, bezeichnet Hegel als ihre „Machtlosigkeit“ und ihren „Charakter“, dem Zweck (und mithin dem Geist) „zu dienen“ – Eigenschaften, die Hegel auf
53 Ein weiteres mögliches Bedenken gegen die vorgeschlagene Position wäre, dass sie der faktischen Regularität der Natur nicht gerecht wird, weil sie die Möglichkeit von anomalen Lücken in mechanischen Prozessen annimmt. Wie könnten wir Raketen zum Mond schießen, wenn der Gang der mechanischen Prozesse einfach durch spontane Intervention abgeändert werden könnte? Dieser Einwand ist aber nicht sehr stichhaltig: Dass die Rakete zum Mond fliegt, nehmen wir gerade nur unter impliziten Vorbehalten wie dem an, dass nicht jemand in der Kontrollstelle zum falschen Zeitpunkt eine falsche Kursänderung vornimmt usw.
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den ontologischen Status mechanischer Objekte als bloße Momente in der Realisierung des Begriffs zurückführt. Das konditionale Verständnis der mechanischen Gesetze, das ich vorgeschlagen habe, bietet eine plausible metaphysische Präzisierung dieser metaphorischen Charakterisierungen des Mechanismus. Hegel ist also unter den drei relevanten Interpretationen von „Determinismus“ – seiner eigenen Interpretation, der abgeschwächten Version seiner Interpretation, und der heute gängigen Interpretation – eindeutig ein Inkompatibilist. Es stellt sich bei Hegel aber noch eine weitere Kompatibilitäts-Frage, die nicht das Verhältnis von Natur und Geist betrifft, sondern das Verhältnis zwischen Freiheit und der Notwendigkeit derjenigen historischen Prozesse, in denen sich nach Hegel der objektive und der absolute Geist entwickeln. Es entspricht einem gängigen Bild von Hegels Philosophie, dass er einen historischen Determinismus vertritt. Nachdem für ihn individuelles Denken, Wollen und Handeln aber dennoch frei sein können, scheint es, dass er zumindest in diesem Zusammenhang Kompatibilist ist. Die Evidenz, die wir für Hegels Ablehnung eines mechanischen Determinismus angeführt haben, zeigt auch, dass er historischer Determinist nicht in dem Sinn sein kann, dass alles menschliche Handeln durch historische Gesetze und die kausale Vergangenheit festgelegt ist. Die Form von historischer Determination, die Hegel annimmt, scheint vielmehr so beschaffen zu sein, dass es eine Reihe von Tatsachen der Art gibt: (3) Notwendigerweise gibt es zu irgendeinem Zeitpunkt ein Ereignis der Art E. Es ist also notwendig, dass bestimmte historische Ereignisse – z. B. die Bildung von Polis-Kulturen, oder die Aufklärung, etc. – irgendwann eintreten; überdies stehen diese Ereignisse in einer relativen zeitlichen Ordnung. Historische Ereignisse erfordern zwar das Handeln individueller Akteure, aber durch Sätze von der Form (3) ist nicht festgelegt, dass bestimmte Akteure so und so handeln müssen. Aus ihnen folgen nur Aussagen der Form: (4) Notwendigerweise gibt es zu irgendeinem Zeitpunkt einen Akteur A, der φt. Typischerweise lassen derartige Tatsachen im Zusammenhang mit historischen Ereignissen und Vorgängen auch großen Spielraum, was die relevante Handlung φ angeht; überdies haben die fraglichen Handlungen nach Hegel stets einen ambivalenten Charakter, denn in ihnen verfolgt der jeweilige Akteur gemäß Hegels Theorie der „List der Vernunft“ stets auch sein eigenes Interesse. – Freie menschliche Handlungen sind für Hegel demnach nur insofern durch historische Notwendigkeit nezessitiert, als feststeht, dass unter diesen Handlungen bestimmte einzelne Handlungen sein müssen, die (sehr weit gefasste) Handlungstypen instantiieren. Hierbei handelt es sich aber um eine so schwache Form von Nezessitation, dass die Rede von einem „historischen
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Determinismus“ und einem entsprechenden Kompatibilismus Hegels irreführend wäre.54
54 Vgl. hierzu auch Knappik (im Ersch.b). – Auch die beschriebene Form der schwachen historischen Nezessitation führt allerdings zu einer (wenn auch minimalen) Einschränkung von Freiheit. Stellen wir uns eine Gruppe von Akteuren vor, die in einem Zeitraum von t1 bis tn eine endliche Menge m von freien Handlungen ausführen. Von dieser Menge von freien Handlungen soll nun die modale Tatsache gelten, dass unter ihr notwendigerweise mindestens eine vom Typ φ ist. Überdies soll eine Handlung (entsprechend Hegels Willkür-Bedingung für Freiheit) nur dann frei sein, wenn der Akteur auch hätte anders handeln können. Dann ergibt sich das folgende Problem. Nehmen wir an, dass zum Zeitpunkt tn alle bis auf eine der m Handlungen erfolgt sind, ohne dass eine von ihnen dem Typ φ angehört hätte. Dann ist der Akteur der m-ten Handlung nicht mehr frei, sondern muss φen: Er hätte unter denselben Umständen das φen nicht unterlassen können (sondern nur dann, wenn zuvor schon jemand geφt hätte). Dieses Szenario muss also ausgeschlossen werden, wenn die ursprüngliche Beschreibung des Falls zutreffen soll. Das Szenario kann aber nur ausgeschlossen werden, wenn die modale Tatsache dahingehend spezifiziert wird, dass in der Teilmenge der Handlungen 1 bis m-1 notwendigerweise mindestens eine Handlung vom Typ φ enthalten sein muss. In diesem Fall bietet sich aber erneut ein Szenario der genannten Art dar, nämlich der Fall, in dem die Handlungen 1 bis m-2 erfolgt sind, ohne dass der Typ φ instantiiert worden wäre, so dass nun die Handlung m-1 notwendigerweise von diesem Typ sein muss. Wenn dieses Vorgehen iteriert wird, wird die modale Tatsache solange eingeschränkt, bis gleich von der ersten Handlung gilt, dass sie notwendigerweise vom Typ φ sein muss und also nicht frei ist. Die eingangs genannten Bedingungen für den Fall können also nicht zusammen erfüllt werden; die modale Tatsache kann nur auf Kosten der Freiheit der einzelnen Handlungen bestehen. – Hegel kann dieses Problem umgehen, indem er annimmt, dass im Fall der wirklich historischen Handlungen – die de facto nur einen sehr kleinen Anteil aller intentionaler Handlungen ausmachen – keine vollständige Freiheit vorliegt, sondern z. B. nur die Bedingungen für Identifikation (vgl. 6.3) erfüllt sind, nicht aber die Willkür-Bedingung.
7 Epistemische Freiheit In den vorangegangenen Kapiteln haben wir sowohl logische als auch auf den Geistbegriff bezogene allgemeine Grundlagen und Voraussetzungen von Freiheit untersucht und die teleologische Struktur des Begriffs als systematischen Kern dieser Grundlegung ermittelt. Die Frage ist nun, wie diese Struktur in Bezug auf konkrete Formen von Vernunft zum Tragen kommt und die jeweiligen Ausprägungen von Freiheit erklären kann. Dabei muss zum einen die Frage weiter verfolgt werden, wie Hegel im Einzelnen glaubt, das Formalismus-Problem (vgl. 2.6.2, 3.2.1) lösen zu können. Zum anderen haben wir in Abschnitt 1.3 gesehen, dass eine Freiheitstheorie von der Art, wie sie Hegel entwirft, dem Verdacht ausgesetzt ist, sie würde den Freiheitsbegriff inflationär gebrauchen und ihm daher seine spezifische Bedeutung nehmen. Auch aus diesem Grund müssen wir verstehen, wie auf der Basis der bislang rekonstruierten allgemeinen logischen und metaphysischen Grundlagen von Freiheit konkrete Gestalten freier Subjektivität erklärt werden können. Dass wir in diesem Kapitel bei der epistemischen Freiheit anfangen, liegt daran, dass sie – wie Hegel plausibel behauptet – direkt mit den elementaren Fähigkeiten zur Selbstidentifizierung verbunden ist, die wir in Abschnitt 6.2 betrachtet haben. Ich untersuche im Folgenden zunächst Hegels allgemeine Konzeption epistemischer Freiheit in Abgrenzung von den Eigenarten praktischer Freiheit (7.1). Anschließend betrachte ich, inwieweit die Realisierung so verstandener epistemischer Freiheit einen Prozess der Befreiung darstellt, der sich in Form der Hegelschen Stufenfolge von Anschauung, Vorstellung und Denken vollzieht (7.2–7.4).
7.1 Der allgemeine Begriff der epistemischen Freiheit Wie wir in Abschnitt 1.6 gesehen haben, ist die Annahme einer epistemischen Freiheit, die in einer willentlichen Kontrolle über die Überzeugungsbildung besteht, mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert; auch Versuche, einen weniger direkten Zusammenhang zwischen dem Willen und unserer Überzeugungsbildung herzustellen, haben sich als problematisch erwiesen. Auf Grund dieser und verwandter Probleme lehnen viele AutorInnen implizit oder explizit die Existenz einer eigenen Freiheitsform der epistemischen Vernunft ab. Hegel dagegen vertritt eine Auffassung epistemischer Freiheit, die ganz ohne die Annahme eines (direkten oder indirekten) Einflusses des Willens auf die Überzeugungsbildung auskommt. Nicht eine vermeintliche Kontrolle, die wir durch unseren Willen über unsere Überzeugungen ausüben, sondern die Auto-
7.1 Der allgemeine Begriff der epistemischen Freiheit
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rität, die wir der Wahrheit über unser Denken einräumen, ist für Hegel der Schlüssel zum Verständnis epistemischer Freiheit. Zentral für diese Thematik ist der bereits zitierte § 23 der Enzyklopädie, in dem Hegel schreibt: Indem im Nachdenken ebensosehr die wahrhafte Natur zum Vorschein kommt, als dies Denken meine Tätigkeit ist, so ist jene ebensosehr das Erzeugnis meines Geistes, und zwar als denkenden Subjekts, Meiner nach meiner einfachen Allgemeinheit, als des schlechthin bei sich seienden Ichs, – oder meiner Freiheit. (8/80)
In der folgenden Anmerkung heißt es u. a. weiter: In dem Denken liegt unmittelbar die Freiheit, weil es die Tätigkeit des Allgemeinen, ein hiermit abstraktes Sichaufsichbeziehen, ein nach der Subjektivität bestimmungsloses Beisichsein ist, das nach dem Inhalte zugleich nur in der Sache und deren Bestimmungen ist. Wenn daher von Demut oder Bescheidenheit und von Hochmut in Beziehung auf das Philosophieren die Rede ist und die Demut oder Bescheidenheit darin besteht, seiner Subjektivität nichts Besonderes von Eigenschaft und Tun zuzuschreiben, so wird das Philosophieren wenigstens von Hochmut freizusprechen sein, indem das Denken dem Inhalte nach insofern nur wahrhaft ist, als es in die Sache vertieft ist und der Form nach nicht ein besonderes Sein oder Tun des Subjekts, sondern eben dies ist, daß das Bewußtsein sich als abstraktes Ich, als von aller Partikularität sonstiger Eigenschaften, Zustände usf. befreites verhält und nur das Allgemeine tut, in welchem es mit allen Individuen identisch ist. (8/80)
In diesem Kapitel werde ich mich mehrfach auf diese Schlüsselpassagen beziehen, in denen Hegel speziell dem Denken, das sich auf eine Sache einlässt und ihre wahre Natur erkennt, gelingende epistemische Freiheit zuschreibt. Wir müssen u. a. verstehen, wie der Freiheitsbegriff in diesem Kontext vor dem Hintergrund des bislang Entwickelten genau zu deuten ist und wie sich die hier von Hegel beschriebene Freiheit des Denkens zu den anderen epistemischen Vermögen verhält. Hegel spricht in dem zitierten Paragraphen speziell von philosophischem Denken, doch eines der Themen unserer Diskussion (vgl. 7.2) wird es sein, dass die Form von Freiheit, die Hegel hier beschreibt, in allen epistemischen Vermögen – wenn auch in vorläufiger und reduzierter Gestalt – Realität hat. Für Hegel sind nämlich das philosophische Denken und alle weiteren epistemischen Vermögen (insbesondere Anschauung und Vorstellung) Ausprägungen des einen Denkens (Enz. § 2, 8/42).1 Deshalb können wir zunächst in diesem Abschnitt
1 Daneben ermöglicht die Philosophie noch andere Aspekte von Freiheit, die im außerphilosophischen Denken nicht zugänglich sind und die wir in Kapitel 9 behandeln werden; diese Aspekte sind aber in § 23 nicht angesprochen.
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7 Epistemische Freiheit
allgemeine Kennzeichen von epistemischer Freiheit betrachten, die für alle diese Ausprägungen gleichermaßen gelten. Wie wir gesehen haben, deutet Hegel Freiheit allgemein als rationale Persistenz geistiger Selbste, die in der Auseinandersetzung mit Heterogenem geschaffen und aufrechterhalten werden muss. Epistemische Freiheit besteht demnach in rationaler Persistenz, die Subjekte speziell in ihrer epistemischen Aktivität gewinnen müssen. Um Hegels Auffassung des Epistemischen sowie des Zusammenhangs von Freiheit und Wahrheit in diesem Kontext besser zu verstehen, betrachten wir zwei Aspekte, die hier eine besondere Rolle spielen: erstens das Begreifen oder Verstehen als Ziel epistemischer Tätigkeit; zweitens Hegels These von der unproblematischen oder „unmittelbaren“ Realität von Freiheit im epistemischen Bereich. (1) Nach einer gängigen Auffassung epistemischer Vernunft besteht das Ziel, auf das wir in epistemischer Tätigkeit hinarbeiten, im Wissen – also im weitesten Sinne in wahrer gerechtfertigter Meinung (wobei wir für den gegenwärtigen Zweck von den Schwierigkeiten in der genauen Bestimmung dieser Definition absehen können). Diese Auffassung ist aber keineswegs selbstverständlich; bereits Platon hat sie im Menon (97a ff.) mit der Frage konfrontiert, weshalb Wissen wertvoller als bloße wahre Meinung sein sollte. In neueren epistemologischen Debatten über epistemische Ziele und den Wert von Wissen2 haben nun die epistemischen Leistungen des Erklärens und Verstehens, denen Hegel eine zentrale Rolle für Rationalität zuschreibt (vgl. 4.4.4), größere Beachtung gefunden, als es sonst oft der Fall war und ist. Mehrere AutorInnen haben nämlich als möglichen Kandidaten für ein privilegiertes epistemisches Ziel das Verstehen statt des Wissens vorgeschlagen. Das eigentliche Ziel epistemischer Tätigkeit – das, was wir an deren Leistungen wertvoll finden – besteht demnach nicht darin, dass wir etwas wissen, sondern darin, dass wir etwas verstehen. Es ist intuitiv plausibel, dass Verstehen einen epistemischen Wert für uns darstellt. Wenn wir Wissen, das wir bereits haben, durch ein zusätzliches Verständnis ergänzen, verbessert sich die epistemische Qualität des relevanten Ausschnittes unseres Überzeugungssystems, aber offenbar nicht nur deshalb, weil weitere wahre gerechtfertigte Überzeugungen hinzukommen. Nach Jonathan Kvanvig besteht der relevante Unterschied darin, that understanding requires, and knowledge does not, an internal grasping or appreciation of how the various elements in a body of information are related to each other in terms of
2 Vgl. u. a. Zagzebski (2001); Kvanvig (2003); die Beiträge in Haddock/Millar/Pritchard (2009); Pritchard/Haddock/Millar (2010), Teil I; sowie, mit weiterer Literatur, den Überblicksartikel Pritchard (2007).
7.1 Der allgemeine Begriff der epistemischen Freiheit
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explanatory, logical, probabilistic, and other kinds of relations that coherentists have thought constitutive of justification. (Kvanvig (2003), 192 f.)
Wie der Hinweis auf kohärentistische Theorien epistemischer Rechtfertigung verdeutlicht, zählt Verstehen in diesem Sinn zumindest nach manchen Theorien zu den notwendigen Voraussetzungen für Wissen: Für traditionelle Kohärentisten wie Harman und Sellars ist explanatorische Kohärenz ein notwendiges Element von expistemischer Rechtfertigung.3 Für die genannten Kohärentisten macht also Verstehen im skizzierten Sinn nur einen Teil des Wissensbegriffs aus. Dagegen vertritt Kvanvig die Auffassung, dass Wissen (im Sinne von wahrer gerechtfertigter Meinung) und Verstehen auseinanderfallen können. Dass es wahre gerechtfertigte Meinung ohne Verstehen geben kann, scheint plausibel. Sehr viele Menschen haben z. B. eine wahre und gerechtfertigte Meinung dahingehend, dass aus der speziellen Relativitätstheorie die Gleichung „E=mc2“ folgt, ohne genügend von der speziellen Relativitätstheorie zu verstehen, um zu wissen, warum dem so ist. Gewöhnlich würden wir die fragliche Überzeugung dennoch als gerechtfertigt und als Fall von Wissen gelten lassen. – Kann es aber auch Verstehen ohne Wissen geben? Mehrere AutorInnen sind der Auffassung, dass es Verstehen (im relevanten, epistemisch wertvollen Sinn) zumindest auch dann geben kann, wenn die Rechtfertigungsbedingung für Wissen nicht erfüllt ist4; daneben wird auch die stärkere Position vertreten, dass Verstehen sogar dann vorliegen kann, wenn die involvierten Überzeugungen falsch sind.5 Auch wenn das Verstehen einen eigenen Wert hat und unabhängig von Wissen auftreten kann, ist es doch unplausibel, dass es ganz unabhängig von Wahrheit und Rechtfertigung das eigentliche Ziel epistemischer Aktivität bilden kann: In diesem Fall wäre es nämlich unverständlich, weshalb explanatorisch neutrale Rechtfertigungen – wie z. B. die Rechtfertigung der Überzeugung, dass „E=mc2“ aus der speziellen Relativitätstheorie folgt, durch das Zeugnis von Experten – in unseren epistemischen Praktiken überhaupt eine Rolle spielen. Wir können diese unattraktive Konsequenz vermeiden und dennoch der plausiblen Einsicht in den genuinen epistemischen Wert von Verstehen Rechnung tragen,
3 Vgl. Harman (1973), Kap. 8; Sellars (1979); in schwächerer Form Bonjour (1985), 98 ff. – Vgl. dagegen die einflussreiche Kritik von Lehrer (1990), Kap. 5. 4 Nach Zagzebski (2001) und Kvanvig (2003) ist Verstehen kompatibel mit epistemischem Glück (d. h. akzidenteller Wahrheit wie in Gettier-Fällen), während Pritchard dies auf einen bestimmten Typ epistemischen Glücks einschränkt (Pritchard/Haddock/Millar (2010), 77 ff.). 5 So z. B. Zagzebski (2001). Für Kritik und weitere Literatur vgl. Pritchard/Haddock/Millar (2010), 73 ff.
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indem wir das privilegierte epistemische Ziel als wahre gerechtfertigte Meinung plus Verstehen, oder als begreifendes Wissen, beschreiben. Dies ist nun eine Position, die mit einiger Plausibilität auch Hegel zugeschrieben werden kann.6 Wir haben bereits in unserer Untersuchung der Urteilslogik die Rolle hervorgehoben, die Hegel objektiven explanatorischen Beziehungen, insbesondere denen, die die teleologische Struktur des Begriffs aufweisen, für ein objektives Erfassen der Wirklichkeit zuschreibt. Die Fähigkeit zum Erfassen derartiger Beziehungen bringt Hegel überdies häufig in Verbindung mit epistemischer Freiheit. So hatten wir schon eine Passage aus einer Vorlesungsnachschrift zitiert (vgl. 3.3), in der es heißt: „In der Existenz ist [das] Feld der Notwendigkeit, aber indem wir die Natur begreifen, so sind wir darin frei“ (VL 10/174). Und an einer Schlüsselstelle in der Einleitung zur Begriffslogik (vgl. 5.2.1) erklärt Hegel die logische Struktur des Begriffs an Hand des Begreifens eines Gegenstandes: Das Begreifen eines Gegenstandes besteht in der Tat in nichts anderem, als daß Ich denselben sich zu eigen macht, ihn durchdringt und ihn in seine eigene Form, d. i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit, oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt. Der Gegenstand in der Anschauung oder auch in der Vorstellung ist noch ein Äußerliches, Fremdes. Durch das Begreifen wird das Anundfürsichsein, das er im Anschauen und Vorstellen hat, in ein Gesetztsein verwandelt; Ich durchdringt ihn denkend. (WdL 6/255)
Die „Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit“ ist, entspricht dabei der teleologischen Struktur des Begriffs als Struktur der teleologischen Realisierung, durch die Bestimmtheit erzeugt wird. Indem wir im Erkenntnisprozess – Hegel nennt hier die Stufen Anschauung, Vorstellung und Denken, auf die wir uns auch im Folgenden konzentrieren werden – die zunächst gegebenen Erkenntnisinhalte so transformieren, dass sie die Form des Begriffs aufweisen, nehmen wir zugleich dem Erkenntnisgegenstand seinen Charakter als „Äußerliches, Fremdes“ und eignen ihn uns an. Vor dem Hintergrund dessen, was wir inzwischen zum Freiheitsbegriff entwickelt haben, ist dieser Prozess offenkundig ein Prozess der Realisierung von Freiheit – genauer ein Prozess der Überwindung einer „Äußerlichkeit“, die unsere rationale Persistenz einschränkt. Bei dieser freiheitstheoretischen Kennzeichnung des Erkenntnisprozesses handelt es sich freilich nicht nur um einen rein subjektiven Aspekt; Hegel erklärt vielmehr im weiteren Verlauf der zitierten Passage: Wie er [sc. der Gegenstand] aber im Denken ist, so ist er erst an und für sich; wie er in der Anschauung oder Vorstellung ist, ist er Erscheinung; das Denken hebt seine Unmittelbarkeit,
6 Vorläufer Hegels sind hier Platon und Aristoteles, zumindest im Hinblick auf den Begriff des Wissens innerhalb der Wissenschaften; vgl. Kvanvig (2009), 97.
7.1 Der allgemeine Begriff der epistemischen Freiheit
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mit der er zunächst vor uns kommt, auf und macht so ein Gesetztsein aus ihm; dies sein Gesetztsein aber ist sein Anundfürsichsein oder seine Objektivität. (WdL 6/255)
Indem wir das zunächst gegebene Anschauungsmaterial so transformieren, dass die in ihm impliziten begrifflichen Strukturen – also insbesondere solche Strukturen, die durch die Wirksamkeit „objektiver Begriffe“ (vgl. 5.2.2) bedingt sind – sichtbar werden, erkennen wir zugleich den Gegenstand in seiner Objektivität; wir hatten ja schon gesehen, dass derartige objektive Begriffe gemäß Hegels Begriffsrealismus das Sein der Gegenstände bestimmen und im Ausgang von ihrer zunächst epistemisch zugänglichen „Außenseite“ erkannt werden können. Befreiung durch Transformation gegebener Inhalte und objektive Erkenntnis sind demnach nur zwei Seiten einer Medaille. Wird epistemische Tätigkeit auf diese Weise verstanden, dann darf ihr Ziel freilich nicht so beschrieben werden, dass es bereits durch das bloße, noch so gerechtfertigte Konstatieren isolierter Tatsachen erreicht werden kann, also durch Wissen ohne Verstehen.7 Vielmehr ist eine anspruchsvollere Bestimmung dieses Ziels nötig, die neben dem Wissen auch das Verstehen bzw. Begreifen umfasst; der oben eingeführte Gedanke des „begreifenden Wissens“ erfüllt gerade dieses Desiderat. Wie ich im folgenden Abschnitt zu zeigen versuche, deutet Hegel das begreifende Wissen mit einiger Plausibilität als epistemisches Ziel, das neben wissenschaftlicher und besonders philosophischer Tätigkeit unsere epistemische Aktivität auch schon auf den einfacheren Stufen von Anschauung, Vorstellung und außerwissenschaftlichem Denken leitet.8
7 In diesem Zusammenhang spricht Hegel häufig von bloßen „Kenntnissen“ im Gegensatz zu „Erkenntnissen“ oder „Wissenschaft“; z. B. 2/15 ff.; PhG 3/11 ff. 8 Nur am Rande sei hier ein wichtiger exegetischer Vorteil der skizzierten Deutung genannt; er besteht darin, dass sie die epistemologische Relevanz von Hegels Begriff der Wahrheit sichtbar macht. Hegels Wahrheitsbegriff wird häufig als „ontologischer“ Wahrheitsbegriff charakterisiert, weil Wahrheit nach Hegel in der Übereinstimmung eines Gegenstands mit seinem („objektiven“) Begriff besteht (vgl., mit weiterer Literatur, Halbig (2002), Kap. 5); Wahrheit in diesem Sinne grenzt Hegel strikt von der „Richtigkeit“ ab, also der Wahrheit von Aussagen. Hegels „ontologischer“ Wahrheitsbegriff wird häufig so verstanden, dass er ausschließlich einen ontologischen Sachverhalt betrifft und so von unseren epistemischen Einstellungen entkoppelt ist. Nichtsdestotrotz redet Hegel aber in Bezug auf epistemische Inhalte, die er für genuine Erkenntnisse hält, von „Wahrheit“, während er den Begriff der „Richtigkeit“ nur mit kritischer Intention und in Bezug auf einfache Aussagen wie „Diese Rose ist rot“ gebraucht (z. B. Enz. § 172 A, 8/323). „Richtigkeit“ kann dann als wahrheitstheoretisches Gegenstück zur isolierten Kenntnis, d. h. zum nicht-begreifenden Wissen gedeutet werden und steht für die Wahrheitsbedingung in diesem defizitären Wissensbegriff. Das begreifende Wissen dagegen muss über die Richtigkeit bezüglich isolierter Tatsachen (der „Außenseite“ der Sache) hinaus den objektiven Begriff der Sache erkennen und das Verhältnis zwischen ihm und seiner Realisierung begreifen – also die ontologi-
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(2) Für die zweite allgemeine Bestimmung epistemischer Freiheit, die wir hier besprechen, können wir an den eingangs zitierten § 23 aus der Enzyklopädie anknüpfen. Dort heißt es: In dem Denken liegt unmittelbar die Freiheit, weil es die Tätigkeit des Allgemeinen, ein hiermit abstraktes Sichaufsichbeziehen, ein nach der Subjektivität bestimmungsloses Beisichsein ist, das nach dem Inhalte zugleich nur in der Sache und deren Bestimmungen ist. (Enz. § 23 A, 8/80)
Im Denken – und zwar, wie der Kontext zeigt, speziell im epistemischen Denken – liegt nach Hegel „unmittelbar die Freiheit“. Epistemische Freiheit ist also in bestimmter Weise unproblematisch – wir müssen sehr viel weniger leisten, um epistemische Freiheit zu erlangen, als wir leisten müssen, um praktische Freiheit zu erlangen, und praktische Freiheit ist wesentlich größeren Gefährdungen ausgesetzt als epistemische Freiheit. Wie kann eine derartige These genauer verstanden und begründet werden? Der Begründungsansatz, den Hegel selbst für die These vom „unproblematischen“ Charakter epistemischer Freiheit bietet, nimmt Bezug auf die intersituative und intersubjektive Identität rationaler Subjekte („abstraktes Sichaufsichbeziehen“), die wir im vorigen Kapitel als allgemeine Voraussetzung rationaler Freiheit besprochen haben (vgl. 6.2). Hegels These kann nun genauer so verstanden werden, dass diese Identität bereits hinreichend für (zumindest elementare) epistemische Freiheit ist, während dies für praktische Freiheit nicht gilt. Diese Identität entspricht nämlich dem Geltungsskopus, der mit epistemischen Einstellungen einhergeht, nicht aber dem Skopus praktischer Geltung. Wenn wir p für wahr halten, beanspruchen wir damit nicht nur, dass es für uns vernünftig ist, p für wahr zu halten, sondern zugleich, dass es für jeden anderen – jedes Subjekt also, das in gleicher Weise durch intersituative und intersubjektive Identität definiert ist wie wir – ebenso vernünftig wäre, p für wahr zu halten.9 Wir beanspruchen mithin, dass es für alle Subjekte gleichermaßen gültige Gründe gibt, die die Überzeugung, p sei wahr, rechtfertigen; wir tun hier „das Allgemeine“, in dem wir „mit allen Individuen identisch“ sind (Enz. § 23 A, 8/80). Dagegen werde ich in Abschnitt 8.1 dafür argumentieren, dass der Geltungs-
sche Wahrheit (oder Falschheit) einer Sache. Das begreifende Wissen kann dann auch als gerechtfertigte wahre Meinung definiert werden, wenn „wahr“ dabei für das objektive Erfassen der in der Sache wirksamen begrifflichen Struktur (der „explanatorisch autonomen Konstellation“, die wir in Abschnitt 4.6.4 beschrieben hatten) steht. (Pace Halbig (2002), 200 ist ein solches Erfassen aber auch im Falle ontologischer Falschheit der Sache möglich). 9 Wenn unsere Gründe für p so stark sind, dass sie es unvernünftig machen, p nicht für wahr zu halten, beurteilen wir es darüber hinaus als unvernünftig, wenn andere p nicht für wahr halten.
7.1 Der allgemeine Begriff der epistemischen Freiheit
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bereich praktischer Urteile (mit Ausnahme moralischer Urteile) eingeschränkt ist: Wenn wir einen praktischen Grund in Anspruch nehmen, um etwas zu tun, implizieren wir damit nicht ipso facto, dass es für alle anderen Subjekte vernünftig wäre, die Handlung in der gegebenen Situation auszuüben. Der eingeschränkte Geltungsbereich praktischer Einstellungen führt dazu, dass hier partikuläre und egoistische Zwecke als Gründe auftreten können. In der Partikularität von praktischen Einstellungen liegt aber für Hegel, wie wir in Abschnitt 2.2 gesehen haben, eine potentielle Gefährdung von Freiheit. Für eine solche Partikularität von Gründen besteht im epistemischen Bereich kein rationaler Raum: Nach Hegel erfordert das epistemische Denken, dass sich das Subjekt als „von aller Partikularität sonstiger Eigenschaften, Zustände usf. befreites verhält“ (Enz. § 23 A, 8/80). Damit besteht aber im Epistemischen auch nicht die Gefahr einer Einschränkung von Freiheit dadurch, dass wir uns rationalerweise durch rein individuelle Einstellungen bestimmen lassen. Über die intersubjektive Allgemeingültigkeit ihrer Einstellungen hinaus ist die epistemische Vernunft auch noch durch eine weitere Dimension der Identität gekennzeichnet. Eine weitere Asymmetrie zwischen epistemischer und praktischer Vernunft kann nämlich plausiblerweise darin gesehen werden, dass epistemische Aktivität auf ein privilegiertes Ziel ausgerichtet ist, während es im praktischen Bereich verschiedene Güter gibt. Dies äußert sich u. a. darin, dass epistemische Gründe durch anderweitige, stärkere Gründe entkräftet werden, während Wünsche eine Handlungsoption auch dann noch als gut erscheinen lassen können, wenn sie anderen, rational stärkeren Wünschen unterlegen sind. Der intersituativen und intersubjektiven Identität, die im epistemischen Bereich zum Tragen kommt, entspricht also auch eine vollständige Identität des Ziels epistemischer Aktivität. Dagegen führt die Pluralität von praktischen Gütern zur Möglichkeit von Konflikten (vgl. GPhR § 17, 7/68), für die im Epistemischen kein logischer Raum besteht (vgl. Hurley (1989), 132 f.; Owens (2002); Raz (2009), 42). Der praktische Bereich ist also durch Potentiale von Konflikt und Unfreiheit gekennzeichnet, für die im epistemischen Bereich kein begrifflicher Raum besteht. Insofern kann mit gutem Grund die Hegelsche These vertreten werden, dass wir im epistemischen Bereich unmittelbar frei sind – sofern diese Unmittelbarkeit im Sinne der erläuterten Differenz zum praktischen Bereich, nicht im Sinne unmittelbar gegebener Freiheit verstanden wird. Gegen diese These spricht allerdings der folgende, von Hegel nicht berücksichtigte Einwand. Es gibt Fälle, in denen einzelne Subjekte über spezialisierte epistemische Fähigkeiten verfügen und daher einen Expertenstatus genießen, der dazu führt, dass für sie teilweise andere Gründe gelten als für die nicht-spezialisierten Subjekte. Beispielsweise kann A, ein Experte auf einem bestimmten Ge-
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biet, seine eigene Erfahrung als Quelle für Rechtfertigungen der folgenden Art heranziehen: (a) Ich halte p für wahr, weil mir meine durch lange Erfahrung geschulte Intuition sagt, dass p wahr ist. So kann sich etwa ein Kenner eines bestimmten Malers für die Zuschreibung eines Gemäldes auf sein geübtes Auge berufen. Andere Subjekte sind zu dieser Art von Begründung nicht in der Lage; würden sie in der gleichen Situation eine Begründung der Art (a) äußern, würde dies nicht akzeptiert werden. Dies scheint gegen die normative Gleichheit epistemischer Subjekte zu sprechen. Hegels These kann gegen diesen Einwand durch die Entgegnung verteidigt werden, dass auch Begründungen der Art (a) einen intersubjektiven Geltungsanspruch erheben, in dem die intersubjektive und intersituative rationale Identität zum Tragen kommt. Dieser Anspruch beruht darauf, dass (a) lediglich der subjektive Ausdruck der folgenden Tatsache ist, auf die sich auch alle anderen Subjekte berufen können: (b) A’s durch lange Erfahrung geschulte Intuition sagt, dass p wahr ist. Auf diese Tatsache kann sich jedes andere Subjekt beziehen und Begründungen der folgenden Art formulieren: (c) Ich halte p für wahr, weil A’s durch lange Erfahrung geschulte Intuition sagt, dass p wahr ist. Diese Struktur sorgt in Kontexten, in denen Expertenwissen und vergleichbare spezialisierte Fähigkeiten auftreten, dafür, dass die grundlegende epistemische Gleichheit, die wir für unsere Argumentation in Anspruch genommen haben, unbeeinträchtigt bleibt. Dabei muss die besondere epistemische Fähigkeit, auf der (b) beruht, ihrerseits intersubjektiv anerkannt sein; diese Anerkennung muss selbst gerechtfertigt werden können.10, 11 Epistemische Kontexte sind, so können wir schließen, auch in Fällen von Expertenwissen und anderen spezialisierten epistemischen Fähigkeiten durch universale normative Gleichheit ausgezeichnet und dadurch von praktischen Kontexten verschieden. Diese normative Gleichheit führt dazu, dass eine elementare Form epistemischer Freiheit – im Sinne einer Erfüllung der Minimalkriterien für epistemische Freiheit (vgl. 4.6.2, 6.4) – schon dann gegeben ist, wenn ein Subjekt die intersubjektive und intersituative Selbstidentifizierung leistet und epistemi-
10 Diese Rechtfertigung kann nach dem Vorbild externalistischer Induktion verstanden werden: Der Kunstexperte muss z. B. regelmäßig Zuschreibungen vorgenommen haben, die sich als zutreffend erwiesen haben, um als zuverlässiger Kenner zu gelten. 11 Die Thematik des Expertenwissens kann insgesamt als ein Fall von indirekter Rechtfertigung durch Zeugnisse anderer Subjekte angesehen werden. (Zur Rechtfertigung durch Zeugnisse, einschließlich der Zeugnisse von Experten, vgl. Lackey/Sosa (2006); dort auch weitere Literatur).
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sche Einstellungen hat. – Im Folgenden müssen wir nun untersuchen, wie sich für Hegel die Realisierung epistemischer Freiheit über diese elementare Form hinaus gestaltet. Zu diesem Zweck knüpfe ich an die Differenzierung der drei Erkenntnisvermögen Anschauung, Vorstellung und Denken an, die Hegel in der Philosophie des subjektiven Geistes vornimmt.12 Hegel verfolgt in dieser Differenzierung ein Programm, das für uns unmittelbar relevant ist, weil er die unterschiedlichen Dimensionen des gewöhnlichen Erkenntnisprozesses als Stufen eines Befreiungsprozesses deutet. Für unsere Zwecke sind drei Thesen von besonderer Bedeutung, die Hegels Lehre von Anschauung, Vorstellung und Denken auszeichnen: (1) Anschauung und Vorstellung sind Modifikationen des Denkens.13 („Monismus des Denkens“) (2) Die einzelnen Vermögen sind primär durch logische Merkmale definiert, die die durch die einzelnen Vermögen präsentierten Inhalte kennzeichnen; nur sekundär lassen sich hieraus psychologische Realisierungsbedingungen entwickeln. (3) Die Unterscheidung der drei Vermögen ist eine Unterscheidung dreier charakteristischer Grade von epistemischer Freiheit.14 Ich diskutiere diese Thesen der Reihe nach in den nächsten Abschnitten.
12 Ich stütze mich innerhalb der Theorie individueller mentaler Vermögen, die die Philosophie des subjektiven Geistes entwickelt, speziell auf die Lehre des „theoretischen Geistes“ innerhalb der „Psychologie“, die Hegel von „Anthropologie“ und „Phänomenologie“ als den Theorien der niedrigeren Aspekte geistiger Tätigkeit unterscheidet. Zum komplexen Verhältnis dieser drei Disziplinen, die z. T. dieselben Leistungen unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten, vgl. Chiereghin (1991). – Zu Hegels Philosophie des subjektiven Geistes insgesamt, die erst seit einigen Jahren größere Aufmerksamkeit von der Forschung erhält, vgl. insbesondere die Untersuchungen von deVries (1989) und Halbig (2002), ferner Stederoth (2001), Winfield (2010), und die Beiträge in Henrich (1979), Eley (1990) und Hespe/Tuschling (1991). 13 Vgl. VL 11/5: „Ich habe nicht verschiedene Tätigkeiten, wovon das Denken eine ist, sondern das Denken ist die Tätigkeit selbst […]. Alles Anschauen, Vorstellen, Begehren, Wollen usf. ist wesentlich Denken“; Enz. § 20 A, 8/75: „Ich ist insofern die Existenz der ganz abstrakten Allgemeinheit, das abstrakt Freie. Darum ist das Ich das Denken als Subjekt, und indem Ich zugleich in allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, Zuständen usf. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen“; Enz. § 2, 8/42. 14 Vgl. z. B. Enz. § 442 A, 10/235: „[W]enn die Tätigkeiten des Geistes nur als Äußerungen, Kräfte überhaupt, etwa mit der Bestimmung von Nützlichkeit, d. h. als zweckmäßig für irgendein anderes Interesse der Intelligenz oder des Gemüts betrachtet werden, so ist kein Endzweck vorhanden. Dieser kann nur der Begriff selbst sein und die Tätigkeit des Begriffs nur ihn selbst zum Zwecke haben, die Form der Unmittelbarkeit oder der Subjektivität aufzuheben, sich zu erreichen und zu fassen, sich zu sich selbst zu befreien. Auf diese Weise sind die sogenannten Vermögen des Geistes in ihrer Unterschiedenheit nur als Stufen dieser Befreiung zu betrachten. Und dies ist allein für die vernünftige Betrachtungsweise des Geistes und seiner verschiedenen Tätigkeiten zu halten“; vgl. Enz. § 386, 10/34.
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7 Epistemische Freiheit
7.2 Hegels Monismus des Denkens Mit der oben genannten These (1), wonach Anschauung und Vorstellung nicht eigenständige Erkenntnisvermögen, sondern nur Modifikationen des Denkens darstellen – wir können von einem Monismus des Denkens sprechen –, greift Hegel auf ein Lehrstück Descartes’ zurück15, der in den Meditationen schreibt: „Sed quid igitur sum? Res cogitans. Quid est hoc? Nempe dubitans, intelligens, affirmans, negans, volens, nolens, imaginans quoque, et sentiens“ (Meditationes de prima philosophia II, AT VII, 23).16 Hegel übernimmt die cartesische Auffassung von der Einheit der geistigen Vermögen im Denken, um sowohl gegen die Vermögenspsychologien seiner Zeit17 als auch gegen Kants These vom Dualismus zwischen Anschauung und Verstand eine grundlegende operationale Einheit der Tätigkeit zu behaupten, die uns als Geist ausmacht. So ist etwa aus einer Vorlesung die folgende Formulierung überliefert: „Ich habe nicht verschiedene Tätigkeiten, wovon das Denken eine ist, sondern das Denken ist die Tätigkeit selbst […]. Alles Anschauen, Vorstellen, Begehren, Wollen usf. ist wesentlich Denken“ (VL 11/5).18 Descartes’ These von der Einheit der mentalen Vermögen im cogitare wird in der Regel nicht als radikale These über die Struktur des Geistes gelesen; häufig wird der Begriff der „cogitatio“ so unspezifisch verstanden (z. B. als „Bewusstsein“), dass Descartes’ Einheitsbehauptung entweder keine besondere Pointe mehr hat oder als Ausdruck einer folgenschweren philosophischen Konfusion erscheint (vgl. z. B. Rorty (1979), 45 ff.). Tatsächlich sollte hier aber eine substantielle und interessante These gesehen werden, und erst recht handelt es sich bei Hegels Version eines „Monismus des Denkens“ um eine pointierte theoretische Behauptung.19 Um 15 Vgl. VGPh 20/133 über Descartes: „Das Denken ist nun zwar auch im Wollen, Sehen, Hören usw.; es ist absurd, zu meinen, die Seele habe das Denken in einer besonderen Tasche und anderwärts das Sehen, Wollen usf.“. Den Einfluss Descartes’ verrät auch die folgende Behauptung: „Darum daß ich nicht weiß, daß ich denke, bin ich deswegen nicht nicht denkend. Selbst schlafend und im bewußtlosen Zustand ist der Mensch stets denkend. Es fehlt hier nur das Bewußtsein vom Denken“ (VL 11/5). – Schnädelbach (in Drüe u. a. (2000), 27 ff.) verweist neben Descartes auch auf die Stoa. 16 „Aber was bin ich also? Eine denkende Sache. Was ist dies? Eine zweifelnde, einsehende, bejahende, verneinende, wollende, nicht wollende, auch vorstellende und fühlende Sache“. 17 Nachfolgerpositionen der traditionellen Vermögenspsychologie werden heute von Anhängern sogenannter „modularer“ Theorien des Geistes wie Fodor vertreten. Für eine detaillierte Konfrontation von Hegels Position mit modularen Geisttheorien seiner Zeit und in der heutigen philosophy of mind vgl. Halbig (2002), Kap. 3. 18 Hier und an anderen Stellen deutet Hegel auch praktische Fähigkeiten als Ausprägungen des Denkens; in diesem Kapitel beschränken wir uns aber auf die epistemische Seite des Denkens. 19 Halbig (2002) vernachlässigt diese These zugunsten des Begriffs des Erkennens, dem er die Einheitsfunktion in Bezug auf die verschiedenen epistemischen Vermögen zuweist; den Zusam-
7.2 Hegels Monismus des Denkens
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den Inhalt dieser These besser zu verstehen und zu sehen, wie sie möglicherweise plausibel gemacht werden kann, müssen wir zunächst eine Unterscheidung hinsichtlich verschiedener Bedeutungen von „Denken“ treffen, die bei Hegel eine Rolle spielen und es ihm erlauben, seinen Monismus des Denkens so zu konzipieren, dass er nicht zum Kollabieren notwendiger Differenzierungen führt. Da Hegel die relevanten Unterscheidungen verschiedener Bedeutungen von „Denken“ meist nicht explizit markiert, gebrauche ich dazu eigene Begriffe. Erstens muss unterschieden werden zwischen einem generischen und einem spezifischen Begriff des Denkens. Der generische Begriff kennzeichnet das Denken, das in allen Ausprägungen epistemischer Tätigkeit wirksam ist; auf das Denken in dieser Bedeutung bezieht sich zunächst die These vom „Monismus des Denkens“. Denken in der spezifischen Bedeutung ist eine Ausprägung des generischen Denkens, die von anderen Ausprägungen wie Anschauung und Vorstellung unterschieden ist. In dieser Bedeutung ist meist im Alltag vom Denken die Rede20, doch auch in seiner systematischen Darstellung der Vermögen des theoretischen Geistes spricht Hegel vom Denken in diesem Sinn (Enz. §§ 465–468, 10/283 ff.). In Bezug auf das „spezifische“ Denken können ferner verschiedene Aspekte thematisiert werden. Ein zentraler solcher Aspekt ist die spezifische logische Form (s. u.), ein anderer die inhaltliche Natur des Denkens; in Bezug auf sie bezeichnet Hegel das „spezifische“ Denken auch als Nachdenken (Enz. § 21, 8/76). Das „Nachdenken“ tritt zum einen im Alltag auf, zum anderen in den Wissenschaften und besonders in der Philosophie. Wenn auch Anschauung und bildhafte Vorstellung eigentlich Formen des Denkens sein sollen, dann können sie dem Denken im spezifischen Sinne nicht entgegengesetzt sein, sondern müssen wesentliche Charakteristika mit ihm teilen. Dabei spielen zwei Charakteristika eine besondere Rolle, die Hegel beide in der folgenden Aussage benennt:
menhang von Vermögen wie Anschauung und Vorstellung mit dem Denken schränkt Halbig auf „Rückkoppelungsmechanismen“ ein (Halbig (2002), 136), die er von Hegel nur unzureichend geklärt sieht. – Fulda (1991b) hebt zwar Hegels monistische These hervor (350), schwächt sie aber zu einer bloßen Aussage darüber ab, dass das Denken nur der Potenz nach in jeder Aktivität des theoretischen Geistes enthalten ist (351). 20 Vgl. Enz. § 20, 8/71: „Nehmen wir das Denken in seiner am nächsten liegenden Vorstellung auf, so erscheint es […] zunächst in seiner gewöhnlichen subjektiven Bedeutung, als eine der geistigen Tätigkeiten oder Vermögen neben anderen, der Sinnlichkeit, Anschauen, Phantasie usf., Begehren, Wollen usf.“. – Vgl. zu den verschiedenen Ausprägungen des Denkens auch Halbig (2002), 152 ff., der zwischen „implizitem“ und „explizitem“ Denken unterscheidet.
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7 Epistemische Freiheit
Darum ist das Ich das Denken als Subjekt, und indem Ich zugleich in allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, Zuständen usf. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen. (Enz. § 20 A, 8/75)
Das „Ich“ steht hier, wie wir schon in Abschnitt 6.2 sahen, in erster Linie für die normative Grundidentität, die rationale Subjekte kennzeichnet. Der erste relevante Aspekt, in dem Anschauung und Vorstellung Grundbestimmungen mit dem spezifischen Denken teilen, betrifft diese Grundidentität: In Bezug auf Anschauungen und Vorstellungen haben wir eine Eignerschaft, die über das Auftreten mentaler Zustände und Prozesse hinaus eine normative Beziehung darstellt. Bereits in unseren Anschauungen und Vorstellungen unterliegen wir daher der Verpflichtung, uns der intersituativen und intersubjektiven Identität gemäß zu verhalten.21 Diese normative Dimension der Eignerschaft schon in Bezug auf Anschauungen und Vorstellungen stellt Hegel im Kontext der zitierten Passage auch wie folgt dar: Kant hat sich des ungeschickten Ausdrucks bedient, daß Ich alle meine Vorstellungen, auch Empfindungen, Begierden, Handlungen usf. begleite. Ich ist das an und für sich Allgemeine, und die Gemeinschaftlichkeit ist auch eine, aber eine äußerliche Form der Allgemeinheit. (Enz. § 20 A, 8/74)
Hegel führt hier den Monismus des Denkens in der schwächeren Formulierung ein, dass das Denken alle kognitiven (und überhaupt alle mentalen) Zuständen „durchzieht“ und in ihnen gegenwärtig ist. Da er aber gerade betont, dass dies kein bloßes Begleiten darstellt, ist es gerechtfertigt, die Passage als Begründung für die Monismus-These im Vollsinn zu lesen – für die These also, dass alle kognitiven Fähigkeiten Ausprägungen des Denkens sind. Hegel begründet diese These hier durch eine Kritik an Kants Apperzeptionslehre und speziell an Kants Formulierung, das „Ich denke“ müsse alle meine Vorstellungen begleiten können. Dabei wirft er Kant vor, dass er die Rolle der Apperzeption mittels des defizitären Allgemeinheitstyps der Gemeinschaftlichkeit deutet.22 Gemeinschaftlichkeit ist, so
21 Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den Stufen von „Anthropologie“ und „Phänomenologie“ innerhalb der Philosophie des subjektiven Geistes. Dies zeigt sich auch daran, dass der Übergang von der Phänomenologie zur Psychologie durch das Auftreten intersubjektiver Anerkennungsbeziehungen in der Phänomenologie geleistet wird (Enz. §§ 430 ff.), die ein „allgemeines Selbstbewusstsein“ schaffen; dieses allgemeine Selbstbewusstsein oder „affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst“ (Enz. § 436, 10/226) kann plausiblerweise mit der intersubjektiven normativen Identität gleichgesetzt werden. 22 Diese Kritik ist freilich polemisch und geht an Kants eigentlicher Theorie vorbei, die Hegel auch selbst, wie wir in Abschnitt 3.2.2 gesehen haben, in Textstücken wie der Einleitung zur Begriffslogik wesentlich positiver darstellt.
7.2 Hegels Monismus des Denkens
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haben wir in Kapitel 4 gesehen, diejenige extensionale Allgemeinheit, die sich aus dem reflektierenden Vergleich unterschiedlicher Gegenstände ergibt. Wie überhaupt diese Form der Allgemeinheit die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Begriffs voraussetzt, ist nach Hegel speziell auch die Apperzeption eine Ausprägung der logischen Struktur des Begriffs (vgl. 3.2.2), und zwar eine noch abstrakte Realisierung. Diese Realisierung, die Hegel in der zitierten Passage als abstrakte Allgemeinheit bezeichnet, besteht in der rationalen Grundidentität, die allen vernünftigen Subjekten als normative Einstellung zu sich selbst und zu anderen gemeinsam ist – „gemeinsam“ aber nicht im Sinne einer bloß komparativen Gemeinschaftlichkeit, sondern im Sinne eines normativen Anspruchs auf Allgemeingültigkeit. Dass bereits Anschauung und Vorstellung den normativen Anforderungen der rationalen Grundidentität unterliegen, ist aber nur unter der Voraussetzung eines zweiten Aspekts möglich, den Hegel in der zuerst zitierten Passage mit der Rede von der Omnipräsenz des „Gedankens“ ausdrückt: nämlich der Tatsache, dass auch die Inhalte von Anschauung und Vorstellung bereits gedankliche oder begriffliche Form haben, dass also Anschauung und Vorstellung rationale, begriffliche Fähigkeiten sind.23 Hegel drückt dies u. a. so aus, dass der „Geist“ im engeren Sinne – also „theoretischer Geist“ (Anschauung, Vorstellung, Denken) und „praktischer Geist“ – im Gegensatz zu den niedrigeren Stufen von „Seele“ und „Bewusstsein“ nicht durch unmittelbare körperliche Gegebenheiten (Seele) oder die Interaktion mit einem äußeren Gegenstand (Bewusstsein) bestimmt ist (vgl. Enz. §§ 440 f., 10/229 ff.), sondern einen „vernünftigen“ Inhalt hat; die verschiedenen Stufen des theoretischen Geistes unterscheiden sich nur danach, ob dieser vernünftige Inhalt als vorgefunden konzipiert wird oder die Vernunft ihn sich durch begreifende Tätigkeit aneignet. So schreibt Hegel vom theoretischen Geist bzw. der „Intelligenz“ im Allgemeinen: Die Intelligenz findet sich bestimmt, dies ist ihr Schein, von dem sie in ihrer Unmittelbarkeit ausgeht; als Wissen aber ist sie dies, das Gefundene als ihr eigenes zu setzen. Ihre Tätigkeit hat es mit der leeren Form zu tun, die Vernunft zu finden, und ihr Zweck ist, daß ihr Begriff für sie sei, d. i. für sich Vernunft zu sein, womit in einem der Inhalt für sie vernünftig wird. Diese Tätigkeit ist Erkennen. (Enz. § 445, 10/240)
Im weiteren Verlauf des Paragraphen bestimmt Hegel das Erkennen auch als die „Widerlegung des Scheines, das Vernünftige zu finden“ (Enz. § 445, 10/240). In ihren unterschiedlichen Formen bezieht sich demnach die Intelligenz auf Inhalte
23 Dies ist eine These, die besonders McDowell in seiner Kant- und Hegel-Interpretation (McDowell (1996), Kap. 1 und 2) stark gemacht hat.
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7 Epistemische Freiheit
vernünftiger Art, die aber zunächst als gegeben erscheinen und erst auf den höheren Stufen des Erkennens als „ihr eigenes“ verständlich werden; erst hierdurch begreift die Intelligenz den vernünftigen Charakter des Inhalts, d. h. der Inhalt wird „für sie vernünftig“. Nun besteht für Hegel die logische „Form der Vernünftigkeit“ (WdL 6/377) in der Form des Schlusses (vgl. 4.1). Die Inhalte von Anschauung und Vorstellung als Ausprägungen des „generischen“ Denkens müssen also zumindest implizit eine inferentielle Form aufweisen; wir können uns entsprechend nur dadurch auf diese Inhalte beziehen, dass wir begriffliche Fähigkeiten ausüben. Das „generische“ Denken kann also allgemein als Bezugnahme auf „vernünftige“, begrifflich verfasste Inhalte verstanden werden. Damit haben wir eine genauere Deutung von Hegels „Monismus des Denkens“ erarbeitet: Anschauung und Vorstellung sind insofern Ausprägungen des Denkens, als es sich bei ihnen um begriffliche Fähigkeiten handelt, die sich auf vernünftige Inhalte beziehen. Hegel entwickelt zwar keine ausführlichere Begründung für diese Position, doch kann sie vor dem Hintergrund des bislang Entwickelten zumindest als plausibel angesehen werden (wenngleich sie gängige Auffassungen dieser Vermögen wesentlich revidiert). Anschauungen und Vorstellungen tragen wesentlich zur Rechtfertigung unserer Überzeugungen bei; wenn uns in Bezug auf diese Überzeugungen rationale epistemische Freiheit möglich sein soll, dürfen die Anschauungen und Vorstellungen nicht außerhalb des Bereichs rationaler Verantwortung liegen. Entsprechend müssen auch sie der normativen Grundidentität unterliegen, die sich im letzten Kapitel als elementare Bedingung für Freiheit im Rahmen der Hegelschen Theorie erwiesen hatte. Wir sind also schon in Bezug auf Anschauungen verpflichtet, uns nach der intersituativen und intersubjektiven Identität zu richten. Dies ist nur möglich, wenn bereits auf dieser Ebene propositionale Einstellungen und damit die Bezugnahme auf begrifflichen Gehalt vorliegen.24, 25
24 Allerdings gibt Hegel nicht hinreichend über die Natur der epistemischen Einstellungen auf dieser Ebene Auskunft; insbesondere erklärt er nicht, ob hier bereits Urteile (und wenn ja, von welcher Form) vorliegen oder ob es sich um schwächere Einstellungen handelt. Deshalb kann auch Hegels Position in Bezug auf die Kontroverse zwischen McDowell und Brandom über die epistemologische Rolle von Erfahrung nicht klar verortet werden. Nach McDowell setzt nichtinferentielles Urteilen einen passiven, rezeptiven Gebrauch begrifflicher Fähigkeiten in der Anschauung voraus; nach Brandom besteht die epistemologische Rolle von Erfahrung allein im aktiven nicht-inferentiellen Begriffsgebrauch, der durch Verlässlichkeitsinferenzen gerechtfertigt ist (vgl. McDowell (1996); MIE Kap. 4; Brandom (1998)). 25 Entsprechend können die von Hegel beschriebenen sinnlichen Vermögen auf der niedrigeren Ebene der Anthropologie wie die „Empfindung“ (Enz. § 399 ff., 10/95 ff.) plausiblerweise mit deVries (im Anschluss an Sellars) als rein kausale „sensations“ gedeutet werden (vgl. deVries (1988), 67 ff.; vgl. Enz. § 400 A, 10/98).
7.3 Die logische Charakteristik von Anschauung, Vorstellung und Denken
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7.3 Die logische Charakteristik von Anschauung, Vorstellung und Denken Vor diesem Hintergrund können wir nun betrachten, wie Hegel die einzelnen Vermögen Anschauung, Vorstellung und Denken voneinander abgrenzt, und dadurch die oben genannte These (2), nach der diese Vermögen durch logische Charakteristika unterschieden sind, rekonstruieren. Hegels allgemeine logische Differenzierung der Vermögen geht davon aus, dass sinnliche Vermögen durch Einzelheit, intellektuelle Vermögen durch Allgemeinheit gekennzeichnet sind. Hegel drückt diesen Punkt in Abgrenzung von der gewöhnlichen Differenzierung der Vermögen, die auf psychologischen oder physiologischen Begriffen beruht, in der folgenden Passage klar aus, in der er speziell sinnliche Vermögen bespricht: Für das Sinnliche wird zunächst sein äußerlicher Ursprung, die Sinne oder Sinneswerkzeuge, zur Erklärung genommen. Allein die Nennung des Werkzeuges gibt keine Bestimmung für das, was damit erfaßt wird. Der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken ist darein zu setzen, daß die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist, und indem das Einzelne (ganz abstrakt das Atom) auch im Zusammenhange steht, so ist das Sinnliche ein Außereinander, dessen nähere abstrakte Formen das Neben- und das Nacheinander sind. (Enz. § 20 A, 8/72)
Dem korrespondieren zahlreiche Stellen, an denen Hegel für das Denken bzw. den Gedanken die Form der Allgemeinheit als wesentlich angibt (z. B. Enz. § 20, 8/71). – Nun dient auch in der Tradition die Gegenüberstellung von Einzelheit als Merkmal der sinnlichen Vermögen (Repräsentationen von Einzelnem) und von Allgemeinheit als Merkmal der intellektuellen Vermögen (Repräsentationen von Allgemeinem) dazu, beide Seiten zu unterscheiden (vgl. 4.2). Wir hatten aber schon gesehen, dass das Verständnis dieser Abgrenzung in der aristotelischen und besonders der empiristischen Tradition auf einem Verständnis von Allgemeinheit und Einzelheit beruht, das Hegel kritisiert und nicht zuletzt auch für das allgemeine Formalismus-Problem verantwortlich macht. Daher stellt sich die Frage, welche Konsequenzen Hegels alternativer Begriff von Allgemeinheit, den wir in Kapitel 4 untersucht haben, für das Verständnis der verschiedenen epistemischen Vermögen hat. Im Gegensatz zur Tradition geht es Hegel hier nicht um die Differenz zwischen Repräsentationen von Einzelnem und Repräsentationen von Allgemeinem; vielmehr betont er immer wieder, dass auch solche Inhalte Gegenstand der Anschauung (in einem ausreichend weiten Sinne dieses Begriffs) sein können und müssen, deren logische Struktur selbst in der Allgemeinheit des Begriffs besteht und auf die wir daher überhaupt nicht Bezug nehmen können, ohne diese
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Struktur zu verstehen und zu gebrauchen. Solche Inhalte sind für Hegel etwa Aspekte des Rechts, der Sittlichkeit und der Religion.26 Hegel konzipiert die Inhalte epistemischer Vermögen so, dass sie allgemein sein und dennoch in der Form der Einzelheit auftreten können.27 Den scheinbaren Widerspruch, der hierin liegt, können wir auflösen, indem wir zwischen der eigentlichen logischen Form eines Inhalts und der logischen Oberflächenform unterscheiden, in der er dargestellt wird. Auch wenn die Anschauung Zugang zu Inhalten haben kann, die wesentlich durch die Allgemeinheit des Begriffs geprägt sind, präsentiert sie diese Inhalte doch in einer Form der Vereinzelung, des Auseinander, Neben- und Nacheinander, wie Hegel in der oben zitierten Passage (Enz. § 20 A, 8/72) aus dem Vorbegriff zur enzyklopädischen Logik erklärt. Was angeschaut und erfahren wird, tritt – gleich ob es sich hier um Sinneswahrnehmung, religiöse Erfahrung, moralische Empfindung usw. handelt – in einer Form auf, in der der rationale Zusammenhang der einzelnen relevanten Aspekte und Momente nicht als solcher hervortritt und verständlich wird: Rechtfertigungs- und Erklärungszusammenhänge bleiben hier weitgehend implizit und damit intransparent und unkontrollierbar.28 Deshalb haben wir in der Anschauung auch immer nur Zugang zur defizitären Erscheinungsgestalt von Sachen (vgl. 5.2.2): Diejenigen
26 Vgl. u. a. Enz. § 8 A, 8/52; § 64, 8/153; § 400 A, 10/98 sowie PhRel 16/114 ff. („Die Formen des religiösen Bewußtseins“). Bei aller Kritik an einer Reduktion dieser Gehalte auf Inhalte von Erfahrung und Empfindung betont Hegel hier doch stets die Notwendigkeit, jene Gehalte auch in diese Formen der Unmittelbarkeit zu bringen. 27 Vgl. Enz. § 3, 8/44: „Der Inhalt, der unser Bewußtsein erfüllt, von welcher Art er sei, macht die Bestimmtheit der Gefühle, Anschauungen, Bilder, Vorstellungen, der Zwecke, Pflichten usf. und der Gedanken und Begriffe aus. Gefühl, Anschauung, Bild usf. sind insofern die Formen solchen Inhalts, welcher ein und derselbe bleibt, ob er gefühlt, angeschaut, vorgestellt, gewollt und ob er nur gefühlt oder aber mit Vermischung von Gedanken gefühlt, angeschaut usf. oder ganz unvermischt gedacht wird“; Enz. § 20 A, 8/72: „Der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken ist darein zu setzen, daß die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist […]“; Enz. § 2, 8/42: „Dieser Unterschied [sc. von generischem und spezifisch philosophischem Denken] knüpft sich daran, daß der durchs Denken begründete, menschliche Gehalt des Bewußtseins zunächst nicht in Form des Gedankens erscheint, sondern als Gefühl, Anschauung, Vorstellung, – Formen, die von dem Denken als Form zu unterscheiden sind“; VL 11/5: „Alles Anschauen, Vorstellen, Begehren, Wollen usf. ist wesentlich Denken. Diese Tätigkeiten haben Ich, die allgemeine und absolute Beziehung meiner auf mich selbst, zur Grundlage; sie sind vom Denken insofern unterschieden, als ihr Inhalt nicht die Form der Allgemeinheit und des Meinigen für mich hat“. 28 Vgl. Enz. § 400 A, 10/98: „Es ist freilich richtig zu sagen, daß vor allem das Herz gut sein müsse. Daß aber die Empfindung und das Herz nicht die Form sei, wodurch etwas als religiös, sittlich, wahr, gerecht usf. gerechtfertigt sei, und die Berufung auf Herz und Empfindung entweder ein nur Nichts-Sagendes oder vielmehr Schlechtes-Sagendes ist, sollte für sich nicht nötig sein, erinnert zu werden“.
7.3 Die logische Charakteristik von Anschauung, Vorstellung und Denken
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rationalen Strukturen, die das eigentliche Wesen der Sache ausmachen, bleiben hier verborgen, weil die logische Form der Anschauung teils nicht imstande ist, sie aufzunehmen, teils nicht dazu geeignet, sie explizit zu machen. Auch die Vorstellung – also die bildhafte Repräsentation, die Hegel in erster Linie im Rückgriff auf Aristoteles’ Begriff der φαντασία konzipiert – ist durch ähnliche logische Defizite gekennzeichnet. Hegel bestimmt sie allgemein als „erinnerte Anschauung“ (Enz. § 451, 10/257): Sie ist also wesentlich durch eine Doppelung zwischen der Präsenz eines Zustandes (oder eines Zeichens, Symbols usw.) einerseits und einem nicht-präsenten Anschauungsgehalt andererseits gekennzeichnet, auf den das Präsente verweist. Die logische Form der Vorstellung ist dadurch geprägt, dass sie sich zwar – durch Erinnerung, Einbildungskraft und symbolische Tätigkeit – von der Vereinzelung entfernt, die die Anschauung kennzeichnet, aber dennoch auf einer stärker abstrakten Ebene durch Vereinzelung geprägt ist. Die Abstraktion gegenüber der Anschauung äußert sich logisch v. a. darin, dass auf dieser Ebene eine Allgemeinheit der Reflexion explizit gemacht wird, die in der Anschauung nur implizit vorhanden ist; diese Allgemeinheit zeigt sich u. a. in abstrakten oder allgemeinen Vorstellungen, die durch das abstrahierende Zusammenfassen und Vergleichen einzelner Anschauungen gewonnen werden (Enz. § 162 A, 8/310; vgl. § 163 Z, 8/311; § 456 Z, 10/266). Damit tritt auf dieser Ebene zwar eine – defizitäre – Form der Allgemeinheit explizit auf, doch ist diese selbst noch wesentlich so beschaffen, dass sie keine rationalen Zusammenhänge, sondern nur Verhältnisse der Gemeinschaftlichkeit erfassen kann (vgl. 4.4). Wie Hegel betont, liegt der eigentliche Grund hierfür nicht darin, dass die Vorstellung ihre Inhalte aus der Sinnlichkeit bezieht; der Mangel der Vorstellung besteht vielmehr im logischen Charakter der Vorstellungsinhalte.29 Die Inhalte der Vorstellung bleiben somit voneinander isoliert und vereinzelt. Aus diesem Grunde sind sie aber der Sache zwangsläufig äußerlich und können, wie schon die Anschauung, nur deren Erscheinung erfassen: „Hier werden“, so erklärt Hegel, „[…] mehrere vereinzelte einfache Bestimmungen aneinandergereiht, welche, der Verbindung ungeachtet, die ihnen in ihrem Subjekte angewiesen ist, außereinander bleiben“ (Enz. § 20 A, 8/73). Diese inhaltliche Vereinzelung
29 Vgl. Enz. § 20 A, 8/72 f.: „Außer dem Sinnlichen hat jedoch die Vorstellung auch Stoff zum Inhalt, der aus dem selbstbewußten Denken entsprungen [ist], wie die Vorstellungen vom Rechtlichen, Sittlichen, Religiösen, auch vom Denken selbst, und es fällt nicht so leicht auf, worin der Unterschied solcher Vorstellungen von den Gedanken solchen Inhalts zu setzen sei. Hier ist sowohl der Inhalt Gedanke, als auch die Form der Allgemeinheit vorhanden ist, welche schon dazu gehört, daß ein Inhalt in Mir, überhaupt daß er Vorstellung sei. Die Eigentümlichkeit der Vorstellung aber ist im allgemeinen auch in dieser Rücksicht darein zu setzen, daß in ihr solcher Inhalt gleichfalls vereinzelt steht“.
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7 Epistemische Freiheit
geht in der Vorstellung so weit, dass sie nicht einmal einfachere Formen des notwendigen Zusammenhangs, wie sie im kategorischen und hypothetischen Urteil auftreten, explizit machen kann; vielmehr bleibt in ihr alles „durch das bloße Auch verbunden“ (Enz. § 20 A, 8/73). Die Vorstellung wird daher nicht primär durch vernünftige Regeln, sondern durch rein psychologische Verknüpfungen geleitet. Sie ist insofern ein „Spiel eines gedankenlosen Vorstellens“ (Enz. § 455 A, 10/263). Trotz ihrer Abstraktion vom unmittelbar Angeschauten ist also auch die Vorstellung durch ein Fehlen von rationaler Kontrolle bestimmt: „Vorstellung – der Inhalt mag ein Bildliches oder Begriff und Idee sein – hat überhaupt den Charakter, obzwar ein der Intelligenz Angehöriges, doch ihrem Inhalte nach Gegebenes und Unmittelbares zu sein“ (Enz. § 455 A, 10/263). Diese Gegebenheit und Unmittelbarkeit überwindet nun das Denken im spezifischen Sinne, indem es diejenigen Formen von Allgemeinheit explizit macht, die in den anderen Ausprägungen des generischen Denkens nur implizit vorhanden sind. Dadurch werden die rationalen Verbindungen, die die Einheit von Gegenständen konstituieren, offengelegt und so die Gegenstände des Denkens in ihrer eigentlichen Natur zugänglich gemacht (vgl. Enz. § 5, 8/45 f.; § 21 mit Anmerkung, 8/76 f.). Das Denken hat also wesentlich die Funktion, das ausdrücklich zu machen, was in den anderen Vermögen nur implizit zum Tragen kommt. Diesen Charakter des Denkens beschreibt Hegel, indem er das „spezifische“ Denken als Nachdenken bestimmt und dieses als „das reflektierende Denken, welches Gedanken als solche zu seinem Inhalte hat und zum Bewußtsein bringt“ (Enz. § 2 A, 8/42), kennzeichnet. Dabei meint die Rede von „Gedanken“ speziell Gehalte von allgemeinem Charakter im Sinne der Allgemeinheit des Begriffs, also Gehalte, die explanatorisch autonome Konstellationen als solche explizit ausdrücken (vgl. 4.6.4). Hegels Rede vom „reflektierenden“ Denken sollte nicht so verstanden werden, dass dieses Denken zwangsläufig auf einer metasprachlichen Ebene angesiedelt ist – andernfalls könnten wir im spezifischen Denken nie direkt die von uns unabhängige Wirklichkeit thematisieren.30 Stattdessen sollte Hegels Beschreibung
30 Ebenso sollte der Begriff des „reflektierenden“ Denkens an dieser Stelle nicht im Sinne von Hegels kritischem Begriff von Reflexion verstanden werden, sondern unterminologisch im Sinne des expliziten und explizierenden, Transparenz schaffenden Charakters dieser Weise des Denkens. Diese Deutung wird gestützt durch den kurz nach der zitierten Äußerung folgenden Satz: „Die durchs Nachdenken erzeugten Gedanken über jene Weisen des Bewußtseins sind das, worunter Reflexion, Räsonnement und dergleichen, dann auch die Philosophie begriffen ist“ (§ 2 A, 8/43). – Dass der Begriff des Nachdenkens für Hegel keine negative Konnotation hat, zeigt sich auch daran, dass er ihn zur Kennzeichnung des Denkens in der Logik gebraucht: „Das Nachdenken, welches tiefere Bestimmungen für sie [sc. die Anfangsbestimmungen der Logik] findet, ist das logische Denken, durch welches sich solche, nur nicht auf eine zufällige, sondern notwendige Weise, hervorbringen“ (Enz. § 87 A, 8/187).
7.4 Formen der Freiheit und Unfreiheit in Anschauung, Vorstellung und Denken
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so interpretiert werden, dass im reflektierenden Denken zunächst dieselben Inhalte wie in Anschauung und Vorstellung auftreten, aber in transparenteren Versionen, die explizit durch die logische Struktur des Begriffs artikuliert statt sind.31 Eine hilfreiche Beschreibung dieser Eigenschaft des Nachdenkens ist in einer Nachschrift von Hegels Vorlesung über die Geistphilosophie von 1827/28 überliefert, wo es heißt: „Die Intelligenz, [W]issen mit diesem Zweck tätig, ist, daß sie Gedanken haben will, daß sie das mit Wissen tut, was wir bisher sahen, Anschauungen pp. rekonstruieren als Gedanken“ (VL 13/229). Nachdenken im Sinne eines solchen Rekonstruierens tritt für Hegel zum einen in unserem expliziten Nachdenken im Alltag auf (vgl. Enz. § 21 Z, 8/77 f.), zum anderen in wissenschaftlicher Aktivität. In der rekonstruktiven Funktion des „spezifischen“ Denkens besteht dessen Beitrag zur „Befreiung“ des Geistes. Worin diese Rekonstruktion und die durch sie ermöglichte Freiheit genauer bestehen, werden wir im Folgenden sehen, wenn wir uns den freiheitstheoretischen Implikationen der bislang rekonstruierten Thesen (1) und (2) (Hegels „Monismus des Denkens“ und die logische Charakteristik der epistemischen Vermögen) zuwenden, und damit auch der These (3), nach der die einzelnen Fähigkeiten „Stufen der Befreiung“ des epistemischen Geistes sind.
7.4 Formen der Freiheit und Unfreiheit in Anschauung, Vorstellung und Denken Hegel bezeichnet an verschiedenen Stellen das Denken als die eigentliche Tätigkeit des Geistes, das, was den Menschen vom Tier unterscheidet; das Denken, so Hegel, „macht die Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste […]“ (Enz. Zweite Vorrede, 8/25).32 Da das Wesen des Geistes nach Hegel in seiner Freiheit besteht (vgl. 6.1), muss für Hegel auch ein direkter Zusammenhang zwischen
31 Vgl. z. B. Enz. § 21 A, 8/76 f.: „Es ist § 5 der alte Glaube angeführt worden, daß, was das Wahrhafte an Gegenständen, Beschaffenheiten, Begebenheiten, das Innere, Wesentliche, die Sache sei, auf welche es ankommt, sich nicht unmittelbar im Bewußtsein einfinde, nicht schon dies sei, was der erste Anschein und Einfall darbiete, sondern daß man erst darüber nachdenken müsse, um zur wahrhaften Beschaffenheit des Gegenstandes zu gelangen, und daß durch das Nachdenken dies erreicht werde“; VL 13/224: „Das Denken enthält diese Bestimmung, daß, was ich denke, die Sache ist, was daran ist, was die Sache ist, dazu muß ich darüber nachdenken. Die Sache wird mir erst durch das Denken, und erst, sofern es Gedanke, Noumen, ist, ist es die Sache. Das andere ist nur Existenz, Meinung, nichts Objektives, erst im Denken hat es seine Objektivität, das Denken ist also das Objektive“. 32 Vgl. Enz. § 2, 8/42; Enz. § 400 A, 10/99; vgl. GPhR § 4 Z, 7/46: „Der Geist ist das Denken überhaupt […]“.
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7 Epistemische Freiheit
Denken und Freiheit bestehen. So schreibt er: „Dieser Begriff, die Freiheit, ist wesentlich nur als Denken […]“ (Enz. § 469, 10/288). Während dieser Zusammenhang zwischen Freiheit und Denken bei Hegel auch in praktischen Kontexten eine wichtige Rolle spielt (vgl. 8.1), beschränke ich mich im gegenwärtigen Zusammenhang auf die epistemische Funktion des Denkens. – Wir haben bereits in Abschnitt 7.1 gesehen, dass für Hegel die Minimalkriterien epistemischer Freiheit bereits dann erfüllt sind, wenn ein Subjekt epistemische Einstellungen hat und die für Rationalität erforderliche intersituative und intersubjektive Selbstidentifizierung leistet. Diese Selbstidentifizierung behandelt Hegel – im Anschluss an Kants „Ich denke“ als Ausdruck der transzendentalen Einheit der Apperzeption (vgl. 6.2) – als die grundlegendste Form, in der das Denken auftritt. Die über die Erfüllung der Minimalkriterien hinausgehenden Formen von epistemischer Freiheit konzipiert Hegel als einen Prozess der Befreiung, der die Präsentationsweisen von Inhalten in Anschauung und Vorstellung bis hin zum spezifischen Denken durchlaufen muss.33
7.4.1 Von der Anschauung zum Denken: Rekonstruktion als Befreiung Um die freiheitstheoretische Dimension dieses Prozesses zu verstehen, setzen wir bei dem defizitären Charakter von Anschauung und Vorstellung an, der bereits in der Untersuchung ihrer logischen Kennzeichen deutlich geworden ist. Anschauung und Vorstellung sind sowohl im Hinblick auf die Rechtfertigung ihrer Inhalte als auch im Hinblick auf deren Begreifen defizitär: Da die für beide Aspekte relevanten rationalen Verbindungen in diesen Vermögen nicht explizit gemacht werden können, müssen die Inhalte sowohl im Hinblick auf ihre Rechtfertigung als auch auf ihre Erklärung als gegeben hingenommen werden.34
33 Von einem Prozess kann dabei einerseits in logischer Hinsicht gesprochen werden, insofern Anschauung und Vorstellung unmittelbare und defizitäre Antizipationen des Denkens sind, eine Untersuchung dieser Vermögen also einen „Rückgang in den Grund“ darstellt; andererseits aber auch in einem realen Sinn, insofern der Fortschritt von der Anschauung bis hin zum Denken die zeitliche Struktur von Erkenntnisvorgängen prägt. 34 Zwar werden in Anschauung und Vorstellung – im Gegensatz zum Gefühl – Operationen der Lokalisierung einzelner Gehalte in intersubjektiv und intersituativ zugänglichen Bezugssystemen (v. a. Raum und Zeit) geleistet, so dass die Akzeptanz angeschauter und vorgestellter Inhalte in der Regel gerechtfertigt ist (vgl. Enz. § 448, 10/249). Jene Operationen fungieren aber nur im Hintergrund und können auf dieser Ebene nicht explizit gemacht werden, so dass der Rechtfertigungsstatus stets konditional gegenüber einem nicht begriffenen Hintergrund an Voraussetzungen und Operationen ist.
7.4 Formen der Freiheit und Unfreiheit in Anschauung, Vorstellung und Denken
395
Inwiefern diese beiden Defizite zugleich einen Mangel an Freiheit ausmachen, geht aus unseren bisherigen Überlegungen hervor. In beiden Hinsichten ist nämlich die rationale Persistenz des Subjektes eingeschränkt. Inferentielle Übergänge erlauben es dem rationalen Selbst, seine Einstellungen selbst zu kontrollieren. Auf den Ebenen von Anschauung und Vorstellung können wir unsere Überzeugungen nicht kontrollieren, weil uns ihre Rechtfertigungsbedingungen und ihre Implikationen nicht transparent sind. Dass wir die rationale Tätigkeit und den Gebrauch vernünftiger logischer Formen auf diesen Ebenen epistemischer Aktivität nicht kontrollieren können, drückt Hegel u. a. so aus, dass diese hier nur instinkthaft wirksam sind.35 Die Unfreiheit, die daraus resultiert, beschreibt Hegel als „Zersplitterung“ unserer epistemischen Tätigkeit in mannigfaltigen gegebenen Inhalten36 – eine passende Bildlichkeit für das Fehlen rationaler Persistenz. Daneben führt der Mangel an Kontrolle insbesondere dazu, dass wir durch die Annahme solcher Überzeugungen auf Widersprüche festgelegt sein können, ohne es zu bemerken.37 Doch auch das Fehlen expliziter explanatorischer Zusammenhänge untergräbt unsere Kontrolle über unsere epistemischen Einstellungen. Wenn ein Sachverhalt nur als factum brutum hingenommen werden kann, dann hängen die diesbezüglichen epistemischen Einstellungen des Subjekts vom Zufall dessen ab, wie sich der Sachverhalt gerade darbietet; das Subjekt weiß nie, warum ihm eine Sache so und nicht anders erscheint. Da umgekehrt die Einstellungen des Subjekts nicht durch ein Verständnis der Sache selbst geleitet sind, unterliegen sie der Willkür. Beispielsweise ist es willkürlich, welche Aspekte von Gegenständen
35 Zur Vorstellung vgl. z. B. PhRel 16/147: „Allerdings hat z. B. die unendliche Idee der Menschwerdung Gottes – dieser spekulative Mittelpunkt – eine so große Gewalt in ihr [sc. der Vorstellung], daß sie unwiderstehlich in das durch Reflexion noch nicht verdunkelte Gemüt eindringt. Aber so ist der Zusammenhang meiner mit dem Inhalt noch nicht wahrhaft entwickelt, und er erscheint nur als etwas Instinktmäßiges“. 36 WdL 5/27, wo Hegel auch das Wirken der logischen Kategorien in der „natürlichen Logik“ als „instinktartig“ beschreibt. 37 Vgl. PhRel 16/153 f.: „Im Denken kommt aber zum Bewußtsein der Widerspruch derselben, die zugleich Eines ausmachen sollen. […] In der Vorstellung hat alles nebeneinander ruhig Platz: der Mensch ist frei, auch abhängig; es ist Gutes, auch Böses in der Welt. Im Denken wird das aufeinander bezogen, der Widerspruch kommt so zum Vorschein“. – Hilfreich in diesem Zusammenhang ist die Beschreibung, die Brandom im Anschluss an Sellars vom Denken als „sokratische Methode“ gegeben hat. Brandom beschreibt diesen Zweck des Explizitmachens wie folgt: „Socratic method is a way of bringing our practices under rational control by expressing them explicitly in a form in which they can be confronted with objections and alternatives, a form in which they can be exhibited as the conclusions of inferences […], and as premises in further inferences exploring the consequences of accepting them“ (Brandom (2000d), 56/MIE 106).
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7 Epistemische Freiheit
das Subjekt in der abstrahierenden Tätigkeit der Vorstellung herausgreift, um abstrakte Vorstellungen zu bilden, Symbole festzulegen usw.38 Die genannten Aspekte von Unfreiheit stellen Weisen dar, in denen der Inhalt unserer kognitiven Einstellungen von der logischen Form der Natur mit ihrer „Äußerlichkeit“, Isolation und Vereinzelung geprägt ist. Da im Übergang zum Denken diese logische Form überwunden wird, befreit sich der Geist hier von der Natur; subjektive Kontrolle und objektiver Wahrheitsanspruch des Denkens bilden dabei zwei Seiten einer Medaille. Dieses Zusammenfallen von subjektiver Tätigkeit und erkannten objektiven Zusammenhängen stellt Hegel in einer schon mehrfach zitierten Passage als den Kern epistemischer Freiheit dar: Indem im Nachdenken ebensosehr die wahrhafte Natur zum Vorschein kommt, als dies Denken meine Tätigkeit ist, so ist jene ebensosehr das Erzeugnis meines Geistes, und zwar als denkenden Subjekts, Meiner nach meiner einfachen Allgemeinheit, als des schlechthin bei sich seienden Ichs, – oder meiner Freiheit. (Enz. § 23, 8/80)
Zum Erreichen dieser Konstellation tragen neben der bislang beschriebenen explizierenden Funktion des spezifischen Denkens auch diejenigen allgemeineren Kennzeichen des Prozesses rationaler Transformation bei, die wir in Abschnitt 6.3 untersucht haben – insbesondere die Maximierung rationaler Kohärenz: diese kann als weiterer Aspekt der Rekonstruktionsleistungen verstanden werden, die nach Hegel für das Denken wesentlich sind (s. o.). Wie wir schon ansatzweise in Abschnitt 6.3.1 gesehen haben, ist in diesem Zusammenhang für Hegel das Erfassen von explanatorischen Beziehungen besonders wichtig. Hier kommt nämlich eine weitere Dimension seiner logischen Charakterisierung der kognitiven Vermögen zum Tragen – eine modale Kennzeichnung: Für Hegel ist das Denken durch Notwendigkeit charakterisiert, die anderen Vermögen durch Kontingenz. Wir müssen diesen Punkt nun noch genauer betrachten, denn wie sich zeigen wird, liegt hierin auch eine wesentliche Schwierigkeit für Hegels ganze Konzeption epistemischer Freiheit.
7.4.2 Denken und Notwendigkeit Die genannte Zuordnung des Denkens zur Notwendigkeit ist zunächst deshalb wichtig, weil sie nach Hegels Auffassung eine Bedingung für die oben beschriebene Vollgestalt epistemischer Freiheit, die Einheit subjektiver Kontrolle und objek-
38 Vgl. die Defizite des Urteils der Reflexion (4.4.4), dessen logische Struktur mit der der Vorstellung verwandt ist.
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tiver Erkenntnis, darstellt. So schreibt Hegel speziell vom philosophischen Denken und seinem Verhältnis zu den empirischen Inhalten der empirischen Wissenschaften: Das Aufnehmen dieses Inhalts, in dem durch das Denken die noch anklebende Unmittelbarkeit und das Gegebensein aufgehoben wird, ist zugleich ein Entwickeln des Denkens aus sich selbst. Indem die Philosophie so ihre Entwicklung den empirischen Wissenschaften verdankt, gibt sie deren Inhalte die wesentlichste Gestalt der Freiheit (des Apriorischen) des Denkens und die Bewährung der Notwendigkeit, statt der Beglaubigung des Vorfindens und der erfahrenen Tatsache, daß die Tatsache zur Darstellung und Nachbildung der ursprünglichen und vollkommen selbständigen Tätigkeit des Denkens werde. (Enz. § 12 A, 8/58)
Das philosophische Denken erreicht also eine Einheit von (subjektiver) Freiheit und (objektiver) Notwendigkeit, die so weit geht, dass „die Tatsache zur Darstellung und Nachbildung der ursprünglichen und vollkommen selbständigen Tätigkeit des Denkens“ wird. Damit entwirft Hegel eine epistemische Situation, in der alles, was zuvor unerklärt hinzunehmen war, als notwendig begriffen ist. Zugleich stellt er hier offensichtlich einen Zusammenhang zur Logik her, indem er von der „ursprüngliche[n] und vollkommen selbständige[n] Tätigkeit des Denkens“ redet und damit implizit auf das Denken in der WdL mit seiner „logischen Freiheit“ verweist. Diese logische Freiheit war nun nicht zuletzt dadurch ausgezeichnet, dass das Denken in der WdL ohne äußeren „Input“ auskommt und alle begriffliche Bestimmtheit aus sich selbst heraus entwickelt (vgl. 3.3). Das philosophische Denken außerhalb der Logik, das sich mit gegebenen empirischen Inhalten aus den Wissenschaften auseinandersetzt, soll diese so transformieren, dass sie dieselbe begriffliche Notwendigkeit aufweisen wie die Inhalte des Denkens in der WdL, und daher das Denken in Bezug auf sie in derselben Weise selbstbestimmt sein kann. In diesem Sinne ist die Formulierung zu Beginn des Zitates zu verstehen: „Das Aufnehmen dieses Inhalts, in dem durch das Denken die noch anklebende Unmittelbarkeit und das Gegebensein aufgehoben wird, ist zugleich ein Entwickeln des Denkens aus sich selbst“. Indem das Denken sich hier mit den gegebenen Inhalten auseinandersetzt und sie in ihrer Notwendigkeit begreift, entwickelt es demnach zugleich seine Bestimmungen nur aus sich selbst gemäß seiner eigenen Notwendigkeit. Der Zusammenhang zwischen Freiheit, Notwendigkeit und Denken, den Hegel in Bezug auf diese Idealgestalt des „spezifischen“ Denkens skizziert, leuchtet als solcher durchaus ein: In der von Hegel beschriebenen Situation idealer philosophischer Erkenntnis besteht nämlich tatsächlich ein direkter Zusammenhang zwischen der subjektiven Einheit des freien Subjekts und der objektiven Einheit der Sache, der durch keinerlei „Gegebenes“ und keine „Äußerlichkeit“ beein-
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trächtigt ist. Dies lässt freilich noch offen, inwiefern diese Idealgestalt epistemischer Freiheit auch Konsequenzen für die niedrigeren Formen des „spezifischen“ Denkens hat. Hegel scheint aber in der Fähigkeit, seinen Gegenstand in die Form der Notwendigkeit zu bringen, durchaus ein allgemeines Kennzeichen des „spezifischen“ Denkens zu sehen. Das geht beispielsweise aus der folgenden Stelle in der Religionsphilosophie hervor, die sich zur Rolle des Denkens im Allgemeinen äußert: Der innere Zusammenhang und die absolute Notwendigkeit, in welche der Inhalt der Vorstellung im Denken versetzt wird, ist nichts anderes als der Begriff in seiner Freiheit, so daß aller Inhalt Bestimmung des Begriffs und mit dem Ich selbst ausgeglichen wird. Die Bestimmtheit ist hier schlechthin die meinige; der Geist hat darin seine Wesentlichkeit selbst zum Gegenstand, und das Gegebensein, die Autorität und die Äußerlichkeiten des Inhalts gegen mich verschwindet. (PhRel 16/151)
Hegel versteht hier das Denken als solches als eine Tätigkeit, die ihren Inhalten die logische Form der Natur (Gegebensein, Zufälligkeit) nimmt und sie stattdessen in eine vernünftige und zugleich objektive Gestalt bringt, indem sie sie als notwendig begreift. Auch an zahlreichen anderen Stellen beschreibt Hegel das Streben nach der Einsicht in notwendige Verhältnisse als Wesensmerkmal des Denkens als solchen.39 Insofern darin eine allgemeine Kennzeichnung des „spezifischen“ Denkens liegt, kann dies freilich leicht als überzogener Anspruch erscheinen, denn unser alltägliches epistemisches Verhalten ist mit einer Unzahl von kontingenten Sachverhalten konfrontiert, deren mehr oder weniger zufälliges Gegebensein wir nicht auflösen können. Zwar betont Hegel zu Recht die Rolle explanatorischer Zusammenhänge für unseren Gegenstandsbezug; die Erklärungen verschiedener Art, die wir ständig explizit oder implizit gebrauchen, involvieren zwangsläufig modal qualifizierte Aussagen, wie wir im Zusammenhang mit Hegels Urteilslogik gesehen haben. Aber gewöhnlich handelt es sich dabei um punktuelle Erklärungen, die in durch und durch kontingente Kontexte eingebettet sind.
39 Vgl. auch Enz. § 1, 8/41: „[B]ei dem denkenden Betrachten gibt’s sich bald kund, daß dasselbe die Forderung in sich schließt, die Notwendigkeit seines Inhalts zu zeigen, sowohl das Sein schon als die Bestimmungen seiner Gegenstände zu beweisen“; Enz. Zweite Vorrede, 8/31: Das Denken behauptet „[…] in dem absoluten Rechte seiner Freiheit die Hartnäckigkeit […], mit dem gediegenen Inhalte sich nur zu versöhnen, insofern dieser sich die seiner selbst zugleich würdigste Gestalt, die des Begriffs, der Notwendigkeit, welche alles, Inhalt wie Gedanken, bindet und eben darin frei macht, zu geben gewußt hat“; Enz. § 467, 10/285: „In der Einsicht in die Notwendigkeit ist die letzte Unmittelbarkeit, die dem formellen Denken noch anhängt, verschwunden“.
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Sollte Hegel dem Denken und seiner Freiheit tatsächlich in diesem Sinne zu viel zumuten, dann würde dies zu einem Problem für seine Freiheitstheorie als ganze führen. Als deren allgemeine Motivation hatten wir das verallgemeinerte „Formalismus-Problem“ identifiziert (3.2.1): das Problem, wie ein rationaler Übergang von abstrakten Normen zu konkreten Selbsten möglich ist. Hegels Theorie der Notwendigkeit des Begriffs in der WdL hat nach unserer Deutung u. a. die Aufgabe, die dabei relevante Form von Notwendigkeit zu klären, und zwar in Gestalt von logischen Bestimmungen, die die „logische Freiheit“ des Denkens in der WdL ermöglichen und zugleich „reale Freiheit“ grundlegen (vgl. 3.3). Diese Funktion haben wir der teleologischen Struktur des Begriffs zugeschrieben, die auch, wie wir sahen, die kategoriale Grundbestimmung der realen epistemischen Freiheit bildet – sowohl der elementaren Freiheit des „generischen“ Denkens als auch der weiter entwickelten Freiheit des „spezifischen“ Denkens. Den zitierten Passagen zufolge scheint nun das Denken nur dann konsequent durch die für Freiheit konstitutive Struktur des Begriffs bestimmt zu sein, wenn es seine Inhalte durchgängig als notwendig begreift. Wenn dies aber eine Bedingung ist, die das Denken nur in der Philosophie erfüllen kann, dann ist es in seiner Freiheit abermals eingeschränkt: Die logische Struktur des Begriffs als Resultat der Begriffslogik bietet dann keine befriedigende Lösung des Formalismus-Problems, weil wir zumindest außerhalb der spekulativen Philosophie de facto keine Möglichkeit haben, die Willkür und Zufälligkeit in unseren epistemischen Einstellungen zu reduzieren und unserem Denken die explizite logische Form des Begriffs zu geben. Um diese Bedenken zu entkräften, müssen wir zeigen, dass Hegels modale Kennzeichnung des Denkens als Fähigkeit, Inhalte als notwendig zu begreifen, so verstanden werden kann, dass sie zumindest ansatzweise auch im nicht-wissenschaftlichen Denken erfüllbar ist. Der Schlüssel hierzu liegt in Hegels logischmetaphysischer Theorie der Formen von Notwendigkeit, die hier zum Tragen kommen. In Kapitel 4 hat sich gezeigt, dass nach Hegel die Realisierung eines begrifflichen Gehaltes in einem „gleichgültigen“ Medium, der anorganischen Natur, erfolgen muss und eine zufällige „Außenseite“ in diesem Medium nötig macht. Dieses Resultat hat wichtige Konsequenzen für die Art von Notwendigkeit, die das Denken nach Hegel in der Auseinandersetzung mit empirisch gegebenen Inhalten begreifen soll. So folgt in Bezug auf Phänomene der anorganischen Natur bereits, dass die Notwendigkeit des Begriffs hier prinzipiell nur in defizitärer oder indirekter Weise ausfindig gemacht werden kann: zum einen durch Erklärungen, die auf relevanten natürlichen Arten und den aus ihren Eigenschaften resultierenden Naturgesetzen und mechanischen und chemischen Prozessen beruhen, zum anderen durch die naturphilosophische Erklärung von Grundkategorien dieses Wirklichkeitsbereiches und die metaphysische Erklärung von des-
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sen ontologischem Status. – Sobald wir uns hingegen epistemisch mit den Bereichen der organischen Natur und des Geistes auseinandersetzen, ergibt sich, wie wir gesehen haben, dadurch eine andere Situation, dass hier immanente Erklärungsprinzipien verfügbar sind, die der Allgemeinheit und Notwendigkeit des Begriffes angehören. Da aber die Realität eines begrifflichen Gehaltes einer „Außenseite“ bedarf, tritt hier eine Unterscheidung zwischen erklärbaren Aspekten und unauflösbar kontingenten Tatsachen auf. Um Realität zu erhalten, muss ein Gegenstand im Hinblick auf zahllose Begriffe bestimmt werden, die seinem Wesen eigentlich fremd sind (vgl. 5.2.2). So ist es Teil der Ausführung einer Handlung, dass die eigentliche Absicht, ihr intendierter begrifflicher Gehalt – z. B. der Bau eines Hauses – im Hinblick auf Zustandsbestimmungen raumzeitlicher anorganischer Elemente mit Bestimmungen angereichert werden muss, die allenfalls in groben Umrissen aus der Intention folgen. Z. B. kann ein bestimmter Zeitpunkt für die Handlung intendiert sein, doch ist dieser nie so präzise festgelegt wie der Zeitpunkt der tatsächlichen Ausführung. Ferner können bestimmte Körperbewegungen in der Handlungsabsicht vorgesehen sein, es ist aber aus der Perspektive der teleologischen Erklärung noch nicht festgelegt, welche Moleküle genau wann welche Zustandsveränderungen erleiden. Im Hinblick auf derartige Bestimmungen treffen wir in unseren Absichten sehr viel grobkörnigere Festlegungen, als sie für tatsächliche Existenz nötig sind – und zwar deshalb, weil die feinkörnigeren Entscheidungen für den Handlungszweck gleichgültig sind. Diese „Gleichgültigkeit“ ist dabei selbst gradueller Art. Erstens sind sehr viele Fragen, die für reale Existenz entschieden werden müssen, so feinkörnig, dass sie überhaupt nicht in unsere Überlegungen eintreten (z. B. Zustandsveränderungen einzelner Moleküle). Ich nenne diese Art von Fragen bzw. Bestimmungen absolut indifferent. Zweitens gibt es Fragen, die sich uns zwar in unseren Abwägungen als reale Fragen stellen40, die aber insofern unseren Absichten gegenüber gleichgültig sind, als aus den Absichten hinsichtlich der jeweils verfügbaren Optionen keine Präferenz folgt; um jedoch der Handlung Realität zu verleihen, müssen wir eine Festlegung treffen. Ich nenne solche Fragen relativ indifferent. Hegel selbst beschreibt diesen Fall so: Wie schon der organische Körper in seinen Krankheiten gegen die Heilmittel, sosehr sie eine Notwendigkeit der Wirkungsweise gegen ihn ausüben, zugleich nach ihrer Spezialität indifferent ist und eine Wahl unter einer Menge von Mitteln offensteht, so setzt der Geist noch mehr, was er als Mittel hat und gebrauchen kann, zu einem Besonderen herab, und er hat
40 Die Abgrenzung dieser Eigenschaften von den absolut indifferenten Eigenschaften kann mit Hegel als Umschlagen von der quantitativen zur qualitativen Veränderung im Sinne der seinslogischen Kategorie des Maßes bestimmt werden.
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dann das Bewußtsein seiner Freiheit, es gebrauchen zu können oder auch ein anderes. (PhRel 16/104; vgl. auch GPhR § 12, 7/63)
Die dritte Art von Fragen betrifft Faktoren, die nicht im Begriff unseres Handlungsziels enthalten sind, die aber nicht nur im Prozess der Ausführung entschieden werden müssen, sondern auf Grundlage der Handlungsabsicht mitsamt einem weiteren Kontext auch entschieden werden können. Wenn jemand z. B. ein Haus bauen will, folgen aus Umständen wie seiner Lebenssituation, seinem Vermögen usw. schon bestimmte konkrete Vorgaben. Sehr viele Eigenschaften – Grundstück, Bauweise usw. – entscheiden sich erst im Laufe eines Prozesses der Konkretisierung, wenngleich sie nicht indifferent sind, sondern auf Grund der ursprünglichen Absicht rationale Entscheidungen möglich sind. Wir bezeichnen derartige Faktoren als relativ different, weil sie an Hand der übergeordneten Intention entschieden werden, aber nicht begrifflich aus ihr folgen. Schließlich gibt es Elemente, die tatsächlich begrifflich in der ursprünglichen Intention enthalten sind; sie nennen wir absolut different. Beispielsweise kann nicht jemand ein Haus bauen wollen, ohne zugleich zu wollen, dass dieses bewohnbar ist, Schutz vor Witterung bietet usw. Dass die Instantiierung einer Gegenstandsart ein derartiges Spektrum von Entscheidungen umfasst, ist nun nicht auf intentionale Handlungen beschränkt. Vielmehr lassen sich für alle Kontexte, in denen intrinsische Bewertungen möglich sind, analoge Unterscheidungen treffen. In der anorganischen Natur werden alle Fragen hinsichtlich einer einzelnen Begriffsinstanz entweder direkt durch den Begriff entschieden – z. B. die Molekularstruktur der Instanz eines chemischen natürliche-Art-Begriffs –, oder sie hängen von zufälligen äußeren Faktoren ab. Gegenstände, die intrinsisch bewertet werden können, sind dagegen durch ein immanentes Ziel bestimmt, das objektiv besser und schlechter realisiert sein kann. Es gibt deshalb hier stets einen mittleren Bereich zwischen absolut indifferenten Bestimmungen, die tatsächlich immer vom Zufall abhängen, und absolut differenten Bestimmungen, die unmittelbar aus dem jeweiligen Begriff folgen und notwendige Bedingungen (Minimalkriterien) dafür bilden, dass überhaupt die relevante Gegenstandsart vorliegt.41
41 Dabei fällt im Bereich der organischen Natur freilich die rationale Überlegung weg, mithin auch die Differenzierung zwischen absolut indifferenten, relativ indifferenten und relativ differenten Eigenschaften, die ich zuvor in Bezug auf intentionale Handlungen dargestellt hatte; absolut indifferente Eigenschaften können hier stattdessen so definiert werden, dass sie nicht von der organischen Aktivität des Lebewesens abhängen, während der „mittlere“ Bereich von Eigenschaften zwar von dieser Aktivität abhängt, aber nicht zu den notwendigen Minimalkriterien zählt, sondern die konkrete Art und Weise ausmacht, wie dieses Exemplar den Artbegriff realisiert.
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Geist und organische Natur können also in ihren verschiedenen Gestalten als eine Tätigkeit der Begriffsrealisierung (oder Resultat einer solchen Tätigkeit) verstanden werden, die auf gegebene Bedingungen reagieren muss. Aus diesem reaktiven Charakter, der jeder Realisierung von immanenten Zielen in einem mannigfaltigen, diesen Zielen gegenüber gleichgültigen Medium wie der anorganischen Natur zukommt, folgt freilich, dass eine apriorische Deduktion von Tatsachen als alternativlosen Notwendigkeiten allenfalls in Bezug auf die absolut differenten Eigenschaften möglich ist. Dagegen kann nicht vorausgesagt werden, auf welche konkreten Umstände die Realisierung dieser Begriffe reagieren muss, und somit auch nicht, welche exakte Weise der Realisierung besser und schlechter ist. Zum Begreifen des Realisierungsprozesses und seines Resultates ist es vielmehr in erster Linie nötig, die weiteren de facto vorliegenden Eigenschaften als rationale Beiträge zur Realisierung des Begriffs unter gegebenen Umständen zu verstehen. Relativ differente Eigenschaften können dabei als alternativlos begriffen werden, wenn bestimmte Gegebenheiten bekannt sind. In Bezug auf relativ und absolut indifferente Eigenschaften geht es hingegen nur darum zu verstehen, warum überhaupt eine Bestimmung dieser Art vorliegt. Z. B. kann es relativ indifferent sein, ob die Tür eines Hauses einige Zentimeter weiter links oder weiter rechts gebaut wird; und die auf den Mikrometer genaue Position ist absolut indifferent. Was hier allein als notwendig begriffen werden kann und muss, ist die Tatsache, dass eine Tür in ungefähr dieser Position gebaut wird. Hegels These, das Denken begreife seine Inhalte als notwendig, ist nach dieser Rekonstruktion keineswegs so unplausibel, wie es zunächst den Anschein haben kann.42 Das denkende Begreifen muss zwar Sachen auf der Grundlage ihres Begriffs verstehen, doch erfordert dies keineswegs immer ein deduktives Herleiten. Ein solches Verstehen leisten wir vielmehr auch im Alltag stets, wenn wir z. B. intentionale Handlungen oder soziale Institutionen interpretieren. Bei derartigem teleologischen Verstehen handelt es sich aus der Sicht Hegels keineswegs um einen Sonderfall des Verstehens und Erkennens innerhalb unserer alltäglichen Weltsicht, sondern eher um dessen Kernbereich, denn für unser ge-
42 Eine weitere relevante Binnengliederung, die aber nicht trennscharf markiert werden kann und auch von Hegel in der Philosophie des subjektiven Geistes nicht genau erklärt wird, betrifft den Unterschied zwischen außerwissenschaftlichem und wissenschaftlichem, besonders philosophischem Denken. Im Hinblick auf die Rekonstruktion von Notwendigkeit kann diese Unterscheidung als graduelle Differenz verstanden werden: Während im alltäglichen Denken die Rekonstruktion von Anschauung und Vorstellung stets noch begrenzt ist, schaffen die Wissenschaften und besonders die Philosophie die Ausdrucksmittel, die nötig sind, um die im sonstigen Denken noch verbleibenden Reste von unerklärtem Gegebensein aufzulösen und in das Begreifen vernünftiger Zusammenhänge zu integrieren.
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wöhnliches Bewusstsein ist die soziale Realität in paradigmatischer Weise wirklich: Institutionen „sind, im höchsten Sinne der Selbständigkeit“, und sie haben „eine absolute, unendlich festere Autorität und Macht als das Sein der Natur“ (GPhR § 146, 7/295). Gerade wenn wir diesem Gedanken folgen und bei alltäglichem Erkennen eher an unser Erkennen realisierter begrifflich-teleologischer Strukturen – wie etwa soziale Institutionen, Normen und Interaktionen – denken43 und weniger an unser Erkennen von physikalischen Objekten und Sachverhalten, so können wir plausiblerweise auch dem außerphilosophischen Denken Ansätze zum Begreifen von Notwendigkeit und mithin höhere Formen epistemischer Freiheit zuschreiben.
7.4.3 Hegels Lösung für das Formalismus-Problem im epistemischen Bereich Wir haben nun Hegels Theorie der kognitiven Vermögen und ihre freiheitstheoretischen Implikationen in den für unsere Zwecke relevanten Grundzügen nachvollzogen. Dabei haben wir gesehen, wie das epistemische Denken Freiheit im Sinne rationaler Persistenz erarbeitet, indem es die Isolation, Vereinzelung und Kontingenz der Inhalte von Anschauung und Vorstellung reduziert und implizite inferentielle und explanatorische Zusammenhänge explizit macht. Hierdurch nähert sich das Denken – entsprechend der oben genannten These (3), die die Formen des epistemischen Geistes als „Stufen seiner Befreiung“ versteht – einem Zustand an, in dem subjektive Tätigkeit und objektive Zusammenhänge zwei Seiten einer Medaille bilden. Diese Idealgestalt von epistemischer Freiheit sieht Hegel in erster Linie im philosophischen Denken realisiert, doch haben wir gesehen, dass jener Zustand auch im nicht-wissenschaftlichen Denken zumindest in Ansätzen erreicht werden kann. (Darüber hinaus ist die Freiheit des philosophischen Denkens für Hegel – als Teil des „absoluten Geistes“ – auch noch durch andere Gesichtspunkte gekennzeichnet, die wir in Kapitel 9 untersuchen werden.) Die Theorie elementarer und höherstufiger epistemischer Freiheit, die wir im Vorangegangenen rekonstruiert haben, bietet nun zugleich Hegels Erklärung dafür, wie das Formalismus-Problem in Bezug auf epistemische Vernunft gelöst werden kann. Dieses Problem bestand in der Frage nach einem rationalen Übergang von abstrakten Normen hin zu konkreten Selbsten mit ihren Begriffsrahmen
43 Das heißt nicht, dass Empfindung und Anschauung hier keine Rolle spielen würden; wie wir schon sahen, treten für Hegel auch rechtliche, sittliche und ähnliche Inhalte in diesen epistemischen Formen auf.
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und Begründungsformen; damit dieser Übergang rational ist, darf er weder von gegebenen Voraussetzungen ausgehen – wie es, nach Hegels Kritik, Kant in Bezug auf die Kategorien tut – noch willkürliche Entscheidungen treffen, wie wir es z. B. nach Carnap hinsichtlich unserer Begriffsrahmen tun. Hegel konzipiert, wie wir sahen, epistemische Tätigkeit als transformierende Rekonstruktion von Anschauungsinhalten im Denken. Durch diese Rekonstruktion begreifen wir sukzessive diejenigen explanatorischen Strukturen, die im jeweiligen Gegenstand wirksam sind und die Anschauungs- und Vorstellungsinhalte als Aspekte der „Außenseiten“ von realisierten „objektiven Begriffen“ (vgl. 5.2.2) verständlich machen. Dieser Rekonstruktionsprozess geht von begrifflichen Inhalten in der Form der „Äußerlichkeit“, Vereinzelung und Isolation aus, die zunächst – durch die „Reflexion“, die wir in Bezug auf das Urteil der Reflexion untersucht hatten (vgl. 4.4.4) – auf unterschiedliche Weise konzeptualisiert und geordnet werden können. Auf der Ebene dieses „äußerlichen“ Erkennens hängt unsere Tätigkeit tatsächlich von willkürlichen Entscheidungen bezüglich der Festlegung von Begriffsbedeutungen, der Wahl von Begriffsschemata usw. ab. Die logische Form des Begriffs erlaubt es uns aber, auch diese noch defizitäre Stufe epistemischer Tätigkeit zu überwinden, Anschauungsinhalte, Überzeugungen und Begriffe dieser niedrigeren Ebenen zu revidieren und sie in explanatorisch autonome Konstellationen zu integrieren. Derartige Konstellationen gestatten es uns, eine Sache in ihrer eigenen Verfasstheit zu begreifen, so dass wir nicht mehr auf willkürliche Entscheidungen angewiesen sind. Die denkende Transformation von Inhalten der Anschauung und Vorstellung bildet also einen Prozess, in dem die logische Struktur des Begriffs als kategoriale Grundlage objektiver Erkenntnis und epistemischer Freiheit die nicht-willkürliche Genese von konkreten epistemischen Selbsten ermöglicht. In diesem Prozess eignet sich der Geist zugleich die gegebenen Anschauungsinhalte an und befreit sich dadurch, gemäß seiner allgemeinen Bestimmung (vgl. 6.1), von der logischen Form der Natur.
8 Praktische Freiheit Die zentrale Herausforderung für Autonomie-Theorien von Freiheit besteht darin, zu erklären, wie wir im Ausgang von abstrakten Normen auf rationale Weise ein konkretes Selbst konstituieren können. Dieses „Formalismus-Problem“ macht für Hegel, wie wir gesehen haben, eine logisch-metaphysische Grundlegung von Freiheit nötig. Nachdem wir diese Grundlegung rekonstruiert und bereits gesehen haben, wie sie eine Theorie epistemischer Freiheit ermöglicht, ist das Thema dieses Kapitels die Theorie praktischer Freiheit, die sich in der Folge jener Grundlegung ergibt. In Hegels System ist der Ort einer solchen Theorie zum einen die Theorie des individuellen „praktischen Geistes“ in der Philosophie des subjektiven Geistes, zum anderen die Theorie der sozialen und geschichtlichen Realität praktischer Freiheit in der Lehre vom „objektiven Geist“, die in den Grundlinien zur Philosophie des Rechts eigens ausgeführt ist. Da unser thematischer Schwerpunkt in dieser Arbeit auf der Freiheit des rationalen Individuums liegt, müssen wir viele wichtige Gesichtspunkte von Hegels rechtsphilosophischer Freiheitstheorie außer Acht lassen.1 Im Folgenden betrachte ich zunächst einen Punkt, der für Hegel eine wesentliche Differenz zwischen epistemischer und praktischer Vernunft darstellt und der zur Folge hat, dass im Praktischen nicht diejenige „unproblematische“ Realität von (elementarer) Freiheit möglich ist, die die epistemische Vernunft kennzeichnet (vgl. 7.1): Selbstkonstitution im praktischen Bereich schließt wesentlich die Festlegung auf partikuläre Standpunkte, Ziele und Pläne ein (8.1). Dieser partikuläre Charakter des Praktischen macht einen Prozess der Aneignung und rationalen Transformation voluntativer Einstellungen nötig, den Hegel – ähnlich wie die Transformation von Inhalten der Anschauung und Vorstellung in seiner Theorie epistemischer Freiheit – dem Denken zuschreibt. Um diese Leistung des Denkens im praktischen Bereich, die Hegel nicht explizit theoretisch entwickelt, genauer zu verstehen, führe ich in Abschnitt 8.2 im Anschluss an Brandom und Korsgaard ein Modell ein, durch das zunächst unterschiedliche Grade praktischer Partikularität unterschieden werden können. Wie wir anschließend sehen werden, erlaubt es dieses Modell auch zu erklären, wie mittels praktischer Identitäten innerhalb kontingenter praktischer Einstellungen Strukturen der Notwendigkeit geschaffen werden können (8.3). Schließlich wird sich zeigen, dass praktische Identitäten diese Funktion nur dann erfüllen können, wenn Begründungsformen existieren, durch die einzelne praktische Identitäten gerechtfertigt werden können; wir
1 S. aber die Diskussion des ontologischen Status des objektiven Geistes in Abschnitt 6.3.
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8 Praktische Freiheit
werden sehen, dass nach Hegel solche Begründungsformen auf bestimmte soziale Institutionen Bezug nehmen müssen, wie er sie in der Rechtsphilosophie darstellt (8.4).
8.1 Partikularität als Kennzeichen des Praktischen Ich habe in Abschnitt 7.1 Hegels These diskutiert, epistemische Freiheit sei in gewisser Weise „unproblematisch“, weil bereits durch die rationale Grundidentität (vgl. 6.2) elementare epistemische Freiheit gewährleistet ist. Als Begründung dafür hatte ich eine Disanalogie zwischen Theorie und Praxis benannt: Epistemische Urteile beanspruchen Geltung für alle Vernunftwesen und sind auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet, während praktische Einstellungen sehr oft einen eingeschränkteren Geltungsanspruch haben und an verschiedenen Gütern orientiert sind. In diesem Kapitel müssen wir die praktische Seite dieser Disanalogie untersuchen. Dabei können wir von der folgenden Passage bei Hegel ausgehen: Der Intelligenz als denkend bleibt der Gegenstand und Inhalt Allgemeines, sie selbst verhält sich als allgemeine Tätigkeit. Im Willen hat das Allgemeine zugleich wesentlich die Bedeutung des Meinigen, als Einzelheit, und im unmittelbaren, d. i. formellen Willen als der abstrakten, noch nicht mit seiner freien Allgemeinheit erfüllten Einzelheit. Im Willen beginnt daher die eigene Endlichkeit der Intelligenz, und nur dadurch, daß der Wille sich zum Denken wieder erhebt und seinen Zwecken die immanente Allgemeinheit gibt, hebt er den Unterschied der Form und des Inhalts auf und macht sich zum objektiven, unendlichen Willen. (GPhR § 13 A, 7/64)
Hegel nennt hier als Kennzeichen des Praktischen den „Entschluss“ zur Endlichkeit, zur Partikularität. Im Kontext dieser Passage in der Einleitung zur Rechtsphilosophie hat Hegel zuvor den freien Willen als Prozess analysiert, der bei der „Unbestimmtheit“ der abstrakten rationalen Grundidentität ansetzt (§ 5), dann aber diese Unbestimmtheit aufhebt, indem er einen bestimmten Inhalt annimmt. Dieses „absolute Moment der Endlichkeit oder Besonderung des Ich“ (§ 6, 7/52) unterscheidet sich dadurch wesentlich von der Bezugnahme auf einzelne Inhalte in epistemischen Kontexten, dass das Subjekt sich hier selbst „verendlicht“. Das kann folgendermaßen verstanden werden. Im epistemischen Bereich wird die rationale Grundidentität des Subjekts durch den Bezug auf einzelne Inhalte nicht beeinträchtigt, auch dann nicht, wenn sie in den durch Vereinzelung gekennzeichneten Formen von Anschauung und Vorstellung auftreten (vgl. 7.3). Auch in diesen Formen sind nämlich epistemische Einstellungen stets durch den Anspruch auf allgemeine Billigung und Geltung in intersituativer wie intersubjektiver Hinsicht gekennzeichnet; das Denken „verhält sich“, auch in
8.1 Partikularität als Kennzeichen des Praktischen
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seinen impliziten Formen, „als allgemeine Tätigkeit“, wie es zu Beginn der Passage aus der Rechtsphilosophie heißt. Der Wille hat dagegen in nicht-moralischen Kontexten stets pro-Einstellungen und Absichten, die keine Geltung für andere Subjekte implizieren. Insofern ist er durch eine „Verendlichung“ gegenüber der allgemeinen Grundidentität gekennzeichnet. In dieser Verendlichung besteht für Hegel ein notwendiges Element praktischer Vernunft, nicht etwa nur ein kontingentes Defizit. So schreibt Hegel: Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweit, in den Naturbedürfnissen und in dem Zusammenhange dieser äußeren Notwendigkeit sich diese Schranke und Endlichkeit gibt, und eben damit, daß er sich in sie hinein bildet, sie überwindet und darin sein objektives Dasein gewinnt. (GPhR § 187 A, 7/344)
Gemäß Hegels Begriffsrealismus (vgl. 5.2.2) erfordert die Realisierung begrifflicher Gehalte ein gleichgültiges Medium der Realisierung. Innerhalb der ontologisch-holistischen Erklärung des Geistes als solchem kann daher Hegel die Tatsache, dass wir überhaupt partikuläre Bedürfnisse, Wünsche usw. haben, als Voraussetzung für die praktische Realisierung unserer Vernunft interpretieren. Dieses „offizielle“ Argument kann durch eine weitere Überlegung ergänzt werden. Aus der Notwendigkeit des „Mediums“ für die Realisierung begrifflicher Gehalte folgt nämlich auch, dass keine noch so allgemeingültig gebotene (moralische) Handlungsvorschrift in einer konkreten Situation umgesetzt werden kann, ohne dass unzählige Eigenschaften der tatsächlichen Handlung festgelegt werden, die nicht aus dieser Vorschrift folgen. Ich hatte diesbezüglich in Abschnitt 6.4.2 von relativ differenten, relativ indifferenten und absolut indifferenten Eigenschaften gesprochen – also Eigenschaften, die auf der Grundlage von Begleitumständen vernünftig entschieden werden können (relativ different); Eigenschaften, die durch dezisionistische Wahl entschieden werden müssen (relativ indifferent); und Eigenschaften, die gar nicht erst in die Überlegung eingehen (absolut indifferent). In Bezug auf diese Eigenschaften müssen wir, um überhaupt handeln zu können, praktische Einstellungen haben, für die wir keine allgemeine Geltung beanspruchen können. Der Wille ist demnach durch eine notwendige Dimension der Partikularität gekennzeichnet, für die es im Epistemischen kein Analogon gibt. Diese Dimension der Partikularität äußert sich speziell im Hinblick auf die Rechtfertigung von Entscheidungen und Handlungen darin, dass hier Gründe auftreten, die ihre rationalisierende Funktion nur in Bezug auf den einzelnen Akteur haben. Hierzu zählen insbesondere individuelle Wünsche („desires“). Wie wir in Abschnitt 2.2 gesehen haben, werden Wünsche häufig (insbesondere im Rahmen von humeanischen Theorien praktischer Rationalität) als gegebenes Fundament praktischer Rechtfertigung angesehen. Dagegen argumentiert Hegel, wie sich gezeigt hat,
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8 Praktische Freiheit
dass wir uns unsere Wünsche aneignen müssen, damit ihnen eine rationale Autorität zukommt, die nicht durch Entfremdung eingeschränkt ist. In diesem Kontext steht auch die oben zitierte Passage aus § 13 A der Rechtsphilosophie. In ihr nennt Hegel als Resultat der „Verendlichung“ des Willens den „formellen“ Willen – also denjenigen Willen, dessen Inhalte noch nicht „der Inhalt und das Werk seiner Freiheit“ sind (GPhR § 13, 7/64). Den Prozess der rationalen Aneignung gegebener Willensinhalte beschreibt Hegel hier so: „[N]ur dadurch, daß der Wille sich zum Denken wieder erhebt und seinen Zwecken die immanente Allgemeinheit gibt, hebt er den Unterschied der Form und des Inhalts auf und macht sich zum objektiven, unendlichen Willen“. Dass der Wille den „Unterschied der Form und des Inhalts“ aufhebt, ist so zu verstehen, dass der „formelle“ Wille überwunden wird: Der „formelle“ Wille ist nur frei, insofern er auf der Basis von gegebenen Gründen zwischen vorgegebenen inhaltlichen Optionen wählen kann; der nicht formelle Wille muss in gewisser Weise auch der Urheber seiner Gründe und seiner Handlungsoptionen sein. Diese „inhaltliche“ Freiheit wird nach der eben zitierten Aussage Hegels durch das Denken erreicht, das den Zwecken des Willens „die immanente Allgemeinheit gibt“. Ähnlich heißt es in der Enzyklopädie: Die Bestimmung des an sich seienden Willens ist, die Freiheit in dem formellen Willen zur Existenz zu bringen, und damit der Zweck des letzteren, sich mit seinem Begriffe zu erfüllen, d. i. die Freiheit zu seiner Bestimmtheit, zu seinem Inhalte und Zwecke wie zu seinem Dasein zu machen. Dieser Begriff, die Freiheit, ist wesentlich nur als Denken; der Weg des Willens, sich zum objektiven Geiste zu machen, ist, sich zum denkenden Willen zu erheben, – sich den Inhalt zu geben, den er nur als sich denkender haben kann. (Enz. § 469, 10/288)2
Wie im epistemischen Bereich, so fungiert also auch hier das Denken als Prozess der Befreiung; in diesem Prozess werden Inhalte, die zunächst in der logischen Form der Natur – Vereinzelung, Gegebensein usw. (vgl. 6.1) – präsent sind, transformiert und in eine vernünftige Gestalt gebracht. Der Prozess, in dem durch das Denken gegebene praktische Einstellungen in eine vernünftige Form gebracht werden, fällt für Hegel offenbar zusammen mit dem Prozess der Selbstkonstitution, der auf rationale Weise zu einem konkreten praktischen Selbst führt. Als kategoriale Grundbestimmung der Selbstkonstitution hat sich in Hegels logisch-metaphysischer Grundlegung von Freiheit die
2 Vgl. GPhR § 187 A, 7/344: „Der Vernunftzweck ist deswegen weder jene natürliche Sitteneinfalt, noch in der Entwickelung der Besonderheit die Genüsse als solche, die durch die Bildung erlangt werden, sondern daß die Natureinfalt, d.i. teils die passive Selbstlosigkeit, teils die Roheit des Wissens und Willens, d.i. die Unmittelbarkeit und Einzelnheit, in die der Geist versenkt ist, weggearbeitet werde […]“.
8.1 Partikularität als Kennzeichen des Praktischen
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teleologische Struktur des Begriffs ergeben; auf diese Struktur bezieht sich Hegel, wie wir schon gesehen haben, explizit in der Bestimmung des freien Willens in der Einleitung zur Rechtsphilosophie (GPhR § 24 A, 7/75). Wie kann also das Denken mittels der teleologischen Struktur des Begriffs die „befreiende“ Funktion erfüllen, die Hegel ihm hier in Bezug auf den Willen zuschreibt? Ehe ich im weiteren Verlauf diese Leistung des Denkens untersuche, bespreche ich zunächst drei mögliche Ansätze, um die Rolle des Denkens und der Struktur des Begriffs in diesem Kontext zu verstehen. Indem ich diese Ansätze kritisiere, wird auch die Problematik deutlicher werden, die hier vorliegt. Erstens könnte darauf hingewiesen werden, dass die logische Struktur der Begriffsrealisierung in intentionalen Handlungen trivialerweise immer schon wirksam sein muss. Es kann also verwunderlich erscheinen, dass diese Struktur hier erst hergestellt werden soll. – Tatsächlich habe ich, im Anschluss an Hegel selbst, im Kontext des „Urteil des Begriffs“ mehrfach Fälle intentionalen Handelns als Beispiele für die logische Struktur des Begriffs gebraucht. Eine zentrale Pointe von Hegels praktischer Philosophie besteht aber in dem Gedanken, dass die Fähigkeit zum intentionalen Handeln für sich genommen noch erhebliche Potentiale für Unfreiheit birgt. Diese Fähigkeit allein stellt nämlich noch nicht sicher, dass wir uns unsere Willensinhalte angeeignet haben und unsere Willensstruktur das Ergebnis rationaler Selbstkonstitution, und nicht vielmehr zufälliger oder willkürlicher Vorgänge, ist. Wie wir in Abschnitt 6.3.1 schon im Allgemeinen gesehen haben, muss für Hegel diejenige Transformation, die rationale Persistenz ermöglicht, über die „lokale“ Persistenz im Haben einer Einstellung oder im Ausführen einer Intention hinaus eine „globale“ vernünftige Struktur schaffen, die gleichfalls durch die logische Form des Begriffs definiert ist. Für Hegel ist es die Aufgabe des Denkens, eine derartige übergreifende Realisierung der Struktur des Begriffs zu schaffen. Solange diese Aufgabe nicht zumindest ansatzweise erfüllt ist, kann weder die teleologische Struktur des Handlungsprozesses für sich noch die kausale Spontaneität, die wir für Hegel im Beschließen und Handeln benötigen (vgl. 6.5), rationale Persistenz sicherstellen. Dies führt zu einem zweiten Ansatz. Das Denken soll Inhalte, die die logische Form der Natur aufweisen, in die Form des Begriffs mit seiner charakteristischen Allgemeinheit und Notwendigkeit bringen. Dies könnte so verstanden werden, dass das Denken den partikulären Geltungsbereich praktischer Einstellungen erweitern und sie in diesem Sinne vernünftig machen muss. Hegel kennt zwei Ausprägungen dieser Strategie, die er allerdings beide kritisiert. Für die erste Ausprägung stehen Theorien, die einzelne pro-Einstellungen in ein geordnetes voluntatives System bringen; in modernen Debatten zählen besonders Theorien der rationalen Wahl (rational choice) hierzu. Hegel schreibt zu dieser Form der Verallgemeinerung:
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Die auf die Triebe sich beziehende Reflexion bringt, als sie vorstellend, berechnend, sie untereinander und dann mit ihren Mitteln, Folgen usf. und mit einem Ganzen der Befriedigung – der Glückseligkeit – vergleichend, die formelle Allgemeinheit an diesen Stoff und reinigt denselben auf diese äußerliche Weise von seiner Roheit und Barbarei. (GPhR § 20, 7/71)
In Theorien des fraglichen Typs werden gegebene pro-Einstellungen insofern in eine vernünftige Gestalt gebracht, als sie in intersituativer Hinsicht verallgemeinert werden. Statt jeweils dem stärksten Impuls in der einzelnen Situation zu folgen oder willkürlich zwischen konkurrierenden Wünschen zu entscheiden, bildet der Akteur hier ein konsistentes voluntatives System. – Zwar gesteht Hegel dieser Art der Transformation des Willens das „Hervortreiben der Allgemeinheit des Denkens“ zu (GPhR § 20, 7/71); doch handelt es sich hier offenkundig nur um die extensionale Allgemeinheit der Reflexion, wie Hegel sie in der Urteilslogik thematisiert hatte (vgl. 4.4). Entsprechend spricht er hier auch von der „formellen, für sich unbestimmten und ihre Bestimmtheit an jenem Stoffe vorfindenden Allgemeinheit“ (GPhR § 21, 7/71): Zwar ist diese Form der Verallgemeinerung ein notwendiger Bestandteil praktischer Rationalität (sie entspricht der allgemeinen Anforderung, dass der Prozess rationaler Transformation Konsistenz erzeugen muss, vgl. 6.3.1), doch überwinden wir durch sie noch nicht die Unfreiheit des „formellen“ Willens gegenüber seinen Inhalten.3 Die zweite Ausprägung einer Verallgemeinerung der Willensinhalte durch Erweiterung ihrer Geltung betrifft die intersubjektive Dimension der Geltung praktischer Einstellungen. Der Gedanke ist hier, praktische Einstellungen ihrer Geltung nach an die Universalität moralischer Normen anzugleichen, die für alle rationalen Wesen gleichermaßen gelten. Eine derartige Strategie kann der Moralphilosophie Kants zugeschrieben werden: Um die Autonomie des Willens gegenüber der Bestimmung durch gegebene motivationale Faktoren (Neigungen) zu sichern, fordert Kant vom Willen die Selbstbestimmung durch universalisierbare Maximen. Doch erstens betrifft diese Universalisierbarkeit nur die Zulässigkeit von Maximen; wir beanspruchen durch die Annahme einer zulässigen Maxime nicht, dass auch alle anderen Subjekte diese Maxime annehmen sollen. Zweitens führt dieses Verständnis praktischer Allgemeinheit wieder zum Formalismus-Problem, das Hegel in Kants Moralphilosophie diagnostiziert hat. Wie wir oben gesehen haben, ist praktische Vernunft notwendig durch eine Dimension der
3 Vgl. in diesem Kontext auch Brandoms Kritik an Theorien der rationalen Wahl: Nach Brandom setzen diese Theorien nämlich den bestimmten begrifflichen Gehalt der in einer Wahlsituation verfügbaren Optionen unkritisch voraus (RiPh 4 ff.). – Zur Frage, wie die relevante Revision unseres Wunschhaushaltes im Rahmen einer internalistischen Motivationstheorie konzipiert werden kann, vgl. Smith (1995), v. a. 114 f.
8.1 Partikularität als Kennzeichen des Praktischen
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Partikularität gekennzeichnet. Wenn die von Hegel beschriebene Verallgemeinerung durch das Denken im Sinne moralischer Universalität verstanden wird, folgt daraus, dass alle praktischen Einstellungen, die notwendigerweise diesem Bereich der Partikularität angehören, der rationalen Transformation unzugänglich sind. Somit resultiert wieder die von Hegel kritisierte Dichotomie im Willen, der auf der einen Seite frei und vernünftig ist, indem er sich an extrem abstrakten Normen orientiert, und der auf anderen Seite dem Zufall und der Willkür preisgegeben ist, weil er jene Normen nur durch konkrete, zwangsläufig partikuläre Festlegungen realisieren kann. Die gesuchte Funktion des Denkens kann also nicht einfach in einer Ausdehnung des Geltungsbereichs praktischer Einstellungen bestehen, sei es in intersituativer oder in intersubjektiver Hinsicht. Hiermit kommen wir zu einem dritten Ansatz zum Verständnis der Rolle von Denken und teleologischer Allgemeinheit in diesem Zusammenhang. Wie wir gesehen haben, ist die teleologische Struktur des Begriffs für Hegel u. a. deshalb die paradigmatische Form von Allgemeinheit, weil sie das genuine Begreifen eines Gegenstandes erlaubt. Eine Möglichkeit dafür, diese Rolle der logischen Form des Begriffs auf praktische Kontexte zu beziehen, besteht darin, rationale Persistenz im praktischen Überlegen und Handeln als eine Frage der Fähigkeit eines Akteurs zu deuten, sich selbst zu verstehen. Eine derartige Theorie praktischer Rationalität hat David Velleman entwickelt (Velleman (1989), (2000)).4 Nach Velleman wird unser Handeln von einem übergeordneten Wunsch angeleitet, nämlich dem Wunsch, uns selbst zu verstehen. Eine Variante dieser Theorie könnte auch die fragliche Rolle von Denken und teleologischer Allgemeinheit bei Hegel erklären: Wir müssen demnach unsere praktischen Einstellungen in eine Gestalt bringen, die sie uns selbst verständlich macht. Zwar schreibt Hegel kognitiven Vermögen in seiner Theorie praktischer Freiheit eine wichtige Funktion zu. Insbesondere spricht er häufig davon, dass der Geist nur dann wirklich frei ist, wenn er weiß, dass er frei ist (vgl. z. B. Enz. § 482); diesen Punkt bringt Hegel auch mit der Transformation des Willens durch das Denken zusammen, wenn er schreibt: Dies Aufheben aber und Erheben ins Allgemeine ist das, was die Tätigkeit des Denkens heißt. Das Selbstbewußtsein, das seinen Gegenstand, Inhalt und Zweck bis zu dieser Allgemeinheit reinigt und erhebt, tut dies als das im Willen sich durchsetzende Denken. Hier ist der Punkt, auf welchem es erhellt, daß der Wille nur als denkende Intelligenz wahrhafter, freier Wille ist. Der Sklave weiß nicht sein Wesen, seine Unendlichkeit, die Freiheit, er weiß sich nicht als Wesen, – und er weiß sich so nicht, das ist, er denkt sich nicht. (GPhR § 21 A, 7/72)
4 Eine ähnliche Möglichkeit in Bezug auf Hegel deutet Pippin (2008), 136 an.
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Die „befreiende“ Rolle des Denkens in Bezug auf den Willen besteht demnach teilweise darin, dass das Denken eine Selbstkonzeption ermöglicht, in der sich der Geist selbst als frei versteht. Dies kann vor dem Hintergrund der allgemeinen teleologischen Struktur des Geistes verstanden werden, die wir in Abschnitt 6.4 betrachtet haben: Der Geist ist demnach auf ideale Freiheit als das implizite Ziel seiner Aktivität ausgerichtet. Plausiblerweise ist er in dieser Aktivität selbst freier – und kommt damit seinem Ziel näher –, wenn er ein mehr oder weniger explizites Verständnis dieser eigenen teleologischen Struktur hat. Hieraus folgt aber noch nicht, dass es für praktische Freiheit hinreichend ist, dass der Wille sich selbst in seinen einzelnen Einstellungen versteht. Um zu sehen, warum dieser Vorschlag unplausibel ist, betrachten wir ein Beispiel. Ein Räuber zwingt einen Bankangestellten mit vorgehaltener Pistole und unter Drohungen, ihm das Geld der Bank auszuhändigen. Der Bankangestellte muss hier zwei verschiedene Perspektiven auf die Situation einnehmen, nämlich eine epistemische und eine praktische Perspektive. Die epistemische Perspektive zielt in diesem Fall darauf, die Geschehnisse ausreichend gut zu verstehen, um angemessen handeln zu können. Der Angestellte interpretiert das Verhalten des Räubers, schreibt ihm Motive und Absichten zu, schätzt diese so ein, dass die Drohungen ernst zu nehmen sind, usw. Auf diese Weise gelangt er zu den Ausgangsbedingungen für seine praktische Abwägung. In der praktischen Einstellung zu der Situation muss der Angestellte dagegen entscheiden, ob er das Geld ohne Widerstand herausgibt, versucht, Alarm zu schlagen, usw. Die beiden Perspektiven unterscheiden sich nun auch hinsichtlich der Freiheit oder Unfreiheit, die in ihnen auftritt. In der epistemischen Perspektive ist die Situation für den Angestellten völlig transparent und verständlich; es gibt hier nichts, was seine epistemische Freiheit in besonderer Weise5 einschränken würde. In praktischer Hinsicht ist der Angestellte dagegen offensichtlich in seiner Freiheit beschränkt. Er muss nach Gründen handeln, die nicht seine eigenen sind, sondern ihm absichtlich von außen aufgezwungen werden. Daher kann sich der Angestellte nicht in die Situation finden; sie ist ihm nicht in der Weise transparent und verständlich, wie sie es in der epistemischen Perspektive ist.6
5 D. h. in einer Weise, die in anderen Fällen der Interpretation intentionalen Handelns anderer Personen nicht ebenso relevant wäre. 6 Zwar „zerstört“ nach Hegel „Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst, als Äußerung eines Willens, welche die Äußerung oder Dasein eines Willens aufhebt“ (GPhR § 92, 7/ 179). Damit meint Hegel aber offenbar einen praktischen Widerspruch (infolgedessen Zwang „abtrakt genommen, unrechtlich“ ist (GPhR § 92, 7/179)), und nicht etwa einen Widerspruch, der ein epistemisches Verständnis von Zwangssituationen verhindern würde.
8.1 Partikularität als Kennzeichen des Praktischen
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Dieser Unterschied kann nicht darauf zurückgeführt werden, dass die epistemische Perspektive intentionales Handeln aus der Perspektive der dritten Person interpretiert, während die praktische Perspektive der ersten Person angehört. Nehmen wir an, der Angestellte entscheide sich, das Geld herauszugeben, weil dies objektiv gesehen die am wenigsten schädliche Option ist. Während und nach der Ausführung dieser Handlung ist dem Angestellten nicht etwa unklar, was er gerade tut; dies ist vielmehr völlig verständlich, weil es angesichts der Umstände die am ehesten rationale Option ist.7 Dieses Beispiel zeigt, dass praktische rationale Persistenz nicht im Verstehen unserer selbst bestehen kann: Es gibt Fälle, in denen diese Persistenz auf Grund manifester Unfreiheit beschränkt ist, obwohl wir die Situation und unser eigenes Verhalten vollkommen verstehen. Wenngleich nach Hegel dieses Denken eine wichtige kognitive Dimension hat – um wirklich frei zu sein, müssen wir wissen, dass wir frei sind und worin diese Freiheit besteht –, kann seine Aufgabe doch nicht allein darin bestehen, unseren Willen so zu organisieren, dass wir uns selbst verstehen können. Damit bleibt freilich auch die Frage offen, wie der kognitive Charakter, der nach Hegel die teleologische Struktur des Begriffs auszeichnet – sie ist die paradigmatische Form der Verständlichkeit –, im praktischen Bereich zum Tragen kommen kann. Die Diskussion der genannten drei Ansätze zur Deutung des Denkens und der teleologischen Struktur des Begriffs in diesem Kontext zeigt, dass die Rolle dieser Faktoren für eine Theorie praktischer Freiheit bei weitem nicht so direkt von Hegels logischer Grundlegung von Freiheit her verständlich gemacht werden kann, wie es in Bezug auf epistemische Freiheit der Fall war. Überdies muss festgestellt werden, dass Hegel selbst am entscheidenden Übergang in der Einleitung zur Rechtsphilosophie, in dem er die Allgemeinheit des Begriffs einführt und dadurch zum eigentlichen Begriff des freien Willens gelangt, keine hinreichende Auskunft zu den hiermit verbundenen Fragen bietet. Es handelt sich dabei um den folgenden Paragraphen, der direkt auf die Darstellung der „formel7 Umgekehrt ist auch die epistemische Sichtweise in der ersten-Person-Perspektive nicht einfach automatisch transparent und verständlich; z. B. wird willensschwaches Handeln manchmal so beschrieben, dass wir uns in ihm selbst nicht verstehen können. So schreibt Davidson: „What is special in incontinence is that the actor cannot understand himself: he recognizes, in his own intentional behavior, something essentially surd“ (Davidson (1980c), 42). – Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang, der gegen eine Position wie die Vellemans spricht, ist der, dass wir eine auf Verstehen zielende (und insofern epistemische) Perspektive gegenüber uns selbst nur dann wirklich einzunehmen scheinen, wenn unsere Kontrolle über unsere Handlung eingeschränkt ist – wenn wir von ihnen entfremdet sind, oder vergessen haben, was wir gerade tun, usw. (Hampshire/Hart (1958), 5 beschreiben diese Perspektive treffend als „spectator’s attitude“ gegenüber dem eigenen Verhalten).
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len“ Verallgemeinerung praktischer Einstellungen im Sinne der Glückseligkeit (oder der rationalen Wahl) folgt: Die Wahrheit aber dieser formellen, für sich unbestimmten und ihre Bestimmtheit an jenem Stoffe vorfindenden Allgemeinheit ist die sich selbst bestimmende Allgemeinheit, der Wille, die Freiheit. Indem er die Allgemeinheit, sich selbst, als die unendliche Form zu seinem Inhalte, Gegenstande und Zweck hat, ist er nicht nur der an sich, sondern ebenso der für sich freie Wille – die wahrhafte Idee. (GPhR § 21, 7/71 f.)
Hegel tut an dieser Stelle und in den darauffolgenden, erläuternden Paragraphen nicht mehr, als die eigentliche Freiheit des Willens durch die Begriffe „Denken“ und „Allgemeinheit des Begriffs“ zu kennzeichnen, damit die schon in der WdL gebrauchten Charakterisierungen wie „Selbstbestimmung“ und „Unendlichkeit“ zu verbinden und ferner dem freien Willen eine voluntativ-selbstbezügliche Struktur zuzuschreiben (der freie Wille will sich selbst, vgl. 6.4). Welche Folgen diese Selbstbezüglichkeit für die individuelle Willensstruktur als ganze und das individuelle Planen und Handeln im Einzelfall hat, erklärt er aber ebenso wenig wie den Sachverhalt, dass für gelingende Freiheit gerade eine solche voluntative Selbstbezüglichkeit – der Wille will sich selbst – nötig sein soll. Wie schon in der Urteilslogik im Kontext des Urteils des Begriffs müssen wir hier feststellen, dass Hegel gerade an den besonders wichtigen Punkten seiner Darstellung zu wenig tut, um seine Position und Argumentation zu erklären. Ich greife daher im Folgenden abermals auf den Umweg zurück, ein eigenes Modell einzuführen, das zunächst nicht direkt auf den Hegelschen Text gestützt ist, aber als Grundlage für eine Rekonstruktion und Verteidigung von Hegels Behauptungen in diesem Kontext dienen kann.
8.2 Praktische Identitäten und die Allgemeinheit des Willens: Ein Modell im Ausgang von Brandom und Korsgaard Dass praktische Gründe im Vergleich zu epistemischen Gründen partikulärer Art sein können, kann als formale Eigenschaft begriffen werden, die praktische von epistemischer Überlegung unterscheidet. Eine praktische Überlegung, die nicht moralischer Art ist, führt zu einer Konklusion, die eine Handlungsaufforderung bzw. -absicht nur für einen solchen Akteur ausdrückt oder impliziert, auf den die in den Prämissen enthaltenen voluntativen Kennzeichnungen zutreffen (vgl. Sellars (1968), 191 ff.). Die Form von Normativität, die mit einer derartigen Überlegung verbunden ist, ist also konditionaler oder hypothetischer Art. Dieser formale Sachverhalt legt es nahe, eine Differenzierung von praktischen Identitäten, pro-Einstellungen, Normen usw. gemäß ihrem Geltungsbereich zu formulie-
8.2 Praktische Identitäten und die Allgemeinheit des Willens
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ren, indem die Eigenschaften solcher Faktoren in praktischem Folgern betrachtet werden. Für einen derartigen Ansatz können wir uns zunächst auf Brandoms Theorie praktischer Überlegung beziehen, die gerade eine Differenzierung in diesem Sinne vornimmt.8 Brandom formuliert die beschränkte Geltung der Konklusion nicht-moralischer Schlüsse als Eigenschaft des Skopus inferentieller Festlegungen. Inferentielle Festlegungen sind Meinungen darüber, welche Inferenzen zulässig sind und welche nicht. Im epistemischen Bereich sind inferentielle Festlegungen universal gültig; wenn ich dazu berechtigt bin, aus A B zu folgern, dann ist es jedes andere Subjekt auch.9 Im praktischen Bereich unterscheidet Brandom drei verschiedene Arten von inferentiellen Festlegungen, die durch die folgenden materialen Inferenzen exemplifiziert werden: (1) Es regnet. Also werde ich meinen Regenschirm öffnen. (2) Ich bin Bankangestellter und gehe zur Arbeit. Also werde ich eine Krawatte tragen. (3) Wenn ich das Gerücht weiterverbreite, füge ich jemandem sinnlos Schaden zu. Also werde ich das Gerücht nicht weiterverbreiten. Ich bezeichne die Inferenz (1) als einen Fall (konditional) evaluativen Schließens, Inferenz (2) als einen Fall (konditional) normativen Schließens, und Inferenz (3) als einen Fall unkonditionalen Schließens. (Im Folgenden werde ich diese Begriffe so präzisieren, dass konditionales vs. unkonditionales und normatives vs. evaluatives Schließen zwei orthogonale Unterscheidungen sind.) Allen Schlüssen ist gemeinsam, dass sie aus einer kognitiven Prämisse und einer praktischen Konklusion bestehen. Die voluntative Prämisse, die hingegen in der traditionellen syllogistischen Rekonstruktion des praktischen Überlegens zusätzlich auftritt (z. B. „Ich wünsche, trocken zu bleiben“), fungiert hier nur als implizite Grundlage dafür, dass der Übergang von der Prämisse zur Konklusion jeweils zulässig ist. Die inferentiellen Festlegungen, die jeweils hinter den genannten Schlüssen stehen, unterscheiden sich nun u. a. im Skopus derjenigen Subjekte, für die der
8 Vgl. zum Folgenden MIE 229 ff. – Brandom verfolgt mit dieser Rekonstruktion praktischer Schlussfolgerungen das Ziel, Zuschreibungen von Wünschen, Präferenzen usw. als expressive Manöver zu verstehen. Demnach müsste eine Sprache möglich und praktikabel sein, die ohne explizite Begriffe wie „Wunsch“ usw. auskommt und in der praktische Überlegungen nur mittels Beschreibungen von situativen Bedingungen und Absichtserklärungen ausgedrückt werden. Dieser kontroversen These schließe ich mich hier nicht an, sondern gebrauche das Modell, das Brandom zur Deutung praktischer Überlegung gebraucht, unabhängig davon für meine Zwecke. Sein Vorteil besteht für mich darin, dass es besser als andere Modelle erlaubt, unterschiedliche Geltungsbereiche praktischer Inferenzen explizit zu machen. 9 Für Qualifikationen hinsichtlich Kontexten wie spezialisierte Wahrnehmung vgl. 7.1.
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Schluss jeweils als zulässig angesehen wird – der Subjekte, für die der in der jeweiligen Prämisse genannte Faktor einen ausreichend starken Grund bildet, um zur praktischen Konklusion überzugehen. Dabei umfasst der Skopus im Falle unkonditionalen Schließens, ebenso wie im theoretischen Schließen, alle rationalen Wesen – also nach unserer Terminologie alle Wesen, die die grundlegende, durch intersubjektive und intersituative normative Identifizierung bestimmte rationale Identität besitzen. Wir können diesen Geltungsbereich als den universalen Skopus bezeichnen. In den genannten Beispielen für evaluatives und normatives Schließen ist der Skopus hingegen auf eine Teilmenge des universalen Skopus eingeschränkt. Allerdings differenziert Brandom selbst nicht hinreichend zwischen dem Skopus der inferentiellen Festlegungen und dem Bereich derjenigen Subjekte, die diese Festlegungen gerechtfertigterweise haben können. Beispielsweise können im Prinzip alle Vernunftwesen die Festlegung haben, dass sie im Beispiel (2) dann, wenn sie in die im Antezedens genannte Situation kommen, zur entsprechenden Folgerung verpflichtet sind, eine Krawatte zu tragen. Der Skopus der in (2) ausgedrückten Verpflichtung ist dagegen auf die tatsächlichen Bankangestellten eingeschränkt. Diese Differenzierung können wir genauer festhalten, indem wir zunächst die Form praktischer inferentieller Festlegungen im Sinne Brandoms in ihrer einfachsten Gestalt folgendermaßen explizit machen: (4) Subjekte aus dem Bereich S sind zu dem folgenden Schluss berechtigt: [kognitive Prämisse] ∴ Ich werde φen. „[Kognitive Prämisse]“ steht dabei für Prämissen mit einem deskriptiven Gehalt, der einen Aspekt der Handlungssituation minus der voluntativen Struktur des Subjekts zum Ausdruck bringt. (Das „werde“ im Konsequens ist hier und im Folgenden stets als Ausdruck einer Intention zu verstehen, nicht als Vorhersage.) „S“ steht für den Geltungsbereich der jeweiligen Festlegung, also den Bereich derjenigen Subjekte, denen die Berechtigung zu dem Schluss in der ersten Person zugeschrieben wird. Kürzer können wir (4) in der folgenden Satzform explizit machen, deren Instanzen wir als praktische inferentielle Festlegungen bezeichnen: (PIF) Wenn sich ein Akteur, der ein S ist, in einer Situation mit Merkmal M befindet, dann ist es für ihn ceteris paribus richtig, im Lichte dieser Faktoren zu φen. „Im Lichte dieser Faktoren“ bedeutet, dass die Handlung auf einer (expliziten oder impliziten) Inferenz wie (4) beruhen muss, in deren Prämisse enthalten ist, dass der Akteur ein S ist und dass er sich in einer Situation mit Merkmal M befindet. Praktische inferentielle Festlegungen – die in der Regel implizit sind – machen epistemisch zugängliche Aspekte einer Situation (Merkmal M) zu prima-
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facie-Gründen, die dafür sprechen, in der jeweiligen Situation eine Handlung (φ) auszuüben.10 Demnach enthält eine einzelne praktische Überlegung, die in einer konkreten Situation eine Handlung begründet, eine doppelte Subsumptionsleistung: Erstens identifiziert sich der Akteur selbst in bestimmter Weise (S), zweitens erkennt er die Situation als eine, die Merkmal M hat.11 Unsere Formulierung von praktischen inferentiellen Festlegungen erlaubt es uns nun, die drei Beispiele Brandoms genau parallel zu behandeln. In Fall (1) steht M für den Regen, S für Akteure mit dem Wunsch, trocken zu bleiben, und φ für das Öffnen des Regenschirms. In Fall (2) steht M für den Gang zur Arbeit, S für Akteure, die Bankangestellte sind, und φ für das Anlegen der Krawatte. In Fall (3) schließlich steht M für die Tatsache, dass das Weitererzählen des Gerüchtes jemandem sinnlos schadet, S für alle Subjekte, für die moralische Normen gelten, und φ dafür, das Gerücht nicht weiter zu erzählen. Ehe ich weitere Differenzierungen vornehme, die es erlauben werden, praktische inferentielle Festlegungen nach ihrem Geltungsbereich zu klassifizieren, führe ich eine Unterscheidung ein, die ich im Folgenden stets voraussetze. Diese Unterscheidung, die Brandom nicht explizit trifft, grenzt praktische inferentielle Festlegungen, die nötige Mittel oder Bestandteile für eine bereits geplante Handlung identifizieren, von allen anderen praktischen inferentiellen Festlegungen ab. Praktische inferentielle Festlegungen der ersten Art nenne ich technisch. Für sie ist charakteristisch, dass die Beschreibung des Akteurs (S) eine Handlungsabsicht beinhaltet, zu deren Umsetzung die in der praktischen inferentiellen Festlegung genannte weitere Handlung φ beiträgt – sei es als Mittel zu einem Zweck, sei es als Teil zu einem Ganzen.12 Von technischen Schlüssen und entsprechenden Festlegungen sind insbesondere diejenigen Schlüsse und Festlegungen unterschieden, die wir als „evaluativ“ bezeichnet haben und die durch das obige Beispiel (1) exemplifiziert werden. Für diese Schlüsse ist es charakteristisch, dass sie durch
10 Praktische inferentiellen Festlegungen in diesem Sinn ähneln allgemeinen Intentionen („personal policies“), wie sie Bratman (1987), 87 ff. beschreibt (z. B. die Intention, sich immer anzuschnallen, wenn man ein Auto fährt). Der Begriff der „praktischen inferentiellen Festlegung“ ist aber allgemeiner gefasst als der der „personal policy“: Man kann praktische inferentielle Festlegungen auch dann haben, wenn man die relevante Subjektsbeschreibung S nicht (oder nicht immer) auf sich selbst anwendet. Deshalb ist eine praktische inferentielle Festlegung auch nicht per se schon eine Intention; sie impliziert aber eine Bereitschaft, unter gewissen Umständen bestimmte (allgemeine oder spezifische) Intentionen zu bilden. 11 Dabei besteht nicht notwendig eine eindeutige Zuordnung von situativem Merkmal und entsprechender Handlung. So kann die Tatsache, dass er zur Arbeit geht, für den Bankangestellten sowohl dafür ein Grund sein, eine Krawatte anzulegen, als auch dafür, sich zu rasieren. 12 Zu der Art praktischer Überlegung, die auf solchen Schlüssen basiert, vgl. Bratman (1987), 16 f. und Kap. 3.
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einen Wunsch oder eine andere pro-Einstellung, nicht durch eine bereits beschlossene Absicht, begründet sind – z. B. in Beispiel (1) durch den Wunsch, trocken zu bleiben.13 Wir erhalten somit eine Vierteilung von moralischen, normativen, evaluativen und technischen Schlüssen. Technische Schlüsse stehen dabei insofern auf einer anderen Ebene als die ersten drei genannten Arten, weil es in den ersten drei Arten um die Frage geht, wie Handlungsabsichten überhaupt zustande kommen, während technische Schlüsse dazu dienen, einmal – gleich aus welchem Grund – gefasste Handlungsabsichten zu realisieren. Im Folgenden beziehe ich mich, soweit nicht anders angegeben, mit der Rede von praktischen inferentiellen Festlegungen und anderen Strukturen praktischen Schließens stets auf nicht-technische Inferenzmuster. Eine weitere Präzisierung des Modells besteht nun darin, dass wir auf der Grundlage einzelner praktischer inferentieller Festlegungen Verallgemeinerungen formulieren können, indem wir jeweils S festhalten und M und φ variieren. Im Fall von evaluativen und technischen Schlüssen ist S als ein Subjekt mit einer bestimmten pro-Einstellung (evaluatives Schließen) bzw. einer bestimmten Absicht (technisches Schließen) definiert. Aus einer idealisierten Verallgemeinerung der genannten Art geht dann hervor, für welche Handlungsweisen der jeweilige Wunsch oder die jeweilige Absicht einen Grund bietet. Für normatives Schließen dagegen drückt die Verallgemeinerung aus, welche Handlungsanweisungen aus einer bestimmten sozialen Rolle folgen. Für moralische Überlegung folgt schließlich aus einer derartigen Verallgemeinerung moralisch-praktisches Wissen darüber, zu welchen spezifischen Verpflichtungen, Verboten usw. uns unser Status als Adressat moralischer Normen Anlass gibt. Ab einem gewissen Grad der Variation von M und φ (wenn z. B. Situationsmerkmale und Handlungstypen betrachtet werden, die für gewöhnliche Akteure vom jeweiligen Typ S völlig unrealistisch sind) übersteigt diese Verallgemeinerung den Bereich, innerhalb dessen wir tatsächlich praktische inferentielle Festlegungen haben. Innerhalb vernünftiger Grenzen ist aber eine – an paradigmatischen Situationsmerkmalen und Handlungsweisen orientierte – Verallgemeinerung dieser Art geeignet, die Struktur desjenigen praktischen Wissens darzustellen, das uns erlaubt, unspezifische Wünsche, Ziele, institutionelle Rollen etc. konkret zu realisieren. Ich nenne diese Verallgemeinerungen, in denen jeweils S festgehalten wird und für die anderen Variablen andere Werte eingesetzt werden, verallgemeinerte praktische inferentiel-
13 Brandom selbst differenziert nicht zwischen technischen und evaluativen Schlüssen, sondern fasst beide unter dem Titel „instrumentelle Schlüsse“ zusammen. Die Motivation für meine Differenzierung wird im Folgenden deutlicher werden.
8.2 Praktische Identitäten und die Allgemeinheit des Willens
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le Festlegungen. Verallgemeinerte praktische inferentielle Festlegungen sind nach der jeweiligen Subjektsbeschreibung individuiert, die in einem Index angegeben werden kann („VPIF(S)“). So lautet eine halb-formale Ausdrucksweise für verallgemeinerte praktische inferentielle Festlegungen: (VPIF(S)) Wenn sich ein Akteur, der ein S ist, in einer Situation mit Merkmal ___ befindet, dann ist es für ihn ceteris paribus richtig, im Lichte dieser Faktoren zu ___ en. In einer konkreten verallgemeinerten praktischen inferentiellen Festlegung steht dabei für S die jeweilige Subjektsbeschreibung. Wenn wir nun vorerst moralische Überlegungen ausklammern und nur evaluative und technische Überlegung einerseits und normative Überlegung andererseits vergleichen, scheinen sich diese insofern wesentlich zu unterscheiden, als dem evaluativen und technischen Schluss eine sehr partikuläre Selbstbeschreibung des Akteurs zugrunde liegt – im Beispiel (3) als jemand, der wünscht, trocken zu bleiben. Partikulär ist diese Selbstbeschreibung aus mindestens zwei Gründen. Erstens zielt sie nur auf einen bestimmten Handlungstyp – auf Handlungen, die dazu dienen, trocken zu bleiben. Zweitens gibt es nicht so etwas wie den sozialen Status von jemandem, der trocken bleiben möchte. Der Wunsch, im Regen trocken zu bleiben, liefert kein Selbstverständnis als Mitglied einer Gruppe, deren Angehörige „wir“ zu sich sagen könnten. Beides verhält sich im Falle des Bankangestellten wesentlich anders. Er gehört tatsächlich einer Gruppe an, und diese Zugehörigkeit gibt ihm zugleich auch Gründe für Handlungen ganz unterschiedlicher Handlungstypen. Das Modell, das ich in diesem Abschnitt entwickle, geht nun davon aus, dass dieser Unterschied nur gradueller, nicht kategorischer Art ist, so dass ein Spektrum verschiedener Grade von praktischer Allgemeinheit resultiert. Um diese Idee zu konkretisieren, führe ich eine weitere begriffliche Ressource ein, nämlich den Begriff der praktischen Identität, wie Korsgaard ihn bestimmt hat.14 Eine praktische Identität ist für Korsgaard eine Beschreibung, unter der man sich selbst wertschätzt. Beispiele für Prädikate, die in solchen Beschreibungen auftreten, sind: ein Mensch sein, eine Frau oder ein Mann sein, einer religiösen oder ethnischen Gruppe angehören, jemands Freund sein. Dass man sich unter der jeweiligen Beschreibung wertschätzt, bedeutet, dass sie eine Quelle von Gründen ist. Manche solcher Identitäten kommen uns kontingenterweise zu und hängen davon ab, wo und wann wir geboren sind, was für einen Körper wir haben u. ä; andere wählen wir selbst. Stets hängt es jedoch von uns ab, so Korsgaard, ob wir ein bestimmtes Selbstverständnis in seiner Rolle als Quelle von Gründen akzep-
14 Zum Folgenden vgl. Korsgaard (2009), 17–26 und oben Abschnitt 2.6.3.
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tieren oder nicht. Innerhalb unserer praktischen Identitäten unterscheidet Korsgaard ferner zwischen einer grundlegenden Identität, die jeder Deliberation und allem rationalen Handeln zu Grund liegt, und partielleren Identitäten. Die grundlegende Identität entspricht dabei der universalen rationalen Selbstidentität, auf Grund derer wir uns als Vernunftwesen verstehen (vgl. 6.2). Praktische Identitäten im Sinne Korsgaards können nun selbst als Subjektsbeschreibungen im Sinne der Konstante „S“ in praktischen inferentiellen Festlegungen verstanden werden: Sie legen fest, was in einer konkreten Situation als Grund wofür zählt. Ihnen entspricht daher jeweils eine verallgemeinerte praktische inferentielle Festlegung, die idealiter ausdrückt, in welchen konkreten Handlungsweisen sich die Identität äußert und äußern kann. In Bezug auf die bisher getroffenen Unterscheidungen von Schlussarten liegt es nahe, praktische Identitäten dem normativen, an bestimmte Institutionen gebundenen Schließen zuzuordnen. Tatsächlich fallen beide Phänomene aber nicht einfach zusammen. Das normative Schließen, in dem der relevante Geltungsbereich S durch einen normativen Status in einer sozialen Praxis definiert ist, setzt nicht voraus, dass S für die Akteurin eine Beschreibung ihrer selbst darstellt, unter der sie sich tatsächlich wertschätzt oder die sie als wesentlichen Teil ihrer selbst ansieht. Institutionale Verbindlichkeiten entstehen überall dort, wo Teilhabe an normativen Praktiken besteht. Diese Teilhabe kann für das Selbst ganz unwesentlich sein; wenn sich z. B. jemand an einem Spiel beteiligt, gelten für ihn dadurch bestimmte Normen und Zielsetzungen (das Spiel gewinnen), die ihm aber eigentlich ganz gleichgültig sein können (wenn er z. B. das Spiel nicht aus Freude spielt, sondern um anderen einen Gefallen zu tun). Umgekehrt sind praktische Identitäten nicht nur Quellen von normativen Verbindlichkeiten, sondern sie enthalten auch Einstellungen genuiner Wertschätzung. Die praktische Identität des Familienvaters kann beispielsweise nur haben, wer starke Werte15, Wünsche und Präferenzen hat, die nicht lediglich eine Frage sozialer Verbindlichkeiten sind. Tatsächlich sind derartige Werte oft so wirksam, dass sie als naturgegebene Faktoren angesehen werden. Während hier aber offensichtlich natürliche Anlagen notwendig sind (s. u.), gibt es ebenso Fälle, in denen sich Individuen von Rollen wie der des Familienvaters dissoziieren und entsprechend auch die damit verbundenen Werte und Wünsche nicht (mehr) haben. Praktische Identitäten sind demnach nicht einfach Werte, die wir von vornherein haben, sondern erfordern einen Prozess der Identifikation, der teils auf vorhandenen Werten und Präferenzen aufbaut, teils diese umformt und neue Wertschätzungen schafft.
15 Wenn ich hier und im Folgenden von „Werten“ rede, meine ich subjektive Wertschätzungen (valuings), nicht objektiv bestehende Werte.
8.2 Praktische Identitäten und die Allgemeinheit des Willens
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Wir können somit zwei verschiedene Aspekte praktischer Identitäten unterscheiden. Einerseits implizieren sie direkt die Geltung bestimmter Normen; so weisen sie die Struktur einer verallgemeinerten praktischen inferentiellen Festlegung auf, denn Normen geben gerade vor, dass es richtig ist, in Situationen eines bestimmten Typs bestimmte Handlungen oder Akte hervorzubringen. Andererseits enthalten sie Werte und Wünsche, die selbst die Struktur von verallgemeinerten praktischen inferentiellen Festlegungen haben. Dass diese an praktische Identitäten gebundenen Werte und Wünsche als eigene Ebene in dem Modell behandelt werden sollten, kann mit einer Version von Bernard Williams’ berühmtem „one thought too many“-Argument begründet werden (B. Williams (1981b), 18). Wenn ein Ehemann seine Ehefrau in einer Gefahrensituation rettet und als Grund für sein Handeln moralische Normen anführt, kann ihm die Frau zu Recht vorhalten, er hätte aus Liebe zu ihr, nicht aus Achtung für moralische Normen handeln müssen – so Williams’ Beispiel. Ein abgewandeltes Beispiel für unseren Fall wäre, dass ein Familienvater sein Kind aus einer Gefahr rettet. Wenn er dann als Grund für sein Handeln anführt, er habe die Verpflichtungen befolgt, die er als Familienvater hat, kann plausiblerweise kritisiert werden, dass „ein Gedanke zuviel“ vorliegt. Vielmehr sollte die Liebe des Vaters zu dem Kind seinen Handlungsgrund ausmachen. Diese Liebe wird aber durch die praktische Identität des Familienvaters rationalisiert. Wenn auf der Grundlage gegebener Einstellungen eine praktische Identität entwickelt wird und die an sie gebundenen weiteren Wertschätzungen und Verbindlichkeiten als ein kohärentes Ganzes übernommen werden, dann werden dadurch die natürlich oder psychologisch gegebenen Faktoren in eine rationale Struktur integriert. In dem abgewandelten Williams-Beispiel fungiert so die praktische Identität des Familienvaters zwar nicht als zusätzliche Rechtfertigung für die Liebe, die zunächst als Grund der Handlung angeführt wird (dies wäre wieder ein Gedanke zuviel); sie stellt aber den Rahmen dar, durch den diese Liebe mehr ist als eine bloße starke emotionale Gegebenheit. Diese rationalisierende Rolle praktischer Identitäten werde ich im nächsten Abschnitt genauer betrachten. Zunächst können wir festhalten, dass praktische Identitäten eine Instanz darstellen, die in unserem Modell eine Vermittlung zwischen normativen praktischen inferentiellen Festlegungen einerseits und zwischen partikulären, an bestimmte Wünsche geknüpften praktischen inferentiellen Festlegungen andererseits herzustellen erlauben. Die Verbindung beider Arten von praktischen inferentiellen Festlegungen können wir so ausdrücken, dass sie alle einer verallgemeinerten praktischen inferentiellen Festlegung angehören, in der der Geltungsbereich S einer praktischen Identität entspricht. Ihre Differenz können wir ausdrücken, indem wir zwei für die praktische Identität konstitutive Teilidentitäten unterscheiden: eine normative Identität und eine eva-
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luative Identität. Um die praktische Identität z. B. des Familienvaters in gelingender Weise auszuagieren, ist es sowohl nötig, die für Familienväter gültigen Normen zu befolgen, als auch, die für Familienväter nötigen Werte und Wünsche zu haben.16 Indem wir schließlich in Bezug auf eine Akteurin eine verallgemeinerte praktische inferentielle Festlegung erzeugen, in der für S eine Beschreibung steht, die für diese Akteurin selbst als praktische Identität fungiert, erhalten wir eine Klasse von praktischen inferentiellen Festlegungen, zu der sowohl Schlüsse des normativen Typus als auch Schlüsse des evaluativen Typus gehören. Die Gegenklasse zu diesen Schlüssen besteht in denjenigen normativen und evaluativen Schlüssen, die in Bezug auf die gegebene Akteurin nicht an eine Identität gebunden sind. Ein Beispiel für den (rein) normativen Fall hatten wir schon genannt: Die Gültigkeit der Normen eines Spiels, an dem sich jemand beteiligt, um anderen einen Gefallen zu tun. Ein Beispiel für evaluative Kontexte sind episodische Wünsche, die nicht zur Konstitution praktischer Identitäten beitragen. Wir können inferentielle Festlegungen dieser nicht von einer praktischen Identität abhängigen oder an ihr beteiligten Art als akzidentell bezeichnen; im Gegensatz zu den Festlegungen, die mit einer praktischen Identität verbunden sind und die daher vom Subjekt als wesentlich für sein eigenes Selbstsein angesehen werden, sind sie unwesentlich und nebensächlich. Wir haben damit die nötigen begrifflichen Ressourcen eingeführt, um eine vollständige Klassifikation aller praktischen inferentiellen Festlegungen eines Akteurs zu erstellen, die ihn insofern direkt betreffen, als er sich selbst unter der in ihnen auftretenden Subjektsbeschreibung S sieht.17 In dieser vollständigen Klassifikation, die 16 Dabei ist auch zu beachten, dass der Besitz praktischer Identitäten nicht Sache eines Entweder/Oder ist; Identitäten müssen ständig im konkreten Handeln erst hervorgebracht werden. Die beiden unterschiedenen Teilidentitäten haben dabei selbst einen normativen Status: Sie geben die Ausrichtung derjenigen Aktivität vor, in der der Besitz der jeweiligen Identität besteht. Der genaue normative Status ist dabei kontextabhängig. Wenn z. B. die praktische Identität die eines Tierliebhabers ist und das Subjekt aufhört, sich für Tiere und ihr Wohl zu interessieren, dann bricht damit die praktische Identität ganz zusammen. Wenn ein Ehepartner aufhört, den anderen Partner zu lieben, bleibt die praktische Identität des Ehepartners, und damit auch die normative Vorgabe, die evaluative Identität des liebenden Ehepartners zu haben, dennoch bestehen; die faktische Realisierung der Identität des Ehepartners wird auch an dieser Teilidentität gemessen und muss daher in diesem Fall zwangsläufig als misslungen gelten. 17 Dass wir uns im Folgenden auf diese Teilmenge aller praktischen inferentiellen Festlegungen beziehen, bedeutet nicht, dass nicht auch diejenigen praktischen inferentiellen Festlegungen, in denen die Beschreibungen S nicht auf den Akteur zutreffen, eine wichtige Rolle in dessen praktischem Wissen spielen. Sie sind sowohl für Situationen wesentlich, in denen ein Akteur das Verhalten anderer Subjekte bewertet und beurteilt, als auch in Situationen, in denen ein Akteur selbst neue pro-Einstellungen, Absichten, Identitäten usw. annimmt.
8.2 Praktische Identitäten und die Allgemeinheit des Willens
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die Grundlage für unsere weiteren Überlegungen im nächsten Abschnitt bildet, müssen auch die technischen Schlüsse vorkommen, die wir oben von den anderen Formen abgegrenzt hatten; in technischen PIFs umfasst S eine Handlungsabsicht, φ gibt ein Mittel oder einen Bestandteil an, um diese Handlung auszuführen. Moralische Überlegungen können wir in dieser Klassifikation den identitätsabhängigen praktischen inferentiellen Festlegungen zuordnen, wenn wir davon ausgehen, dass unsere Identität als Vernunftwesen unbedingte bzw. universal gültige evaluative und normative moralische Implikationen mit sich bringt und deshalb den anderen, partiellen Identitäten zugrunde liegt18 (wir können hier von einer „moralischen“ Identität sprechen, die wir kraft unserer rationalen Grundidentität besitzen). In Bezug auf moralische praktische inferentielle Festlegungen kann zumindest im Prinzip gleichfalls zwischen normativen und evaluativen praktischen inferentiellen Festlegungen unterschieden werden; in praktischen inferentiellen Festlegungen, die moralisch und evaluativ sind, fungiert das Subjekt als Träger bestimmter moralischer Wertschätzungen, etwa bei Kant der Achtung vor dem Sittengesetz; in praktischen inferentiellen Festlegungen, die moralisch und normativ sind, fungiert das Subjekt als durch moralische Normen gebunden.19 – Tabelle 2 stellt die vollständige Klassifikation von PIFs in Bezug auf einen einzelnen Akteur dar.
18 Dies bestreitet auch Hegel trotz seiner Moralitäts-Kritik keineswegs: vgl. z. B. VPhG 12/48 ff. 19 Die genaue Bestimmung des Verhältnisses beider Seiten hängt freilich von der jeweiligen ethischen Theorie ab; hier geht es uns zunächst nur darum, eine möglichst allgemeingültige Einteilung zu gewinnen. Dasselbe gilt für eventuelle nicht-moralische universale praktische inferentielle Festlegungen. Beispiele hierfür wären einerseits universale praktische Regeln von nicht-moralischer Natur, etwa die Klugheitsregel, nach der, wer einen Zweck will, auch die Mittel zu dem Zweck will; und andererseits universale praktische Werte und Wünsche nicht-moralischer Art, wie etwa, innerhalb von Kants Moralphilosophie, das Glück. Auch hier hängt die genaue Bestimmung einzelner Kandidaten von der jeweiligen ethischen Theorie ab.
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8 Praktische Freiheit
Tabelle 2: Klassifikation von praktischen inferentiellen Festlegungen (PIFs) gemäß der Formulierung: „(PIF) Wenn sich ein Akteur, der ein S ist, in einer Situation mit Merkmal M befindet, dann ist es für ihn ceteris paribus richtig, im Lichte dieser Faktoren zu φen“. Zusammenhang mit praktischer Identität?
Unbeschränkter Skopus (S = universaler Skopus)
Normativ
Evaluativ
Moralische PIFs (S=rationale Grundidentität; Geltungsgrund: moralische Normen); weitere universale PIFs (z. B. formale Regeln praktischer Überlegung)
Moralische PIFs (S=rationale Grundidentität; Geltungsgrund: moralische Werte); weitere universale PIFs (universale nichtmoralische Werte; z. B. Eigeninteresse, Glück)
PIFs mit S = praktische Identität des Akteurs; Geltungsgrund: Norm, die aus der Identität folgt
PIFs mit S = praktische Identität des Akteurs; Geltungsgrund: pro-Einstellung, die konstitutiv für die Identität ist
Identitätsabhängig
Beschränkter Skopus (S ≠ universaler Skopus)
Akzidentelle PIFs; Nicht Geltungsgrund: Norm identitätsabhängig
Akzidentelle PIFs; Geltungsgrund: pro-Einstellung
Technisch
Mit Hilfe dieses Modells können wir nun – je nach Bestimmung von S – Unterschiede in der Art der rationalen Geltung praktischer Festlegungen sowohl in intersubjektiver als auch in intrasubjektiver Hinsicht formulieren. In intersubjektiver Hinsicht besteht hier zum einen hinsichtlich der Quantität des Geltungsbereiches ein wesentlicher Unterschied zwischen inferentiellen Festlegungen mit universalem und solchen mit beschränktem Skopus; zum anderen ist hinsichtlich der Qualität der Geltung zwischen praktischen inferentiellen Festlegungen, in denen eine Akteurin als Subjekt im Geltungsbereich von Normen beschrieben wird, und solchen Festlegungen, in denen sie als Subjekt bestimmter pro-Einstellungen (Wünsche, Werte…) beschrieben wird, zu unterscheiden. In intrasubjektiver Hinsicht besteht ein Unterschied zwischen solchen Festlegungen, in denen die Beschreibung des Subjekts in S eine praktische Identität der Akteurin trifft, und solchen Festlegungen, in denen dies nicht der Fall ist. Diesen Unterschied haben wir informell so beschrieben, dass das Subjekt die identitätsabhängigen Festlegungen als wesentlich für sich selbst ansieht; die
8.2 Praktische Identitäten und die Allgemeinheit des Willens
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nicht identitätsabhängigen Festlegungen hingegen sind nur akzidentell für das Subjekt. Hieraus ergibt sich eine Abstufung unterschiedlicher Grade von Partikularität in Bezug auf die praktischen inferentiellen Festlegungen eines Subjekts. Der Ausgangspunkt ist dabei die Ebene universaler, insbesondere moralischer Festlegungen. Diese müssen als solche nach der hier vertretenen Position auch an einer Identität beteiligt sein – nämlich an der Grundidentität rationaler Wesen. Wer sich von der Geltung jener universalen Festlegungen für sich selbst ganz dissoziiert – also nicht nur in einen Konflikt mit ihnen gerät, sondern sie gar nicht mehr anerkennt –, ist demnach von seiner eigenen rationalen Natur entfremdet, die nach der hier verfolgten Theorie konstitutiv für sein Selbstsein ist. Im Ausgang von der rationalen Grundidentität und den mit ihr verbundenen universalen Normen findet nun in dem vorgeschlagenen Modell eine Partikularisierung in zwei verschiedenen Dimensionen statt.20 Die erste Dimension betrifft die intersubjektive Geltung. Dabei können innerhalb der Festlegungen mit eingeschränkter intersubjektiver Geltung selbst weitere Grade von intersubjektiver Geltung unterschieden werden. Es gibt Festlegungen, die bei sehr vielen Subjekten identitätsabhängig sind und insofern eine stärkere Geltung haben als andere Festlegungen, die nur bei manchen Subjekten identitätsabhängig sind. Festlegungen mit der stärkeren Geltung wären etwa familiäre Rollen und Bürgerschaft in einem Staat; Festlegungen mit schwächerer Geltung sind z. B. einzelne Neigungen, die rein vom Individuum abhängen. Dabei handelt es sich freilich um eine zunächst nur faktisch quantitativ eingeschränkte Form der identitätsabhängigen Geltung, doch werde ich im nächsten Abschnitt dafür argumentieren, dass dieser faktische Sachverhalt als Ausdruck unterschiedlicher Arten normativer Geltung zu deuten ist. – Die zweite Dimension der graduell zunehmenden Partikularisierung betrifft die intrasubjektive Geltung der jeweiligen Festlegungen. Während hier identitätsabhängige Festlegungen tendenziell einen starken Geltungsgrad aufweisen, ist die Kraft der Verbindlichkeit und Wirksamkeit von akzidentellen Festlegungen tendenziell schwächer. Freilich können solche Festlegungen eine sehr starke episodische Wirksamkeit aufweisen – z. B. in Fällen von plötzlichen unwiderstehlichen Bedürfnissen. In einer längerfristigen Perspektive ist aber innerhalb eines vernünftigen, nicht entfremdeten Systems von praktischen Festlegungen die Geltung derartiger praktischer inferentieller Festlegungen stark eingeschränkt. – In den folgenden beiden Abschnitten werde ich
20 Wie schon in den vorangegangenen Überlegungen klammere ich im Folgenden technische Festlegungen im oben angegebenen Sinn aus. Diese betreffen nur die Durchführung von Handlungen und sind deshalb unabhängig von der hier relevanten Abstufung.
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8 Praktische Freiheit
auf der Grundlage dieses Modells praktischer inferentieller Festlegungen und praktischer Identitäten die Rolle des Denkens und der Allgemeinheit und Notwendigkeit des Begriffs im Kontext von Hegels Theorie praktischer Freiheit rekonstruieren.
8.3 Notwendigkeit und Kontingenz im Praktischen Ich habe bereits in Abschnitt 8.1 drei Ansätze zur Deutung des Denkens und der logischen Form des Begriffs im Kontext von Hegels Theorie praktischer Freiheit betrachtet und kritisiert. In diesem Abschnitt führe ich einen alternativen Ansatz ein, der auf dem im vorigen Abschnitt entwickelten Modell praktischer inferentieller Festlegungen beruht. Dabei betrachte ich zunächst einzelne Deliberationssituationen als Modellfall, um zu verstehen, wie die kognitive Funktion der logischen Form des Begriffs im praktischen Bereich wirksam wird. Anschließend übertrage ich das so gewonnene Bild auf die Frage danach, wie die ganze Willensstruktur des Akteurs eine vernünftige Gestalt erhalten kann. So werden wir zugleich sehen, wie die Grundzüge rationaler Transformation, die wir in Abschnitt 6.3 betrachtet haben, mit Hegel im praktischen Bereich konkretisiert werden können. Wir setzen zunächst wieder bei dem Beispiel des Raubüberfalls aus Abschnitt 8.1 an. Der bedrohte Bankangestellte hat dabei eine epistemische und eine praktische Perspektive auf das Geschehen. Die praktische Einstellung ist nicht auf das Verstehen von objektiv Gültigem gerichtet, sondern darauf, wie der Träger der Einstellung am besten handeln soll, wie er sein zunächst nur abstraktes vernünftiges Selbstsein realisieren soll. Trotz dieses Perspektivenunterschieds kann aber in beiden Zusammenhängen dieselbe Art von Allgemeinheit und Notwendigkeit identifiziert werden, nämlich die des Begriffs. Wir haben in Abschnitt 4.6 die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Begriffs u. a. als die logische Struktur gedeutet, die in Bezug auf Prozesse der Realisierung begrifflicher Gehalte intrinsische Bewertungen ermöglicht. Wenn wir nun speziell die Realisierung begrifflicher Gehalte durch intentionales Handeln betrachten, können wir die Unterscheidung von epistemischer und praktischer Perspektive so reformulieren, dass es sich um den Unterschied zwischen einer deliberativen und einer explanatorischen Perspektive handelt, die beide in Bezug auf denselben Prozess auftreten und deshalb beide durch dieselbe logische Struktur, die teleologische Allgemeinheit und Notwendigkeit des Begriffs, gekennzeichnet sind. Aus der Perspektive der Akteurin stellen sich nämlich im Laufe der Ausführung ihrer Absicht oder ihres Plans deliberative Fragen, also Fragen danach, wie an einer bestimmten Stelle des Handlungsprozesses am besten gehandelt werden soll – z. B. wo sich
8.3 Notwendigkeit und Kontingenz im Praktischen
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genau die Tür eines Hauses befinden soll, das gerade gebaut wird. Wir haben bereits mehrere Möglichkeiten unterschieden, solche Fragen zu beantworten: Teilweise folgt direkt aus dem Handlungsziel eine Antwort, nämlich entweder analytisch oder im Sinne eines Minimalkriteriums (vgl. 4.6.2); teilweise erweist sich auf Grund von weiteren Umständen eine Option als die bestmögliche, und teilweise müssen wir zwischen mehreren gleichguten Optionen wählen. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten haben wir in Abschnitt 7.4.2 unterschieden, um zu verstehen, in welchem Sinne wir die Inhalte unserer Anschauung und Vorstellung im Denken als notwendig begreifen können. Die entsprechenden Arten von Eigenschaften – absolut differente, relativ differente und relativ indifferente sowie zusätzlich absolut indifferente Eigenschaften (bezüglich derer wir keine deliberativen Fragen stellen, sondern die sich zufällig ergeben) – sind jeweils auf der Grundlage des übergeordneten begrifflichen Gehalts (der Intention usw.) in unterschiedlichem Sinne notwendig. Die verschiedenen Weisen, deliberative Fragen im Laufe des Handlungsprozesses zu beantworten, stellen nun offensichtlich lediglich die Kehrseite dieser verschiedenen Grade von Notwendigkeit dar. Während diese Notwendigkeit aus der explanatorischen Perspektive in Gestalt von Erklärungen einzelner Aspekte der Handlung explizit gemacht wird, stellt sie sich aus der deliberativen Sicht der Akteurin in anderer Weise dar: nämlich so, dass bestimmte Optionen für sie (in jeweils verschiedenem Maß) geboten sind. Beide Perspektiven sind unmittelbar miteinander verbunden: Die Erklärungen für einzelne Eigenschaften des Prozesses (oder des resultierenden Gegenstandes), die ex post oder aus einer Beobachterperspektive gegeben werden können, spiegeln die Arten von Entscheidungen wieder, die im Laufe des Prozesses aus der akteursinternen deliberativen Perspektive getroffen werden oder wurden. Entsprechend kommen auch in beiden Perspektiven dieselben evaluativen Kriterien zum Tragen. Wir hatten schon gesehen, wie in Strukturen der teleologischen Begriffsrealisierung klassifikatorischer und evaluativer Begriffsgebrauch unmittelbar miteinander zusammenhängen und beide zudem eine wesentliche explanatorische Dimension haben (vgl. 4.6.2). Entsprechend muss eine intrinsische Bewertung einer Handlung diese (und ihre einzelnen Aspekte) an dem immanenten Maßstab messen, der zugleich die Grundlage für die Erklärung der konkreten Handlung innerhalb der explanatorischen Perspektive bildet. Wenn der zu realisierende begriffliche Gehalt G eine bestimmte Eigenschaft E nötig macht (z. B.: wenn man ein Haus in kälteren Gegenden baut, muss man die Wände isolieren), dann liegt ein und dieselbe Beziehung (hier zwischen dem Haus in der kälteren Gegend und der Isolierung) den folgenden drei Gesichtspunkten zugrunde: (a) der Entscheidung, im Prozess der Realisierung von G E zu realisieren (deliberative Perspektive),
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8 Praktische Freiheit
(b) der Erklärung von E als notwendiger Bedingung der Realität von G (explanatorische Perspektive) sowie (c) der Bewertung von G als (in dieser Hinsicht) mehr oder weniger gelungen (evaluative Perspektive). Somit ist die deliberative Frage nach dem, was im Rahmen der Realisierung eines begrifflichen Gehaltes geboten ist, lediglich eine weitere Erscheinungsweise der Struktur, durch die wir etwas als notwendig erkennen können. Die normative Funktion der Notwendigkeit des Begriffs, durch die in deliberativer Hinsicht relevante Fragen entscheidbar sind, und die kognitive Funktion des Begriffs als paradigmatischer Form der Verständlichkeit sind mithin zwei Seiten derselben Medaille. Wir können also der Rolle des Begriffs als logischer Form der Intelligibilität auch im Praktischen Rechnung tragen, ohne eine Position wie die Vellemans zu vertreten, nach der es im Praktischen nur um das Verstehen geht. Die somit beschriebene Struktur müssen wir nun aber vom Beispiel der Handlung auf die gesamte Struktur eines rationalen Selbst übertragen. Skizzenhaft können wir diese Übertragung folgendermaßen darstellen. Wir gehen aus von der rationalen Grundidentität sowie der moralischen Identität, die uns als deren Trägern zukommt; diese Grundidentität muss zwar selbst erst in einem Prozess der Identifizierung geschaffen und aufrechterhalten werden, doch hat sie als notwendige Voraussetzung konkreter rationaler Persistenz zugleich eine logische Priorität inne. Die rationale Grundidentität gibt dem Selbst einen immanenten Bewertungsmaßstab vor, nämlich den, diese seine Grundidentität in seiner konkreten Existenz möglichst gut zu verwirklichen. Während dadurch aber für manche, moralisch einfach bewertbaren Fälle tatsächlich festgelegt ist, was für das Selbst als solches konkret geboten und somit notwendig ist, hilft ihm diese Grundidentität in den meisten Fällen nicht weiter. Ausschlaggebend für sein Handeln sind hier vielmehr kontingente Gegebenheiten wie Bedürfnisse, Wünsche usw. Hegel rechnet diese Einstellungen zum „natürlichen Willen“ (vgl. GPhR § 11, 7/62). Sie sind insofern natürlich, als sie noch keine rationale Ordnung und Struktur aufweisen; sie stehen für jeweils isolierte praktische inferentielle Festlegungen des akzidentellen Typs (s. 8.2), die das Subjekt in sich vorfindet. Als natürliche Seite des Subjekts bilden diese – neben der äußeren natürlichen Welt – einen wichtigen Teil des Mediums, innerhalb dessen der immanente Maßstab der rationalen Grundidentität zu realisieren ist und das diesem gegenüber gleichgültig ist (vgl. Enz. § 483, 10/303).21 Insofern daher das Handeln des Subjekts durch 21 Freilich muss für Hegel der natürliche Wille seinerseits eine organische Realisierung, und diese eine anorganische Realisierung haben, so dass die Deutung des natürlichen Willens als „Material“ der These, für Hegel sei das gleichgültige Medium der Begriffsrealisierung die anorganische Natur, nicht widerspricht.
8.3 Notwendigkeit und Kontingenz im Praktischen
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solche Faktoren in der Weise, wie sie unmittelbar gegeben sind, bestimmt ist, ist das Subjekt von sich entfremdet (vgl. 2.2). Zwar liefern die gegebenen pro-Einstellungen jeweils Handlungsgründe22, doch zwischen der Selbstbeschreibung des Subjekts als Träger der Grundidentität einerseits und als Träger jener pro-Einstellungen andererseits besteht keinerlei Zusammenhang, so dass diese Gründe noch nicht wirklich die eigenen Gründe des Subjekts sind. Umgekehrt ist auch die reale Wirksamkeit der rationalen Grundidentität für das Handeln des Individuums in diesem Fall noch sehr eingeschränkt, weil sie nur in moralisch relevanten Fragen zum Tragen kommt. Es ist also ein Prozess nötig, der zum einen die durch die rationale Grundidentität gegebene Notwendigkeit weiter ausdehnt und an den Bereich des Kontingenten annähert, zum anderen das Kontingente selbst dem Subjekt zu eigen macht. Letzteres erfordert aber gerade, dass die kontingenten in notwendige Faktoren verwandelt werden, also in Größen, die dem Subjekt in der Frage, wie es sich selbst als rationales Wesen am besten realisiert, bestimmte Optionen gebieten. Wie im Falle der rekonstruierenden Tätigkeit des epistemischen Denkens (vgl. 7.4) ist auch hier ein Eliminieren der logischen Form von Natur nötig, die die kontingent gegebenen subjektiven Einstellungen zunächst bestimmt. Parallel zum epistemischen Fall muss hierdurch insbesondere das Ausmaß, in dem diese Einstellungen durch Gründe unterbestimmt sind, reduziert werden. Doch während das epistemische Denken in seinem kritisch-rekonstruktiven Bezug auf Anschauung und Vorstellung nur notwendige Zusammenhänge offenlegt, die bereits in der Sache wirksam sind, genügt es im Falle des praktischen Selbst nicht, die einzelnen gegebenen pro-Einstellungen nur in einem anderen Licht zu sehen. Stattdessen muss das Subjekt hier, anders als im epistemischen Bereich, selbst die notwendigen Zusammenhänge erst hervorbringen und durch Transformation seiner eigenen natürlichen Seite, der gegebenen pro-Einstellungen, Gründe schaffen, deren eigene Notwendigkeit in einem rationalen Zusammenhang mit der abstrakten Notwendigkeit der rationalen Grundidentität steht, diese somit konkretisiert. Hier kommt nun der Begriff der praktischen Identität zum Tragen, wie wir ihn im vorigen Abschnitt eingeführt haben. Wir haben dort schon gesehen, dass praktische Identitäten eine Mittelstellung zwischen universal gültigen prakti-
22 Dass diese Faktoren in ihrer natürlichen Form überhaupt als Grund fungieren können, bedarf ebenfalls der Erklärung. Hegel bietet Ansätze zu einer solchen Erklärung mittels der Kategorien „Begierde“ (Enz. §§ 426 ff., 10/215 ff.), „praktisches Gefühl“ (Enz. §§ 471 f., 10/290 ff.) und „Triebe“ (Enz. § 473, 10/295) (vgl. auch PhG 3/137 ff.). Eine Interpretation dieser Ansätze, die Hegel – besonders in der PhG – sehr unklar darstellt, würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen; vgl. dazu aber Brandom (2007).
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schen inferentiellen Festlegungen einerseits und rein akzidentellen Festlegungen andererseits innehaben können – zum einen, weil sie auf Grund ihres Geltungsstatus eine mittlere Position zwischen beiden Extremen einnehmen, zum anderen, weil an sie selbst bestimmte partikuläre evaluative und normative Selbstbeschreibungen geknüpft sind und solche Identitäten entsprechend einen konkreten Gehalt an Verbindlichkeiten und pro-Einstellungen enthalten. Praktische Identitäten können nun für die Erklärung des Prozesses, in dem die erforderliche Notwendigkeit gestiftet wird, selbst in zweierlei Weise eine Rolle spielen. Ihre erste Funktion besteht darin, dass sie innerhalb eines bestimmten Bereichs von pro-Einstellungen und potentiellen normativen Verbindlichkeiten eine organisierende Einheit schaffen.23 Diese Einheit kommt in denjenigen praktischen inferentiellen Festlegungen zum Ausdruck, die an die jeweilige Identität geknüpft sind: Ihnen gewähren wir gegenüber anderen konkurrierenden Festlegungen, die in derselben Situation angewandt werden können, aber an keine praktische Identität gebunden sind, einen Vorrang. Die rationalen Beziehungen zwischen der praktischen Identität und den einzelnen mit ihr verbundenen praktischen inferentiellen Festlegungen sind dabei wiederum ein Fall der Beziehung zwischen einem immanenten Bewertungsmaßstab und seiner Realisierung. Die zweite Funktion von praktischen Identitäten beruht darauf, dass sie selbst rational sein müssen, damit das Subjekt in der Orientierung an ihnen seine rationale Grundidentität realisieren kann. Diese Rationalität praktischer Identitäten hat zwei Aspekte, die sichtbar werden, wenn wir zwei mögliche Gefährdungen für sie betrachten. – Erstens kann die Rationalität praktischer Identitäten durch das gegenseitige Verhältnis der Identitäten eines Subjekts gefährdet werden. Diese können nämlich miteinander konfligieren, so dass das Subjekt einen Ausgleich zwischen ihnen herstellen muss. Hierfür kann eine ad-hoc-Lösung ausreichen („jetzt gehe ich Identität A nach, später Identität B“), es kann aber auch eine dauerhafte Hierarchisierung nötig sein; in Fällen tiefgreifenderer Konflikte kann eine Identität es nötig machen, dass wir uns von einer anderen lossagen. Im
23 Praktische Identitäten sind nicht die einzigen Ordnungsfunktionen, die eine solche einheitsstiftende Leistung in Bezug auf unser volitionales System erbringen. Insbesondere kann auch Plänen und Projekten zumindest in Bezug auf die intrasubjektive Struktur von Willensinhalten eine derartige Funktion zugeschrieben werden (vgl. dazu oben 2.2; ferner Bratman (1987), insbesondere Kap. 3, Bratman (2007b), sowie Quante (2011), Kap. 10, über Elemente einer Handlungsplantheorie bei Hegel). Allerdings stellt sich in Bezug auf konkrete Pläne abermals die Frage, wie sie mit der rationalen Grundidentität zusammenhängen. (Das gilt auch für Bratmans „self-governing policies“, d. h. die zweitstufigen Pläne, die ein Akteur in Bezug auf seine Wünsche hat und die nach Bratman wesentlich zur zeitlichen Identität des Akteurs beitragen: Bratman (2007b), 32 ff. – Vgl. dazu auch Bratmans Abgrenzung seiner Position von der Korsgaards: Bratman (2007b), 41 f.).
8.3 Notwendigkeit und Kontingenz im Praktischen
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Prozess derartiger Anpassungen muss das Subjekt eine vernünftige Einheit unter seinen Identitäten schaffen, um nicht ein in sich gespaltenes Selbst zu sein; damit stellt sich aber wieder die Frage, auf welcher Grundlage jener Anpassungsprozess erfolgen kann. Zweitens tritt in Bezug auf praktische Identitäten genauso wie auf der untergeordneten Ebene einzelner pro-Einstellungen und inferentieller Festlegungen die Schwierigkeit auf, dass eine deduktive Herleitung aus einem übergeordneten Prinzip nicht möglich ist. Zum einen ist nämlich die Annahme einzelner praktischer Identitäten untrennbar an kontingente Gegebenheiten subjektiver wie situativer Art gebunden: Die Identität als BürgerIn in einem Staat hängt in der Regel davon ab, wo jemand geboren ist; zahlreiche Rollenbestimmungen hängen mit dem biologischen Geschlecht zusammen, mit dem jemand geboren ist; ob und mit wem jemand eine Partnerschaft oder Ehe eingeht, hängt von zufälligen Begegnungen und emotionalen Gegebenheiten ab; etc. Zum anderen können auch hier in Kontexten wie Berufswahl, Partnerwahl u. ä. dezisionistische Entscheidungen nötig sein, die nicht durch ausreichende Gründe gestützt sind. Gegen diese Gefahr von Willkür und Zufall können praktische Identitäten nur dadurch geschützt sein, dass sie für sich genommen vernünftig sind. Eine solche Vernünftigkeit können sie aber nur daraus beziehen, dass sie selbst in einem notwendigen Zusammenhang zur Realisierung des rationalen Selbst stehen, obwohl sie an zahlreiche kontingente Gegebenheiten und dezisionistische Entscheidungen gebunden sind. Unsere praktischen Identitäten müssen also einzeln für sich genommen vernünftig sein, und sie müssen gemeinsam eine vernünftige und harmonische Ordnung bilden. Wie aber kann diejenige Transformation von Kontingenz in Notwendigkeit verstanden werden, die hierfür erforderlich ist? Für einen ersten relevanten Punkt können wir uns auf Korsgaards Theorie praktischer Identitäten stützen: Die Tatsache, dass unsere Identitäten z. T. durch kontingente Gegebenheiten bedingt sind, macht sie nicht selbst zwangsläufig zu zufällig gegebenen Elementen unseres voluntativen Systems; vielmehr müssen wir nach Korsgaard jene kontigenten Gegebenheiten als Quellen für Verpflichtungen anerkennen, damit sie überhaupt eine normative Rolle spielen können (vgl. Korsgaard (2009), 23). Betrachten wir hierfür die Zugehörigkeit zu einem Staat. Gewöhnlich hängt diese praktische Identität davon ab, wo und wann jemand geboren ist. Dieses kontingente Faktum ist für sich genommen in der Regel kein Gesichtspunkt, unter dem sich jemand wertschätzt. Wer aber die praktische Identität des Staatsbürgers innehat und sowohl die entsprechenden normativen Verbindlichkeiten anerkennt als auch relevante pro-Einstellungen besitzt, der sieht diese Identität als wesentlichen Teil seiner selbst an, etwas, ohne das er nicht ganz er selbst wäre. Diesen Status hat die Zugehörigkeit zum Staat aber erst durch die praktische Identität; nur dadurch, dass etwas angeboren und irrever-
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sibel ist, gehört es noch nicht zu den Eigenschaften, ohne die jemand nicht ganz er selbst wäre. Durch die Einbettung in die praktische Identität, deren Voraussetzung sie sind, erhalten also die kontingenten Fakten über die Geburt einer Person einen Status der Notwendigkeit, der sie zur Quelle von Verbindlichkeiten und Werten macht. Allerdings haben wir schon in Abschnitt 2.6.3 dafür argumentiert, dass Korsgaard nicht auf befriedigende Weise erklären kann, auf welcher Grundlage wir entscheiden, ob wir eine bestimmte Identität akzeptieren oder nicht. Deshalb kann Korsgaard das Formalismus-Problem letztlich nicht lösen. Hegel kann nun so verstanden werden, dass er eine Begründungsform für praktische Identitäten bietet, die dem Zufall und der subjektiven Willkür entzogen ist. Diese Begründungsform nimmt wesentlich auf soziale Institutionen Bezug. Um also zu verstehen, wie praktische Identitäten ihre Einheitsfunktion innerhalb unserer praktischen inferentiellen Festlegungen ausüben können und dadurch unserem zunächst „natürlichen“ Willen eine vernünftige Form geben können, müssen wir verstehen, wie eine solche Begründungsform aussehen kann.
8.4 Soziale Institutionen und die Rationalität praktischer Identitäten 8.4.1 Das Verhältnis praktischer Identitäten und sozialer Institutionen Im vorigen Abschnitt haben wir ansatzweise gesehen, wie praktische Identitäten rationale Selbstkonstitution ermöglichen. Vermittelt durch sie können wir unsere einzelnen praktischen inferentiellen Festlegungen so transformieren, dass sie notwendige Elemente in der Realisierung unserer rationalen Grundidentität werden. Durch eine solche Transformation nehmen wir unserem System praktischer inferentieller Festlegungen den Charakter des Gegebenseins und geben ihm insgesamt eine vernünftige Ordnung, die der logischen Struktur des Begriffs entspricht; Hegel bezeichnet diesen Transformationsprozess als (praktisches) Denken (z. B. Enz. § 469, 10/288). Eine Transformation unseres Willens durch praktische Identitäten im erläuterten Sinn kann als Explikation von Hegels Behauptung verstanden werden, dass der freie Wille sich selbst will: In dem dargelegten Modell werden unsere einzelnen praktischen inferentiellen Festlegungen so organisiert, dass sie zum notwendigen Teil der Realisierung unserer praktischen Grundidentität werden. Alle einzelnen Willensinhalte erhalten insofern ihre Autorität dadurch, dass sie dem übergeordneten Ziel der Realisierung unserer selbst, oder des Willens als solchem, dienen (vgl. Patten (1999), 93 ff.).
8.4 Soziale Institutionen und die Rationalität praktischer Identitäten
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Für Hegel erhalten nun die konkreten Gestalten, die der individuelle Wille als Resultat der Transformation durch das „Denken“ annimmt, ihre Rechtfertigung durch ihre Partizipation an vernünftigen sozialen Institutionen. Diese These liegt etwa der folgenden Passage zugrunde: In der Forderung der Reinigung der Triebe liegt die allgemeine Vorstellung, daß sie von der Form ihrer unmittelbaren Naturbestimmtheit und von dem Subjektiven und Zufälligen des Inhalts befreit und auf ihr substantielles Wesen zurückgeführt werden. Das Wahrhafte dieser unbestimmten Forderung ist, daß die Triebe als das vernünftige System der Willensbestimmung seien; sie so aus dem Begriffe zu fassen, ist der Inhalt der Wissenschaft des Rechts. (GPhR § 19, 7/70)
Die „Triebe“ sind gegebene pro-Einstellungen, die dem „natürlichen Willen“ angehören; den traditionellen Gedanken einer „Reinigung der Triebe“ deutet Hegel hier als bildhaften Ausdruck der Einsicht, dass Freiheit eine Aneignung der Inhalte jenes natürlichen Willens mittels des transformatorischen Prozesses des „Denkens“ erfordert. Dieser Prozess führt die gegebenen pro-Einstellungen auf ihr „substantielles Wesen“ zurück, indem er erkennt, welche Einstellungen wirklich berechtigt sind, welche Erkenntnisse über genuine Werte und Verpflichtungen in ihnen enthalten sind und wie diese miteinander zusammenhängen. Das resultierende „vernünftige System der Willensbestimmung“ kann als Konzeption wesentlicher Elemente – in unserer Terminologie: praktischer inferentieller Festlegungen – verstanden werden, die einen vernünftigen Willen organisieren. Die wesentliche Pointe in dem zitierten Paragraphen besteht nun darin, dass Hegel die Theorie solcher Willensbestimmung nicht der Moralphilosophie oder der Ethik zuweist, sondern der Rechtswissenschaft. Sie ist es, nicht etwa eine ethische Tugendlehre oder eine moralische Pflichtenlehre, die die organisierenden Grundkategorien – im Anschluss an Hegels eigene Bildlichkeit können wir sagen: die „Knotenpunkte“ (vgl. 3.5) – des inhaltlich bestimmten freien Willens thematisiert. Mithin sind aber die praktischen Grundkategorien notwendig sozialer Art; Hegel nennt hier als Beispiele Recht, Eigentum, Moralität, Familie und Staat (GPhR § 19 A, 7/70), also Instanzen, die – mit Ausnahme der Moralität – begrifflich direkt an soziale Praktiken geknüpft sind. Diese Kategorien sind, wie Hegel in der Anmerkung zum Paragraphen erläutert, nicht als Triebe oder „Tatsachen des Bewusstseins“ im Individuum zu erklären. Vielmehr erklärt sich die Willensstruktur des Individuums durch seine Partizipation an rechtlichen und damit sozialen Institutionen. Diesen Institutionen entsprechen dabei jeweils in Bezug auf das einzelne Subjekt Identitäten, die Hegel in der rechtsphilosophischen Darstellung der einzelnen Institutionen explizit behandelt: So ist das Subjekt im Recht („abstrakte“) „Person“ (GPhR § 35, 7/93); in der Familie ist es „Mitglied“ (GPhR § 158, 7/307); in der bürgerlichen Gesellschaft „Privatperson“
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(GPhR § 187, 7/343); und im Staat „Bürger“ (GPhR § 187, 7/343)).24 Besonders an Hand des Begriffs der Person stellt Hegel den Zusammenhang zwischen den rechtsphilosophischen Identitäten und dem allgemeinen Begriff des „Ich“ mit seiner normativen Selbstidentität dar: „Die Allgemeinheit dieses für sich freien Willens ist die formelle, die selbstbewußte, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit, – das Subjekt ist insofern Person“ (GPhR § 35, 7/93).25 Da wir die „formelle“ Selbstbeziehung des Subjekts als dessen rationale Grundidentität gedeutet haben, stellt folglich die Kennzeichnung des Subjekts als (Rechts-) Person eine bestimmte Spezifikation jener Grundidentität dar – mithin eine praktische Identität. Wir müssen nun genauer verstehen, wie Hegel das Verhältnis von sozialen Institutionen und deren Art von Vernünftigkeit zu den Identitäten auffasst, die den Willen des einzelnen Subjekts strukturieren. Zur Beziehung zwischen individueller Freiheit und sozialen Institutionen in Hegels Philosophie finden sich verschiedene Deutungsansätze in der Literatur. Für unsere Zwecke können wir zwischen drei Positionen unterscheiden. Die erste Position besteht darin, Hegels Theorie sozialer Institutionen als Ergänzung zur Theorie der intersubjektiven Anerkennung zu verstehen, die Hegel besonders in der PhG als notwendiges Element von Rationalität behandelt. Vernunft ist demnach nur im Kontext normativer Praktiken möglich; dies entspricht etwa der Art, wie Brandom soziale Institutionen thematisiert. Das Problem bei dieser Lesart ist, dass sie zu wenig erklärt. Aus der Annahme, dass Vernunft notwendig soziale Voraussetzungen hat, folgt noch nicht, dass bestimmte Institutionen zu diesen notwendigen Voraussetzungen zählen. Entsprechend kann im Rahmen einer solchen Theorie aber auch keine Erklärung spezifischer praktischer Identitäten geboten werden, so dass hier das Formalismus-Problem letztlich ungelöst bleiben muss.26 Die zweite Position sieht die in der Rechtsphilosophie dargestellten Institutionen als Bedingungen für die Realisierung individueller Freiheit. Beispielsweise
24 Für die normativen Implikationen dieser Identitäten stehen bei Hegel Begriffe wie „Pflicht“, „Sitte“ und „Gesetz“; für die evaluativen Implikationen u. a. der Begriff „Zweck“. 25 Eine genaue Analyse dieser Bestimmung und des Zusammenhangs von Hegels Begriff der Person mit der begriffslogischen Struktur des subjektiven Selbstbezugs bietet Quante (1997). 26 Die Ausklammerung spezifischer sozialer Institutionen aus diesem Deutungsansatz hängt freilich auch damit zusammen, dass sich Brandom in erster Linie auf die PhG bezieht, in der zwar Institutionen vorkommen, aber sich gleichsam „hinter dem Rücken“ des Bewusstseins entwickeln, während sie in der Rechtsphilosophie in ihrer Eigenlogik dargestellt werden. Vgl. zu den Konsequenzen der methodologischen Unterschiede beider Werke für Deutungen von Hegels Verständnis von Gesellschaft und Freiheit auch Moyar (2004).
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versteht Westphal27 die Argumentation der Rechtsphilosophie so, dass sie bei dem Ergreifen von Eigentum als der mutmaßlich einfachsten Ausübung individueller Freiheit ansetzt und sukzessive die normativen Voraussetzungen solcher Freiheit identifiziert. Individualistische Freiheitstheorien und egoistische Ethiken werden so immanent widerlegt. Das Problem dieser verbreiteten Deutungsstrategie besteht darin, dass sie die Willensfreiheit der einzelnen Akteurin als gegeben voraussetzt und nur danach fragt, wie die Akteurin ihre Interessen konkret verwirklichen kann. Wenn z. B. Westphal das Ergreifen von Eigentum als den scheinbar einfachsten Akt von Freiheit ansieht, dann betrachtet er Hegels Rechtsphilosophie von vornherein vom Standpunkt der politischen Theorie; aus dieser Perspektive muss die einfachste Freiheitsausübung im Kontext des Naturzustandes gesucht werden – also in einer Situation, in der ex hypothesi das gegenseitige Verhältnis mehrerer Individuen betrachtet wird. Ebenso könnte aber die einfachste Freiheitsausübung etwa im Blockieren eines instinktiven Handlungsimpulses gesehen werden; dies ist tatsächlich die Perspektive, mit der Hegel selbst in der Einleitung zur Rechtsphilosophie beginnt (§ 5, 7/49). Ehe sich die Frage stellt, warum das Ergreifen von Besitz soziale Institutionen zur Voraussetzung hat, muss eine Antwort auf die Frage gegeben sein, warum das „vernünftige System der Willensbestimmung“ (GPhR § 19, 7/70) nach Hegel überhaupt eine Frage sozialer Interaktion und damit das Thema der Rechtswissenschaft sein soll, nicht etwa – wie bei Kant – Thema der Moralphilosophie, die sich nur auf den einzelnen Willen bezieht. Die dritte einschlägige Position hat Pippin vertreten. Nach Pippin ist individuelle Freiheit deshalb abhängig von sozialen Institutionen, weil freies Handeln die Verfügbarkeit von Gründen für Handlungen erfordert und alle Rechtfertigungen für Handlungen institutionaler Art sind – also von der Art „Es ist richtig für mich zu φen, weil ich der Institution X angehöre“ (z. B. „weil ich eine Staatsbürgerin bin“). Pippin schreibt: The point one needs to understand to get Hegel right is that this participation in a practice, offering, accepting and rejecting institutional reasons, is all that Hegel counts as having the sorts of reasons that allow the action to be counted as free, genuinely mine. (Pippin (2008), 263)
Das ist nun aber eine sehr starke These, die Pippin weder sachlich noch exegetisch ausreichend begründet.28 Ihr zufolge zählen Begründungen von Handlun-
27 Westphal (1993), besonders 247 ff. Ähnlich interpretiert auch Honneth Hegels Rechtsphilosophie im Sinne einer Argumentation, die die „intersubjektiven Bedingungen der individuellen Selbstverwirklichung“ darlegt (Honneth (2001), 16 u. a.). 28 Pippin (2008), 241 verweist zur Rechtfertigung der fraglichen Behauptung auf eine Stelle aus dem Zusatz zu GPhR § 141, wo es heißt: „Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich
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gen z. B. durch natürliche Bedürfnisse wie Hunger und Durst nicht als eigentliche Rechtfertigungen, wenn nicht auf eine relevante Institution verwiesen werden kann. Pippin betont zwar zu Recht die wichtige Rolle, die institutionale Handlungsbegründungen für Hegel spielen, aber Hegel behauptet nirgends, dass Handlungen prinzipiell nur auf diese Weise gerechtfertigt werden können. Plausibler wird Pippins Position dann, wenn die Rede von „Institutionen“ hier in einem wesentlich schwächeren Sinne gelesen wird, nämlich im Sinne von „sozialen Praktiken“ überhaupt.29 Dann fällt Pippins Deutung mit der oben genannten ersten Position zusammen, die etwa Brandom vertritt: Die Rolle von sozialen Institutionen für individuelle Freiheit besteht dann lediglich darin, dass das Rechtfertigen von Handlungen nur in einem sozialen Kontext, einem „Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen“ möglich ist. Erneut führt dies zu dem Problem, dass hierdurch die besondere Rolle, die Hegel spezifischen Institutionen für die Freiheit des Individuums zuweist, ohne Erklärung bleibt. Alle drei genannten Deutungsansätze sind also unbefriedigend. Vor dem Hintergrund unseres Modells praktischer inferentieller Festlegungen und praktischer Identitäten können wir stattdessen eine Alternative formulieren, die (a) die Relevanz sozialer Interaktion für die Willensstruktur des freien Individuums nicht als gegeben voraussetzt, (b) mit Pippin die Rolle spezifischer sozialer Institutionen für praktische Rechtfertigung betont, aber (c) nicht auf Pippins radikale Behauptung, alle praktische Rechtfertigung sei institutional, festgelegt ist. Meine These ist folgende: Die wichtigsten praktischen Identitäten, die das individuelle System praktischer inferentieller Festlegungen organisieren und ihm eine vernünftige Form geben, sind nach Hegels Theorie logisch von spezifischen sozialen Institutionen abhängig.30 Die Vernünftigkeit jener Identitäten kann daher durch eine Rechtfertigung der entsprechenden Institutionen begründet werden. Auf diese Weise spielen spezifische Institutionen eine wesentliche Rolle für die individuelle Willensstruktur (das System praktischer inferentieller Festlegungen) und
existieren, und sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben, denn dem Rechte fehlt das Moment der Subjektivität, das die Moral wiederum für sich allein hat, und so haben beide Momente für sich keine Wirklichkeit“ (7/291). Es ist aber nicht ersichtlich, weshalb hieraus folgen soll, dass alle Handlungsgründe institutionaler Art sind. 29 So spricht Pippin z. B. von „the originally social character of justification, the dependence of proffered reasons on their acceptance and circulation“ (Pippin (2008), 250). 30 Eine ähnliche Deutung vertritt Pinkard (1994), 294 ff. Pinkard schreibt etwa: „The problem for modern agents is that they are supposed to be self-determining, to write their own ‚scripts‘, but ‚abstract right‘ and ‚morality‘ give them no determinate guidelines for which ‚scripts‘ to write. The three aspects of Sittlichkeit – family, civil society, state – give these agents general ‚scripts‘ that provide them with roles to play, and with which they can as self-determining agents identify“ (Pinkard (1994), 302).
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ermöglichen die Rechtfertigung praktischer Identitäten, nach der wir gefragt hatten; zugleich ist aber ausreichend Raum für rein individuelle Zwecksetzungen und Handlungsbegründungen gegeben. Die genannte Abhängigkeit praktischer Identitäten von spezifischen sozialen Institutionen spricht Hegel häufig aus, wenn auch nicht in diesen Termini. So schreibt er beispielsweise, dass die Individuen im Staat als „substantielle“ Personen – d. h. insoweit sie sich ihrer Teilhabe am Staat bewusst sind und nicht nur ihre privaten Interessen im Blick haben – in den „Institutionen, als dem an sich seienden Allgemeinen ihrer besonderen Interessen, ihr wesentliches Selbstbewußtsein haben […]“ (GPhR § 264, 7/411). Ein „wesentliches Selbstbewußtsein“ kann nur in einer Selbstkonzeption bestehen, in der sich Individuen unter einer bestimmten Beschreibung sehen, die sie für wesentlich halten – also in einer praktischen Identität, die sich nach Hegel direkt auf die (in diesem Kontext: staatlichen) Institutionen bezieht. Diese und andere Stellen lassen allerdings die Frage offen, wie das begriffliche Verhältnis zwischen den relevanten Identitäten und den entsprechenden Institutionen genau beschaffen ist. Um die vorgeschlagene Deutungsthese zu präzisieren, müssen wir dieses Verhältnis genauer bestimmen. Zu diesem Zweck führe ich eine Unterscheidung von zwei Weisen ein, in denen eine solche Abhängigkeit prinzipiell auftreten kann. Die erste Weise der Abhängigkeit können wir als instrumentell bezeichnen. Sie liegt dann vor, wenn Projekte und Handlungen aus pragmatischen Gründen auf Institutionen angewiesen sind und ihre Beschreibungen deshalb auf solche Institutionen Bezug nehmen. Ein Beispiel sind Aktivitäten wie Ernährung, Fortbewegung u. ä. Diese Aktivitäten führen wir de facto stets auf der Grundlage von gesellschaftlichen Institutionen wie dem Markt für Lebensmittel und infrastrukturellen Einrichtungen durch; ohne diese Einrichtungen könnten die dabei relevanten Bedürfnisse kaum oder gar nicht befriedigt werden. Z. B. kann sich niemand sinnvoll vornehmen, eine Strecke von 1000 km in wenigen Stunden zurückzulegen, wenn er nicht die Möglichkeit hat, mit dem Flugzeug zu reisen. Die hier relevante Art der Tätigkeit – Fortbewegung – können wir allerdings auch ohne infrastrukturelle Institutionen ausüben; nur die genannte spezifische Absicht ist ohne den Flugverkehr technisch nicht ausführbar. Die zweite Art von Abhängigkeit ist begrifflicher Natur: Die soziale Institution ist hier konstitutiv für die jeweiligen Handlungen, Wünsche, Absichten usw.31 In einem frühen Aufsatz hat John Rawls – im Zusammenhang einer Diskussion des Utilitarismus, die wir hier ausklammern können – diese Art von Abhängigkeit als logische Priorität der
31 Eine derartige Abhängigkeit deutet Pippin (2008), 264 an, ohne sie aber genauer zu erklären.
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Regeln, die eine Praxis definieren, vor einzelnen Fällen von Regelanwendungen bestimmt. Er erklärt dazu: [G]iven any rule which specifies a form of action (a move), a particular action which would be taken as falling under this rule given that there is the practice would not be described as that sort of action unless there was the practice. In the case of actions specified by practices it is logically impossible to perform them outside the stage-setting provided by those practices, for unless there is the practice, and unless the requisite proprieties are fulfilled, whatever one does, whatever movements one makes, will fail to count as a form of action which the practice specifies. (Rawls (1955), 25)
Wo diese Art von Abhängigkeit vorliegt, kann also die relevante Beschreibung von Handlungen nur angewandt werden, wo bereits die Praxis bzw. Institution besteht. Während z. B. manche Tätigkeiten innerhalb eines Fußballspiels nicht logisch von dem Spiel und seinen Regeln abhängen und auch außerhalb von ihm ausgeführt werden können – Laufen, Dribbeln, den Ball annehmen –, sind Spielzüge oder -positionen wie Tore schießen und im Abseits stehen nicht unabhängig von dem Spiel möglich.32 Dies gilt auch für entsprechende Absichten und pro-Einstellungen: Erstens kann man sich nicht sinnvoll wünschen und nicht beabsichtigen, außerhalb eines Fußballspiels Tore zu schießen; zweitens kann auch jemand, der nicht annähernd weiß, was ein Fußballspiel ist und welchen Regeln es folgt, sich nicht sinnvoll wünschen oder beabsichtigen, Tore zu schießen. Rawls behauptet ferner, eine so bestimmte Abhängigkeit zwischen einzelnen Handlungen bzw. entsprechenden pro-Einstellungen und Absichten einerseits und sozialen Praktiken und Institutionen andererseits habe zur Folge, dass die Rechtfertigung einzelner Handlungen darin besteht, ihre Konformität mit der Praxis aufzuzeigen. Dieser Punkt muss etwas abgeschwächt werden, um plausibel zu sein. Selbst innerhalb von so einfachen und klar umrissenen Praktiken wie dem Fußballspiel können unterschiedliche Strategien verfolgt werden, so dass Zielsetzungen möglich sind, die nicht schon – wie das Toreschießen – von den Spielregeln vorgegeben sind. Ein einzelner Spielzug, z. B. ein taktisches Foul, kann unter Verweis auf eine solche Strategie gerechtfertigt werden (z. B. aggressive Verteidigung, um eine offensiv starke Mannschaft zu bremsen). Die abgeschwächte, plausiblere Version von Rawls’ Behauptung besagt, dass die Rechtfertigung von einzelnen Handlungen in der Praxis früher oder später auf die Bedingungen der Praxis – ihre Regeln und immanenten Zielsetzungen – zu
32 Rawls’ Beispiele sind Spielzüge im Baseball. – Vgl. hierzu auch Searles Begriff der „konstitutiven Regel“ u. a. in Searle (1995), 27 f.
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sprechen kommt und hier ein vorläufiges Ende findet. Wenn an diesem Punkt weitere Rechtfertigungen verlangt werden, bezieht sich diese Frage entweder auf die Rechtfertigung der Praxis als ganzer (warum lauten die Spielregeln so und nicht anders?) oder auf die Rechtfertigung der Teilnahme von Individuen an der Praxis (warum spielst du jetzt Fußball, statt etwas anderes zu tun? warum spielen Menschen überhaupt Fußball?). In beiden Fällen richtet sich das Fragen nach einer Rechtfertigung nicht mehr auf die Begründung der einzelnen Handlung. Wir können die Tatsache, dass die Begründungen für bestimmte Handlungen früher oder später auf die Bedingungen einer sozialen Praxis führen, als die Praxisimmanenz dieser Rechtfertigungszusammenhänge bezeichnen.33 Mein Vorschlag lautet nun, auch die wichtigeren praktischen Identitäten von Individuen, die innerhalb ihrer Systeme von praktischen inferentiellen Festlegungen Einheit stiften, als individuelle Einstellungen zu deuten, die im erläuterten Sinne logisch – und nicht etwa nur pragmatisch – von sozialen Praktiken und Institutionen abhängen. Dieses Verständnis erlaubt es dann, in Bezug auf Hegel die praktischen Identitäten mit denjenigen sozialen Rollen zu identifizieren, die nach Hegel für die vernünftige soziale und politische Ordnung der Sittlichkeit ausschlaggebend sind – Rollen in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat. In Bezug auf praktische Identitäten wie die des Staatsbürgers ist die These, dass sie logisch abhängig von entsprechenden Institutionen sind, recht unproblematisch. Kontroverser sind Fälle wie familiäre Rollen. Während solche Rollen offensichtlich nicht außerhalb einer einzelnen Familie auftreten können, ist es weniger klar, dass sie auf der Familie als gesellschaftlicher Institution beruhen. Auch Tiere bilden familienartige Gruppen, und die interpersonalen Einstellungen in Familien bauen offenkundig direkt auf instinkthaften Einstellungen auf, etwa denjenigen Einstellungen, die ein Kind von Geburt an zu seiner Mutter (oder einem „Stellvertreter“ in dieser Funktion) hat. Dass familiäre Rollen in größerem Maße an biologische Bedingungen geknüpft sind als andere praktische Identitäten, dürfte unkontrovers sein. Eine Reduktion dieser Rollen auf diejenigen biologischen Grundlagen, die sie im Nor-
33 Rawls’ These muss ferner auch dahingehend abgeschwächt werden, dass dieser Punkt kein Abgrenzungsmerkmal für die logisch von Praktiken abhängigen Handlungen darstellt. Auch Handlungen innerhalb einer Praxis, die ihrer Beschreibung nach nicht logisch von ihr abhängen – z. B. das Laufen oder das Dribbeln in einem Fußballspiel –, werden in der genannten Weise gerechtfertigt. Diese weitere Abschwächung von Rawls’ These ist aber für unsere Argumentation nicht weiter relevant, weil wir uns im Folgenden nur auf den Zusammenhang „logische Abhängigkeit einer Handlung von einer Praxis → Praxisimmanenz der Rechtfertigung bezüglich dieser Handlung“ stützen werden, nicht auf die umgekehrte Folgerungsrichtung.
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malfall haben, unterschätzt aber, in welchem Maße familiäre Rollen mit normativen Strukturen im Rahmen von sozialen Praktiken durchsetzt sind.34 Ferner muss eine rein natürliche Interpretation der fraglichen sozialen Rollen diesen zwangsläufig auch die logische Form der Natürlichkeit zuschreiben; diese wären aber somit der Freiheit entgegengesetzt, statt konstitutiv für sie zu sein. Wir können also mit gutem Grunde auch familiären Rollen eine logische Abhängigkeit von entsprechenden sozialen Institutionen zuschreiben. Schließlich können auch diejenigen praktischen Identitäten, die Hegel der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft zuschreibt, als abhängig von sozialen Institutionen verstanden werden. Ein wichtiges Beispiel ist hier die Arbeit (vgl. GPhR §§ 196–198, 7/351 ff.; § 251, 7/394). Der oberflächliche Zweck der Arbeit ist es, natürliche Bedürfnisse zu befriedigen. Während zumindest die elementaren unter diesen Bedürfnissen prinzipiell auf Weisen befriedigt werden können, die keine sozialen Institutionen voraussetzen, gilt dies nicht für Arbeit: Ein Robinson Crusoe kann sich ernähren, er kann auch seine Umwelt bearbeiten, aber er kann nicht im eigentlichen Sinne eine Arbeit haben. Dasselbe gilt für die wirtschaftliche Situation eines Individuums. Fördern und Wahren des privaten (also des individuellen oder familiären) Wohlstands ist eine Tätigkeit, die nur in einem institutionalisierten Kontext stattfinden kann und ein Tausch- bzw. Geldsystem, einen Markt usw. voraussetzt. Zugleich macht diese Tätigkeit ein wichtiges langfristiges Ziel der meisten Menschen aus, das zahlreichen kurzfristigeren Handlungen ihre Einheit gibt; sie kann also als praktische Identität angesehen werden. Familiäre Rollen, Arbeit, wirtschaftliche Situation und Staatsbürgerschaft können demnach plausiblerweise als Status gelten, die – ebenso wie die mit ihnen direkt zusammmenhängenden pro-Einstellungen, Planungen und Handlungen – logisch von sozialen Institutionen abhängig sind. Es scheint ferner plausibel zu behaupten, dass durch diese Status zumindest ein Großteil derjenigen praktischen Identitäten erfasst ist, die jenseits unserer rationalen Grundidentität als partiellere, eher kontingente Identitäten unseren konkreten Systemen von Verbindlichkeiten und pro-Einstellungen eine Einheit verleihen.35
34 Eine Kritik an einer Naturalisierung von derartigen sozialen Rollen und an der Auffassung von geschlechtlichen und, daran anschließend, familiären Rollen als natürlich gegebenen oder doch überwiegend von biologischen Gegebenheiten abhängigen Größen wird besonders in feministischen Debatten geübt. Hegel bespricht diese Fragen ausführlich an Hand der gesellschaftlichen Stände in VÄ 13/272 ff. 35 Ich strebe hier freilich keinen Nachweis an, dass es sich dabei um eine auch nur annähernd vollständige Klassifikation handelt; ein solcher Nachweis müsste eine detaillierte Rekonstruktion der ganzen Hegelschen Rechtsphilosophie leisten, was den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen würde.
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Wenn nun die fraglichen Identitäten in der dargelegten Weise logisch von sozialen Institutionen abhängen, dann folgt hieraus gemäß unseren obigen Überlegungen, dass sie die Eigenschaft der Praxisimmanenz von Rechtfertigung aufweisen: Rechtfertigungen von einzelnen an sie gebundenen Handlungen enden bei den Bedingungen der jeweiligen Institution. Dies entspricht der Deutung praktischer Identitäten im vorigen Abschnitt: Praktische Identitäten sind Beschreibungen, unter denen wir uns wertschätzen; sie sind daher Quellen für Gründe. Einzelne Handlungen, die wir auf Grund unserer praktischen Identitäten ausüben, begründen wir, indem wir direkt oder vermittelt durch weitere Begründungsschritte Rekurs auf sie nehmen: „Ich habe dies getan, weil ich ein Bürger dieses Staates bin; … weil ich eine Mutter bin; … weil ich eine Angestellte dieser Firma bin“. Im Alltag bilden auf diese Weise unsere praktische Identitäten – gemeinsam mit unseren universalen Identitäten (rational und moralisch) sowie stärker partikulären, noch nicht in das vernünftige System der Willensinhalte integrierten praktischen inferentiellen Festlegungen – einen Begründungshorizont, den wir in der Regel nicht überschreiten. Damit haben wir unsere Deutung von Hegels Auffassung des Verhältnisses von sozialen Institutionen und individueller Freiheit ausreichend präzisiert. Ehe wir zur Frage nach der Rechtfertigung solcher Institutionen und der entsprechenden Identitäten übergehen, müssen wir aber noch kurz zwei wichtige Punkte ansprechen. Erstens fehlen in dem dargestellten Bild Identitäten, die den Bereichen des „absoluten Geistes“ angehören, wie insbesondere die Angehörigkeit zu einer Religion. Diese Identität unterscheidet sich von den bisher genannten Identitäten dadurch, dass sie nicht in derselben Weise logisch abhängig von spezifischen sozialen Institutionen ist wie die Identitäten, die dem objektiven Geist angehören. Vielmehr ist in Hegels Auffassung die religiöse Identität primär an das Fürwahrhalten bestimmter Inhalte und die dadurch mögliche personale Beziehung zum absoluten Geist gebunden (vgl. Kapitel 9); diese Beziehung umfasst zwar auch die Bildung einer „Gemeinde“, doch hat deren soziale Institutionalisierung für Hegel nur sekundäre Bedeutung. Ähnliches gilt für praktische Identitäten, die mit Kunst und Philosophie (sowie allgemein den Wissenschaften) verbunden sind; hier steht die Beschäftigung mit bestimmten Inhalten (als Künstler, Rezipient von Kunst, Wissenschaftler usw.) im Vordergrund, und die soziale Institutionalisierung dieser Beschäftigung ist für Hegel eher ein Folgephänomen.36 36 In der Berliner Antrittsvorlesung beschreibt Hegel die soziale Institutionalisierung der Wissenschaften in seiner Gegenwart hellsichtigerweise als Prozess im Anfangsstadium, während er die inhaltliche Entwicklung der Philosophie bereits für vollendet hält: „Dieser Stand [sc. die religiösen Orden] ist mehr oder weniger verschwunden; aber die Wissenschaft […] hat zum Teil
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Zweitens impliziert die logische Abhängigkeit praktischer Identitäten von sozialen Institutionen keineswegs, dass die jeweils faktisch bestehende Gestalt einer Institution der unbedingt verpflichtende Maßstab für die individuelle praktische Identität ist. So schreibt Hegel: [E]ine Rechtsbestimmung kann sich aus den Umständen und vorhandenen Rechtsinstitutionen als vollkommen gegründet und konsequent zeigen lassen und doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein, wie eine Menge der Bestimmungen des römischen Privatrechts, die aus solchen Institutionen als die römische väterliche Gewalt, der römische Ehestand ganz konsequent flossen. (GPhR § 3, 7/36).
Hegel beschreibt hier normative Verbindlichkeiten (Rechtsbestimmungen), die sich aus sozialen Institutionen ergeben; wo die Institutionen in sich inadäquat sind, wie die der römischen Gesellschaft, sind auch entsprechende Verpflichtungen defizitär. Es ist also beispielsweise nicht jede Form von Ehe gleich vernünftig und als Quelle für rationale Handlungsgründe geeignet. Auch wenn daher mit Hegel angenommen wird, dass die Ehe zu den Institutionen zählt, die dem individuellen Willen mittels entsprechender praktischer Identitäten (Ehepartner) eine vernünftige Form geben, lässt dies die Möglichkeit offen, dass eine faktische Ausprägung dieser Institution verbesserungsbedürftig ist. Diese Möglichkeit kommt besonders in solchen Situationen zum Tragen, wo innerhalb einer Gesellschaft de facto allgemein die Identifikation mit bestimmten tragenden Institutionen (z. B. einer bestimmten Form der Ehe) aufgekündigt wird oder wo die faktische Gestalt von Institutionen die individuelle Freiheit unterminiert (z. B. in der Tyrannis). Dieser Punkt bringt uns zu der übergeordneten Frage nach der Rationalität praktischer Identitäten zurück. Wir hatten im vorigen Abschnitt gesehen, dass die vernünftige Form des individuellen Willenssystems auf den rationalen Charakter der wesentlichen praktischen Identitäten angewiesen ist. Nachdem die relevanten praktischen Identitäten logisch von sozialen Institutionen abhängen, beruht die Rechtfertigung der Identitäten auf der Rechtfertigung der Institutionen. Im folgenden Abschnitt fragen wir daher nach Möglichkeiten für eine derartige Rechtfertigung im Rahmen von Hegels Theorie des objektiven Geistes.
angefangen, an seine Stelle zu treten; und zur Vollendung dessen, was der Staat in der Wirklichkeit einzurichten hat, gehört auch noch dies, daß für die Existenz der Wissenschaft und insbesondere der Philosophie ein eigener Stand, eine eigene Existenz gewidmet sei“ (10/413).
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8.4.2 Vertrauen, Erfahrung und Kritik: Die Rechtfertigung von Identitäten und Institutionen Hinsichtlich der Möglichkeiten dafür, praktische Identitäten durch den Nachweis der Vernünftigkeit entsprechender sozialer Institutionen zu rechtfertigen, müssen wir grundsätzlich zwischen zwei Szenarien unterscheiden. Das erste Szenario liegt dann vor, wenn die wesentlichen praktischen Identitäten von Individuen im Großen und Ganzen den faktischen Gestalten der relevanten Institutionen entsprechen – wenn sich also die Individuen tatsächlich mit den Rollen in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat identifizieren, die ihnen gemäß den bestehenden Ausprägungen dieser Institutionen zukommen. In diesem Szenario muss eine Rechtfertigung der praktischen Identitäten zeigen, dass die bestehenden Institutionen vernünftig sind und die Individuen nicht lediglich dem Schein von Harmonie in einem System erliegen, das eigentlich manipulativ ist. Im zweiten Szenario besteht keine allgemeine Identifikation, sondern die vorgegebenen Rollen werden abgelehnt – entweder werden sie ohne Identifikation ausagiert, wie es z. B. bei Verpflichtungen in einer repressiven politischen Ordnung (vgl. das Beispiel Spartas in Abschnitt 6.3.1) der Fall sein kann, oder aber es werden Identitäten entwickelt, die alternative Ausprägungen jener Institutionen schaffen sollen, etwa alternative Familienmodelle. – Ich argumentiere dafür, dass Hegel beide Szenarien berücksichtigt und für sie jeweils Begründungsformen anbietet.37 (1) Das erste Szenario, das der funktionierenden Identifikation, hat nach Hegel eine grundsätzliche Einstellung des Individuums zur Voraussetzung: Dieses muss der Gesellschaft und dem Staat, an denen es teilhat, zutrauen, dass sie vernünftig sind – dass es also nicht von vornherein verkehrt ist, ein durch sie mitbestimmtes „allgemeines Leben zu führen“ (GPhR § 258 A, 7/399), weil etwa die eigene Vernunftnatur oder auch die eigenen Bedürfnisse und pro-Einstellungen dabei – im Sinne der internalistischen Anforderung an rationale Transformation (vgl. 6.3.1) – zwangsläufig zu kurz kommen würden. Hegel beschreibt eine solche Einstellung als die „politische Gesinnung“: Diese Gesinnung ist überhaupt das Zutrauen (das zu mehr oder weniger gebildeter Einsicht übergehen kann), das Bewußtsein, daß mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des Staats) als im Verhältnis zu mir als Einzelnem bewahrt und enthalten ist, womit eben dieser unmittelbar kein anderer für mich ist und Ich in diesem Bewußtsein frei bin. (GPhR § 268, 7/413)
37 Vgl. zu den im Folgenden besprochenen Themen Fulda (1963).
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Ähnlich nennt Hegel in der Enzyklopädie das Vertrauen die „wahrhafte, sittliche Gesinnung“ (Enz. § 515, 10/319). Das Vertrauen oder Zutrauen in diesem terminologischen Sinn steht somit für eine Grundeinstellung von Individuen gegenüber der Gesellschaft und dem Staat, in denen sie leben; diese bezieht sich – wie Hegel mit der Wendung „mein substantielles und besonderes Interesse“ ausdrückt – keineswegs nur auf die Gewährleistung individueller Interessen und Zwecke, sondern auch auf die allgemeine Seite des Individuums, seine praktischen Identitäten sowie die rationale und die moralische Identität. Vertrauen in diesem Sinne ist ein komplexer und voraussetzungsreicher Sachverhalt, der aber zugleich alltäglicher ist, als es Hegels Darstellung vermuten lassen könnte: Wären wir nicht implizit von einem derartigen Vertrauen gegenüber unserer sozialen Umwelt geleitet, würden wir ständig mit Freiheitsverlust rechnen; es wäre dann unvernünftig, das eigene Leben durch gesellschaftliche und politische Institutionen mit bestimmen zu lassen (vgl. Siep (1992)). Aus der Perspektive der Individuen erklärt die Grundeinstellung des Vertrauens, wie wir rationale Freiheit in einer Gesellschaft und einem Staat realisieren können, ohne permanent explizite Rechtfertigungen von deren Institutionen zur Verfügung zu haben. Damit das Vertrauen freilich nicht selbst irrational ist, sondern als die „in Wahrheit stehende Gewißheit“ (GPhR § 268, 7/413) gelten kann, muss es auf einer – zunächst nur unterschwelligen – Einsicht in die Vernünftigkeit der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung beruhen. Wie kann diese Einsicht aber aussehen, wenn sie nicht in reflektierten philosophischen Begründungen bestehen soll? Hegel selbst gibt im Zusammenhang seiner Bestimmung der „politischen Gesinnung“ in der Rechtsphilosophie lediglich an, jene Gewissheit sei ein „Resultat der im Staate bestehenden Institutionen, als in welchem die Vernünftigkeit wirklich vorhanden ist“ (Enz. § 268, 7/413). Dieser Zusammenhang zwischen Institutionen und Vertrauen kann erstens so verstanden werden, dass die BürgerInnen des Staates die Einstellung des Vertrauens ausbilden, weil sie mit dem Staat gute Erfahrungen machen. Die BürgerInnen können die Vernünftigkeit eines Staates und einer Gesellschaftsordnung erfahren, indem sie sehen, dass sie auf Grund von institutionsabhängigen praktischen Identitäten ihre individuellen Wünsche und Projekte in eine kohärente Ordnung bringen und in einem realistischen Umfang verwirklichen können; dass sie ihrer moralischen Identität gemäß handeln können; dass grundlegende Rechte garantiert werden; insbesondere auch, dass in Fällen, in denen sie in wesentlichen Interessen beschnitten werden, dies mit einer Begründung geschieht, die sie einsehen und akzeptieren können (z. B. Rechtsfrieden). In diesen und anderen Hinsichten sammeln die BürgerInnen in der Realität einer Gesellschafts- und Staatsordnung ständig Erfahrung, die sie auch tradieren (etwa in der Erziehung) und austauschen. Wenn sie mit einer
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solchen Ordnung gute Erfahrungen machen, dann bietet diese Erfahrung einen ausreichenden Grund, die Einstellung des Vertrauens gegenüber dem Staat anzunehmen. Zweitens kann hier auch eine historische Dimension angenommen werden – nämlich in Gestalt der Erinnerung an historische Prozesse, die als vernünftiger Fortschritt interpretiert werden. Auf diese Form historischer Erinnerung kann rationalerweise ein Bewusstsein von der Vernünftigkeit der Gegenwart aufbauen. In diesem Sinne kann etwa die folgende Passage Hegels gelesen werden, in der er die irrationale politische Haltung des religiösen Fanatismus kritisiert: Das Wahre aber gegen dieses in die Subjektivität des Fühlens und Vorstellens sich einhüllende Wahre ist der ungeheure Überschritt des Innern in das Äußere, der Einbildung der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewußtsein des vernünftigen Daseins, der Staatseinrichtungen und der Gesetze gewonnen hat. (GPhR § 270 A, 7/419)
Dieser Passage zufolge wird in demselben historischen Prozess, in dem die Menschheit die Institutionen des vernünftigen Staates schafft, auch ein Bewusstsein dieser Vernünftigkeit hervorgebracht. Um aber erneut den Fall auszuschließen, dass hier ein ungerechtfertigtes Bewusstsein erzeugt wird, muss die Stelle so gelesen werden, dass dem Bewußtsein jener Vernünftigkeit auch der Grund seiner Rechtfertigung mehr oder weniger präsent sein muss, nämlich seine Genese im Prozess vernünftiger geschichtlicher Entwicklungen. Die Annahme, dass ein derartiges historisches Bewusstsein für stabile Staatsordnungen wesentlich ist, kann sich auf breite empirische Evidenz stützen. Moderne demokratische Staaten bewahren stets in besonderem Maße die Erinnerung an diejenigen Prozesse, die zu ihrer Entstehung geführt haben und die als Prozesse des Fortschritts hin zur gegenwärtigen Realität gedeutet werden. Ebenso haben Gemeinwesen zu aller Zeit ihre Legitimität auf teils historische, teils mythologische Erinnerungen von den eigenen Anfängen gestützt, die diese nicht einfach nur wiedergeben, sondern ihre Abkunft von besonders hohen Instanzen und Autoritäten erklären.38 Freilich ist die Leistungsfähigkeit der beiden Dimensionen, die wir in der Rechtfertigung der Einstellung des Vertrauens unterschieden haben, letztlich immer eingeschränkt. Es kann durch keine der beiden Dimensionen ganz ausgeschlossen werden, dass die Ordnung in Gesellschaft und Staat entweder nur auf einem faulen Kompromiss beruht (z. B. dem einer bloßen Zweckgemeinschaft
38 Für eine Beschreibung der Struktur solcher Erinnerungsformen ist Brandoms Modell der rationalen Rekonstruktion besonders geeignet; vgl. 3.1 sowie die Beispiele der aitiologischen Mythen in der Antike und der „Founding Fathers“ in der Moderne, Kap. 3, Fußnote 12.
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zur Befriedigung des „natürlichen Willens“) oder Indoktrination und Manipulation einschließt.39 Deshalb spielen auch hier explizitere Begründungsformen eine wichtige Rolle, die Hegel selbst nur in Bezug auf den Fall der allgemeinen Entfremdung konzipiert.40 (2) Das zweite der beiden oben unterschiedenen Szenarien ist dadurch gekennzeichnet, dass sich eine kritische Menge von Individuen nicht mit den faktisch bestehenden Institutionen identifizieren und die entsprechenden praktischen Identitäten ausprägen kann. Hier besteht ein expliziter Diskussions- und Rechtfertigungsbedarf hinsichtlich bestehender Institutionen und möglicher Alternativen; weil in dieser Situation das Zutrauen der Individuen gegenüber dem Staat und der Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres gegeben ist, genügen hier die zuvor betrachteten Rechtfertigungsweisen nicht mehr aus. Stattdessen ist hier eine weitergehende und explizite Rechtfertigung von sozialen Institutionen erforderlich. Bei Hegel können in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Ansätze identifiziert werden. Der erste Ansatz rekurriert auf die Religion und sucht in ihr eine weitergehende „Sanktionierung“ der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung – also eine Rechtfertigung dafür, dass die BürgerInnen an dieser Ordnung teilhaben und diese Teilhabe in Gestalt der Gesinnung des Vertrauens habitualisieren.41 Wie Hegel aber betont, handelt es sich bei dieser religiösen Sanktionierung selbst wieder nur um eine Gesinnung (vgl. PhRel 16/245 f.), die also ihrerseits der Rechtfertigung bedarf.42 Dem hier bestehenden Rechtfertigungsbedarf kann daher nur ein zweiter Begründungsansatz genügen, der sich auf wissenschaftliche und besonders philosophische Erklärung und Theoriebildung als Instanzen zur Beurteilung von Institutionen stützt.43 39 In diesem Fall können die guten Erfahrung der Individuen durch deren Konditionierung mittels positiver Anreize manipuliert werden, wie sie Skinner in Walden Two beschreibt; die historische Dimension hingegen steht der Manipulation durch Propaganda, Geschichtsfälschung usw. offen. Dass diese beiden Arten der Manipulation so wirksam sind, bestätigt nur, wie wichtig die beiden genannten Erfahrungsdimensionen für unsere Einstellung zu Staat und Gesellschaft sind. 40 Vgl. die Ausführungen zu Hegels Begriff der „Weltweisheit“ im Folgenden. 41 Vgl. Enz. § 552 A, 10/356: „[D]er Form nach, d.i. für das Denken und Wissen – und Religion und Sittlichkeit gehören der Intelligenz an und sind ein Denken und Wissen –, kommt dem religiösen Inhalte, als der reinen an und für sich seienden, also höchsten Wahrheit, die Sanktionierung der in empirischer Wirklichkeit stehenden Sittlichkeit zu; so ist die Religion für das Selbstbewußtsein die Basis der Sittlichkeit und des Staates“. 42 Vgl. zum komplexen Verhältnis von Staat und Religion in Hegels Philosophie u. a. die Beiträge in Arndt/Iber/Kruck (2009). 43 Diese philosophische Begründung hat einen Vorläufer in der Religion insofern, als in ihr (und hier speziell dem Christentum) zuerst die Einsicht in die Natur von Freiheit auftritt. So schreibt Hegel in dem bereits zitierten religionsphilosophischen Text: „Es ist ein Begriff der Freiheit in
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Dabei kommt der Philosophie hier eine kritische Funktion gegen die Religion und ihre konkreten institutionalisierten Formen zu. Gegen Formen der Unfreiheit, die von kirchlichen (für Hegel besonders: katholischen) Institutionen geschaffen wurden, ist, so Hegel, „die Weltweisheit aufgetreten, welche das Wahrhafte in der Wirklichkeit erkennt“ (PhRel 16/241). Unter „Weltweisheit“ versteht Hegel dabei eine spezifische Funktion der Philosophie: nämlich die, eine säkulare, vernünftige Interpretation von Weisen der Realisierung von Freiheit zu entwickeln.44 Philosophie als Weltweisheit, als „die Weisheit über das, was in der Wirklichkeit an und für sich recht und vernünftig ist“ (Enz. § 552 A, 10/358), ist wesentlich eine Philosophie der Freiheit, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens muss sie ein anspruchsvolles Verständnis von Freiheit entwickeln. Auf Grundlage dieses Verständnisses von Freiheit muss sie zweitens, in kritischer Abgrenzung von einseitigen, auch einseitig religiösen Wirklichkeitsdeutungen, die existierende Freiheit und Vernunft als solche herausstellen, explizit und erkennbar machen: „[D]as Denken vergegenwärtigt die Wahrheit des Geistes, führt ihn in die Welt ein und befreit ihn so in seiner Wirklichkeit und an ihm selbst“ (Enz. § 552 A, 10/358). Dadurch ist nun genau diejenige Aufgabe der Philosophie bezeichnet, die Hegel in den berühmten Formulierungen der Vorrede zur Rechtsphilosophie beschreibt. Die Einsicht in die „Vernunft als die Rose im Kreuz der Gegenwart“ (GPhR 7/26) kennzeichnet Hegel auch dort in freiheitstheoretischer Weise – nämlich als „Versöhnung mit der Wirklichkeit“ durch die Philosophie, die wesentlich darin besteht, „in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit zu erhalten sowie mit der subjektiven Freiheit nicht in einem Besonderen und Zufälligen, sondern in dem, was an und für sich ist, zu stehen“ (GPhR 7/27). Auch hier ist also der philosophische Begriff vernünftiger Freiheit der Schlüssel zur Rechtfertigung wirklicher Institutionen; indem die „Weltweisheit“ in diesen Institutionen und in ihrer geschichtlichen Genese die Realisierung von Freiheit nachweist, wird diese zunächst implizite und verborgene Freiheit selbst eigens in die Gestalt der Freiheit erhoben. Hegel schreibt der Philosophie in diesem Kontext offenbar eine spezifische Funktion zu, in der sie als „Weltweisheit“ auch außerhalb der philosophischen Diskurse im engeren Sinne auftritt und in Diskussionen über die Rechtfertigung
Religion und Staat. Dieser eine Begriff ist das Höchste, was der Mensch hat, und er wird von dem Menschen realisiert“ (PhRel 16/237). Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion schließt sich hier mit der These von dem epochalen Fortschritt zusammen, den nach Hegel das Christentum für unser Verständnis von Freiheit bedeutet. 44 Vgl. PhRel 16/239: „Was nun das Vernünftige sei, dies zu erkennen ist die Sache der Bildung des Gedankens und besonders die Sache der Philosophie, die man in diesem Sinne wohl Weltweisheit nennen kann“; Enz. § 552 A, 10/358.
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8 Praktische Freiheit
und Kritik faktischer Institutionen eingreift, indem sie das, was an jenen Institutionen vernünftig ist, darlegt und begründet – und im Umkehrschluss auch das, was unvernünftig ist, als solches kenntlich macht. Diese „Weltweisheit im Geiste der Regierungen und der Völker“ (Enz. § 552 A, 10/358) muss dabei sicherlich nicht die Anforderungen an Wissenschaftlichkeit und Systematizität erfüllen, die Hegel sonst an Philosophie stellt. Wesentlich ist v. a., dass sie ein explizites Nachdenken über den Begriff der Freiheit leistet. Dass philosophisches Denken in diesem spezifischen Sinne tatsächlich als kritische und rechtfertigende Instanz in den Konfliktsituationen des betrachteten Szenarios auftritt, ist durchaus plausibel. Denn wenn es darum geht, in diesen Konfliktsituationen die Kritik an bestehenden Institutionen zu artikulieren, geschieht dies typischerweise so, dass diese Institutionen an Hand eines bestimmten Freiheitsbegriffs beurteilt werden. Dieser Freiheitsbegriff muss auch mehr oder weniger explizit gemacht und zumindest ansatzweise begründet werden können, wenn die Kritik nicht selbst irrational sein soll. Das explizite Thematisieren von Freiheit in gedanklicher, nicht bloß religiös-imaginativer Form ist aber an sich schon nach Hegel ein philosophischer Vollzug, weil hierdurch das eigentliche Wesen des Geistes in freier, da begrifflicher und expliziter Form erkannt wird – auch dann, wenn dieser Vollzug nur fragmentarisch und ansatzweise im „Geiste der Regierungen und der Völker“ stattfindet.45 Wir können also resümieren, dass für Hegel rationale Persistenz im praktischen Bereich durch die Organisation individueller Systeme von praktischen Einstellungen (die wir als praktische inferentielle Festlegungen rekonstruiert haben) durch praktische Identitäten ermöglicht wird. Deren vernünftiger Charakter hängt wiederum von sozialen Institutionen und ihrer – in letzter Instanz philosophischer – Rechtfertigung ab. Dieses Modell liefert schließlich auch die Erklärung dafür, was es bedeutet, dass nach Hegel die Freiheit des individuellen Willens nur durch das Denken und die Form der Allgemeinheit des Begriffs zustande kommt. Das Denken besteht hier nämlich in dem Transformations-Prozess, durch den wir die eigene Willensstruktur mittels vernünftiger Identitäten ordnen. Wir verstehen nun besser, warum Hegel eklärt (vgl. 8.1): „Das Selbstbewußtsein, das seinen Gegenstand, Inhalt und Zweck bis zu dieser Allgemein-
45 Der Rechtfertigungsanspruch, den Hegel hier dem philosophischen Denken zumisst, wird häufig als unplausibel beurteilt; insbesondere wird Hegel seit jeher vorgeworfen, er habe mit der rechtfertigenden Rolle der Philosophie, die die Vernunft in der Wirklichkeit erkennt, bestehende politische Bedingungen in quietistischer Weise verabsolutiert. Hiergegen wurde aber schon oft überzeugend dafür argumentiert, dass Hegels Theorie in verschiedener Hinsicht eine kritische Funktion gegenüber der eigenen Gegenwart beansprucht (vgl. u. a. Fulda (1963); Avineri (1972), 115 ff.; Westphal (1993), 234 ff.; Pippin (2008), 242 f.).
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heit reinigt und erhebt, tut dies als das im Willen sich durchsetzende Denken“ (GPhR § 21 A, 7/72). Gleich im Anschluss an diesen Satz schreibt Hegel: Hier ist der Punkt, auf welchem es erhellt, daß der Wille nur als denkende Intelligenz wahrhafter, freier Wille ist. Der Sklave weiß nicht sein Wesen, seine Unendlichkeit, die Freiheit, er weiß sich nicht als Wesen, – und er weiß sich so nicht, das ist, er denkt sich nicht. (GPhR § 21 A, 7/72)
Ein (zumindest vorläufiges) Verständnis von Freiheit und eine Selbstkonzeption von sich selbst als frei sind also unabdingbar dafür, dass ein Akteur eine rationale Willensstruktur bildet. Wie wir gesehen haben, besteht ein grundlegender Aspekt dieser kognitiven Dimension, die dem Denken im Rahmen der praktischen Selbstkonstitution auch zukommt, darin, dass das Denken den rationalen Charakter der praktischen Identitäten erkennt, die den genannten Transformationsprozess organisieren; diese Erkenntnis setzt ihrerseits voraus, dass die sozio-politische Ordnung, auf der diese Identitäten beruhen, vernünftig ist und als vernünftig erkannt wird. Damit haben wir die für unsere Zwecke relevanten Aspekte von Hegels Theorie praktischer Freiheit rekonstruiert und gesehen, wie auch hier die logische Struktur des Begriffs, wenngleich in komplexer Weise, die Realisierung konkreter Freiheit durch rationale Selbstkonstitution ermöglicht. Im folgenden Kapitel müssen wir nun der Frage nachgehen, inwiefern jener Freiheitsbegriff auf ein Ideal von Freiheit zielt, das noch wesentlich über die bisher betrachteten Freiheitsformen hinausgeht.
9 Freiheit und absoluter Idealismus In den vorangegangenen Kapiteln habe ich wichtige Teile von Hegels Theorie autonomer Vernunft rekonstruiert. Unter anderem hat sich dabei gezeigt, dass die Ausübung vernünftiger Fähigkeiten implizit auf die Realisierung eines Ideals von Freiheit hin ausgerichtet ist, wenngleich auf dieses Ideal immer unter noch unangemessenen, vorläufigen Beschreibungen Bezug genommen wird (vgl. 6.4). Eine wichtige Folge dieser teleologischen Struktur des Geistes ist es, dass die eigene, implizite Verfasstheit des Geistes stets ein kritisches Potential gegenüber Formen von Freiheit einschließt, die jeweils gerade real sind oder für wünschenswert gehalten werden. Hiermit stellt sich nun die Frage, ob es spezifische Aspekte und Gestalten von Freiheit gibt, die in den bislang rekonstruierten Theorieteilen noch nicht erfasst sind, die aber wesentlicher Bestandteil von vollständig realisierter Freiheit und somit auch von Hegels Freiheits-basiertem Selbst- und Weltverständnis sind. Hierfür können wir uns zunächst wieder auf Brandom und seine HegelInterpretation beziehen. Wir haben in Abschnitt 3.1 Brandoms semantische und pragmatische Theorie von Freiheit betrachtet, der zufolge die Genese bestimmten begrifflichen Gehalts synchrone und diachrone Anerkennungsverhältnisse erfordert. Nur wenn diese Anerkennungsverhältnisse, die in Einstellungen der Autorität und der Verantwortung artikuliert sind, symmetrisch sind, ist für Brandom Freiheit als autonome Selbstbindung durch Normen vollständig realisiert. Wie wir schon erwähnt haben, hat für Brandom die Moderne diese Form von Intersubjektivität noch nicht erreicht; vielmehr wird in ihr Freiheit typischerweise nur als „Unabhängigkeit“ verstanden, als subjektive Freiheit, in der das Individuum einseitig Autorität über seine Handlungen beansprucht, ohne dass diese Autorität durch eine korrespondierende Form von Verantwortung balanciert wäre (vgl. Brandom (2007); ASoT Kap. 8 („From Irony to Trust. Modernity and Beyond“)). Wenn hingegen das auf rationalen Rekonstruktionen basierende Beziehungsmodell (vgl. 3.1) tatsächlich vollständig verwirklicht wird, führt dies, so Brandom, in eine neue Stufe der Entwicklung des objektiven Geistes. Während für den objektiven Geist in der Antike eine einseitige Autorität gegebener, unhinterfragter Normen gegenüber dem Individuum kennzeichnend ist und in der Moderne subjektive Freiheit, also die Autorität des Individuums gegenüber anderen dominiert, ist in dieser „nach-modernen“ Phase ein Ausgleich beider Seiten geschaffen und so allererst Freiheit als Form von Versöhnung verwirklicht. Die strukturellen Bedingungen dieser Versöhnung sieht Brandom in Hegels Darstellung der Dialektik der Verzeihung in der PhG expliziert (vgl. ASoT Kap. 8, besonders Abschnitt XII: „Confession, Judgment, and Forgiveness“).
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Brandom vertritt also hinsichtlich des Freiheitsbegriffes die kritische These, dass wirkliche Freiheit eine Versöhnung erfordert, die in der modernen Gesellschaft erst noch geleistet werden muss und die in gängigen Freiheitstheorien nicht thematisiert ist. Damit stellt Brandom auch einen fruchtbaren Bezug zu Hegel her.1 Brandom beansprucht nämlich, mit diesem Teil seiner Position den Begriff des absoluten Wissens in der PhG und die in diesem Wissen enthaltene Theorie des absoluten Geistes zu rekonstruieren. So greift Brandom ein kritisches Potential in Sachen Freiheit auf, das bei Hegel die Lehre vom absoluten Geist gegenüber subjektivem und objektivem Geist und den für sie spezifischen Gestalten der Freiheit birgt. Hegel lässt keinen Zweifel daran bestehen, dass er spezifisch epistemische und spezifisch praktische Freiheit für selbst noch mangelhafte Gestalten der Freiheit hält. Für ihn handelt es sich dabei um noch einseitige Freiheitsformen, und das Streben des Geistes nach idealer Freiheit findet erst in der Auseinandersetzung endlicher Geister mit dem absoluten Geist seine Erfüllung. Erst hier ist die „Region einer höheren, substantielleren Wahrheit“ erreicht, „in welcher alle Gegensätze und Widersprüche des Endlichen ihre letzte Lösung und die Freiheit ihre volle Befriedigung finden können“ (VÄ 13/137). Ohne die „Vollendungsgestalten“ Kunst, Religion und Philosophie hat also Freiheit keine vollständige Realität. – Dabei geht es Hegel aber an dieser Stelle offenbar nicht um graduelle Unterscheidungen und Defizite, wie wenn etwa in einer Gesellschaft viele, aber nicht alle Menschen frei leben und daher noch Verbesserungen nötig sind, die der Realisierung desselben Typus von Freiheit dienen. Vielmehr scheint Hegel einen kategorischen Fortschritt im Auge zu haben, dergestalt, dass die Freiheitsformen außerhalb des bewussten Bezugs auf den absoluten Geist per se nicht zu einer wirklichen „Befriedigung“ der Freiheit (wie Hegel es in der zitierten Formulierung ausdrückt) in der Lage sind, auch wenn sie für sich genommen angemessen realisiert sind. Der absolute Geist ist in Hegels Philosophie demnach in allererster Linie eines: kritische Instanz gegen ein philosophisches Welt- und Selbstverständnis des Menschen, das sich zu früh mit überkommenen, vertrauten Meinungen über Freiheit und verwandte Themen zufriedengibt. Charakteristisch für diese Vorurteile ist dabei nach Hegel, dass sie Standpunkte der Endlichkeit verabsolutieren: Sie halten vorläufige Gestalten von Freiheit für deren bestmögliche Realität, obwohl sich in ihnen der Geist noch nicht vollständig von der Natur befreit hat
1 Ein weiterer hier einschlägiger Gesichtspunkt betrifft den Gedanken, dass der Philosophie – nach Hegel der höchsten Gestalt in der Sphäre des absoluten Geistes – eine eigene Form von Freiheit entspricht. Wir haben allerdings schon gesehen (vgl. 5.1.1), dass Brandom in diesem Zusammenhang im Anschluss an Rorty eine Auffassung von Philosophie und philosophischer Freiheit vertritt, die Hegels Konzeption in diesem Punkt diametral entgegengesetzt ist.
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und daher noch in Konflikten und Entgegensetzungen befangen ist, die seine rationale Persistenz gefährden. In diesem Zusammenhang markiert Brandoms These zur Idealgestalt von Freiheit einen auch für Hegel zentralen Gedanken. Versöhnung ist nämlich auch für Hegel das Anliegen seines Denkens2; Hegels Philosophie ist, wie Henrich es nennt, „Vereinigungsphilosophie“ (Henrich (1971b)). In diesem Kapitel gehe ich der Frage nach, inwiefern die bislang rekonstruierte Freiheitstheorie in diesem Sinne noch maßgeblich erweitert werden muss. Dazu betrachte ich zunächst Brandoms Position (9.1), um anschließend Hegels Lehre vom absoluten Geist unter freiheitstheoretischen Gesichtspunkten zu interpretieren (9.2.–9.4). Insbesondere werde ich dabei auch die freiheitstheoretischen Konsequenzen des „starken ontologischen Holismus“, den ich in Kapitel 5 als Teil von Hegels Idealismus identifiziert hatte, untersuchen.
9.1 Ideale Freiheit bei Brandom: Verzeihung und „magnanimity“ Im Mittelpunkt des Verständnisses von Freiheit, das für Brandom dem „absoluten Wissen“ am Ende der PhG entspricht, steht eine ideale Form gegenseitiger Anerkennung. Für die Explikation von deren Struktur bezieht sich Brandom v. a. auf den Abschnitt über „Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung“ in der PhG, also den Schlussteil des Geist-Kapitels. Dieser Abschnitt kulminiert in der Dialektik zwischen einem beurteilten Bewusstsein, das beansprucht, aus Pflicht gehandelt zu haben, und einem beurteilenden Bewusstsein, das seinem Gegenüber vorwirft, eigentlich aus Eigennutz gehandelt zu haben. Dabei greift Hegel eine Grundunterscheidung aus dem Bildungskapitel wieder auf, nämlich die zwischen edelmütiger und niederträchtiger Gesinnung. Brandom deutet diese beiden Begriffe im Sinne einer Unterscheidung zweier „normativer Meta-Einstellungen“, d. h. zweier Einstellungen, die wir zu Normativität als solcher haben können. Edelmut akzeptiert die Verbindlichkeit von Normen und traut Individuen zu, nach Normen zu handeln. Niederträchtigkeit hingegen ist skeptisch gegenüber Normen als solchen; sie reduziert Normen auf subjektive Einstellungen, denen keine tatsächliche Verbindlichkeit entspricht (vgl. ASoT Kap. 8 („From Irony to Modernity and Beyond“), Abschnitt X: „Two Meta-Attitudes, Four Species of Niederträchtigkeit“). (Hegel spricht hier auch von der Perspektive des „Kammerdieners“ gegenüber dem „Helden“ (PhG 3/489).) Niederträchtigkeit, so Brandom, ist charakteristisch für die
2 Berühmt ist Hegels Stellungnahme hierzu im Abschnitt „Bedürfnis der Philosophie“ in der Differenzschrift (2/20 ff.).
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Moderne, wie Hegel sie in der PhG im Zusammenhang der Kategorien „Bildung“ und „Moralität“ darstellt. Den klarsten Ausdruck dieser normativen Meta-Einstellung sieht Brandom plausiblerweise in den großen „Demaskierern“ des 19. und 20. Jahrhunderts (Marx, Nietzsche, Freud, Foucault), die die von Hegel dargestellte „niederträchtige“ Perspektive konsequent eingenommen haben. Nach Brandom müssen nun sowohl die edelmütige als auch die niederträchtige Einstellung im Rahmen intersubjektiver Anerkennungsstrukturen mit Notwendigkeit auftreten. Dies erklärt er mittels eines Internalismus bezüglich motivierender Gründe, den er Hegel zuschreibt: Nach dieser Auffassung sind Gründe immer – gemäß der Unterscheidung von Bernard Williams (B. Williams (1981c)) – intern, d. h. sie müssen immer in einem Zusammenhang zum motivationalen System des Handelnden stehen. Wir haben schon in Abschnitt 6.3.1 gesehen, dass Hegels Auffassung rationaler Transformation ein wichtiges internalistisches Element beinhaltet, weil in diesem Prozess die subjektive Freiheit des Akteurs berücksichtigt und seine Interessen gewahrt werden müssen. Auch allgemein gilt für Hegel, dass wir nicht ohne individuelles Interesse handeln können; eine Norm, Einsicht usw. kann nicht wirksam werden, wenn ihr nicht eine Motivation entspricht (oder wir durch vernünftige Bearbeitung unseres motivationalen Ausgangszustandes zu einer solchen Motivation gelangen können) (z. B. PhG 3/488 f.; Enz. § 475 mit Anmerkung, 10/298; VPhG 12/36–38). In jeder tatsächlichen Handlung – jedem Befolgen einer Norm, jedem Handeln aus Pflicht – kann daher stets auch ein Aspekt des Eigennutzes identifiziert werden3, und selbst jede Handlung aus moralischer Pflicht hat immer auch eine Seite der Neigung.4 Handlungen können also immer auch aus der Kammerdiener-Perspektive betrachtet werden.5
3 Vgl. PhG 3/488: „[D]ie konkrete Handlung, in ihrer Vielseitigkeit an ihr selbst verschieden, hat die allgemeine Seite, welche die ist, die als Pflicht genommen wird, ebensosehr an ihr als die besondere, die den Anteil und das Interesse des Individuums ausmacht. […] Wie jede Handlung der Betrachtung ihrer Pflichtgemäßheit fähig ist, ebenso dieser anderen Betrachtung der Besonderheit; denn als Handlung ist sie die Wirklichkeit des Individuums“. 4 Vgl. PhG 3/488 f.: „Indem in der Handlung überhaupt das Handelnde zur Anschauung seiner selbst in der Gegenständlichkeit oder zum Selbstgefühl seiner in seinem Dasein und also zum Genusse gelangt, so weiß das Urteil das Innere als Trieb nach eigener Glückseligkeit, bestünde sie auch nur in der inneren moralischen Eitelkeit, dem Genusse des Bewußtseins der eigenen Vortrefflichkeit und dem Vorschmacke der Hoffnung einer künftigen Glückseligkeit“. 5 Dies könnte der inkompatibilistischen Deutung zu widersprechen scheinen, die ich in Abschitt 6.5 entwickelt habe, weil es den Anschein haben kann, als würden die motivationalen Gründe die Handlung determinieren. De facto behauptet Hegel aber nur, dass eigennützige Motive notwendig für Handlungen sind, nicht, dass sie jeweils schon hinreichend für bestimmte Handlungen sind. (Freilich stellt auch schon die Notwendigkeits-Annahme einen wichtigen Unterschied zu traditionellen libertarischen Positionen dar).
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Somit ergibt sich notwendigerweise ein Konflikt zwischen den beiden Einstellungen von „Edelmut“ und „Niedertracht“; dieser wird in seiner klarsten Form am Ende des Geist-Kapitels ausgetragen, wo die prima facie moralische Handlung eines Akteurs (beurteiltes Bewusstsein) von einem beurteilenden Bewusstsein bewertet wird (PhG 3/485 ff.). Hier nimmt zuerst das beurteilte Bewusstsein die edelmütige Perspektive ein, das beurteilende Bewusstsein hingegen die niederträchtige Einstellung; das beurteilende Bewusstsein wirft daher dem Gegenüber vor, es habe nur aus Eigennutz gehandelt. Damit nimmt aber das beurteilende, niederträchtige Bewusstsein für sich selbst die Möglichkeit normativer Geltung in Anspruch – es behauptet, selbst angemessen, unparteiisch und gültig zu urteilen –, die es in Bezug auf das beurteilte Bewusstsein gerade negiert.6 Diese Situation kann nach Hegels Darstellung nur durch gegenseitiges Geständnis und Verzeihen überwunden werden. Dabei muss das beurteilte Bewusstsein zunächst die eigennützige Seite seines Handelns eingestehen. Dies führt aber noch nicht ipso facto zu einer Aufhebung des Konflikts, denn das beurteilende Bewusstsein reagiert hierauf nur durch eine weitere Wendung der Niederträchtigkeit, das harte Herz: Es nimmt das Bitten des Beurteilten um Verzeihung nicht an (PhG 3/490). Die Verzeihung erfolgt erst, wenn das harte Herz gebrochen wird (PhG 3/492) und auch der Beurteilende ein Geständnis der eigenen Niederträchtigkeit liefert. Erst im gegenseitigen Eingeständnis ihrer Einseitigkeit können sich beide Seiten verzeihen. Diese Dialektik deutet Brandom nun als Strukturmodell intersubjektiver Beziehungen, auf dessen normative Verbindlichkeit wir durch die Teilhabe an normativen Praktiken festgelegt sind, zu dessen Realisierung wir aber über die Bedingungen der Moderne und der für sie spezifischen meta-normativen Einstellung der Niederträchtigkeit hinausgehen müssen. Die Realisierung von Geständnis und Verzeihung in Form struktureller Eigenschaften von normativen Praktiken erfordert ihrerseits nach Brandoms Auffassung die diachrone Form reziproker Anerkennung, die wir bereits betrachtet haben (vgl. 3.1). In ihr wird das Urteil über den tatsächlichen Status einer Begriffsanwendung, einer Handlung oder eines sonstigen Aktes des Normenbefolgens – also auch über die Frage, ob eine konkrete Handlung tatsächlich der Autorität einer relevanten Norm gehorcht hat oder nur aus Eigennutz heraus erfolgt ist – späteren Beurteilern überlassen. In dieser über die Moderne hinausreichenden, erst noch konsequent zu realisierenden Struktur gegenseitiger Anerkennung, die durch Geständnis (das
6 PhG 3/489: „Es [sc. das beurteilende Bewußtsein] ist ferner Heuchelei, weil es solches Beurteilen nicht für eine andere Manier, böse zu sein, sondern für das rechte Bewußtsein der Handlung ausgibt, in dieser seiner Unwirklichkeit und Eitelkeit des Gut- und Besserwissens sich selbst über die heruntergemachten Taten hinaufsetzt und sein tatloses Reden für eine vortreffliche Wirklichkeit genommen wissen will“.
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Überantworten der Autorität an andere) und Verzeihung (das Ausüben der edelmütigen Einstellung) definiert ist, sieht Brandom nun eine positive Aufnahme eines Moments, das mit dem Beginn der Moderne eigentlich obsolet geworden war. Dieses Moment besteht im heroischen Handeln, das für die vormoderne Zeit charakteristisch ist. Hegel erklärt dazu: Das heroische Selbstbewußtsein (wie in den Tragödien der Alten, Ödipus usf.) ist aus seiner Gediegenheit noch nicht zur Reflexion des Unterschiedes von Tat und Handlung, der äußerlichen Begebenheit und dem Vorsatze und Wissen der Umstände, sowie zur Zersplitterung der Folgen fortgegangen, sondern übernimmt die Schuld im ganzen Umfange der Tat. (GPhR § 118 A, 7/219)
Hier ist noch kein Bewusstsein der subjektiven Freiheit gegeben; diese schließt nämlich unter anderem das Recht ein, Verantwortung nur für das zu übernehmen, was man wissentlich getan hat (GPhR § 120, 7/225). Dieser Standpunkt ist der Moderne gerade wegen seiner Unkenntnis der subjektiven Freiheit, die nach Hegel erst durch das Christentum in ihrem Eigenwert erkannt wird (GPhR § 124 A, 7/233), unterlegen. Wenn aber nur die Seite der subjektiven Freiheit gesehen wird, resultiert wieder die Einseitigkeit der Moderne; entsprechend steht die zitierte Passage innerhalb der kritischen Diskussion der Moralität in der Rechtsphilosophie. Folglich ergibt sich die Frage, ob nicht die Überwindung der Moralität in der Etablierung der Sittlichkeit auch in gewisser Weise das „heroische Selbstbewusstsein“ der Antike wiederbeleben und somit auch die moderne Tat-HandlungUnterscheidung revidieren muss. Brandom deutet nun, obwohl Hegel dies nicht klar sagt, eine partielle Rehabilitierung der heroischen Handlungstheorie der Antike als eine notwendige Bedingung dafür, dass wir über die Moderne hinaus zu einer angemessenen Verwirklichung freier gegenseitiger Anerkennung und zu der durch Geständnis und Verzeihung geleisteten Versöhnung gelangen. Nach Brandom besteht diese „Rehabilitierung“ heroischen Handelns in der Bereitschaft jedes einzelnen, im Rahmen des geschilderten Anerkennungsprozesses Verantwortung dafür zu übernehmen, was der andere tut (ASoT Kap. 8, Abschnitt XIII: „Trust: Forgiveness as Recollection, Magnanimity as the Final Form of Recognition“); die Einschränkung der Verantwortungsbereiche auf das, was man selbst wissentlich tut, wird so aufgehoben, wenn auch in anderer Weise als im Rahmen des heroischen Handelns der Antike. Subjekte innerhalb dieser Konzeption übernehmen durch das Formulieren von rationalen Rekonstruktionen die Verantwortung dafür, dass sich der tatsächliche Gehalt der Handlungen anderer Akteure als vernünftig statt als eigennützig erweist; und sie überantworten anderen die Entscheidung darüber, ob das, was sie tun, richtig oder falsch, gut oder eigennützig ist. In diesem rehabilitierten heroischen Selbstbewusstsein, das nach Brandom für die nachmoderne Art intersubjektiver
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Beziehungen und normativer Praktiken essentiell ist, sieht er die Nachfolgergestalt der edelmütigen normativen Meta-Einstellung. Die resultierende Einstellung bezeichnet Brandom auch als „Großzügigkeit“ (generosity) und „Großherzigkeit“ (magnanimity). Sie erstreckt sich auf Handlungen ebenso wie auf Begriffsanwendungen, das Aufstellen von Theorien usw., so dass Brandom allgemein von einer „Hermeneutik der Großherzigkeit“ (hermeneutics of magnanimity) reden kann (und diese auch als theoretisch-hermeneutische Grundlegung seiner eigenen Hegel-Interpretation in Anspruch nimmt) (ASoT Kap. 8, Abschnitt XIII: „Trust: Forgiveness as Recollection, Magnanimity as the Final Form of Recognition“). In der so gedeuteten Dialektik von Geständnis und Verzeihung, die zu einer allgemeinen Übernahme von Verantwortung durch rationale Rekonstruktionen führt, sieht Brandom den Kern des Hegelschen absoluten Wissens, mithin auch – aus seiner von der PhG her argumentierenden Deutungsperspektive – die Vollendungsgestalt von Freiheit. Das bedeutet aber, dass die von Brandom rekonstruierten Strukturen trotz ihres modernitätskritischen Anspruchs nicht kategorisch über die Sphäre des objektiven Geistes hinausgehen. Es gibt nun durchaus textuelle Anhaltspunkte für die Vermutung, dass für Hegel selbst in der PhG, anders als im späteren System, der „absolute Geist“ von der Sittlichkeit nicht kategorisch und ontologisch unterschieden ist. So heißt es im Rahmen der Darstellung des gegenseitigen Verzeihens: Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist. (PhG 3/493)
Entsprechend mündet die Dialektik der Verzeihung als zwischenmenschlicher Leistung direkt in das Religionskapitel. So ergibt sich die schwierige exegetische Frage, ob Hegel hier tatsächlich den absoluten Geist mit der gegenseitigen Anerkennung identifiziert, oder ob Formulierungen wie die zitierte freier interpretiert werden müssen7 und der absolute Geist ontologisch von den intersubjektiven Beziehungen endlicher Subjekte unterschieden ist.8
7 So deutet Schmidt (1997), 307 die Stelle als Ausdruck der Offenbarung des göttlichen absoluten Geistes: „Diese umfassende Versöhnung ist nicht irgendeine gütliche Übereinkunft, sondern Ausdruck einer tieferen, das Zusammenfinden der Subjekte ermöglichenden Einheitsmacht, eben des ‚absoluten Geistes‘, der eine bisher nicht erreichte Versöhnung zustande kommen lässt und sich in ihr offenbart“. 8 Einflussreiche Vertreter der atheistisch-humanistischen Identifikationsthese speziell in Bezug auf die PhG sind Lukács (1948); Kojève (1958); Solomon (1983), 5–7; eine theistische Deutung der PhG vertritt z. B. Schmidt (1997).
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Wie immer diese Frage in Bezug auf die PhG beantwortet wird, kann doch jedenfalls klar festgestellt werden, dass sie sich für das spätere System nicht mehr stellt, weil Hegel hier die Rolle intersubjektiver Anerkennungsbeziehungen von vornherein depotenziert. In der PhG steht die Dialektik der Verzeihung einschließlich der eben zitierten Passage am Ende desjenigen Teils, der der Moralität gewidmet ist. Auch im späteren System kritisiert Hegel am Ende des MoralitätsTeils das moralische Gewissen und die „schöne Seele“. Hier leitet diese Kritik aber zur Sittlichkeit über, nicht etwa zur Religion – ein wichtiger Unterschied zur PhG, auf den Hegel auch eigens hinweist (GPhR § 140 A, 7/2809). Geständnis und Verzeihung hingegen haben ihren Ort nun in der Religionsphilosophie (vgl. 9.3) und kommen weder in der Enzyklopädie noch in der Rechtsphilosophie vor – mit einer Ausnahme: nämlich dem Begnadigungsrecht des Monarchen, das Hegel aber ausdrücklich zu den kontingenten „Anwendungen oder Reflexen der Bestimmungen der höheren Sphäre“ – also hier der Sphäre des absoluten Geistes – „auf eine vorhergehende“ (GPhR § 282 A, 7/454) rechnet10 und deshalb als historisch gegebenes Faktum und Gegenstand der empirischen Rechtswissenschaft betrachtet (GPhR § 282 A, 7/454). Schließlich wird der Übergang von der Sphäre des objektiven zu der des absoluten Geistes nicht mehr durch eine besondere Form sozialer Realität oder intersubjektiver Anerkennung geleistet, sondern durch einen kognitiven Akt; Hegel erklärt in Enz. § 552, dem letzten Paragraphen der Philosophie des objektiven Geistes: [E]s ist der in der Sittlichkeit denkende Geist, welcher die Endlichkeit, die er als Volksgeist in seinem Staate und dessen zeitlichen Interessen, dem Systeme der Gesetze und der Sitten hat, in sich aufhebt und sich zum Wissen seiner in seiner Wesentlichkeit erhebt, ein Wissen, das jedoch selbst die immanente Beschränktheit des Volksgeistes hat. Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besonderen Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abstreift, erfaßt seine konkrete Allgemeinheit und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich ist und die Notwendigkeit, Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind. (Enz. § 552, 10/353)
Hegel konzipiert hier also eine Befreiung von den Einschränkungen der Freiheit, die in der geschichtlichen Realität des Staates noch bestehen, durch eine Form von Denken und Wissen, in der sich der menschliche Geist im Rahmen der
9 Hegel verweist hier auf die Kritik an den Pathologien der Moralität in der PhG, „wo der ganze Abschnitt c) das Gewissen, insbesondere auch in Rücksicht des Übergangs in eine – dort übrigens anders bestimmte – höhere Stufe überhaupt, verglichen werden kann“. 10 Dass solche niedrigeren, empirischen Reflexe der jeweils höheren Stufen für den Geist charakteristisch sind, erklärt Hegel in Enz. § 380, 10/17.
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9 Freiheit und absoluter Idealismus
sittlichen Realität dessen bewusst wird, worin das Wesen dieser sittlichen Realität besteht – nämlich seiner Freiheit: „Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität“, so erklärt Hegel, „geht nur aus der Sittlichkeit hervor und ist die denkende, d. i. der freien Allgemeinheit ihres konkreten Wesens bewußtwerdende Sittlichkeit“ (Enz. § 552 A, 10/354 f.).11 Diese Unterschiede lassen erwarten, dass die Argumentation von Hegels späterem System kritische Alternativen zu Brandoms an der PhG orientierter Lesart bietet. Tatsächlich werden wir in Abschnitt 9.3 sehen, dass Hegel in der Lehre vom absoluten Geist eine Neufassung seiner Theorie von der Verzeihung vorlegt, die die metaphysische Position des starken ontologischen Holismus voraussetzt. Im Folgenden betrachten wir aber zunächst eine immanente Schwierigkeit von Brandoms Deutung der gelingenden Freiheit als Versöhnung. Verzeihung, Versöhnung und Freiheit können nur deshalb für Brandom eine so zentrale Rolle spielen, weil er einen verallgemeinerten Externalismus in Bezug auf begrifflichen Gehalt vertritt. Bereits in Kapitel 5 haben wir gesehen, dass ein solcher verallgemeinerter Externalismus eine wichtige Rolle für Brandom, aber auch für Hegels eigenen Idealismus spielt, weil er zu denken erlaubt, dass das Wesen einer Sache durch ihre Position innerhalb eines begrifflich strukturierten, holistischen Systems festgelegt ist. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist dagegen nicht die ontologische, sondern eine handlungstheoretische Version des Externalismus relevant. „Externalismus“ in diesem Sinn ist allgemein die These, dass begrifflicher Gehalt nicht allein durch intrinsische Eigenschaften seines Trägers festgelegt ist. Brandom begreift nun auch Handlungen als Träger begrifflichen Gehalts, der hier aber nicht als Bedeutung eines Ausdrucks oder Zeichens fungiert, sondern als das, was die Handlung ausmacht – diejenige Beschreibung, die ihr eigentliches Wesen ausdrückt. Nach Brandoms handlungstheoretischem
11 Die genannten Differenzen zur PhG werden u. a. dadurch erklärt, dass die PhG noch den Jenaer Systementwürfen nahesteht, in denen der absolute Geist teilweise tatsächlich rein immanentistisch als „Volksgeist“ aufgefasst wird. In der Jenaer Realphilosophie von 1805/06 redet Hegel etwa vom „Staat der Kirche“ (269), d. h. von einem Staat, der in sich eine mit ihm versöhnten Kirche einschließt, als „Wirklichkeit des Himmelreichs“ (270) und als „Gott, der […] dasselbe als Volksgeist [ist], nur [als] Unmittelbarkeit der Geist der Gemeine ist“ (268). Die Gemeinde ist hier nicht eine von einem transzendenten Gott gestiftete Gemeinschaft, sondern eine immanente Fortentwicklung des Staates, in der die sonst an ein eingeschränktes Dasein gebundenen Bürger sich als Teil der Regierung und damit als „allgemeines Wesen und allgemeine Wirklichkeit“ verstehen können (267). Dass „Gott der Geist ist“ (268), dass die „göttliche Natur […] nicht eine andre [ist] als die menschliche“ (266), stellt hier eine Relativierung des Göttlichen dar, das nicht über die soziale Realität des endlichen Geistes hinausgeht – während im späteren System dieselben Formulierungen gebraucht werden, um die Erhebung des menschlichen Geistes zu Gott zu charakterisieren.
9.1 Ideale Freiheit bei Brandom: Verzeihung und „magnanimity“
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Externalismus wird diese gegenüber zahlreichen anderen möglichen Beschreibungen privilegierte Handlungsbeschreibung weder durch intrinsische Eigenschaften von Basishandlungen (z. B. Körperbewegungen) festgelegt, durch die die Handlung ausgeführt wird, noch durch mentale Zustände der Akteurin. Vielmehr wird der begriffliche Gehalt der Handlung durch die von Brandom oben beschriebenen sozialen Prozesse gegenseitiger Anerkennung definiert: In ihnen räumt die Akteurin anderen die Autorität ein, die Handlung zu beurteilen und damit in ihrem begrifflichen Gehalt festzulegen. Verzeihung und Versöhnung sind daher essentiell für dauerhaft gelingendes intentionales Handeln; wo sie nicht gegeben sind, kann z. B. kein stabiles Gleichgewicht zwischen den Handlungsabsichten eines Akteurs und dem von anderen beurteilten Gehalt der Handlung entstehen, und der Akteur ist zwangsläufig von seinen Handlungen und dem sozialen Umfeld, in dem er agiert, entfremdet (vgl 6.3.2). Brandoms Verallgemeinerung des semantischen Externalismus ist ein attraktives Projekt, in Bezug auf die Ontologie ebenso wie auf die Handlungstheorie. Im Hinblick auf die Theorie der Verzeihung führt er aber zu einem Problem, das wir in einer analogen Version bereits im Kontext von Hegels starkem ontologischem Holismus betrachtet haben (vgl. 5.2.4). Der handlungstheoretische Externalismus kann nämlich in zwei unterschiedlichen Weisen interpretiert werden. Nach einer antirealistischen Interpretation hängt es stets von kontingenten Kontextbedingungen ab, welche Beschreibung wir privilegieren. Die bevorzugte Deutung einer Handlung verändert sich also in einem prinzipiell nicht abschließbaren, offenen Deutungsprozess im Rahmen retrospektiver Rationalisierungen. Jede noch so umfassende Interpretation einer Handlung hat hier also nur ein relatives Privileg. Nach einer realistischen Interpretation gibt es hingegen in Bezug auf jede einzelne Handlung eine absolut privilegierte Beschreibung, die ausdrückt, was der wirkliche Gehalt der Handlung ist. Auch wenn die Explikation und Erkenntnis dieses Gehalts Sache eines langwierigen Prozesses sein kann, ist dieser Prozess doch prinzipiell abschließbar. Es muss hier also notwendige Kontextfaktoren geben; diese legen den Gehalt der Handlung unabhängig von einem kontingenten Kontext fest, welcher sich im Laufe der Interpretationsgeschichte der Handlung stets noch erweitern und modifizieren kann. Nach Brandom liegt nun der Maßstab dafür, ob eine Beschreibung jeweils als privilegiert gelten kann, in der intersubjektiven Praxis der gegenseitigen Anerkennung und der rationalen Rekonstruktion. Diese Praxis ist aber selbst wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie in Bezug auf die relevanten Entitäten eine Pluralität verschiedener Beschreibungen hervorbringt. Zwar ist diese Produktivität in Brandoms Theorie dadurch eingeschränkt, dass wir gemäß der aus der gegenseitigen Verzeihung resultierenden normativen Einstellung der magnanimity zum einen das Verhalten anderer stets zu deren Gunsten, als Teil eines
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rationalen Fortschritts, interpretieren und zum anderen jeweils unsere eigene aktuelle Sicht auf einen Gegenstand (eine sprachliche Äußerung, eine Handlung, eine Tatsache usw.) als den Zielpunkt jenes Fortschritts und damit als privilegiert ansehen. Doch sind in jeder Situation sehr viele Weisen denkbar, Erfolgsgeschichten zu entwerfen, in die viele relevante frühere Interpretationen, Begriffsverwendungen usw. eingepasst werden können. Die Verfügbarkeit solcher Rekonstruktionen garantiert bei weitem nicht, dass ingesamt tatsächlich ein Fortschritt stattgefunden hat und man sich auf eine angemessene Interpretation des jeweils fraglichen Gegenstands zubewegt hat. – Brandom scheint also auf die antirealistische Lesart des Externalismus festgelegt zu sein; dadurch werden aber die rationale Erkennbarkeit und Begreifbarkeit des Wirklichen, die durch Brandoms Begriffsrealismus eigentlich sichergestellt werden sollen, unterminiert – ähnlich wie wir es schon in der Diskussion von Brandoms Begriffsrealismus selbst gesehen haben (5.1.2). Der antirealistische Externalismus erzeugt darüber hinaus ein besonderes Problem, was die moralische Bewertung von Handlungen angeht. Wenn der begriffliche Gehalt von Handlungen gemäß der antirealistischen Lesart wesentlich durch einen unabschließbaren Kontext festgelegt wird und es deshalb keine absolut privilegierte Beschreibung einer Handlung gibt, sondern eine Vielzahl legitimer, aber miteinander inkompatibler Beschreibungen, dann ist jede moralische Bewertung einer Handlung relativ. Denn selbst dann, wenn es feststehende moralische Normen mit klaren Anwendungsbedingungen gäbe, würden doch verschiedene Beschreibungen einer Handlung zu unterschiedlichen moralischen Bewertungen führen. Im Zusammenhang mit Brandoms Rekonstruktion der Dialektik von niederträchtigem und edelmütigem Bewusstsein folgt hieraus aber, dass nie wirkliche Verzeihung stattfinden kann. Wie Hegel darlegt, setzt nämlich die Verzeihung ein Bekenntnis seitens des Akteurs voraus. Dieses muss besagen, dass tatsächlich eine Schuld vorliegt – der Akteur muss sich auf einen objektiven Gehalt seiner Handlung festlegen. Wenn es stattdessen stets je nach Kontextualisierung eine Vielzahl gleich legitimer und einander ausschließender Beschreibungen einer Handlung gibt, dann ist kein authentisches Bekenntnis von Schuld möglich. Entsprechend kann aber auch keine Schuld verziehen werden: Die Beschreibung, unter der die Handlung als Vergehen angeklagt und bekannt wurde, bleibt nämlich nach wie vor legitim. Entsprechend resultiert bei Brandom auch aus der Verzeihung nur die Verpflichtung, das Verhalten anderer Akteure möglichst karitativ zu deuten, nicht aber die Tatsache, dass die im Bekenntnis gebrauchte Beschreibung nun wirklich hinfällig geworden ist. Dagegen beansprucht Hegel, dass der schuldhafte Charakter der Tat – in Brandoms Begriffen derjenige begriffliche Gehalt, der sie zu einer verurteilbaren Handlung macht – vor der Verzeihung tatsächlich bestanden hatte und durch sie
9.2 Hegel und die Metaphysik des „Reichs der Zwecke“
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nun gänzlich eliminiert wird: „Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben; die Tat ist nicht das Unvergängliche, sondern wird von dem Geiste in sich zurückgenommen […]“ (PhG 3/492).12 Durch die Verzeihung wird also das Wesen der fraglichen Handlung transformiert; nach der Verzeihung wäre es falsch, sie noch zu kritisieren. Hier findet eine externalistische Festlegung des Handlungsgehaltes durch einen Kontext statt, der sich nicht im Rahmen eines Interpretationsprozesses beliebig verändern kann. Vielmehr umfasst dieser Kontext nur zwei Arten von Faktoren: zum einen Faktoren, die den moralischen Charakter der Handlung objektiv festlegen; zum anderen einen möglichen Akt der Verzeihung, der diesen Charakter streicht. Hegel vertritt also auch hier, wie schon im ontologischen Parallelfall, eine realistische Deutung des semantischen Externalismus; die realistische Annahme eines absoluten Kontextes für die externalistische Festlegung der Handlungsbedeutung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass genuine Verzeihung in dem von Hegel beanspruchten starken, das Wesen der Handlung ex post verändernden Sinn möglich ist. Es zeigt sich somit, dass der systematische Kern von Brandoms Theorie idealer Freiheit, wie sie in der Epoche eines nach-modernen Verständnisses von Normativität realisiert werden muss, mit wesentlichen Schwierigkeiten konfrontiert ist, die mit Brandoms theoretischem Instrumentarium nicht zu lösen sind. Im Folgenden wende ich mich nun Hegels Theorie des absoluten Geistes im späteren System zu und untersuche, wie Hegel dort die Idealgestalt von Freiheit konzipiert.
9.2 Hegel und die Metaphysik des „Reichs der Zwecke“ Wie Brandom, so verortet auch Hegel ideale Freiheit in einer Versöhnung, die noch nicht allein durch gewöhnliche epistemische und praktische Freiheit geleistet wird. In diesem und den folgenden Abschnitten untersuche ich Hegels Theorie dieser Versöhnung. – Die für die Lehre vom absoluten Geist kennzeichnende Perspektive auf den Freiheitsbegriff ist in nuce in der Anmerkung zu § 482 der Enzyklopädie ausgedrückt13: Diese Idee [sc. der Freiheit] ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis, diesen Geist in sich wohnen zu haben, d. i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist. (10/301 f.)
12 Vgl. auch PhG 3/491: „Es [sc. das harte Herz] […] erkennt nicht, daß der Geist in der absoluten Gewißheit seiner selbst über alle Tat und Wirklichkeit Meister [ist] und sie abwerfen und ungeschehen machen kann“. 13 Vgl. zur Bedeutung von Enz. § 482 A für Hegels Freiheitstheorie Lakebrink (1969), 163 ff.
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Nach der Auskunft, die Hegel hier gibt, besteht die dem Menschen durch den absoluten Geist ermöglichte Freiheit – die „höchste Freiheit“ – darin, dass der Mensch „zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis“ hat, oder dass er „diesen Geist in sich wohnen“ hat. Vollendete vernünftige Freiheit ist für den Menschen also nur im gegenseitigen Verhältnis zu Gott als Geist möglich; außerhalb dieses Verhältnisses, wie in der für sich betrachteten epistemischen und praktischen Freiheit, sind weder die „höchste Freiheit“ noch der „unendliche Wert“ und das eigentliche Wesen des Menschen zugänglich. Dies sind starke und zunächst obskure Aussagen. Im Folgenden werden wir sehen, wie derartige Aussagen genauer verstanden und im Kontext des bisher entwickelten Freiheitsbegriffes eingeordnet werden können. In der zitierten Passage bestimmt Hegel die „höchste Freiheit“ so, dass der Mensch den göttlichen Geist „in sich wohnen“ hat. Eine ähnliche Charakterisierung gibt Hegel in seiner „offiziellen“ Kennzeichnung der „Sphäre“ des absoluten Geistes insgesamt – also Kunst, Religion und Philosophie –, die er als Wirklichkeits- und Rationalitätsform beschreibt, in der der absolute im endlichen Geist präsent ist: Die Religion, wie diese höchste Sphäre im allgemeinen bezeichnet werden kann, ist ebensosehr als vom Subjekte ausgehend und in demselben sich befindend als objektiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist. (Enz. § 554, 10/366)
Die Präsenz des absoluten Geistes „in seiner Gemeinde“ entspricht, so liegt es nahe anzunehmen, dem „Wohnen“ des göttlichen Geistes im Menschen gemäß Enz. § 482 A, mithin der „höchsten Freiheit“. Hegels Kennzeichnungen in diesem Kontext sind religionsphilosophischer Natur; ich werde aber im Folgenden dafür argumentieren, dass es sich hierbei nicht lediglich um eine Instanz der bildhaften Sprache handelt, die nach Hegel die Religion von der Philosophie unterscheidet14, sondern um genuin philosophische Aussagen. Zu diesem Zweck rekonstruiere ich einen Teil des relevanten historischen Hintergrundes zu den fraglichen Beschreibungen, wobei sich zeigen wird, dass Hegel hier – vermittelt durch Kant – auf eine bis in die Antike zurückreichende metaphysische (und nicht etwa rein theologische) Tradition zurückgreift. Im Mittelpunkt dieser Tradition steht der
14 Z. B. Enz., Zweite Vorrede 8/24: „Der Gehalt [sc. von Religion und Philosophie] ist derselbe, aber wie Homer von einigen Dingen sagt, daß sie zwei Namen haben, den einen in der Sprache der Götter, den anderen in der Sprache der übertägigen Menschen, so gibt es für jenen Gehalt zwei Sprachen, die eine des Gefühls, der Vorstellung und des verständigen, in endlichen Kategorien und einseitigen Abstraktionen nistenden Denkens, die andere des konkreten Begriffs“.
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wichtigste Vorläufer von Kants und Hegels Begriffs des Reichs der Freiheit – der des Reichs der Zwecke bzw. der Gnade. Unser erster Anknüpfungspunkt in diesem Kontext ist Kants Lehre vom höchsten Gut – was angesichts von Hegels Kritik an Kants Moralphilosophie, auf die wir uns im Vorangegangenen mehrfach bezogen haben, überraschen kann, aber im Folgenden verständlicher wird. Das höchste Gut besteht für Kant in der Koordination von moralischem Handeln und empfangener Belohnung (Glückseligkeit). Um moralisch handeln zu können, müssen wir für Kant das höchste Gut für möglich halten, weil seine Realität das „nothwendige Object eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ (AA 5/122) darstelle. Dies können wir aber kohärenterweise nur unter Voraussetzung der Postulate von der Existenz eines Schöpfergottes mit traditionellen Prädikaten (Gerechtigkeit, Güte, Allwissenheit usw.) und der Unsterblichkeit der Seele tun. In seinen späten Schriften entwickelt Kant auf der Grundlage der Postulatenlehre eine konkretere Auffassung davon, wie die Möglichkeit des höchsten Gutes zu denken ist. Um den nötigen Hintergrund zu gewinnen, vor dem Hegels Kennzeichnungen der „höchsten Freiheit“ verständlicher werden, sind hier zwei Gesichtspunkte für uns wichtig. Der erste Gesichtspunkt betrifft die teleologische Ordnung der Natur. In der Kritik der Urteilskraft rechtfertigt Kant zwei dazu einschlägige praktische Annahmen: erstens die Ausrichtung der Naturordnung auf die menschliche Kultur als höchstem Zweck in der Natur (AA 5/431), zum anderen die Ausrichtung der ganzen Welt bzw. „Schöpfung“ auf einen „Endzweck“, nämlich das höchste Gut (AA 5/455). Zweitens ist hier Kants Lehre vom ethischen Gemeinwesen als Realisierung der Vernunftidee einer „unsichtbaren Kirche“ in der Religionsschrift wichtig (vgl. Sala (2004) und die Beiträge in Städtler (2005)). Kant entwickelt den Gedanken des ethischen Gemeinwesens im dritten Teil der Religionsschrift; Ausgangspunkt ist dabei der paulinische Gedanke der Befreiung des Menschen von der Sünde oder, in Kants Ausdruck, von der Herrschaft des „bösen Prinzips“ (s. AA 6/93), also der falschen Hierarchisierung von Maximen. Auch wenn der einzelne Mensch den geforderten Gesinnungswechsel vom bösen hin zum guten Willen vollzogen hat, bleibt er doch, so Kant, der Anfechtung durch die böse Gesinnung unterworfen.15 Kant nennt diesen Zustand in Analogie zum „juridischen“ Naturzustand des Kriegs aller gegen alle den „ethischen Naturzustand“; um einer dauerhaften sittlichen Gesinnung willen muss der Mensch aus ihm heraustreten
15 AA 6/93 f.: „Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist […]“.
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(AA 6/96 f.). Die hier obwaltende Verpflichtung trifft aber nicht Individuen als solche, sondern die Menschheit als ganze. Das höchste Gut als notwendiger Gegenstand des moralischen Wollens ist nämlich ein gemeinschaftlicher Zweck der Menschen, weil es die sittliche Gesinnung aller Vernunftwesen in einem „System wohlgesinnter Menschen“ erfordert (AA 6/98). Dieses System ist ein Gemeinwesen, das nach moralischen und nicht bloß (wie das juridische Gemeinwesen) nach legalen Prinzipien organisiert ist, und bildet daher als „ethisches Gemeinwesen“ das Gegenstück zum ethischen Naturzustand. Da das ethische Gemeinwesen durch moralische, nicht nur legale Gesetze organisiert sein muss, entspricht es der Realisierung des „Reichs der Zwecke“, das Kant schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als Ideal einer „systematische[n] Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze“ (AA 4/433) beschreibt.16 Das „Reich der Zwecke“ hat aber nach Kant ein Oberhaupt, nämlich einen göttlichen Willen, für den es keine Pflicht gibt, weil sein Wille ipso facto mit dem Sittengesetz übereinstimmt (vgl. AA 4/ 433 f.; AA 6/227). Vor diesem Hintergrund kann Kant in der Religionsschrift auch das ethische Gemeinwesen als „Reich Gottes“ kennzeichnen, d. h. als ideales Gemeinwesen unter „Gott als einem moralischen Weltherrscher“ (AA 6/99). Die Realisierung dieses ethischen Gemeinwesens beschreibt er dabei als konkreten historischen Prozess, der auf die zwar unabsehbare, aber doch mögliche Realität des Reichs Gottes auf Erden hinführt. Dieses irdische Reich Gottes kennzeichnet Kant zugleich als die Vernunftidee der „unsichtbaren Kirche“, die er definiert als die „bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen zu stiftenden zum Urbilde dient“ (AA 6/101). Kant entwirft auf dieser Grundlage die geschichtsphilosophische Konzeption eines Prozesses, in dem die Menschheit vom defizitären Geschichtsglauben der Kultus- und Offenbarungsreligion hin zum reinen Vernunftglauben eines moralisch interpretierten Christentums gelangt und diesen in einer kosmopolitischen, nichtkonfessionellen und nichthierarchischen moralischen Gemeinschaft institutionalisiert (AA 6/101 f.).17 Es stellt gegenüber den früheren Schriften eine wesent-
16 Vgl. AA 4/438: „Ein solches Reich der Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ allen vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zu Stande kommen, wenn sie allgemein befolgt würden“. 17 Freilich können wir für Kant die Vollendung der Kirche zum Reich Gottes auf Erden „nicht als empirische Vollendung absehen“, sondern sie „nur im continuirlichen Fortschreiten und Annäherung zum höchsten auf Erden möglichen Guten […] hinaussehen, d. i. dazu Anstalt machen“ (AA 6/136). Und auch wenn die unsichtbare Kirche Wirklichkeit hätte, wäre dadurch weder die gerecht proportionierte Glückseligkeit als zweites Teil des höchsten Gutes gewährleistet, noch
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liche Erweiterung von Kants Position dar, dass er zusätzlich zur in der Postulatenlehre ausgesprochenen Jenseitserwartung auch die irdische Menschheitsgeschichte als Teil der Realisierung des höchsten Gutes betrachtet, also als genuines Heilsgeschehen, das der göttlichen Mitwirkung bedarf18 und über die säkulare Geschichte juridischer Gemeinwesen auf ihrem Weg zum „ewigen Frieden“ kategorisch hinausgeht. Hierdurch und durch den Gedanken einer Gemeinschaft mit Gott, die wir im Reich der Zwecke und im ethischen Gemeinwesen eingehen, liefert Kant wichtige Anknüpfungspunkte für Hegel, wie wir im Folgenden sehen werden. Freilich kann es auch bei Kant den Anschein haben, als wären die Fragestellungen, die er im Kontext seines Begriffs vom ethischen Gemeinwesen thematisiert, allein von theologischem und religionsphilosophischem Interesse. Tatsächlich transformiert Kant aber mit diesem Theorieelement ebenso wie mit den Postulaten von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit Lehrstücke der traditionellen Metaphysik, um sie unter moralphilosophischen Vorzeichen neu zu begründen.19 Der Gedanke einer moralischen Gemeinschaft als „Reich der Zwecke“, ja als „Reich Gottes“, das seinerseits in teleologischer Harmonie mit der Natur steht, greift auf Leibniz’ Ausführungen zur Gemeinschaft der geistigen Monaden mit Gott zurück. So heißt es etwa in den Principes de la nature et de la grâce fondés en raison (1714), § 15: [T]ous les esprits, soit des hommes, soit des génies, entrant en vertu de la raison et des vérités éternelles dans une espèce de société avec Dieu, sont des membres de la cité de Dieu, c’est-à-dire du plus parfait état, formé et gouverné par le plus grand et le meilleur des monarques: où il n’y a point de crime sans châtiment, point de bonnes actions sans récompense proportionnée; et enfin autant de vertu et de bonheur qu’il est possible […]. (Phil. Schriften I, 432–434)20
wären die Menschen moralisch vollendet; diese Vollendung bedarf nach wie vor der infiniten Annäherung des menschlichen an den heiligen Willen. In beiden Hinsichten kann für Kant also der Gedanke des diesseitigen ethischen Gemeinwesens nicht an die Stelle der Jenseitserwartung in der Postulatenlehre treten. 18 AA 6/98: „Man wird schon zum voraus vermuthen, daß diese Pflicht [sc. die zur Bildung eines ethischen Gemeinwesens] der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich der eines höhern moralischen Wesens, bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden“. 19 Auch etwa den Begriff des Endzwecks der Schöpfung (finis creationis) bezieht Kant aus der rationalistischen Metaphysik, hier speziell der Metaphysik Baumgartens, wo dieser Begriff innerhalb der natürlichen Theologie abgehandelt wird (vgl. Düsing (1971), 39 ff.). 20 „Insofern daher alle Geister, seien es Menschen oder seien es Genien, kraft der Vernunft und der ewigen Wahrheiten in eine Art Gemeinschaft mit Gott treten, sind sie Mitglieder des Gottesstaats, das heißt des vollkommensten Staates, der vom größten und besten der Monarchen
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Leibniz’ Kennzeichnung des Gottesstaates kann als direkter Vorläufer von Kants Verständnis des höchsten Gutes gelten – eine Gemeinschaft von Vernunftwesen unter Gottes Herrschaft, in der höchstmögliche Sittlichkeit mit koordinierter Glückseligkeit einhergeht („autant de vertu et de bonheur qu’il est possible“). Die Begrifflichkeit, derer sich Leibniz hier bedient, geht ihrerseits zurück auf Nicolas Malebranche und dessen Rezeption von Augustinus’ De Civitate Dei. Malebranche integriert nämlich Augustinus’ Zwei-Staaten-Lehre (irdischer Staat vs. Gottesstaat) in seine rationalistische Metaphysik21 und legt damit den Grund für die Rezeption von Begriffen wie „Reich Gottes“ bei Leibniz, Kant und Hegel.22 Dabei handelt es sich keineswegs um eine rein theologische Konzeption; vielmehr dient das Modell der Zwei-Staaten-Lehre als Paradigma, um das ontologische Verhältnis zwischen der Natur und der Sphäre der Freiheit und des Geistes zu interpretieren. Dies hat wiederum die mittelalterliche Tradition einer Ontologie des „esse morale“ zur Voraussetzung, von der wir in Abschnitt 2.1 gesehen haben, dass sie die Grundlage für die neuzeitliche Unterscheidung von Normativem und NichtNormativem bildet. Allerdings besteht in Kants Rezeption der skizzierten Tradition eine wesentliche Leerstelle, die wiederum für Hegels Weiterentwicklung der Kantischen Konzeption wichtig sein wird. Diese Leerstelle betrifft den Begriff der Gnade. Für Malebranche und Leibniz ebenso wie für die scholastischen Theoretiker des „esse morale“ ist die Realisierung des „Reichs Gottes“, die „société avec Dieu“ oder die Vervollkommnung des „esse morale“ an die göttliche Gnadenwirkung gebunden; die genannte ontologische Unterscheidung von Natur und Geist wird entsprechend auch als Differenz zwischen dem Reich der Natur (regnum naturae) und dem Reich der Gnade (regnum gratiae) gefasst. Interessant ist hier für unsere Zwecke besonders der Zusammenhang, den die franziskanischen Vertreter einer Ontologie des „esse morale“ (wie Alexander von Hales und Bonaventura von Bagnoregio) zwischen diesem Seinsbereich und dem Gnadenbegriff herstellen
geschaffen und regiert wird, in dem es kein Verbrechen ohne Bestrafung, keine guten Handlungen ohne entsprechende Belohnung, und schließlich soviel Tugend und Glück wie möglich gibt […]“ (Üs. H.H. Holz). 21 So lautet der erste Artikel des Traité de la nature et de la grâce (1680): „Dieu ne pouvant agir que pour sa gloire, et ne la pouvant trouver qu’en lui-même, n’a pu aussi avoir d’autre dessein dans la création du Monde, que l’établissement de son Église“ (Oeuvres V, 12) („Da Gott nur zu seinem Ruhm handeln kann, und ihn nur in sich selbst finden kann, konnte er keine andere Absicht in der Erschaffung der Welt haben als die Einrichtung seiner Kirche“). „Église“ bzw. „Kirche“ steht dabei – wie später bei Kant – für den augustinischen Gottesstaat und die Realität des Reichs Gottes. 22 Zum Zusammenhang zwischen Augustinus, Leibniz und Kant in diesem Kontext vgl. N. Fischer (2009), 92 f.
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(vgl. Kobusch (1993), 51 ff.). Die göttliche Gnadenwirkung erhält bei diesen Autoren nämlich, wie Kobusch gezeigt hat, in Bezug auf das „esse morale“ die Funktion einer substantiellen Form, die einzelne Entitäten vervollkommnet.23 Eine menschliche Verfehlung beispielsweise führt dazu, dass der Akteur Schuld auf sich lädt – eine Entität, die nicht mit der eigentlichen Handlung als natürlichem Ereignis identisch ist, sondern dem „esse morale“ angehört (in Brandoms Terminologie: ein normativer Status).24 Während die Handlung als natürliches Ereignis irreversibel ist, kann die moralische Entität der Schuld zum Guten verändert werden, und zwar durch Verzeihung – also einen (moralischen, nicht natürlichen) Akt der Anerkennung („aestimatio“) (Kobusch (1993), 50 f.). Diejenige Kraft, die letztlich derartige Veränderungen bewirkt, ist die göttliche Gnade: Durch seine Gnadenwirkung vervollkommnet Gott also die moralischen Entitäten, die den menschlichen Akteuren zukommen. Innerhalb dieser Konzeption spielt somit die Gnade als Vervollkommung des Reichs des menschlichen „esse morale“ eine zentrale ontologische Rolle innerhalb einer Theorie, die die kategorische Differenz zwischen natürlichem Sein einerseits und der Realität von Freiheit andererseits zu erfassen sucht. Ähnlich fungiert später bei Malebranche und Leibniz das „Reich der Gnade“ (die Realisierung des „Gottesstaates“ oder des irdischen „Reichs Gottes“) als die Vervollkommnung des Reichs der Zwecke in einer Gemeinschaft der Menschen mit Gott, wie sie Leibniz in der oben zitierten Passage beschreibt.25 Kant dagegen kann der Gnade keinen derartigen Stellenwert einräumen, weil der Gnadenbegriff in einer grundlegenden Spannung zu seiner Moralphilosophie steht, die auf dem Gedanken des universal verbindlichen Sittengesetzes basiert: Eine übergesetzliche göttliche Entscheidung, durch die beispielsweise eine moralisch schlechte Handlung verziehen wird, muss für Kant einen Willkürakt darstellen. Zwar meint Kant in der Religionsschrift, dieses Problem durch eine komplexe Gnadenlehre lösen zu können (AA 6/ 71 ff.), nach der die göttliche Gnade in einer allgemeinen Einstellung des göttlichen Richters besteht.26 In jedem Fall ist aber in Kants Konzeption die Funktion
23 Vgl. das Zitat von Matteo d’Acquasparta bei Kobusch (1993), 53. 24 Vgl. die Zitate von Petrus Aureoli bei Kobusch (1993), 50 f. 25 Kobusch (1993) verfolgt dagegen den historischen Einfluss der mittelalterlichen esse-moraleOntologie in der Neuzeit speziell in Bezug auf die Naturrechtstradition und den Kantischen Begriff der „Metaphysik der Sitten“. 26 Kant argumentiert hier folgendermaßen: Wenn wir unsere moralische Gesinnung zum Guten ändern, bringt dies Leiden und Entsagungen mit sich, durch die die Vergehungen des „alten“ Menschen (vor der Gesinnungsänderung) bestraft werden (AA 6/74 f.). Deshalb kann Gott uns wohlwollend für die erworbene gute Gesinnung belohnen, wenngleich wir darauf wegen der vorherigen schlechten Gesinnung keinen Rechtsanspruch haben. Göttliche Gnade stellt so für Kant eine zwar übergesetzliche, aber doch für alle Menschen gleiche und mit dem Sittengesetz
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der Gnade im Vergleich zur Tradition, in der Gottes gesamte Interaktion mit der Welt durch Gnade bestimmt ist, sehr stark eingeschränkt. Auch ohne einen ausgeprägten Gnadenbegriff ist Kants Lehre vom „ethischen Gemeinwesen“ als Realisierung der „unsichtbaren Kirche“ oder des Reichs Gottes doch jedenfalls der Tradition einer christlichen Metaphysik des Reichs der Zwecke zuzurechnen, die zwar mit starken theologischen Prämissen operiert, aber selbst philosophischen Charakter hat und bei den genannten Scholastikern ebenso wie bei Malebranche und Leibniz eine zentrale Rolle für die jeweiligen metaphysischen Theorien spielt. Auch Kant interpretiert die einschlägigen Theoreme dem Gehalt nach durchaus metaphysisch, wenngleich sie für ihn nur moralisch begründbar sind und daher kein Wissen, mithin auch keine eigentliche Metaphysik darstellen können. Sobald freilich Kants Nachfolger dessen kritische Begrenzung möglicher Erkenntnis aufheben, können sie seine einschlägigen Lehren im Sinne der Tradition wieder metaphysisch interpretieren.27 Dass nun vor dem Hintergrund des skizzierten Traditionszusammenhanges auch der Freiheitsbegriff in Hegels reifer Lehre vom absoluten Geist verständlicher gemacht werden kann, ist allerdings nach gewöhnlichen Interpretationen nicht zu erwarten; zu groß erscheint Hegels Distanz zu Kant gerade in Bezug auf die Postulatenlehre.28 Es gibt aber auch Anhaltspunkte dafür, dass hier eine
kompatible Einstellung des göttlichen Richters dar und ist nur deshalb der „ewigen Gerechtigkeit völlig gemäß“ (AA 6/76). 27 Exemplarisch hierfür ist das sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus mit der gleich eingangs geäußerten These, dass „die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt“ (in der Werkausgabe Hegels, dem das Fragment von manchen Forschern zugeschrieben wird, 1/ 234). Damit ist, wie der weitere Verlauf des Textes zeigt, nicht eine moralische Begründung metaphysischer Inhalte als bloßer Postulate gemeint, sondern eine idealistische Metaphysik, deren zentrale Frage die ist: „Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ (1/ 234). Die Konzeption, die in dem Fragment entwickelt wird, läuft hinaus auf den Gedanken einer idealen Gemeinschaft, der Kants Lehre vom ethischen Gemeinwesen unter dem Eindruck der Ideale der französischen Revolution und der ästhetischen Utopie Schillers interpretiert. So heißt es etwa: „Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit, – Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst“ (1/235). Dabei gehen nicht nur die genannten „Ideen“ auf Kant zurück, sondern auch die Rede vom „Umsturz alles Afterglaubens“; nach Kant erfolgt ja die Realisierung des ethischen Gemeinwesens gerade dadurch, dass die „historische“ Religion mit ihren negativen Folgeerscheinungen sukzessive von der Vernunftreligion abgelöst wird (AA 6/124). 28 Hegel wendet sich in Reaktion auf die Aneignung der Postulatenlehre zur Rehabilitierung einer christlichen Dogmatik durch den Tübinger Theologen Gottlob Christian Storr kritisch von der Postulatenlehre ab. Nach der Kant-Kritik in „Glauben und Wissen“, der PhG und der Enzyklopädie ist die Postulatenlehre demnach Ausdruck gleich zweier interner Schwächen der Kantischen Philosophie. Erstens stehen die Postulate auf Grund der Einschränkung ihres episte-
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differenziertere Einschätzung nötig ist. Die Diskussion solcher Elemente im Hegelschen Denken wird es ermöglichen, Hegels Bestimmung der „höchsten Freiheit“ als „Dasein Gottes in seiner Gemeinde“ in derjenigen Tradition einer Metaphysik des Reichs der Zwecke zu sehen, die zuvor Kant in seiner Moraltheologie aufgegriffen hatte. Dass Hegels Einstellung zu der in Kants Moraltheologie fortgeführten Tradition einer Metaphysik des Reichs der Zwecke grundsätzlich positiv ist, wird deutlich, wenn Hegel im Kontext des Übergangs vom objektiven hin zum absoluten Geist über Kants Gottespostulat überraschend zustimmend schreibt29: In Ansehung der Ausgangspunkte dieser Erhebung [sc. des Geistes zu Gott in den Gottesbeweisen] hat Kant insofern im allgemeinen den richtigsten ergriffen, als er den Glauben an Gott aus der praktischen Vernunft hervorgehend betrachtet. Denn der Ausgangspunkt enthält implizit den Inhalt oder Stoff, welcher den Inhalt des Begriffs von Gott ausmacht. Der wahrhafte konkrete Stoff ist aber weder das Sein (wie im kosmologischen) noch nur die zweckmäßige Tätigkeit (wie im physikotheologischen Beweise), sondern der Geist, dessen absolute Bestimmung die wirksame Vernunft, d.i. der sich bestimmende und realisierende Begriff selbst, – die Freiheit ist. (Enz. § 552 A, 10/354)
Kants Moraltheologie ist demnach traditionellen Gottesbeweisen überlegen, weil sie einen argumentativen Zugang zu Gott bietet, der von der Realität vernünftiger Freiheit (nach Hegel: ihrer Realität im objektiven Geist) ausgeht statt von der Natur.30 Auch Kants Lehre vom höchsten Gut bespricht Hegel an einigen Stellen in positiverer Weise, als es seine sonstige Kritik an diesem Teil der Kantischen Philosophie vermuten lassen würde. So heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die „Vorstellung des Konkreten“ sei Kant unter ande-
mischen Stellenwertes für Kants Verfahren, unser Wissen zu subjektivieren und damit seinen Wissenscharakter aufzuheben. Zweitens sind sie Ausdruck des internen Widerspruchs in Kants Moralphilosophie, dass der gute Wille und die Realität des Sittengesetzes zugleich als geboten und als nie wirklich erreichbar hingestellt werden. 29 Diese Stelle widerlegt Interpretationen wie die von Hodgson (2005), 120 f., nach denen Kants Moraltheologie und besonders der ethikotheologische Gottesbeweis für den reifen Hegel (nach Hodgson sogar schon in den 1790er Jahren) keine positive Rolle spielen. Jaeschke (1986), 260 relativiert die Stelle dahingehend, dass Hegel hier versuche, Kants Moraltheologie „späte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“; schon der zentrale systematische Ort der Stelle (sie erläutert den Übergang zum absoluten Geist) spricht aber dafür, sie stärker ernst zu nehmen. 30 Auch in „Glauben und Wissen“ stellt Hegel bei aller Kritik an der Postulatenlehre fest, im Kantischen Gottespostulat sei „nichts anderes ausgedrückt als die Idee, daß die Vernunft zugleich absolute Realität habe, daß in dieser Idee aller Gegensatz der Freiheit und der Notwendigkeit aufgehoben, daß das unendliche Denken zugleich absolute Realität ist oder die absolute Identität des Denkens und des Seins“ (2/330 f.).
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rem in der folgenden Weise präsent: „Die praktische Vernunft hat einen Zweck; dieser Zweck in seiner ganzen Allgemeinheit ist das Gute“ (VGPh 20/382). Hegel sieht also hier von der spezifischen Kantischen Deutung des höchsten Guts ab, die er an anderer Stelle kritisiert, und betrachtet nur den Gedanken eines allgemeinen Vernunftzwecks als solchen. Dieses Gute nun, so referiert Hegel Kant, ist zunächst nur „mein Gedanke“; aber, so fährt er fort, es ist die absolute Forderung vorhanden, daß dies Gute auch realisiert werde in der Welt, daß die Naturnotwendigkeit den Gesetzen der Freiheit, des Gedankens entspreche, aber nicht als Notwendigkeit einer äußerlichen Natur, sondern durch die Welt überhaupt, durch das Rechtliche, Sittliche, durch das menschliche Leben, das Staatsleben, – daß die Welt gut sei. (VGPh 20/382)
Hier bezieht sich Hegel auf den Kantischen (und Leibnizschen) Gedanken einer Harmonie des Reichs der Natur und des Reichs der Zwecke, die bei Kant zum einen im Begriff des höchsten Gutes als Einheit von Glückseligkeit (Reich der Natur) und Sittlichkeit (Reich der Zwecke) enthalten ist, zum anderen im Gedanken der teleologischen Natur- und Schöpfungsordnung. Allerdings distanziert sich Hegel davon, diese Einheit von Natur und Freiheit als Leistung der Natur zu begreifen, wie es Kant selbst im Hinblick auf die Naturteleologie und die Glückseligkeits-Seite des höchsten Gutes durchaus auch tut. Vielmehr deutet Hegel hier die Kantische Position so um, dass die Realisierung des höchsten Gutes allein durch unser individuelles und kollektives Handeln erfolgt. Während also für Kant zur „Welt“ oder „Schöpfung“, deren „Endzweck“ laut Kritik der Urteilskraft (AA 5/ 455) das höchste Gut ist, sowohl die Natur als auch der Mensch und sein Tun zählen, schränkt Hegel den Welt-Begriff in diesem Kontext auf die Welt der geistigen Tätigkeit ein. Dem für Kant wichtigen Punkt, dass wir nicht etwa durch unsere eigene Tätigkeit allein das höchste Gut und das Reich Gottes auf Erden verwirklichen können, trägt Hegel dann Rechnung, indem er fortfährt: Diese Identität des Guten und der Realität ist die Forderung in der Vernunft; aber die subjektive Vernunft kann dies nicht realisieren. In jeder guten Handlung vollbringt der Mensch etwas Gutes. Dies ist aber nur beschränkt; das allgemeine Gute, der allgemeine Endzweck als Endzweck der Welt kann nur erreicht werden durch ein Drittes. Und diese Macht über die Welt, die zum Endzweck hat das Gute in der Welt, ist Gott. (VGPh 20/382)
Auch hier transformiert Hegel den Kantischen Gedanken bereits in seiner Wiedergabe. Bei Kant – wie bei Leibniz – hat Gott primär die Rolle eines Schöpfers, der die Welt so einrichtet, dass das höchste Gut in ihr möglich ist. Nach Hegels Zusammenfassung dagegen wird das höchste Gut durch Gottes prozesshaftes Wirken hervorgebracht, das unser individuelles, beschränktes Tun komplemen-
9.2 Hegel und die Metaphysik des „Reichs der Zwecke“
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tiert.31 Recht, Sittlichkeit und Staat dienen – wie Hegel in der zuvor zitierten Passage erklärt hatte – als Momente des Prozesses, in dem das höchste Gut verwirklicht wird. Während dadurch die Naturteleologie die Bedeutung, die sie für Kants Postulatenlehre hat, ganz verliert, orientiert sich Hegel implizit eher an der Religionsschrift, die historische Prozesse als Teile von Gottes „allgemeine[r] Veranstaltung“ (AA 6/98) zur Realisierung des ethischen Gemeinwesens und damit des Reichs Gottes auf Erden begreift.32 Freilich unterscheidet sich Hegels Position auch im Verständnis der geschichtlichen Dimension von Kants Moraltheologie wesentlich von Kants eigener Auffassung. Insbesondere klammert Hegel, wenn er hier die Kantische als Antizipation der eigenen Position referiert, die Zukunftsbezogenheit der Postulatenlehre aus. Wie Hegel an verschiedenen Stellen argumentiert, krankt Kants Moralphilosophie intrinsisch daran, dass sie ein „perennierendes Sollen“ (s. WdL 5/155) vorschreibt: Sittlichkeit wird in ihr zum Gebot gemacht, aber zugleich für nicht realisierbar gehalten. In Bezug auf die Postulatenlehre kommt dies zum einen im Charakter des höchsten Gutes als zukünftiger Realität, zum anderen in der These zum Tragen, die gute Gesinnung sei uns nur in unendlicher Annäherung und mithin in einem künftigen Leben möglich. Infolge dieser Kritik vertritt Hegel erstens die Position, dass wir das Gute bzw. den Endzweck der Welt als bereits realisiert denken müssen und nicht, wie bei Kant, als etwas, das noch aussteht und entweder in einem künftigen Leben oder in einem späteren Zustand auf Erden verwirklicht werden wird. Entsprechend gibt es für Hegel keine zukünftigen eschatologischen Ereignisse; er identifiziert vielmehr das Weltgericht mit der Weltgeschichte und hält das Reich Gottes für bereits
31 In der Enzyklopädie fasst Hegel auf ähnliche Weise den positiven Grundgedanken von Kants Moraltheologie zusammen und schreibt Kant dabei zugleich ein genuines Verständnis dessen zu, was er selbst als Idee auffasst: „Die Idee nach diesem Prinzip [sc. dem teleologischen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft] in ihrer ganzen Unbeschränktheit wäre, daß die von der Vernunft bestimmte Allgemeinheit, der absolute Endzweck, das Gute, in der Welt verwirklicht würde, und zwar durch ein Drittes, die diesen Endzweck selbst setzende und ihn realisierende Macht, – Gott, in welchem, der absoluten Wahrheit, hiermit jene Gegensätze von Allgemeinheit und Einzelheit, von Subjektivität und Objektivität aufgelöst und für unselbständig und unwahr erklärt sind“ (Enz. § 59, 8/142). Den Irrealis verwendet Hegel hier, um auszudrücken, dass Kant seiner Einsicht in den Charakter der Idee selbst nicht ausreichend Rechnung trägt, weil er dem teleologischen Prinzip einen nur regulativen Stellenwert einräumt. 32 Zwar verweist Hegel in seinen späteren Schriften kaum auf die Religionsschrift, doch geht der Einfluss von deren Lehre des ethischen Gemeinwesens auf die Herausbildung von Hegels Denken aus der Rolle des Schlagworts „unsichtbare Kirche“ beim frühen Hegel hinlänglich hervor. Vgl. zu Hegels früher Rezeption der Religionsschrift Bondeli (1997), 63 ff.; zu seiner frühen Rezeption der Kantischen Moraltheologie allgemein Düsing (1973).
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9 Freiheit und absoluter Idealismus
real.33 Zweitens ist Hegel der Auffassung, dass wir auch als individuelle Akteure tatsächlich gut handeln können, also nicht der unendlichen Annäherung an eine gute Gesinnung in einem zeitlich unbegrenzten Leben bedürfen, um gut zu sein.34 Seine anti-eschatologische Transformation der Kantischen Position, die bereits durch Kants eigene Deutung des ethischen Gemeinwesens als irdisches Reich Gottes vorbereitet ist, bildet nun den Hintergrund, vor dem Hegel den Zusammenhang von menschlicher Freiheit, göttlichem Wirken und der Gemeinschaft bzw. Versöhnung zwischen Mensch und Gott, wie er für die „Reich der Zwecke“Tradition charakteristisch ist, in seine Position integriert. So erläutert Hegel in der Religionsphilosophie die ideale Freiheit in der Gemeinschaft mit Gott, die nach Enz. § 482 A die „Bestimmung“ des Menschen ist, genauer so: „Die Seele, die einzelne Subjektivität hat eine unendliche, ewige Bestimmung: Bürger im Reiche Gottes zu sein“ (PhRel 17/303). Wie der Gebrauch der Formel von der Bürgerschaft im Reiche Gottes an dieser Stelle unmissverständlich zeigt, ist die These, das Dasein Gottes „als Geist in seiner Gemeinde“ (Enz. § 554, 10/366) sei das Wesen von Religion, Kunst und Philosophie, Hegels Version von derjenigen „société avec Dieu“, die für Leibniz den Gottesstaat und für Kant das Reich der Zwecke ausmacht. Somit ist sichtbar geworden, dass Hegel mit seinen scheinbar rein religionsphilosophischen oder theologischen Kennzeichnungen der „höchsten Freiheit“ als einer Beziehung zwischen menschlichem und göttlichem Geist an eine Tradi-
33 Zum „Weltgericht“ vgl. Enz. § 548, 10/347; GPhR § 340, 7/503; zur Wirklichkeit des Reichs Gottes vgl. PhRel 17/280, 282, 288. Für die Wirklichkeit des Reichs Gottes steht bei Hegel im Anschluss an die Drei-Zeiten-Terminologie des Joachim von Fiore auch der Begriff des „Reichs des Geistes“ (PhRel 17/217 und passim). Hegels Auflösung der christlichen Eschatologie stellt als solche noch keine Säkularisierung der Religion dar; Pannenberg (2001) spricht von einer „präsentischen Eschatologie“. 34 Entsprechend interpretiert Hegel die Unsterblichkeit der Seele anders als Kant, nämlich nicht als Fortdauern der Seele nach dem körperlichen Tod, sondern als bereits gegenwärtiges Vermögen des individuellen Geistes, durch das Denken aus der Zeitlichkeit und Endlichkeit herauszutreten. Vgl. PhRel 17/261: „So muß bei der Unsterblichkeit der Seele nicht vorgestellt werden, daß sie erst späterhin in Wirklichkeit träte; es ist gegenwärtige Qualität. Der Geist ist ewig, also deshalb schon gegenwärtig; der Geist in seiner Freiheit ist nicht im Kreise der Beschränktheit. Für ihn als denkend, rein wissend ist das Allgemeine Gegenstand; dies ist die Ewigkeit, die nicht bloß Dauer ist, wie die Berge dauern, sondern Wissen“; PhRel 17/ 262: „Die Sache überhaupt ist diese, daß der Mensch durch das Erkennen unsterblich ist; denn nur denkend ist er keine sterbliche, tierische Seele, ist er die freie, reine Seele“. – Hegel reiht sich hiermit in die Tradition der averroistischen Auslegung von Aristoteles’ De Anima ein: vgl. Brentano (1867), 21. – Vgl. auch die Zeugnisse Heinrich Heines, nach denen Hegel ihm gegenüber indirekt die Unsterblichkeit der Seele im traditionellen Sinne geleugnet hat: in Nicolin (1970), 233–235.
9.3 Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus
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tion anknüpft, in der metaphysische, moralphilosophische und religionsphilosophische Themen eng miteinander verbunden sind und unter Stichwörtern wie „Reich der Gnade“, „Reich der Zwecke“ u. ä. thematisiert werden. Dieser sachliche Komplex gehört bei Autoren wie Augustinus, Malebranche und Leibniz, im abgeschwächten Sinne moraltheologischer Postulate auch bei Kant, zum systematischen Kern einer christlichen Traditition der „Metaphysik der Freiheit“. Vor diesem Hintergrund können wir nun auch die fraglichen Hegelschen Bestimmungen idealer Freiheit besser verstehen. Insgesamt steht dabei, wie auch bei den genannten Bezugsfiguren in der Tradition, der Gedanke im Mittelpunkt, dass alle Freiheit im individuellen und kollektiven Denken und Handeln des Menschen für sich genommen beschränkt und unvollständig ist und der Mensch nur in der Beziehung zu Gott wirklich gelingende Freiheit erreichen kann. Im folgenden Abschnitt untersuchen wir wichtige Elemente von Hegels einschlägigen Argumentationen.
9.3 Die Struktur der „höchsten Freiheit“ 9.3.1 Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus Wie wir gesehen haben, deutet Hegel in Enz. § 482 A das Wesen des Menschen so, dass er „an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist“ – nämlich dazu, „zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis, diesen Geist in sich wohnen zu haben“ (10/302). In diesem Abschnitt untersuchen wir, wie diese Kennzeichnung der „höchsten Freiheit“ genauer zu verstehen ist. – Die ausführlichsten Darstellungen hierzu bietet Hegel in seiner Religionsphilosophie; überdies ist nach Hegel die Religion insofern auch die paradigmatische Gestalt des absoluten Geistes, als dessen Sphäre nach Hegels Auskunft insgesamt als Religion bezeichnet werden kann (Enz. § 554, 10/ 366). Daher wenden wir uns zunächst Hegels Religionsphilosophie zu, um die Struktur besser zu verstehen, die Hegel als „höchste Freiheit“ bestimmt. Wie sich zeigen wird, kann dabei ein Freiheitsbegriff rekonstruiert werden, der nicht an die Defizite des für die Religion charakteristischen Mediums der „Vorstellung“ gebunden ist und daher auch im philosophischen Denken expliziert werden kann. Den zentralen Inhalt der Religion, und zwar besonders des Christentums als „vollendeter Religion“, sieht Hegel im „Bewußtsein der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur“ (VL 5/45), nämlich genauer dem Bewusstsein davon, daß der Mensch an sich die göttliche Idee in sich trage – nicht nur in sich trage wie irgend sonst was, sondern daß dies seine substantielle Natur sei, seine Bestimmung sei, er die einzige Möglichkeit derselben – die unendliche Möglichkeit […]. (VL 5/45)
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9 Freiheit und absoluter Idealismus
Im Bewusstsein von der Einheit mit Gott erkennt also der Mensch sein eigentliches Wesen. – Diese Bestimmung der Religion kann als Ausprägung des starken ontologischen Holismus verstanden werden, den wir in Abschnitt 5.2.4 als zentralen Bestandteil von Hegels Idealismus rekonstruiert haben. Wir haben den starken ontologischen Holismus als Theorie interpretiert, nach der alles endliche Seiende Teil eines umfassenden teleologischen Prozesses der Realisierung des begriffslogischen Kategoriensystems ist. Dieser Prozess ist der absolute Geist; der Mensch als endlicher Geist hat sein eigentliches Wesen in Gott, und zwar genauer als „vorübergehendes Moment […] des Prozesses der göttlichen Natur“ (VL 5/46). Inwiefern erlaubt es der starke ontologische Holismus (bzw. hier zunächst seine religiöse Ausprägung), Dimensionen von Freiheit zu denken, die wesentlich über die bisher entwickelten Gestalten hinausgehen, aber doch im Horizont der dabei zugrunde gelegten allgemeinen Konzeption von Freiheit als rationaler Persistenz verstanden werden können? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir genauer verstehen, inwiefern der Mensch gemäß Hegels starkem ontologischem Holismus in den göttlichen Manifestationsprozess bzw. die übergreifende Totalität der Wirklichkeit integriert ist. Zum einen liegt hier eine ontologische Integration vor, weil der Mensch sein Dasein und Wesen der Partizipation an jener Totalität bzw. jenem Prozess verdankt.35 Zum anderen liegt hier im Fall der „höchsten“ Freiheit nach Hegel auch eine epistemische Integration vor. Diese epistemische Integration besteht zuerst darin, dass der Mensch ein (religiöses bzw. philosophisches) Bewusstsein der genannten ontologischen Partizipation hat. Durch die epistemische Tätigkeit, die in diesem Bewusstsein involviert ist, wirkt der Mensch aber für Hegel zugleich selbst an der göttlichen Aktivität mit. So kann Hegel in Bezug auf die theologische Thematik der Gnadenlehre schreiben: [D]ie Freiheit des Menschen besteht eben im Wissen und Wollen Gottes, ist nur durch Aufhebung des menschlichen Wissens und Wollens. So ist der Mensch nicht der Stein dabei, so daß die Gnade nicht bloß praktisch wirkt und der Mensch etwa das passive Material wäre, ohne dabeizusein. Es soll vielmehr der Zweck, das Göttliche durch mich in mir werden, und das, wogegen die Aktion geht, welche meine Aktion ist, das ist Aufgeben meiner überhaupt, der sich nicht mehr für sich behält. (PhRel 16/218 f.)
35 Für Begriffe wie „Teilhabe“ und „Partizipation“, die wir verwenden, um die fragliche Integrationsstruktur zu beschreiben, können wir uns auf Hegels eigenen Sprachgebrauch berufen; vgl. VB 17/377: „Die Liebe überhaupt ist das Ablassen von der Beschränkung des Herzens auf seinen besonderen Punkt, und die Aufnahme der Liebe Gottes in dasselbe ist die Aufnahme der Entfaltung seines Geistes, die allen wahrhaften Inhalt in sich begreift und in dieser Objektivität die Eigenheit des Herzens aufzehrt. In diesem Gehalte aufgegeben ist die Subjektivität die für das Herz selbst einseitige Form, welches damit der Trieb ist, sie abzustreifen, – und dieser ist der Trieb, zu handeln überhaupt, was näher heißt, an dem Handeln des an und für sich seienden göttlichen und darum absolute Macht und Gewalt habenden Inhalts teilzunehmen“.
9.3 Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus
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Der Genitiv in der Aussage, die Freiheit des Menschen bestehe „im Wissen und Wollen Gottes“, ist sowohl als genitivus obiectivus als auch als genitivus subiectivus zu verstehen. Wir sind einerseits in idealer Weise frei, indem wir uns auf Gott beziehen und ihn erkennen. Andererseits nehmen wir uns selbst dabei soweit zurück, dass von der fraglichen Tätigkeit gilt: „Dies ist meine, die menschliche Arbeit; dieselbe ist Gottes von seiner Seite. […] Was als mein Tun erscheint, ist alsdann Gottes Tun, und ebenso auch umgekehrt“ (PhRel 16/219). Durch seine Partizipation an Gott und seiner Tätigkeit macht sich der endliche Geist also in seinem freien Tun zum Akteur eines Prozesses, der seine eigene Endlichkeit übersteigt.36 Die so umschriebene Integration in das göttliche Tun kann einerseits durchaus als ideale Form der rationalen Persistenz verstanden werden, weil der Geist hier eine maximale rationale Transparenz erreicht: „Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewußtsein im Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sichwissen des Menschen in Gott“ (Enz. § 564 A, 10/374). Das epistemische Verhältnis des Menschen zu Gott ist also zugleich ein wesentlicher Aspekt des Selbstwissens, das Gott von sich hat, und des Selbstwissens, das der menschliche Geist von sich als Moment des göttlichen Prozesses hat.37 Wir können aber andererseits die spezifische Natur der rationalen Persistenz, die in dieser transparenten Situation auftritt, nur verstehen, wenn wir zugleich berücksichtigen, dass die Religion (ebenso wie Kunst und Philosophie) auch durch eine Auflösung der bisher erlangten rationalen Persistenz gekennzeichnet ist. In der höchsten Freiheit, um die es hier geht, müssen wir wesentlich uns selbst transzendieren, uns von unserem gewöhnlichen Denken und Handeln losmachen38; sie existiert nur „als Bewegung des absoluten Geistes in ihm [sc. dem menschlichen Geist] durch Aufhebung des Natürlichen, Endlichen“ (PhRel 16/ 233). Mit der „Aufhebung des Natürlichen, Endlichen“ muss hier mehr gemeint sein als die rationale Transformation von Natürlichem, die nach der Hegelschen
36 Vgl. PhRel 16/219: „[E]s handelt sich nur um mich und gegen mich, daß ich mich meiner Subjektivität abtue und mir an diesem Werke, das sich ewig vollbringt, meinen Anteil nehme und meinen Anteil daran habe“. 37 Vgl. VB 17/480: „Daß der Mensch von Gott weiß, ist nach der wesentlichen Gemeinschaft ein gemeinschaftliches Wissen, – d. i. der Mensch weiß nur von Gott, insofern Gott im Menschen von sich selbst weiß; dies Wissen ist Selbstbewußtsein Gottes, aber ebenso ein Wissen desselben vom Menschen, und dies Wissen Gottes vom Menschen ist Wissen des Menschen von Gott. Der Geist des Menschen, von Gott zu wissen, ist nur der Geist Gottes selbst“. 38 Vgl. Yaffe (2000), 3 ff., der einen hilfreichen Kontrast zwischen einem Verständnis von Freiheit als Selbstausdruck und einem Verständnis von Freiheit als Selbsttranszendenz skizziert.
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9 Freiheit und absoluter Idealismus
Freiheitstheorie auch in gewöhnlicher epistemischer und praktischer Freiheit auftritt. Vielmehr ist die Aufhebung der Natürlichkeit in der Religion so zu verstehen, dass die ganze sonstige Existenz des Menschen hier radikal in Frage gestellt wird: „Gegen die Religion soll der Mensch nichts für sich zurückbehalten, denn sie ist die innerste Region der Wahrheit“ (VB 17/372). Entsprechend ist die Befreiung, die die Religion (ebenso wie die Kunst und die Philosophie) zugänglich macht, nur unter der Bedingung möglich, dass die rationale Persistenz vernünftiger Subjekte grundsätzlich erschüttert wird: Erst die „höchste Entzweiung“ des Menschen „gegen die Natur überhaupt und gegen sich“ bringt das „Gebiet der wahrhaften Freiheit“ hervor (PhRel 16/233). „Höchste Freiheit“ und Versöhnung als vollendete rationale Persistenz haben also den Selbstverlust des Subjekts zur Voraussetzung, mithin auch den Verlust seiner in Theorie und Praxis erarbeiteten rationalen Persistenz. Hegel interpretiert diesen Vorgang des Selbstverlustes freilich nicht etwa im Sinne eines Erlebnisses, das der Mensch über sich ergehen lässt, oder einer willkürlichen existentiellen Entscheidung, sondern als höhere Form rationaler Arbeit. Die oben beschriebene maximale Transparenz des menschlichen Denkens, das am göttlichen Selbstbezug partizipiert, ist nicht einfach gegeben, und zwar weder für den göttlichen noch für den menschlichen Geist: „Gott selbst ist nicht unmittelbar als Geist und ebenso auch nicht das Bewußtsein über ihn“ (PhRel 16/ 221). Transparentes Selbstwissen ist vielmehr aus beiden Perspektiven Resultat eines Prozesses der Arbeit: Im absoluten Geist zeigt sich, dass „die Geschichte des Inhalts Gottes wesentlich auch Geschichte der Menschheit ist, die Bewegung Gottes zu den Menschen und des Menschen zu Gott“ (PhRel 16/235 f.). – Im Folgenden müssen wir verstehen, welche Schritte diese Form von Arbeit, die Konstitution einer höheren rationalen Persistenz, im Einzelnen umfasst.39 Zuerst müssen wir hier die Entzweiung verstehen, die nach Hegel zwangsläufig die bisherige rationale Persistenz in Frage stellt. Anschließend muss gefragt werden, wie diese Entzweiung zu Gunsten der höheren Form von Persistenz überwunden werden kann.
39 Die Analyse dieses Prozesses wird dadurch erschwert, dass hier bei Hegel je nach religiösem Kontext verschiedene Prozesse zu berücksichtigen sind, etwa die Genese der Gemeinde, des Glaubens, der Andacht, des Kultus usw. Im Folgenden abstrahieren wir aber von diesen Differenzierungen und beschreiben die allgemeine Gestalt des Prozesses, der zur Partizipation am göttlichen Selbstwissen führt.
9.3 Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus
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9.3.2 Pathologien des „natürlichen Menschen“ Hegels allgemeinste Kennzeichnung derjenigen Entzweiung, die er als Voraussetzung der „höchsten Freiheit“ ansieht, besteht darin, dass wir ein Wissen von unserer eigentlichen Bestimmung haben und es uns zugleich bewusst ist, dass wir ihr nicht gerecht werden. Nicht die einfache Diskrepanz zwischen Bestimmung und faktischem Sein ist also das Kennzeichen der Entzweiung, sondern das Bewusstsein von einer solchen Diskrepanz. So schreibt Hegel etwa: „Die Natur des Menschen ist nicht, wie sie sein soll; die Erkenntnis ist es, die ihm dies aufschließt und das Sein, wie er nicht sein soll, hervorbringt“ (VL 5/138). Dieses Bewusstsein von seiner Unangemessenheit macht nach Hegel die Bosheit des Menschen aus: „Dies Soll ist sein Begriff, und daß er nicht so ist, ist erst entstanden in der Trennung, in der Vergleichung mit dem, was er an und für sich ist“ (PhRel 17/257). Da die so verstandene Bosheit des Menschen für die Entzweiung verantwortlich ist, die die Voraussetzung der „höchsten Freiheit“ bildet40, erfordert die Befreiung des Menschen aus dieser Entzweiung, dass ihm seine Bosheit verziehen wird.41 Das Bewusstsein des Menschen von seiner „Bestimmung“ kann vor dem Hintergrund der bislang entwickelten Position als das mehr oder weniger implizite Wissen des Menschen von seiner Freiheit gedeutet werden (vgl. 6.4; Houlgate (2004), 85 f.), die das eigentliche Ziel seiner Tätigkeit ausmacht. Was heißt es aber, dass der Mensch seiner Bestimmung zur Freiheit nicht gerecht wird? Hegel redet in diesem Kontext häufig davon, dass der Mensch qua „natürlicher Mensch“ und durch seinen „natürlichen Willen“ hinter seiner Bestimmung zurückbleibt.42 Er erläutert diese Begriffe oft so, dass sie vom Menschen handeln, insofern sein Wille durch natürliche Neigungen und selbstsüchtige Zwecke geprägt ist.43 Dann würde aber die Kultivierung des Willens hinreichen, um den Menschen vom
40 Es ist wichtig zu sehen, dass es sich hierbei um einen religionsphilosophischen, nicht um einen moralischen Begriff des Bösen handelt: Vgl. Houlgate (2004) und Ringleben (1976), besonders 79 und 84 ff. 41 Vgl. zum Folgenden Ringleben (1976), 65 ff. 42 Z. B. PhRel 17/253: „[N]atürlich in konkretem Sinn ist der Mensch, der seinen Leidenschaften und Trieben folgt, der in der Begierde steht, dem seine natürliche Unmittelbarkeit das Gesetz ist“. 43 Vgl. VL 5/30: „Der natürliche Mensch ist so der in sich selbst gegen sich und gegen die äußere Natur nicht befreite; er ist der Mensch der Begierde, der Roheit, der Selbstsucht, der Mensch der Abhängigkeit, der Furcht“; VL 5/137: „Bei diesem allen vergißt man, wenn man vom Menschen spricht, daß es Menschen sind, die durch Sitten und Gesetze usf. gebildet und erzogen sind. Man sagt: ‚Die Menschen sind doch nicht so böse, sieh dich doch nur um.‘ – aber da sind es schon sittlich, moralisch gebildete Menschen, schon rekonstruierte, in eine Weise der Versöhnung gesetzte Menschen“. – In diesem Sinne interpretiert Houlgate die Rede vom „natürlichen Menschen“ in diesem Zusammenhang: Houlgate (2004), 84 ff.
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Bösen zu befreien und ihm die höchste Freiheit zu verschaffen; außerdem wäre hier nicht speziell das Bewusstsein von der Unangemessenheit an die eigene Bestimmung ausschlaggebend für die Bosheit. Es ist aber auch eine andere Deutung des relevanten Begriffs von „Natürlichkeit“ möglich, der zufolge das blinde Befolgen natürlicher Neigungen nur eine Stufe der Natürlichkeit des Willens ausmacht.44 Die höhere Gestalt von Natürlichkeit besteht selbst in einer Form von „Selbstsucht“; diese beschreibt Hegel in der Vorrede zu Hinrichs’ Religionsphilosophie als dasjenige, was man menschliches Denken, eigenen Verstand, endliche Vernunft genannt [hat] und mit Recht von dem Denken unterscheidet, welches, obwohl im Menschen, doch göttlich ist, von dem Verstand, der nicht das Eigene, sondern das Allgemeine sucht, von der Vernunft, welche das Unendliche und Ewige als das allein Seiende weiß und betrachtet. (11/45)
Das „menschliche“ (oder allzumenschliche) Denken ist auf den endlichen Standpunkt des Menschen fixiert. Es ist daher durch eine charakteristische Verfestigung gekennzeichnet, die Hegel in den Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes als „Engherzigkeit“ beschreibt: „[D]as, womit es erfüllt ist, ist sein eigenes formelles Subjekt; es behält dieses Ich zu seinem Gegenstand und Zweck“ (VB 17/ 376). Hier liegt also eine höhere Gestalt des „natürlichen Menschen“ vor, die nicht minder der eigentlichen „Bestimmung“ des Menschen entgegengesetzt ist als das blinde triebgeleitete Verhalten des „natürlichen Willens“ und die zugleich Hegels oben erläuterter Bestimmung von der eigentlichen Bosheit des Menschen entspricht: Denn die beschriebene Form von Selbstsucht stellt eine bewusste Unangemessenheit des Menschen gegenüber seiner Bestimmung dar, die sogar durch das Bewusstsein von ihr aufrecht erhalten und vermehrt wird.
44 Zu Gunsten dieser alternativen Deutung kann vermutet werden, dass Hegels Darstellung in Passagen wie denen, die die vorige Fußnote zitiert, polemisch geprägt ist und daher einen bestimmten Aspekt in den Vordergrund stellt, während für unsere Zwecke andere Gesichtspunkte seiner Position wichtiger sind. Auch in der Vorrede zu Hinrichs’ Religionsphilosophie greift Hegel den Begriff vom natürlichen Menschen auf, der als solcher seiner Bestimmung unangemessen ist und daher zum Geist „wiedergeboren“ werden muss; diesen Gedanken wendet er gegen Schleiermacher, indem er dessen religiöses Gefühl auf der Ebene des natürlichen Menschen verortet (vgl. 11/57 ff.; s. den Kommentar der Herausgeber VL 5/327 (zu VL 5/30)). Schleiermachers Gefühl der unbedingten Abhängigkeit ist demnach nicht ein Zugang zu Gott, sondern Teil unserer gegebenen Natur, die wir transformieren müssen, um unsere Entzweiung von Gott und uns selbst zu überwinden. Die Identifikation des „natürlichen Menschen“ mit der einfachsten, triebgelenkten Stufe der menschlichen Entwicklung enthält demnach auch eine polemische Pointe gegen Schleiermacher, was umgekehrt bedeutet, dass der Begriff des „natürlichen Menschen“ eigentlich weiter gefasst ist.
9.3 Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus
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Die Selbstsucht, die das im pejorativen Sinne „menschliche“ Denken charakterisiert, kennt ihrerseits für Hegel verschiedene Ausprägungen, von denen nur zwei besonders wichtige Formen genannt seien. Die erste besteht in der hartnäckig festgehaltenen Meinung, dass die Anforderungen der Vernunft – insbesondere die „unendliche Forderung des Guten“ (VL 5/229) – prinzipiell nicht erfüllt werden können, dass also das menschliche Denken und Handeln als solches hinter seinen notwendigen Zielen zurückbleiben muss.45 In praktischer Hinsicht besteht für Hegel das Paradigma dieser Einstellung in Kants Moralphilosophie; ein epistemisches Pendant hierzu bildet eine falsche „Bescheidenheit“ in epistemischen Fragen, die auf dogmatische – und damit ganz unbescheidene – Weise die Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit negiert (vgl. Enz. § 23 A, 8/80 und Kap. 5, Fußnote 39). Dass „Selbstsucht“ das eigentliche Motiv dieses Festhaltens am Endlichen ist, drückt Hegel an einer Stelle so aus: Es kommt den Menschen schwer an, zu glauben, daß die Vernunft wirklich sei; es ist aber nichts wirklich als die Vernunft, sie ist die absolute Macht. Die Eitelkeit des Menschen will vermeintliches Ideal im Kopf haben, um alles zu tadeln: Wir sind die Gescheiten, haben es in uns, aber vorhanden ist es nicht. (VGPh 20/372)
Dagegen ist die zweite relevante Ausprägung der Selbstsucht des „menschlichen“ Denkens für die moderne Sittlichkeit charakteristisch, also die gelingende Realisierung des objektiven Geistes. Auch hier – innerhalb einer vernünftigen Staats- und Gesellschaftsordnung – bestehen demnach noch Entzweiung und das Fixieren endlicher Standpunkte. Dazu heißt es in Hegels Diskussion des „ästhetischen Ideals“ in der Ästhetik: So kann denn überhaupt in unserem gegenwärtigen Weltzustande das Subjekt allerdings nach dieser oder jener Seite hin aus sich selber handeln, aber jeder Einzelne gehört doch, wie er sich wenden und drehen möge, einer bestehenden Ordnung der Gesellschaft an und erscheint nicht als die selbständige, totale und zugleich individuell lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber, sondern nur als ein beschränktes Glied derselben. Er handelt deshalb auch nur als befangen in derselben, und das Interesse an solcher Gestalt wie der Gehalt ihrer Zwecke und Tätigkeit ist unendlich partikulär. (VÄ 13/254 f.)
Entsprechend erklärt Hegel in diesem Kontext, dass der moderne Bürger mit seiner „Hausväterlichkeit und Rechtschaffenheit“ (VÄ 13/253) keinen befriedigenden Stoff für dramatische Darstellungen bildet. Stattdessen besteht in der Moderne ein nostalgisches Bedürfnis nach der Rekonstruktion des antiken Heroen –
45 In der Folge zählen hierzu auch die radikaleren Phänomene der Moralität wie das moralische Gewissen und die schöne Seele; vgl. Ringleben (1976), 84 ff.
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Hegel hat hier Figuren wie Götz von Berlichingen und Karl Moor vor Augen (VÄ 13/255 ff.) –, denn: Das Interesse nun aber und Bedürfnis solch einer wirklichen, individuellen Totalität und lebendigen Selbständigkeit wird und kann uns nie verlassen, wir mögen die Wesentlichkeit und Entwicklung der Zustände in dem ausgebildeten bürgerlichen und politischen Leben als noch so ersprießlich und vernünftig anerkennen. (VÄ 13/255)
Der ästhetische Befund macht hier die Defizite der Rationalitätsform sichtbar, die in einer auch noch so vernünftigen sozialen und politischen Realität am Werke ist. Hegel diagnostiziert auch in der vernünftigen gesellschaftlichen Ordnung eine Tendenz hin zur Kleinlichkeit und zum Biedermeiertum46, die freilich nicht etwa durch Defizite in der Realisierung der institutionellen Rollen bedingt ist. Sie liegt vielmehr in der Tatsache begründet, dass im realisierten vernünftigen Gemeinwesen jeder seine eigene Rolle und seine vernünftigen praktischen Identitäten innehat, die in einer „Welt des Alltäglichen und der Prosa“ (VÄ 13/197), im Verfolgen der „kleinen Interessen der Gemeinheit des alltäglichen Lebens“ (VGPh 18/11) realisiert werden müssen. In der sozialen Realität des objektiven Geistes entwickelt das Individuum somit notwendig Formen der Engherzigkeit, während das Kennzeichen des eigentlich Vernünftigen die geistige Weite ist: „Nur das an und für sich seiende Allgemeine ist weit […]“ (VB 17/376 f.). Diese Pathologien sind für Hegel nun durchaus notwendige Folgen aus der Realisierung der modernen Sittlichkeit, die strukturelle Defizite von deren Freiheitsformen darstellen. Für das Verständnis dieses wichtigen Punktes ist es hilfreich, wenn wir an Brandoms Theorie der Verzeihung zurückdenken. Brandom sieht in der gegenseitigen Übernahme von Verantwortung, die die Verzeihung ermöglicht, eine partielle Wiederherstellung der heroischen Handlungsform, in der der Held für seine Handlung mit all ihren Folgen und Aspekten Verantwortung übernimmt, gleich was davon indentiert oder bewusst war. Hegel dagegen argumentiert in dem Teil der Ästhetik, aus dem wir zitiert haben, dass heroisches Handeln in der modernen Sittlichkeit gerade nicht mehr möglich ist, auch nicht in partieller Form. Die heroische Handlungsform beruht nämlich, so Hegel, darauf, dass es noch keine etablierte rechtliche und sittliche Ordnung gibt:
46 Vgl. auch Hegels Kritik an der Kategorie des „Idyllischen“, einem weiteren Symptom der „prosaischen“ Gegenwart: „Die idyllischen Zustände unserer heutigen Gegenwart haben wieder das Mangelhafte, daß diese Einfachheit, das Häusliche und Ländliche in Empfindung der Liebe oder der Wohlbehägigkeit eines guten Kaffees im Freien usf., gleichfalls von geringfügigerem Interesse sind, indem von allem weiteren Zusammenhange mit tieferen Verflechtungen in gehaltreichere Zwecke und Verhältnisse bei diesem Landpfarrerleben usf. nur abstrahiert wird“ (VÄ 13/ 250).
9.3 Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus
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Heroen […] sind Individuen, welche aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen, was das Rechte und Sittliche ist. Diese unmittelbare Einheit aber von Substantiellem und Individualität der Neigung, der Triebe, des Wollens liegt in der griechischen Tugend, so daß die Individualität sich selbst das Gesetz ist, ohne einem für sich bestehenden Gesetz, Urteil und Gericht unterworfen zu sein. So treten z. B. die griechischen Heroen in einem vorgesetzlichen Zeitalter auf oder werden selber Stifter von Staaten […]. (VÄ 13/243 f.)
Der antike Heroe bildet in jeder Hinsicht eine Totalität: Er muss die gesamte sittliche Ordnung aus sich selbst heraus entwerfen und stiften; er trägt die Verantwortung für seine ganze Handlung (VÄ 13/246 f.); und er steht ganz hinter seinem Handeln. Er ist also das genaue Gegenteil des modernen Menschen, dessen Handeln immer nur einseitig ist und Stückwerk bleibt.47 Wie aber Hegel in der zitierten Passage erklärt, ist die Gestalt des Heroen selbst nur in einer Situation möglich, in der es noch keine rechtliche und sittliche Ordnung gibt: Er selbst soll es ja sein, der buchstäblich für Recht und Ordnung sorgt. Deshalb ist prinzipiell in entwickelten Gestalten des objektiven Geistes heroisches Handeln nicht mehr möglich. Im Umkehrschluss folgt, dass das Individuum in der Ordnung der modernen Sittlichkeit notwendigerweise immer ein einseitiges Dasein hat, weil diese Ordnung per se eine Aufteilung von Verantwortungsbereichen mit sich bringt – eine soziale Arbeitsteilung, die die „Totalität“ des antiken Heroen ausschließt. Dass diese Partialität des modernen Lebens auch in sozial und politisch vernünftigen und freien Ordnungen tatsächlich eine Einschränkung unserer Freiheit darstellt, zeigt sich nach Hegel gerade an dem erwähnten nostalgischen Interesse an der Darstellung heroischen Handelns.48 Wirklich erfüllt wird das Interesse, das hier
47 VÄ 13/240 f.: „Was daher die Einzelnen auch an rechtlichen, sittlichen, gesetzmäßigen Handlungen in dem Interesse und Verlauf des Ganzen vollbringen mögen, ihr Wollen und Ausführen bleibt dennoch wie sie selber immer nur, gegen das Ganze gehalten, unbedeutend und ein bloßes Beispiel. Denn ihre Handlungen sind stets nur eine ganz partielle Verwirklichung eines einzelnen Falles, nicht aber die Verwirklichung desselben als einer Allgemeinheit in dem Sinne, daß diese Handlung, dieser Fall dadurch zum Gesetz gemacht oder als Gesetz zur Erscheinung gebracht würde. Ebenso kommt es umgekehrt gar nicht auf die Einzelnen als Einzelne an, ob sie wollen, daß Recht und Gerechtigkeit gelte oder nicht; es gilt an und für sich, und wenn sie es auch nicht wollten, gälte es doch“. 48 Hegel nennt dabei Goethes Götz von Berlichingen als einen gelungenen Fall, der gerade den Konflikt zwischen dem vormodernen heroischen Handeln im noch vergleichsweise rechtsfreien Raum der Feudalgesellschaft einerseits und der aufkommenden modernen Gesellschaftsordnung andererseits darstellt (VÄ 13/257). – In diesem Kontext ist auch Hegels Kritik an vermeintlich außerordentlichen Handlungen einschlägig, die als – für Hegel unangebrachte – Versuche zu
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9 Freiheit und absoluter Idealismus
eigentlich zugrunde liegt, nur in der Sphäre des absoluten Geistes. – Die von Hegel beschriebenen Pathologien sind demnach notwendige Folgen der Realisierung vernünftiger Ordnungen im objektiven Geist, die auch Brandoms Konzeption einer Versöhnung auf dieser Ebene treffen. (Dies ist freilich für Brandom besonders problematisch, weil er zu Recht mit seinem Begriff der magnanimity eine Form der geistigen „Weite“ in den Mittelpunkt seiner Konzeption von Versöhnung stellt; die Grundeinstellung der magnimity und der Edelmütigkeit wird durch die von Hegel beschriebenen Phänomene zwangsläufig unterminiert.) Der Verlust an geistiger Weite in der Normalität des objektiven Geistes und das Beharren auf der menschlichen Endlichkeit sind, so hat sich gezeigt, Phänomene der notwendigen Entzweiung, die unsere Freiheit innerhalb von deren „endlichen“ Formen gefährden. Wie in der Moralität hat der Mensch hier ein Bewusstsein der Unangemessenheit gegenüber seiner eigentlichen Bestimmung; im Bewusstsein dieser Unangemessenheit besteht aber aus der Sicht von Hegels Religionsphilosophie gerade das Böse. – Hieraus folgt, dass die Überwindung der beschriebenen Entzweiung und die Verwirklichung der „höchsten Freiheit“ eine Befreiung vom Bösen nötig machen. Die Befreiung vom Bösen wird aber in der christlichen Tradition, in der Hegel hier steht, als Vergebung durch göttliche Gnade konzipiert. Deshalb ist für Hegel ebenso wie für Augustinus, Malebranche und Leibniz das Reich der „höchsten Freiheit“ ein „Reich der Gnade“. Wir müssen nun verstehen, wie für Hegel jene Verzeihung des Bösen und dadurch die Versöhnung, die die Sphäre des absoluten Geistes auszeichnet, möglich sind.
9.3.3 Verzeihung und die Realität des Guten Hegels Theorie der Verzeihung markiert in der PhG den entscheidenden Schritt vom defizitären Standpunkt der Moralität hin zur Sphäre des absoluten Geistes; auch in der späteren Religionsphilosophie stellt Hegel die Verzeihung als Kennzeichen der Sphäre des absoluten Geistes dar, das überdies auch über den Bereich der Sittlichkeit hinausführt. In beiden Fällen wird die Verzeihung als Überwindung der vorherigen „Entzweiung“ dargestellt, die wir im vorigen Abschnitt untersucht haben. Schon in Hegels früher Theorie der Verzeihung in der PhG tritt zum einen der Gedanke der „Selbstsucht“ auf, wenn Hegel die Verzeihung mit heroischem Handeln unter den Bedingungen der Moderne verstanden werden können: „Unter Patriotismus wird häufig nur die Aufgelegtheit zu außerordentlichen Aufopferungen und Handlungen verstanden. Wesentlich aber ist er die Gesinnung, welche in dem gewöhnlichen Zustande und Lebensverhältnisse das Gemeinwesen für die substantielle Grundlage und Zweck zu wissen gewohnt ist“ (GPhR § 268 A, 7/413).
9.3 Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus
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einer etymologischen Figur als „Verzichtleistung auf sich“ (PhG 3/492) charakterisiert; zum anderen steht in der PhG das „harte Herz“, das sich der Verzeihung widersetzt, für die Fixierung des Standpunkts der Endlichkeit. Dieses „harte Herz“ kennzeichnet Hegel auch „als das geistverlassene und den Geist verleugnende Bewußtsein, denn es erkennt nicht, daß der Geist in der absoluten Gewißheit seiner selbst über alle Tat und Wirklichkeit Meister [ist] und sie abwerfen und ungeschehen machen kann“ (PhG 3/491). Der letzte Gesichtspunkt spielt für Hegels spätere Weiterentwicklung der Theorie der Verzeihung eine zentrale Rolle. Das von Hegel in der PhG beschriebene „geistverlassene und den Geist verleugnende Bewußtsein“ – also ein Bewußtsein, das rigoros am Buchstaben des Gesetzes festhält –, ist offenkundig eine besonders radikale Ausprägung der im vorigen Abschnitt beschriebenen Selbstsucht des „menschlichen“ Denkens: Diese Ausprägung leugnet nicht nur die Möglichkeit einer Realisierung des Guten, sondern auch die Möglichkeit einer Verzeihung des Bösen. In seiner späteren Theorie entwickelt Hegel diesen Punkt dahingehend weiter, dass die Verzeihung unserer Bosheit einerseits und unser eigenes Ablassen von dem Standpunkt, nach dem keine Verzeihung möglich ist, andererseits lediglich zwei Seiten desselben Vorgangs ausmachen. Hegel stellt diesen Punkt in gedrängter Form in der folgenden wichtigen Passage dar: [Da]s Wahrhafte der Bestimmung der Natur des Geistes, die Vereinigung des unendlichen Gegensatzes – Gott und die Welt, Ich, dieser homuncio –, das ist der Inhalt der christlichen Religion, macht sie zur Religion des Geistes, und dieser Inhalt ist darin auch für das gewöhnliche, ungebildete Bewußtsein gegeben. Alle Menschen sind zur Seligkeit berufen; das ist das Höchste und das einzig Höchste. Darum sagt auch Christus: Dem Menschen können alle Sünden vergeben werden, nur die nicht gegen den Geist. Die Verletzung der absoluten Wahrheit, der Idee von jener Vereinigung des unendlichen Gegensatzes ist damit als das höchste Vergehen ausgesprochen. Man hat sich zur Zeit viel darüber den Kopf zerbrochen, was die Sünde gegen den Heiligen Geist sei, und diese Bestimmung auf mannigfaltige Weise verflacht, um sie ganz wegzubringen. – Alles kann in dem unendlichen Schmerz der Liebe vertilgt werden, aber diese Vertilgung selbst ist nur als der inwendige, gegenwärtige Geist. Das Geistlose scheint zunächst keine Sünde, sondern unschuldig zu sein; aber dies ist eben die Unschuld, die an ihr selbst gerichtet und verurteilt ist. (PhRel 17/305 f.; vgl. VL 5/76 f.)
Die Deutung von Verzeihung, die hier zum Ausdruck gebracht wird, kann so rekonstruiert werden, dass es für Hegel nur zwei mögliche Szenarien gibt. In dem einen Szenario stehen wir auf dem Standpunkt des „menschlichen“ Denkens und verleugnen insofern unser implizites Wissen von unserer eigentlichen Bestimmung zur Freiheit, die über diesen Standpunkt hinausführt. Diese Einstellung, die Hegel schon in der PhG als das „geistverlassene und den Geist verleugnende Bewußtsein“ kennzeichnet, identifiziert er mit der „Sünde wider den heiligen
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9 Freiheit und absoluter Idealismus
Geist“, die laut Mt 12,31 als einzige Sünde nicht vergeben werden kann. Der Standpunkt der geschilderten Entzweiung ist nämlich die einzige prinzipiell unverzeihliche Form des Bösen, weil er gerade in der Leugnung der Möglichkeit von Verzeihung besteht. Zu diesem Standpunkt gibt es für Hegel nur eine Alternative: die konsequente Anerkennung unseres impliziten Wissens von unserer eigentlichen Bestimmung, die wir zuvor durch die Selbstsucht des „menschlichen“ Denkens verleugnet hatten. In diesem zweiten Szenario ist uns aber unsere Bosheit ipso facto auch verziehen (die „Vertilgung“ ist „nur als der inwendige, gegenwärtige Geist“). Die Akzeptanz jenes Wissens von der eigentlichen Bestimmung erfordert nämlich die Einsicht in die „Vereinigung des unendlichen Gegensatzes – Gott und die Welt, Ich, dieser homuncio“, also in diejenige ontologische und epistemologische Integrationsstruktur, die wir in Abschnitt 9.3.1 beschrieben haben; hierzu muss nach Hegel auch die Einsicht zählen, dass uns schon verziehen worden ist.49 Hegel deutet so die Gnade als Struktur, in der die Befreiung vom Bösen im selben Maße eine Leistung des endlichen Subjekts wie der göttlichen Gnade ist (vgl. Houlgate (2004), 96). Die Gnade ist also der menschlichen Freiheit nicht als letztlich willkürlicher, übergesetzlicher göttlicher Akt entgegengesetzt50, sondern
49 In der zitierten Passage formuliert Hegel dies in religiöser Ausdrucksweise: „Alle Menschen sind zur Seligkeit berufen […]“ (PhRel 17/305). Diese Berufung fällt mit derjenigen „Bestimmung“ des Menschen als solchen zur „höchsten Freiheit“ zusammen, die Hegel in Enz. § 482 A als „absolutes Verhältnis“ des Menschen „zu Gott als Geist“ beschrieben hatte (10/302). – Vgl. Houlgate (2004), 105 ff., der allerdings Hegels Lehre von der Verzeihung rein religionsphilosophisch als Theorie religiöser Liebe liest. 50 Die Gefahr einer Deutung der Gnade als Willkürakt stand Hegel besonders in Gestalt bestimmter Positionen in der Diskussion über Geist und Buchstabe im Anschluss an Kant vor Augen. Die Begriffe „Gnade“ und „Geist“ werden hier u. a. gegen Kants und Fichtes Rigorismus ins Feld geführt, der mit den Begriffen „Gesetz“ und „Buchstabe“ belegt wird. So wettert Jacobi im Sendschreiben an Fichte: „Ja, ich bin der Atheist und Gottlose, der, dem Willen der Nichts will zuwider – lügen will, wie Desdemona sterbend log; lügen und betrügen will wie der für Orest sich darstellende Pylades; morden will, wie Timoleon; Gesetz und Eid brechen wie Epaminondas, wie Johann de Wit; Selbstmord beschließen wie Otho; Tempelraub begehen wie David; – ja, Aehren ausraufen am Sabbath, auch nur darum, weil mich hungert, und das Gesetz um des Menschen willen gemacht ist, nicht der Mensch um des Gesetzes willen. […] [M]it der heiligsten Gewißheit, die ich in mir habe, weiß ich – daß das privilegium aggratiandi wegen solcher Verbrechen wider den reinen Buchstaben des absolut allgemeinen Vernunftgesetzes, das eigentliche Majestätsrecht des Menschen; das Siegel seiner Würde, seiner Göttlichen Natur ist“ (Werke 2,1, 211). Die seinerzeit vielbeachteten Passage (Henrik Steffens berichtet noch über 40 Jahre später von dem Eindruck, den sie in Jena gemacht hat: Steffens (1841), Bd. 4, 134 f.) wird von Hegel mehrfach kommentiert (2/384; 4/448). Indem er sie in der PhG aufgreift, wenn er im Zusammenhang mit dem Gewissen und der „schönen Seele“ vom „Gesetz, das um des Selbsts willen, nicht um dessen willen das Selbst ist“ (PhG 3/469) redet, macht er deutlich, dass Jacobis Inanspruchnahme von „Geist“ und
9.3 Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus
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kennzeichnet vielmehr die höchste Form menschlicher Freiheit. Die Frage ist freilich, weshalb genau der Schritt hin zum Standpunkt des starken ontologischen Holismus – die Akzeptanz der ontologischen und epistemologischen Integrationsstruktur – die Einsicht umfassen kann, dass uns unsere Bosheit schon verziehen worden ist. Hegels zentraler Gedanke ist dabei, dass wir auf Grund der folgenden Tatsache in unserem Handeln gerechtfertigt sind: Alle unseren endlichen Handlungen, die nach der Bewertung vom Standpunkt des „natürlichen Menschen“ aus immer nur Stückwerk sind und daher unserer eigentlichen Bestimmung unangemessen bleiben, sind Teil der göttlichen Aktivität. Diese Rechtfertigung verdankt sich also einem übergreifenden Bewertungsrahmen, der selbst nicht unserer eigenen Aktivität entspringt und die Gesetze des endlichen Standpunkts übersteigt. Die Rechtfertigung ist in diesem Sinne übergesetzlich und kann daher als Verzeihung bezeichnet werden; die Einsicht in diese Rechtfertigung ist ein Akt der Versöhnung. Hegels diesbezügliche Konzeption basiert auf einem handlungstheoretischen Punkt. Hegel unterscheidet bezüglich Handlungen zwischen der unmittelbaren „Tat“, z. B. einer Körperbewegung (Basishandlung), und dem komplexeren Sachverhalt, in dem diese Tat mitsamt den relevanten aus ihr hervorgehenden Folgen als Realisierung der „Absicht“ des Akteurs interpretiert werden (GPhR §§ 118–120, 7/218 ff., vgl. Quante (1993), 167 ff., 197 ff.). Nun können wir eine Basishandlung als Mittel zur Realisierung der Absicht nur unter der Annahme sinnvoll ausführen, dass die richtigen Bedingungen bestehen, auf Grund derer das Auftreten der Basishandlung tatsächlich zur Realisierung der Absicht führt (oder zumindest beiträgt). Das Ausführen von Basishandlungen setzt also voraus, dass das, was wir vollbringen wollen, bereits in der Handlungssituation angelegt ist. Hegel gibt das folgende Beispiel: Daß der einzelne Mensch etwas tut, erreicht, Zweck vollbracht wird – dazu gehört, daß die Sache an sich, in ihrem Begriff, so sich verhalte. Daß ich einen Apfel esse, ist, daß ich seine organische Selbständigkeit vertilge und ihn mir assimiliere. Daß ich dies tun kann, dazu gehört, daß der Apfel an sich – schon vorher, ehe ich ihn anfasse – in seiner Natur diese Bestimmung habe, ein zu Zerstörendes zu sein und zugleich ein solches, das an sich eine Homogeneität mit meinen Verdauungswerkzeugen hat, daß ich ihn mit mir homogen machen kann. (VL 5/62 f.; vgl. WdL 6/448 ff.)51
„Gnade“ (privilegium aggratiandi) willkürliche Handlungsbewertungen und -entschuldigungen zu legitimieren droht. 51 Diese und die folgende Passage stehen im Kontext von Hegels religionsphilosophischer Diskussion des Opfertods Christi; vgl. zu deren Relevanz für die Thematik Fußnote 53 in diesem Kapitel.
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9 Freiheit und absoluter Idealismus
In diesem Fall besteht der reale Kontext, der für die Handlung erforderlich ist (und bezüglich dessen wir in unserer praktischen Deliberation Annahmen treffen müssen), in physiologischen Zusammenhängen (organische Natur des Apfels, Verdauungsvorgang). Hegel kennt aber auch Fälle, in denen begriffliche oder konstitutive Zusammenhänge relevant sind: Daß dieser Verbrecher von dem Richter bestraft werden kann und daß diese [Strafe] die Durchführung, die Versöhnung des Gesetzes ist, dies tut nicht der Richter, nicht der Verbrecher durch sein Leiden der Strafe als eine partikuläre, äußerliche Begebenheit und Folge; es ist dies nicht ein zufälliges Geschehen und Aufeinanderfolgen, [das] dann zufälliger Weise jenen Schluß nähme, sondern dies ist die Natur der Sache, die das Gesetz ausspricht, die Notwendigkeit des Begriffs. Wir haben diesen Verlauf auf eine gedoppelte Weise vor uns, das eine Mal im Gedanken, Vorstellen des Gesetzes und Begriffs, und das andere Mal im einzelnen Fall, und in diesem einzelnen Fall ist der Verlauf dieser, weil die Natur der Sache dies ist; ohne dies wäre weder Richter noch seine Handlung noch das Leiden des Verbrechers Strafe und Versöhnung des Gesetzes. (VL 5/63)
Die relevanten Basishandlungen bilden die Handlung, die hier zugeschrieben wird – nämlich eine Strafe für ein Verbrechen – nur deshalb, weil neben einem bestimmten historischen Kontext (Tat, Urteilsspruch) ein institutioneller Kontext gegeben ist: Das Gesetz, kraft dessen die vorausgegangene Tat ein Vergehen ist und eine Strafe nach sich zieht, muss tatsächlich gültig sein – also hier die „Natur der Sache“ ausmachen. Demnach gibt es für Hegel Handlungen – hier: Strafhandlungen –, die prinzipiell nur innerhalb von institutionellen Rahmenbedingungen möglich sind.52 In solchen Handlungen wird ein im Rahmen solcher Bedingungen geltender normativer Zusammenhang – hier der von Verbrechen und Strafe – im Einzelfall aktualisiert; auch hier gilt also: „Daß der einzelne Mensch etwas tut, erreicht, Zweck vollbracht wird – dazu gehört, daß die Sache an sich, in ihrem Begriff, so sich verhalte“ (VL 5/62). In Hegels Beispiel kommt die handlungstheoretische Version des semantischen Externalismus zum Tragen, den Brandom ganz zu Recht bei Hegel herausstellt (9.1). Nach diesem handlungstheoretischen Externalismus ist der begriffliche Gehalt einer Handlung – die Beschreibung, unter der die Handlung dem Akteur zugerechnet wird – nicht allein durch interne Eigenschaften der unmittelbar ausgeführten Akte (Basishandlungen) und des Akteurs (z. B. Intentionen) festgelegt, sondern ist zu seiner genaueren Bestimmung auf Kontextfaktoren angewiesen. Hegel nennt, wie wir sahen, kausale Zusammenhänge und institutionelle Rahmenbedingungen als Kandidaten für derartige Faktoren.
52 Dabei liegt dieselbe Art von logischer Abhängigkeit vor wie im Fall der praktischen Identitäten, die wir in Abschnitt 8.4.1 betrachtet haben.
9.3 Die „höchste Freiheit“ und Hegels starker ontologischer Holismus
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Ebenso wie im Rahmen von Hegels starkem ontologischem Holismus der semantische Externalismus eine Festlegung des begrifflichen Gehalts endlicher Entitäten überhaupt durch ihren Stellenwert im Rahmen der Totalität des Wirklichen ermöglicht (vgl. 5.2.3 und 5.2.4), kann nun Hegel die Auffassung vertreten, dass der Gehalt aller Handlungen, in denen sich der Mensch um das Gute bemüht, durch den übergreifenden Prozess der Wirklichkeit festgelegt wird – und zwar dahingehend, dass sie trotz ihres partiellen Charakters gut sind. Wäre die Wirklichkeit in Bezug auf unsere Handlungen, wie es nach Hegel der Standpunkt der Moralität sieht, ein „unaufgeschlossenes Reich der Finsternis“ (WdL 6/544), dann könnte keine einzige Handlung gut sein, weil der hierfür gemäß Hegels Externalismus erforderliche Handlungskontext fehlen würde. Um hingegen überhaupt nur versuchen zu können, gut zu handeln, müssen wir nach Hegel implizit bereits voraussetzen, dass es einen derartigen Handlungskontext gibt, der tatsächlich eine gute Handlung resultieren lässt. Ansatzweise haben dies nach Hegel auch bereits Kant und Fichte (Kant in seiner Postulatenlehre, Fichte in deren Fortentwicklung in seinem Aufsatz Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung) gesehen: Fichte und Kant sagen, der Mensch kann nur säen, Gutes nur tun in der Voraussetzung einer moralischen Weltordnung; er weiß nicht, ob es gedeihen, gelingen werde; er kann nur handeln mit der Voraussetzung, daß das Gute Gedeihen an und für sich habe, nicht nur ein Gesetztes sei, sondern seiner Natur nach objektiv. (VL 5/144)
Die Voraussetzung, die wir demnach in Bezug auf die einzelne Handlung machen, müssen wir nach Hegel aber, um konsequent zu sein, auf alle Handlungen ausdehnen. Wir müssen also in unserem Handeln davon ausgehen, dass es einen umfassenden Handlungskontext gibt, auf Grund dessen unsere Handlungen trotz ihres endlichen und partiellen Charakters Bestandteil der übergreifenden Realisierung des Guten – und somit selbst gut – sind.53 Während uns diese implizite Voraussetzung auf dem Standpunkt der endlichen „Selbstsucht“ in ihrer All53 Hegels notorisch unklare Argumentation im Abschnitt über die „Idee des Guten“ in der WdL (6/544 ff.) dafür, dass das Gute immer schon realisiert ist, kann genau im Sinne des geschilderten Gedankengangs interpretiert werden. Sie versucht nämlich, die Realität des Guten als allgemeine Voraussetzung zu erweisen, die in jeder einzelnen Handlung immer schon gemacht werden muss, um die Realisierbarkeit eines Zweckes durch eine unmittelbare Handlung für möglich zu halten. Das religiöse Gegenstück zu dieser Argumentation bildet der Opfertod Christi, der in einer Handlung die für alle Handlungen gültige Tatsache der Rechtfertigung und Verzeihung durch den übergreifenden Handlungskontext sichtbar macht: Er hat nach Hegel für uns rechtfertigende oder „genugtuende“ Kraft, weil er „die absolute Geschichte der göttlichen Idee darstellt“ (VL 5/ 62). (Die zitierten handlungstheoretischen Passagen aus VL 5/62 f. stehen gerade im Kontext einer Erläuterung des Opfertodes).
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gemeinheit nie bewusst wird und wir sie immer nur von Mal zu Mal in Bezug auf jede einzelne Handlung machen, ist es ein wesentlicher Teil der Akzeptanz der beschriebenen ontologischen und epistemologischen Integrationsstruktur, dass wir diese Voraussetzung ausdrücklich anerkennen.54 Gerade dadurch findet aber der Akt statt, nach dem wir gefragt haben – der Akt, in dem wir einsehen, dass unsere Handlungen gerechtfertigt sind und uns schon verziehen wurde. (Überdies wird auch nur so die Perspektive des „Kammerdieners“ endgültig obsolet, der auf die an jeder Handlung beteiligte egoistisch-motivationale Seite pocht: „Die Einseitigkeit, die als Tätigkeit usf. des Subjekts erscheint, ist nur ein Moment, [das] nur Bestehen hat, nichts für sich ist, nur ist unter jener Voraussetzung“ (VL 5/ 144). Hegels starker ontologischer Holismus mit seinen hier entfalteten Implikationen erweist sich also auch als Antwort auf die Schwierigkeiten der antirealistischen Deutung des handlungstheoretischen Externalismus, die aus Brandoms Theorie der Verzeihung resultieren (9.1).) Der Übergang vom Standpunkt der selbstsüchtigen Endlichkeit hin zum Standpunkt des starken ontologischen Holismus bzw. seiner religiösen Gestalt bildet also für Hegel das Geschehen der Versöhnung und Verzeihung, die Überwindung der „Entzweiung“ hin zur „höchsten Freiheit“, nach der wir gefragt hatten. Damit haben wir erklärt, wie im Rahmen von Hegels starkem ontologischem Holismus die höchste Form von Freiheit – verstanden als ideale Transparenz in der Partizipation am Selbstwissen und Handeln des absoluten Geistes – durch ein radikales Infragestellen der in den vorherigen Kapiteln beschriebenen Formen rationaler Persistenz gedacht werden kann. Wenngleich Hegel diesen Zusammenhang v. a. im Rahmen seiner Religionsphilosophie darstellt, haben wir doch zum einen durch die Bezugnahme auf die metaphysische Tradition des „Reichs der Zwecke“ bzw. des „Reichs der Gnade“, zum anderen durch die philosophische Rekonstruktion der relevanten Themen die allgemeine metaphysische Relevanz dieses Kontexts im Denken Hegels dargelegt: Hegel entwickelt in seiner Lehre von religiöser Versöhnung eine Theorie der freiheitstheoretischen Konsequenzen seines absoluten Idealismus. Ob diese Konsequenzen systematisch in Anspruch genommen werden können, steht und fällt mit der Akzeptanz des starken ontologischen Holismus, dessen problematischen Stellenwert wir bereits in Kapitel 5 erörtert hatten. Die
54 Freilich ist hier die Rede von einer „Voraussetzung“ nicht im Sinne der Kantischen Postulate zu verstehen: Wir nehmen nach Hegel nicht an, dass unser Handeln in göttliches Wirken integriert ist, damit wir uns kohärent als moralische Akteure verstehen können; vielmehr folgt unser moralisches Selbstverständnis aus dem Wissen, das wir in Religion und Philosophie von der genannten Integration und ihren Implikationen (höchste Freiheit, unendlicher Wert des Individuums) haben.
9.4 Freiheit durch Philosophie
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Explikation der freiheitstheoretischen Konsequenzen dieser Position macht plausibel, dass eigentliche Versöhnung als die „höchste Freiheit“ nicht einfach – wie der junge Hegel und später viele Linkshegelianer einschließlich Brandoms meinen – außerhalb einer derartigen „starken“ metaphysischen Theorie konzipiert werden kann. Vielmehr behält für den späteren Hegel ohne eine solche metaphysische Theorie die Entzweiung des Menschen mit sich selbst und der Wirklichkeit das letzte Wort. Damit haben wir Hegels allgemeine Bestimmung derjenigen „höchsten Freiheit“, die dem Menschen in der Sphäre des absoluten Geistes zugänglich wird, rekonstruiert. In den einzelnen Gestalten dieser Sphäre – Kunst, Religion und Philosophie – wird dieser allgemeine Begriff von Freiheit jeweils in spezifischen Formen realisiert, die wir hier nicht im Einzelnen verfolgen können. Ich beschränke mich darauf, abschließend im nächsten Abschnitt die charakteristische Ausprägung derartiger Freiheit in der Philosophie zu untersuchen, weil diese Freiheitsform sachlich direkt mit den logischen und den epistemischen Formen von Freiheit zusammenhängt, die wir in vorangegangenen Kapiteln betrachtet haben.
9.4 Freiheit durch Philosophie Die für die Philosophie spezifische Form von Freiheit ist nach Hegels Darstellung die höchste Gestalt von Freiheit; hier werden Beschränkungen überwunden, denen die Freiheit auch in der Kunst und der Religion noch unterliegt und die damit zusammenhängen, dass diese Gestalten der menschlichen Bezugnahme auf den absoluten Geist insgesamt durch die Formen von Anschauung und Vorstellung (vgl. Kapitel 7) geprägt sind. In der Philosophie hingegen wird der wesentliche Gehalt von Kunst und Religion – nämlich die im Vorigen beschriebene Integration von menschlichem in göttliches Denken und Handeln – im Medium des Denkens rekonstruiert und damit explizit in die logische Form des Begriffs gebracht. Diese macht ja bereits den Kern des fraglichen Inhalts von Kunst und Religion aus, der im Bewusstsein vom übergreifenden Prozess der Realisierung des Begriffs besteht; deshalb kann Hegel sinnvoll die Philosophie als vollendete Selbstbeziehung des absoluten Geistes beschreiben (Enz. § 574, 10/393: „die sich denkende Idee“). Weil hier die geistige Freiheit durch keine Einschränkung mehr relativiert ist, ist die für den absoluten Geist charakteristische Befreiungsleistung der „Erhebung des Menschengeistes zu Gott“ nach Hegel per se eine „Erhebung […] in das Reich des Gedankens“ (VB 17/356), also in die Philosophie. Wir hatten im Vorigen gesehen, dass die Struktur der Verzeihung, die Hegel in der Religionsphilosophie beschreibt, wesentlich die ontologische und epistemische Integrationsstruktur einschließt, deren philosophisch explizierte Gestalt
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9 Freiheit und absoluter Idealismus
für Hegel der absolute Idealismus und insbesondere der „starke ontologische Holismus“ ist. Die Struktur der Verzeihung und Integration teilt daher für Hegel die Philosophie mit der Religion und realisiert sie lediglich in noch angemessenerer Gestalt. Dass dies für Philosophie als solche gilt und nicht nur speziell für das System des absoluten Idealismus, beruht wieder darauf, dass nach Hegel alle Philosophien ein „idealistisches“ Prinzip teilen (vgl. 5.2.1), das freilich in verschiedenen philosophischen Positionen mehr oder weniger konsequent ausgeführt wird. Daneben machen für Hegel auch die traditionellen Gottesbeweise jene Befreiung durch ontologische und epistemische Integration in besonderem Maße explizit. Dabei ist allerdings wichtig zu sehen, welche Rolle Hegel diesen Beweisen einräumt. Er sieht in ihnen nicht etwa eine Kurzform seines Systems, eine „Abkürzung“, die für sich genommen argumentativ zwingend wäre und auf direktem Wege hin zum absoluten Idealismus führte. Vielmehr behandelt er die Gottesbeweise als begriffliche Explikationen, als „Beschreibungen und Analysen“ (Enz. § 50 A, 8/131) einer gedanklichen Bewegung, die jeder Philosophie kraft ihres „idealistischen“ Prinzips explizit oder implizit zukommt55; solche Explikationen können aber nicht an die Stelle der Argumentationen treten, die die immanente gedankliche Entwicklung der Philosophie ausmachen (vgl. Guzzoni (1982), 18 f.). Instruktiv ist für unsere Zwecke die Art und Weise, wie dieser Sachverhalt in Bezug auf den ontologischen Gottesbeweis zum Tragen kommt.56 Dabei ist es wichtig zu sehen, dass Hegel die tradierten Gottesbeweise in entscheidenden Punkten kritisiert. In Bezug auf den ontologischen Beweis entspricht sein wichtigster Kritikpunkt dem gängigen Einwand gegen den Beweis, dass er Prämissen voraussetzt, die der Gegner nicht anerkennen muss (vgl. Guzzoni (1982), 21 ff.). So schreibt Hegel, die Annahme, dass notwendige Existenz (oder die „Einheit von
55 Vgl. Enz. § 50 A, 8/131: „Weil der Mensch denkend ist, wird es ebenso wenig der gesunde Menschenverstand als die Philosophie sich je nehmen lassen, von und aus der empirischen Weltanschauung sich zu Gott zu erheben. Dieses Erheben hat nichts anderes zu seiner Grundlage als die denkende, nicht bloß sinnliche, tierische Betrachtung der Welt. Für das Denken und nur für das Denken ist das Wesen, die Substanz die allgemeine Macht und Zweckbestimmung der Welt. Die sogenannten Beweise vom Dasein Gottes sind nur als die Beschreibungen und Analysen des Ganges des Geistes in sich anzusehen, der ein denkender ist und das Sinnliche denkt“. – Vgl. zum ontologischen Beweis auch Enz. § 193 A, 8/349: „Alles Vornehmtun gegen den sogenannten ontologischen Beweis und gegen diese Anselmische Bestimmung des Vollkommenen hilft nichts, da sie in jedem unbefangenen Menschensinne ebensosehr liegt, als [sie] in jeder Philosophie, selbst wider Wissen und Willen, wie im Prinzip des unmittelbaren Glaubens, zurückkehrt“. 56 Vgl. zu Hegels Verhältnis zum ontologischen Gottesbeweis insgesamt Henrich (1967), 189– 219, sowie den Beitrag von Kreis in Bromand/Kreis (2011), 225–236.
9.4 Freiheit durch Philosophie
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Begriff und Sein“) das Vollkommenste sei, werde im ontologischen Beweis vorausgesetzt: Der Mangel aber in der Argumentation Anselms, den übrigens Cartesius und Spinoza so wie das Prinzip des unmittelbaren Wissens mit ihr teilen, ist, daß diese Einheit, die als das Vollkommenste oder auch subjektiv als das wahre Wissen ausgesprochen wird, vorausgesetzt, d. i. nur als an sich angenommen wird. (Enz. § 193 A, 8/349)57
Mit diesem Einwand entspricht Hegel einer Sichtweise des ontologischen Beweises, die auch in heutigen Diskussionen einflussreich ist: Der ontologische Beweis kann demnach zwar so formuliert werden, dass er formal gültig ist, aber er verwendet in jedem Fall Prämissen, die der Gegner nicht akzeptieren muss.58 Für Hegel besteht daher die eigentliche argumentative Aufgabe darin, das Gottesverständnis zu begründen, das vom ontologischen Beweis vorausgesetzt wird.59 Diese argumentative Leistung erbringt nach Hegel nur das System als ganzes, insbesondere aber die logische Theorie vom Begriff: „Wenn die Natur des Begriffs eingesehen wird, so ist die Identität mit dem Sein nicht mehr Voraussetzung, sondern Resultat“ (17/533). Dies drückt Hegel auch als Entwicklung des „idealistischen“ Prinzips der Philosophie aus, wenn er schreibt, der ontologische Beweis könne nur dadurch verteidigt werden, dass „das Endliche als ein Unwahres, daß diese Bestimmungen als für sich einseitig und nichtig und die Identität somit als eine, in die sie selbst übergehen und in der sie versöhnt sind, aufgezeigt werden“ (Enz. § 193 A, 8/350). Die „Versöhnung“ endlicher Bestimmungen entspricht nun aber derjenigen „höchsten Freiheit“, die allgemein für den Bereich des absoluten Geistes kenn-
57 Einen ähnlichen Punkt macht Hegel in den Vorlesungen zur Religionsphilosophie von 1831: „Nun ist aber hier folgender Umstand, der eben den Beweis unbefriedigend macht. Jenes Allervollkommenste und Allerrealste ist nämlich eine Voraussetzung, an welcher gemessen das Sein für sich und der Begriff für sich Einseitige sind. Bei Cartesius und Spinoza ist Gott als Ursache seiner selbst definiert; Begriff und Dasein ist eine Identität, oder Gott als Begriff kann nicht gefaßt werden ohne Sein. Daß dies eine Voraussetzung ist, ist das Ungenügende […]“ (17/531 f.). Hier ist es also die Annahme, dass in Gott Begriff und Dasein zusammenfallen, die Hegel bei Descartes und Spinoza als ungerechtfertigte Voraussetzung kritisiert. 58 Vgl. Sobel (2004), 81 u. a. (die formale Gültigkeit schränkt Sobel auf Anselms und auf Hartshornes Versionen des Beweises ein). 59 Dies kann für Hegel nicht etwa durch den kosmologischen und teleologischen Gottesbeweis in Ergänzung des ontologischen Beweises geschehen. An diesen Gottesbeweisen in ihrer tradierten Form kritisiert Hegel nämlich, dass sie die Voraussetzung, von der sie ausgehen – die endliche Wirklichkeit – als gegeben hinnehmen und bestehen lassen, während die Argumentation in seinem System zu dem Ergebnis führt, dass die Endlichkeit nur einen relativen ontologischen Status hat (Enz. § 50 A, 8/132).
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zeichnend ist.60 Der ontologische Beweis drückt demnach nur das Resultat der ontologischen und epistemischen „Integration“ aus, die für den starken ontologischen Holismus charakteristisch ist – unser Begreifen von uns selbst und unserer Tätigkeit als Teil der Realisierung des absoluten Geistes.61 Freilich muss diese Versöhnung auch erst geleistet werden. Indem uns die genannte Integrationsstruktur bewusst wird, verwirklichen wir allererst die Einheit von Gottes Begriff und seiner Realität; erst durch die Realisierung der Philosophie erhält Gottes Begriff (die absolute Idee der WdL) vollständige Realität. Indem Hegel also die durch Philosophie mögliche Freiheit als Versöhnung konzipiert, wird der ontologische Beweis (ebenso wie die anderen Gottesbeweise) durch den Vollzug jener Versöhnung, die philosophische Gedankenentwicklung, allererst gültig gemacht. Dieser Vollzug von Versöhnung und Befreiung ist nicht willkürlich, sondern durch argumentative Notwendigkeit gebunden; die argumentativen Mittel, die dabei involviert sind, kann aber nur ein philosophisches System als ganzes mit all seinen einzelnen argumentativen Schritten enthalten. Die Gottesbeweise dienen so nach Hegels Verständnis nicht dazu, als für sich selbst genommen zwingende Beweisgänge den Glauben an die Existenz Gottes als rational notwendig zu erweisen; vielmehr sind sie nur der zusammenfassende Ausdruck eines Befreiungsgeschehens, das letztlich auf anderen als den in ihnen explizit gemachten argumentativen Ressourcen beruht. Der Blick auf die Gottesbeweise hat das Verhältnis der spezifisch philosophischen Freiheit zur allgemeinen Struktur der „höchsten Freiheit“ deutlicher gemacht: Philosophie ist der gedanklich explizite Vollzug der Struktur von Integration und Versöhnung, deren Grundgestalt Hegels religionsphilosophische Theorie der Verzeihung darlegt. – Wie kann die spezifische Freiheitsform, die uns die Philosophie zugänglich macht, aber genauer konkretisiert werden? Hier ist
60 Dieser Zusammenhang wird auch in Hegels Diskussion des ontologischen Beweises in den religionsphilosophischen Vorlesungen von 1831 deutlich, vgl. 17/533: „Das Bewußtsein des endlichen Geistes ist das konkrete Sein, das Material der Realisierung des Begriffs Gottes. Hier ist nicht von einem Hinzukommen des Seins zu dem Begriffe die Rede oder bloß von einer Einheit des Begriffs und des Seins – dergleichen sind schiefe Ausdrücke; die Einheit ist vielmehr als absoluter Prozeß, als die Lebendigkeit Gottes so zu fassen, daß auch beide Seiten in ihr unterschieden sind, daß sie aber die absolute Tätigkeit ist, sich ewig hervorzubringen. Wir haben hier die konkrete Vorstellung Gottes als des Geistes“. Diese „konkrete Vorstellung Gottes als des Geistes“ deutet Hegel, wie wir gesehen haben (vgl. 9.2), auch andernorts als das Kernstück eines angemessenen Gottesbeweises – wenn er nämlich in Enz. § 552 A (10/354) Kants moraltheologischen Gottesbeweis den traditionellen Beweisen vorzieht, weil in ihm Gott als „der sich bestimmende und realisierende Begriff“, mithin als „Freiheit“ begriffen sei. 61 Ähnlich, aber ohne den Zusammenhang zur Freiheitsthematik herzustellen, deutet Guzzoni (1982), 25 ff. Hegels Auffassung des ontologischen Beweises.
9.4 Freiheit durch Philosophie
493
ein Vergleich mit der epistemischen Freiheit, die uns das Denken außerhalb der Philosophie ermöglicht, instruktiv. Ein offensichtlicher Unterschied zwischen beiden Formen von Freiheit ist der, dass das alltägliche Erkennen einschließlich des „spezifischen“ Denkens die Wirklichkeit als solche als gegeben hinnimmt (vgl. Enz. §§ 442 f., 10/234 ff.), während die Philosophie – zumindest im Rahmen des „starken ontologischen Holismus“ – eine durchgängige Erklärung für alle grundlegenden Aspekte der Welt sowie ihre eigene Existenz bietet (vgl. 5.2.4). Entsprechend begreift das Denken im Alltag seine Inhalte auch nur ansatzweise als notwendig, die Philosophie hingegen durchgängig. Wichtiger aber noch als dieser Unterschied in der jeweiligen kognitiven Leistung, der eher gradueller Art zu sein scheint, ist ein zweiter, kategorischer Unterschied. Wir haben nämlich im alltäglichen Denken meist mit Inhalten zu tun, die uns gleichgültig sind oder mit denen wir uns nur aus pragmatischen Gründen beschäftigen (etwa um kognitive Prämissen für praktische Überlegungen zu gewinnen). In der Philosophie dagegen geht es, wie auch in Kunst und Religion, um die „tiefsten Interessen des Menschen“ (VÄ 13/21).62 Deshalb kann Hegel auch schreiben, die Philosophie sei „Zweck für sich selbst“, und „aller [sc. sonstige] Zweck“ sei „für sie“ (Berliner Antrittsrede 10/412). Insbesondere ist sie als „Sonntag des Lebens“ (Berliner Antrittsrede 10/412) der „Welt des Alltäglichen und der Prosa“ (VÄ 13/197) entgegengesetzt, in der nach Hegel die moderne Sittlichkeit ihre Realität hat (vgl. 9.3.2); die Philosophie und allgemeiner die Gestalten des absoluten Geistes erlauben uns also die Befreiung von denjenigen Phänomenen der Unfreiheit, die auch in der Sittlichkeit noch notwendig auftreten. Nun beruht Hegels bislang skizzierte Interpretation der Freiheit, die uns die Philosophie ermöglicht, offensichtlich auf einer Rehabilitation der traditionellen Vorstellung von Philosophie als Kontemplation. Es gibt aber gute Gründe für Vorbehalte gegenüber einer solchen Rehabilitation; vier davon sind die folgenden. Erstens entspringt die Auffassung von Philosophie als Kontemplation einer Tradition, in der als Paradigma von Erkenntnis das Anschauen eines körperlichen Gegenstands fungiert (vgl. Rorty (1979), 38 f.) und die entsprechend dem Mythos des Gegebenen nahe steht; an die Stelle von Rechtfertigung treten in diesem Bild
62 Gleichzeitig grenzt Hegel dieses Interesse klar von der „Selbstsucht“ des Menschen ab, wenn er schreibt, die Philosophie sei noch mehr als die Religion „die Region, in der der Mensch sein Belieben und seine besonderen Zwecke aufzugeben hat, nicht mehr sich, das Seine sucht, sondern sich dadurch ehrt, dessen teilhaftig zu sein, als eines von ihm Unabhängigen, Selbstbestehenden“ (10/412).
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Evidenzerlebnisse.63 Zweitens wird Erkenntnis als Kontemplation dem Handeln und allgemeiner der Praxis entgegengesetzt, was den Anschein erweckt, als könnten wir Erkenntnisse haben, ohne etwas tun zu müssen (Begriffe gebrauchen, Rechtfertigungen geben etc.).64 Drittens wird Kontemplation typischerweise als „monologische“ Angelegenheit verstanden, die Sache des einzelnen Denkers und unabhängig von Praktiken des Gebens und Nehmens von Gründen ist. Und viertens suggeriert der Begriff der Kontemplation das betrachtende Hinnehmen vorgegebener Wahrheiten, das keinen Raum für Kritik, Infragestellen usw. lässt. Tatsächlich leistet Hegel gelegentlich dem Eindruck Vorschub, seine Auffassung der Philosophie sei durch die benannten Eigenschaften gekennzeichnet. Bereits die oben zitierte Wendung von der Philosophie als „Sonntag des Lebens“ kann in diesem Sinne kritisiert werden; mehr noch erscheint die Kritik angebracht, wenn Hegel zur Kennzeichnung der Philosophie traditionelle Topoi der Kontemplation (bzw. Meditation) wie Stille und Einsamkeit heranzieht. So hat nach Hegel das logische Denken der WdL seinen Ort in den „stillen Räumen des zu sich selbst gekommenen und nur in sich seienden Denkens“ (WdL 5/23) und erfordert die „Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis“ (WdL 5/34). Ferner schreibt Hegel der Philosophie auch einen verklärenden Aspekt zu (wie er in der Tradition des Kontemplationsbegriffs etwa in Spinozas Blick sub specie aeterni wichtig ist65), wenn er in der Einleitung zur Geschichtsphilosophie die philosophische Retrospektive auf die Geschichte mit einer Szene vergleicht, in der ein Mensch am Abend sein Tagwerk betrachtet (VPhG 12/133 f.). Hegels Beschreibung legt es sehr nahe, dass ein solcher „abendlicher“ Rückblick auf das „große Tagewerk des Geistes“ (VPhG 12/134) zwangsläufig Konflikte harmonisiert und Kritikbedarf ausblendet.66
63 Das gilt insbesondere für die theologische Interpretation des Kontemplationsbegriffs im Mittelalter, wo „contemplatio“ für die Gottesschau steht, die der menschlichen Seele nur in der Ekstase und im Jenseits möglich ist. 64 Dewey hat hierfür den Begriff „spectator theory of knowledge“ geprägt: Dewey (1930), 26 und passim. 65 Spinozas Bestimmung greift auch Hegel bisweilen auf: „Philosophie ist, dass wir alles in diesem Med[io] der Freiheit betrachten sub specie aeterni“ (VL 13/15). – Der verklärende Charakter stellt im Übrigen auch eine Gefahr für Brandoms Gedanken der rationalen Rekonstruktion dar. 66 In einer verwandten Charakterisierung der Religion redet Hegel explizit von einer „Verklärung“: „In dieser Region des Geistes strömen die Fluten der Vergessenheit, aus denen Psyche trinkt, worin sie allen Schmerz versenkt, und die Dunkelheiten dieses Lebens werden hier zu einem Traumbild gemildert und zum bloßen Umriß für den Lichtglanz des Ewigen verklärt“ (PhRel 16/13).
9.4 Freiheit durch Philosophie
495
Die genannten Einwände können freilich nicht wirklich den Kern von Hegels Auffassung der Philosophie und ihrer Freiheit treffen, wenn für Hegel Freiheit insgesamt in der Befreiung von der Natur und jeder Form von Gegebenheit besteht, durch und durch eine Angelegenheit begrifflich-rationaler (mithin auch rechtfertigender und argumentierender) Tätigkeit ist und ferner eine wichtige intersubjektive Dimension hat. Tatsächlich lassen sich bei Hegel auch andere Kennzeichnungen der philosophischen Kontemplation ausfindig machen, die von den angeführten Kritikpunkten nicht betroffen sind und auch die eben genannten Aspekte in ein anderes Licht rücken.67 Besonders aufschlussreich ist hier die Berliner Antrittsrede, in der Hegel die Philosophie wie folgt charakterisiert: Der Entschluss zu philosophieren wirft sich rein ins Denken (– das Denken ist einsam bei sich selbst), – er wirft sich wie in einen uferlosen Ozean; alle die bunten Farben, alle Stützpunkte sind verschwunden, alle sonstigen freundlichen Lichter sind ausgelöscht. (10/416)68
Diese auffällige Stelle zeichnet ein Gegenbild zu einer zu harmonischen Vorstellung von philosophischer Kontemplation im Sinne der Tradition. Hegel beschreibt die Philosophie hier nicht als ein verklärendes Anschauen, sondern gerade umkehrt als Verlust der „bunten Farben“, also der lebendigen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit; stattdessen bleibt nur das Grau in Grau, in dem die Philosophie nach Hegel bekanntlich malt (GPhR 7/28; VGPh 18/71). Die „bunten Farben“ stehen dabei offensichtlich nicht nur für die sinnliche Gewissheit, von der wir uns im philosophischen Denken lösen müssen (vgl. z. B. 10/415), sondern, wie auch die „freundlichen Lichter“, allgemeiner für die Orientierungspunkte unseres gewöhnlichen Denkens und Handelns. An ihre Stelle muss unser eigenes Denken treten: „Nur der eine Stern, der innere Stern des Geistes leuchtet; er ist der Polarstern“ (10/416). Was Hegel hier als den „Entschluss zu philosophieren“ kennzeichnet, fällt offenkundig mit der Voraussetzungslosigkeit zusammen, die wir im Kontext der WdL betrachtet haben (vgl. 3.3); im gegenwärtigen Kontext stellt Hegel dieselbe Voraussetzungslosigkeit als Grundbedingung aller Philosophie dar. Daraus folgt bereits, dass Hegels Rede von der „Einsamkeit“ des Denkens nicht die Bedeutung
67 Neben den im Folgenden genannten Punkten ist auch an die Ausführungen zur logischen Charakterisierung des Denkens in Abschnitt 7.3 zu erinnern. 68 Vgl. auch die folgende Stelle im Zusatz zu Enz. § 31, deren Duktus wahrscheinlich macht, dass sie von Hegel selbst stammt: „Der Gedanke ist in dieser sachlichen Umgebung frei und in sich zurückgezogen, frei von allem Stoff, rein bei sich. Dieses reine Beisichsein gehört zum freien Denken, dem ins Freie Ausschiffen, wo nichts unter uns und über uns ist und wir in der Einsamkeit mit uns allein dastehen“ (8/98).
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negiert, die intersubjektive Praktiken nach Hegel für den Geist haben; sie steht vielmehr für genau diese Voraussetzungslosigkeit, in der das Denken von allem, worauf es sich sonst bezieht, abstrahiert. Für die gedankliche Entwicklung in der Philosophie bleibt somit nur die immanente Entwicklung, die autonome Fortbestimmung begrifflichen Gehalts, in der das Denken nur seiner eigenen Orientierung (seinem „Polarstern“) folgt. Wir haben schon in Bezug auf die WdL gesehen, dass Hegels Forderung der Voraussetzungslosigkeit wichtige freiheitstheoretische Implikationen hat, die u. a. das Verhältnis zur dogmatischen Metaphysik betreffen. Hier betrachten wir die Voraussetzungslosigkeit der Philosophie aus einer anderen Perspektive, nämlich vor dem Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Alltagsverstand. In dieser Hinsicht ist es nun wichtig, dass nach Hegel die Philosophie durch ihre Voraussetzungslosigkeit einen Orientierungsverlust für das alltägliche Bewusstsein bedeutet. Wenn sich dieses nämlich, so Hegel, „in die reine Region der Begriffe versetzt findet, weiß es nicht, wo es in der Welt ist“ (Enz. § 3 A, 8/45). Dieser Orientierungslosigkeit entspringt eine Unsicherheit, die Hegel als existentielle Beunruhigung darstellt: [E]s ist natürlich, daß den Geist in seinem Alleinsein mit sich gleichsam ein Grauen befällt; man weiß noch nicht, wo es hinauswolle, wohin man hinkomme. Unter dem, was verschwunden ist, befindet sich vieles, was man um allen Preis der Welt nicht aufgeben wollte, und in dieser Einsamkeit aber hat es sich noch nicht wiederhergestellt, und man ist ungewiß, ob es sich wiederfinde, wiedergeben werde. (Berliner Antrittsrede 10/416)69
Philosophie ist also durch einen Selbstverzicht gekennzeichnet70, wie er auch schon in Hegels Darstellung der Verzeihung aufgetreten war: Nicht nur private Interessen, sondern auch liebgewonnene Meinungen und Standpunkte müssen in der Philosophie von Grund auf hinterfragt werden.71 Dies stellt aber eine weitere
69 Hegel knüpft mit dem Thema der „Orientierung“ u. a. an Kant an; dieser thematisiert die „Orientierung im Denken“ bekanntlich im Orientierungs-Aufsatz, wo er gleich zu Beginn – ganz in Hegels Sinne – Mendelssohn dafür kritisiert, dass er den Alltagsverstand als „Orientierung“ für das spekulative Denken betrachtet (AA 8/133). 70 Vgl. auch PhRel 16/188 f.: „[D]ie Sache denkend, den Gedanken derselben denkend, ist die Beziehung meiner als Besonderes gegen die Sache weggenommen, und ich verhalte mich objektiv; ich habe darin Verzicht getan auf mich als Diesen nach seiner Partikularität und bin Allgemeines; dies und denken, daß das Allgemeine mein Gegenstand ist, ist dasselbe; ich tue hier actualiter, realiter Verzicht auf mich. Das Wirken und Leben in der Objektivität ist das wahrhafte Bekenntnis der Endlichkeit, die reale Demut“. 71 Vgl. 10/401: „Was der Philosophie entgegensteht, ist einerseits das Versenktsein des Geistes in die Interessen der Not und des Tages, andererseits aber die Eitelkeit der Meinungen; das Gemüt, von ihr eingenommen, läßt der Vernunft, als welche nicht das Eigene sucht, keinen Raum in sich“.
9.4 Freiheit durch Philosophie
497
Ausprägung der Freiheit dar, die für die Sphäre des absoluten Geistes charakteristisch ist. Zu den Phänomenen der praktischen Beschränktheit, die wir in Abschnitt 9.3.2 als notwendige Pathologien der realisierten Sittlichkeit betrachtet haben, gibt es nämlich epistemische Analoga, die unsere epistemische Freiheit im Alltag begrenzen und von denen wir nur in der Philosophie ganz loskommen können. Im weiteren Verlauf der Antrittsrede erläutert Hegel die eben genannte Unsicherheit und Orientierungslosigkeit folgendermaßen weiter: Dieser Standpunkt, diese Ungewißheit, Unsicherheit, dieses Wanken aller Dinge ist oft unter dem Begriffe [gemeint], was man Nichtverstehen heißt. Es wird unter Verstehen dann dies gemeint, daß die philosophischen Ideen von dem ausgehen und sich an das anknüpfen sollen, was man sonst in Gemüt, Gedanken oder Vorstellung besitzt; was diesem, dem gemeinen Menschenverstande gemäß ist, sich anpassend zeigt, versteht man am leichtesten […]. (10/416)
Hegel kontrastiert hier die Ungewissheit, die zunächst aus der philosophischen Voraussetzungslosigkeit folgt, mit Gegebenheiten des epistemischen Alltags. In ihm tritt eine epistemische Einstellung auf, der das bereits Bekannte, Geläufige am verständlichsten ist und die daher in der Philosophie scheitert, wo bisherige Gewissheiten außer Kraft gesetzt werden. Hegels Beschreibung dieser alltäglichen Einstellung ist nun sehr aufschlussreich, weil es sich hier offenbar nicht um Fälle der epistemischen Irrationalität handelt, die bereits innerhalb der Sphäre der alltäglichen epistemischen Vernunft korrigierbar sind. Wie die Freiheit in der realisierten modernen Sittlichkeit das routinierte Ausagieren sozialer Rollen nötig macht, dadurch aber gleichzeitig beschränkt wird, so gibt es auch den Sachverhalt der epistemischen Normalität; auf ihn zielt hier Hegels Rede vom „gemeinen Menschenverstand“. – Um die genaue Natur der pathologischen Seite dieser Normalität und deren Überwindung in der Philosophie verstehen zu können, müssen wir zunächst eine positive Bestimmung dieser Art von Normalität erarbeiten. Hierbei ist es hilfreich, an kontextualistische Erkenntnistheorien zu denken, die vom späten Wittgenstein (insbesondere der Nachlass-Kompilation Über Gewissheit) inspiriert sind.72 Nach solchen Erkenntnistheorien sind die Standards für epistemische Rechtfertigung eine Frage des jeweiligen Kontextes in einer epistemischen Praxis. Auf diese Weise sollen skeptische Zweifel zurückgewiesen werden, weil sie nach Rechtfertigungen verlangen, ohne darin selbst durch die epistemischen Standards der jeweiligen Praxis gerechtfertigt zu sein. Für den
72 Z. B. M. Williams (2001), Kap. 14. Auch Brandoms Modell des „entitlement by default“ (MIE 177 f.) kann als kontextualistische Position verstanden werden.
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Kontextualisten ist also durch die Praxis eine Kriteriologie gegeben, die festlegt, welche Bedingungen wann erfüllt sein müssen, damit etwas gerechtfertigt als Überzeugung angenommen werden kann; ferner können auch – wie Wittgenstein in Über Gewissheit argumentiert – bestimmte Überzeugungen durch die Praxis vorgegeben sein, die nicht sinnvoll aufgegeben werden können, ohne dass die Praxis selbst unterlaufen wird. Epistemische Normalität bildet somit einen epistemischen Rahmen, der für alltägliche Situationen der Überzeugungsbildung Rationalitätsstandards festsetzt. Wenn wir uns innerhalb dieses Rahmens bewegen, verhalten wir uns rational, auch wenn wir nicht in der Lage sind, über den Rahmen der epistemischen Normalität hinaus Begründungen für unsere Positionen zu geben. Dieser Begriff von epistemischer Normalität kann daher mit Hegels Rede vom gemeinen Menschenverstand identifiziert werden, der nach Hegel sowohl „Formen“, d. h. Kategorien und Rechtfertigungsmuster, als auch „allgemeine Sätze“ umfasst (Berliner Antrittsrede 10/415). Es ist ein „großer Vorteil eines Menschen, gesunden Menschenverstand zu haben“ (10/415), denn er erlaubt es ihm, „gemäß dem Geltenden in der Wirklichkeit“ zu urteilen und deshalb das zu tun, „was daher ausführbar und tunlich ist“ (10/415) – er ermöglicht also ein brauchbares Urteilen und Handeln unter den geltenden Normalbedingungen. Wie die Sittlichkeit, so hat aber auch diese Form der Normalität eine notwendige Kehrseite: Hegel spricht sie an, wenn er im weiteren Verlauf erklärt, dass man überhaupt das am leichtesten versteht, was man schon weiß, was im Gedächtnis zugleich am geläufigsten ist. So sind Prediger am leichtesten verständlich, wenn sie geläufige Sprüche aus der Bibel anbringen, Dichter, wenn sie das Bekannte des gemeinen bürgerlichen und häuslichen Lebens darstellen. Das Verständlichste ist das, was sich unmittelbar an unseren gewohnten Lebens- und Gedankenkreis anpasst. (Berliner Antrittsrede 10/416 f.)
In der epistemischen Normalität haben wir stets mit Bekanntem zu tun, mit dem, was wir schon wissen. Hierzu zählen insbesondere die Überzeugungen, die im Rahmen der epistemischen Normalität durch die jeweilige epistemische Praxis vorgegeben sind.73 Dieses Verharren im Gewohnten und Bekannten ist für epistemische Normalität notwendig; ohne es wären wir nicht in der Lage, mit einfachen alltäglichen Situationen zurechtzukommen, weil wir stets alles von Grund auf in Frage stellen müssten. Zugleich liegt hier aber offensichtlich eine Einschränkung epistemischer Freiheit vor: Wenn wir stets am schon Gewussten festhalten, das 73 In Randbemerkungen zum Konzept der Antrittsrede notiert Hegel dazu: „Das Gewohnte; – früher, vor der Entdeckung Amerikas, war es gegen den gesunden Menschenverstand, daß die Erde rund sei, daß die Sonne stille stehe, daß es schwarze Menschen gebe“ (10/416); und: „hat sich seine Fragen schon beantwortet und hat die bekannten Antworten“ (10/417).
9.4 Freiheit durch Philosophie
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wir zudem als Bestandteil einer Praxis hinnehmen und nicht auf der Basis eigener Gründe annehmen, haben wir keine Möglichkeit, die jeweilige Sache selbst zu erkennen. Bereits die deliberative Wahl als notwendige Bedingung epistemischer Freiheit (vgl. 1.6) ist hier nicht gewährleistet, weil wir ex hypothesi (und nicht etwa nur infolge von kritisierbaren Fehlleistungen) gegenüber Alternativen zu den tradierten Auffassungen verschlossen sind. Die Verständlichkeit, die hier in besonderem Maße vorzuliegen scheint – wir beschäftigen uns hier mit dem „Verständlichste[n]“ (10/416 f.) bzw. dem, was sich von selbst versteht74 –, ist also, gemessen an dem für eigentliche epistemische Freiheit relevanten Verstehensbegriff (vgl. 7.1), nur ein Schein von Verstehen. Statt uns um ein wirkliches Begreifen der Sachen zu bemühen, nehmen wir nur zur Kenntnis, was wir vermeintlich schon verstanden haben. Epistemische Normalität führt daher zwangsläufig auch zu einer geistigen Enge, die das epistemische Gegenstück zu den pathologischen Phänomenen der sittlichen Realität bildet – wie Hegel hier andeutet, indem er auf dichterische Darstellungen des „gemeinen bürgerlichen und häuslichen Lebens“ hinweist. Die beschriebenen Aspekte epistemischer Normalität können nun auch in kontextualistischen Positionen der Epistemologie ausfindig gemacht werden, wenngleich sie hier freilich nicht als Defizit betrachtet werden. So beschreibt Wittgenstein bekanntlich in Über Gewissheit diejenigen Überzeugungen, die durch die epistemische Praxis als gewiss vorgegeben sind, als erstarrte Erfahrungssätze und als sedimentiertes Flussbett (ÜG §§ 96 f.). Zwar müssen solche Überzeugungen ein gewisses Maß an Offenheit für Revisionen aufbieten – das Flussbett muss sich verschieben können, erstarrte Erfahrungssätze müssen sich verflüssigen können –, weil sie sonst tatsächlich irrational und dogmatisch würden. Dabei verhält sich der Rahmen epistemischer Normalität aber stets passiv und konservativ gegenüber denjenigen Instanzen, die die „Verflüssigung“ des sedimentierten Wissens aktiv betreiben, wie den Naturwissenschaften. Ferner setzen auch diese kritischen Instanzen für Wittgenstein selbst immer einen Hintergrund an epistemischen Standards und nicht in Frage gestellten Überzeugungen voraus, wenngleich sich dieser vom Hintergrund der Alltagspraktiken unterscheiden kann; auch die Wissenschaften und die Philosophie benötigen demnach „epistemische Normalität“. Hegel teilt mit Wittgenstein und den späteren Kontextualisten den Gedanken, dass wir im Alltag der epistemischen Normalität bedürfen, doch zieht er diametral
74 Vgl. Enz. § 3 A, 8/45: „Am verständlichsten werden daher Schriftsteller, Prediger, Redner usf. gefunden, die ihren Lesern oder Zuhörern Dinge vorsagen, welche diese bereits auswendig wissen, die ihnen geläufig sind und die sich von selbst verstehen“.
500
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entgegengesetzte Konsequenzen daraus: Für ihn muss die Philosophie nämlich, wie wir gesehen haben, diese Normalität gerade außer Kraft setzen, indem sie voraussetzungslos anfängt. Sowohl die Argumentationsstandards als auch die Grundüberzeugungen, die den Kontextualisten zufolge durch die epistemischen Praktiken vorgegeben sind, müssen für Hegel in der Philosophie suspendiert und radikal in Frage gestellt werden. Lediglich „äußere“ Voraussetzungen des Denkens (vgl. 3.1) können und müssen dabei bestehen bleiben; bei ihnen handelt es sich allerdings nur um die allgemeinsten pragmatischen Voraussetzungen von Denken, nicht um einzelne Inhalte, Kategorien oder Denkformen, und außerdem müssen diese Voraussetzungen im Laufe der philosophischen Entwicklung als notwendig erkannt und begründet werden. Sicherlich handelt es sich bei der kontextualistischen Epistemologie Wittgensteins und späterer AutorInnen um ein attraktives Projekt. Eine Schwäche dieses Projektes besteht aber darin, dass es die Potentiale für irrationale, aber auch (wie wir zuletzt sahen) für rationale Phänomene der epistemischen Unfreiheit unterschätzt, die in realen Praktiken immer bestehen. Wenn die Verbindlichkeiten solcher Praktiken lediglich hingenommen werden können und kein Raum dafür besteht, nach Rechtfertigungen für sie zu fragen und Kritik an ihnen zu üben, dann droht zwangsläufig diejenige Unterwerfung unter gegebene Autoritäten, die Hegel, ebenso wie Kant und Descartes, als Scheitern vernünftiger Freiheit ansieht. Die Philosophie befreit uns also durch ihr Außerkraftsetzen epistemischer Normalbedingungen in der radikalen Voraussetzungslosigkeit des „vollbrachten Skeptizismus“ von den Einschränkungen, denen unsere Freiheit in der alltäglichen Realität epistemischer Praktiken notwendigerweise unterliegt und die eine weitere Ausprägung des „natürlichen Menschen“ und seines Festhaltens an der Endlichkeit darstellen (vgl. 9.3.2). Von der Philosophie als der Kontemplation und dem „Sonntag des Lebens“ zeigt sich so, dass sie nach Hegels Auffassung keineswegs im passiven und unkritischen Betrachten gegebener Wirklichkeiten besteht, sondern im Gegenteil die höchste Form des kritischen Hinterfragens gegebener Praktiken und Standards ist und nur dadurch ihre charakteristische Form von Freiheit realisieren kann. Abschließend können wir feststellen, dass diese Umdeutung des Kontemplationsbegriffs im Sinne eines spezifisch modernen Verständnisses intellektueller Selbstbestimmung auch ein neues Licht auf die oben zitierten Stellen wirft, die der Kritik am Kontemplationsbegriff Recht zu geben schienen. Dass nämlich nach Hegel Stille und Einsamkeit für die Philosophie erforderlich sind und sie am Ende eines Prozesses auf diesen zurückblickt, hat seinen tieferen Grund darin, dass Philosophie für ihn wesentlich eine Frage von Geduld ist. Wie wir gesehen haben, ist epistemische Normalität u. a. dadurch gekennzeichnet, dass wir uns nur mit dem bereits Bekannten beschäftigen und uns mit einem bloß vermeintlichen
9.5 Fazit
501
Verstehen zufrieden geben. Dies charakterisiert Hegel treffend als die Ungeduld des alltäglichen Verstandes. Der Alltagsverstand wird von der Philosophie auch deshalb seiner Orientierung beraubt, weil in ihr das Verstehen – als angestrebtes Begreifen der Sache selbst (vgl. 7.1) – erst ganz am Schluss als das Ergebnis rationaler Arbeit stehen kann.75 So schreibt Hegel von der Philosophie: „[E]s würde nur eine der Sache nicht gemäße Ungeduld sein, die ihre Fragen gleich am Anfang beantwortet, gleich anfangs zu Hause sein wollte“ (10/417; vgl. auch Enz. § 3 A, 8/45). In seiner Ungeduld – die abermals nur der Ausdruck normenkonformen epistemischen Verhaltens unter den Bedingungen der epistemischen Normalität und nicht etwa ein Fall von Irrationalität ist – meint der Alltagsverstand immer, schon alles verstanden zu haben, während die Philosophie gerade dort Fragen stellt und Probleme sieht, wo dem alltäglichen Denken alles buchstäblich „selbstverständlich“ scheint. Mit Hegels Lob der Geduld mögen sich auch die Leserin und der Leser trösten, die mehr als genug davon bewiesen haben, indem sie mir bis hierhin gefolgt sind. Es ist an der Zeit, zu einem Fazit zu kommen.
9.5 Fazit Auf der Suche nach einem Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnis haben wir im Laufe dieser Arbeit zunächst gesehen, dass Freiheit im Anschluss an Hegel nicht als Wahl verstanden werden sollte, sondern als Autonomie, die in der rationalen Konstitution eines konkreten, rational persistenten Selbst gewonnen wird (Kapitel 2). Um die Möglichkeit einer solchen Konstitution zu erklären, ist eine logische Grundlegung nötig, wie sie Hegel in der WdL entwickelt (Kapitel 3). Diese Grundlegung, die selbst wesentlich ein Vollzug von „logischer“ Freiheit ist,
75 Hegel hebt häufig hervor, dass diese Arbeit lange dauert – etwa am Ende der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: „Diese konkrete Idee ist das Resultat der Bemühungen des Geistes durch fast 2500 Jahre (Thales wurde 640 vor Christus geboren), – seiner ernsthaftesten Arbeit, sich selbst objektiv zu werden, sich zu erkennen: Tantae molis erat, se ipsam cognoscere mentem. Daß die Philosophie unserer Zeit hervorgebracht werde, dazu hat solch eine lange Zeit gehört; so träge und langsam arbeitete er, sich an dieses Ziel zu bringen“ (VGPh 20/455 f.). – In diesem Kontext ist auch von Interesse, dass Hegel hier Züge des „heroischen“ Handelns ausmacht, von dem wir ja gesehen hatten, dass seine Unmöglichkeit in der modernen Sittlichkeit mit für deren Pathologien verantwortlich ist. Wenn Hegel die Geschichte der Philosophie als „Reihe der edlen Geister, die Galerie der Heroen der denkenden Vernunft“ (VGPh 18/20) beschreibt, die für uns „den höchsten Schatz, den Schatz der Vernunfterkenntnis erarbeitet“ haben (VGPh 18/ 20), handelt es sich demnach nicht um bloße Rhetorik, sondern um einen präzisen Beitrag zur Bestimmung der philosophischen Rationalitäts- und Freiheitsform.
502
9 Freiheit und absoluter Idealismus
führt zu einer Revision gängiger Auffassungen von logischer Allgemeinheit; die teleologische Struktur der Realisierung begrifflicher Gehalte ergibt sich als paradigmatische logische Form, die Transparenz und Begreifen ermöglicht (Kapitel 4). Die logische Grundlegung von Freiheit hat zugleich wichtige metaphysische Implikationen, die die Grundzüge einer Metaphysik der Freiheit bilden. Damit wir in der Wirklichkeit im Zuge rationaler Selbstkonstitution Freiheit realisieren können, muss diese Wirklichkeit bestimmte Grundzüge aufweisen; sie muss durch objektive Begriffe (Begriffsrealismus) strukturiert sein, die ihrerseits in einem Realisierungsmedium, nämlich der anorganischen Natur, teleologisch wirksam sind. Zu diesem Begriffsrealismus tritt in Hegels absolutem Idealismus neben dem schwachen insbesondere der „starke ontologische Holismus“ hinzu, der alle endliche Wirklichkeit als Teil des Realisierungsprozesses des „absoluten Geistes“ interpretiert (Kapitel 5). Damit ist in Hegels Theorie zum einen eine logische Grundlage für ein Freiheits-basiertes Selbstverständnis geschaffen, zum anderen sind hierdurch die Grundzüge eines Freiheits-basierten Weltverständnisses markiert. In der Folge haben wir gesehen, wie es die logisch-kategoriale Grundlegung des Freiheitsbasierten Selbstverständnisses erlaubt, konkrete Freiheitsformen epistemischer und praktischer Vernunft zu rekonstruieren. Die teleologische Form des „Begriffs“ hat sich dabei jeweils als Schlüssel zur Möglichkeit von rationaler Selbstkonstitution erwiesen, und zwar in drei Dimensionen: erstens in Bezug auf die allgemeine rationale Grundidentität (Abschnitt 6.2), zweitens in Bezug auf die sukzessive Realisierung epistemischer Freiheit durch Transformationsprozesse des Denkens (Kapitel 7) und drittens im Hinblick auf diejenige Transformation, durch die wir im praktischen Bereich – mittels praktischer Identitäten, die auf sozialen Institutionen beruhen – unsere Willensstruktur in vernünftiger Weise organisieren können (Kapitel 8). Die Aspekte von Hegels Freiheitstheorie, die wir dabei rekonstruiert haben, können sinnvoll auch ohne die metaphysische Theorie des starken ontologischen Holismus vertreten werden; sie setzen lediglich die Theorie des Begriffsrealismus voraus. Abschließend haben wir aber gesehen, dass die genannten epistemischen und praktischen Formen rationaler Persistenz noch wesentliche Einschränkungen aufweisen. Eine Befreiung von diesen Einschränkungen ist in Hegels Sicht nur im Rahmen des starken ontologischen Holismus möglich, der eine metaphysische Theorie der Verzeihung und Versöhnung zu formulieren erlaubt (Kapitel 9). Wird Hegels Freiheitstheorie auf diese Weise interpretiert, bietet sie ein philosophisches Selbst- und Weltverständnis, das tatsächlich den Freiheitsbegriff zum systematischen Mittelpunkt hat; es erfüllt auch die zu Beginn der Untersuchung beschriebenen systematischen Anforderungen, weil es grundsätzlich skeptisch gegenüber allen Reduktionismen und Formen von Gegebenem ist.
9.5 Fazit
503
Zumindest Hegels Begriffsrealismus stellt dabei vor dem Hintergrund der Sellarsianischen Tradition einen attraktiven Ansatz zur Explikation der metaphysischen Voraussetzungen rationaler Freiheit dar. Die darüber wesentlich hinausgehende Theorie des starken ontologischen Holismus bedürfte dagegen einer sehr viel umfangreicheren Prüfung und Begründung, als ich sie hier entwickeln konnte. Ich habe aber zumindest ansatzweise die theoretischen Festlegungen expliziert, die diesen Teil von Hegels absolutem Idealismus ausmachen, und aufgezeigt, welche Konsequenzen sie für die Freiheitsthematik mit sich bringen. Dass eine „höchste Freiheit“ im Sinne einer versöhnten Existenz des freien Geistes, der tatsächlich durch keine Entfremdung und Entzweiung mehr in seiner Freiheit eingeschränkt ist und insofern erst wirklich selbstbestimmt ist, nur unter der Voraussetzung von sehr starken metaphysischen Annahmen wie denen des starken ontologischen Holismus konzipiert werden kann, erscheint durchaus plausibel. Zumindest ist aber Brandoms Identifikation idealer Freiheit mit intersubjektiver Versöhnung und Verzeihung mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert, von denen wir einige betrachtet haben. Diese Schwierigkeiten sind Ausdruck einer allgemeineren Problematik von Brandoms Position und seiner HegelDeutung, die im Laufe dieser Untersuchung immer wieder deutlich geworden ist. Durch unkonventionelle Theorieelemente wie u. a. die Ablehnung eines Wahlbasierten Freiheitsverständnisses, den Gedanken einer semantischen Grundlegung von Freiheit, seinen Begriffsrealismus und den damit verbundenen modalen Realismus bietet Brandom zwar wichtige Ansatzpunkte für eine systematische Rezeption Hegels im Kontext der Freiheitsthematik. Doch ist mehrfach in Brandoms Positionen eine Spannung zwischen zwei konträren Tendenzen aufgetreten: einer epistemologisch realistischen, metaphysischen und Autonomiebasierten Tendenz, die ganz im Sinne der in dieser Untersuchung dargelegten hegelianischen Theorie ist, und einer diametral entgegengesetzten antirealistischen, metaphysikkritischen und implizit Wahl-basierten Tendenz. Diese Spannung kann auf eine grundsätzlichere Ambivalenz in Brandoms Ansatz zurückgeführt werden – nämlich darauf, dass er eine „pragmatistische“ mit einer „rationalistischen“ Tradition in der Philosophie verbinden will. In der hier relevanten pragmatistischen Tradition werden besonders die Pluralität und Offenheit der Prozesse betont, in denen wir Begriffe, Theorien, Selbstkonzeptionen usw. entwickeln. Diese Tradition, für die Brandoms direkte Quelle Rorty ist, will er mit einer (in einem weiten Sinne) rationalistischen Tradition (vgl. RiPh 1) verbinden, für die er sich neben den klassischen Rationalisten besonders auf Kant und Hegel bezieht; diese zweite Tradition zeichnet sich dadurch aus, dass sie in erster Linie die theoretischen (semantischen, metaphysischen, epistemologischen usw.) Implikationen autonomer Vernunft zu entwickeln und zu verteidigen versucht.
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9 Freiheit und absoluter Idealismus
Aus der Sicht der Ergebnisse, zu denen wir in dieser Untersuchung gelangt sind, muss es als sehr fragwürdig erscheinen, ob eine umfassende Vereinigung dieser beiden Traditionen angestrebt werden kann und soll. Ein Freiheits-basiertes Selbst- und Weltverständnis im Sinne Hegels ist mit der pragmatistischen Tradition im Sinne Brandoms inkompatibel und entspricht stattdessen der „rationalistischen“ Tradition – sofern dieser Begriff so weit verstanden wird, dass er nicht notwendig die Defizite des klassischen Rationalismus mit seiner von Hegel kritisierten „Verstandesphilosophie“ impliziert. Wenn das systematische Anliegen eines Freiheits-basierten Selbst- und Weltverständnisses, von dem wir in dieser Untersuchung ausgegangen sind, ernst genommen wird, dann erscheint es wesentlich attraktiver, auf die Wahl-basierten Motive im Verständnis von Freiheit, die in der pragmatistischen Dimension von Brandoms Theorie noch präsent sind, durchgängig zu verzichten. Eine konsequent nicht-Wahl-basierte Theorie und Metaphysik der Freiheit, wie sie Hegel vertritt und wie ich sie in dieser Arbeit plausibel zu machen versucht habe, bietet dann die überzeugendere Option, um zu verstehen, was es heißt, dass der Mensch seinem Wesen nach frei ist.
Bibliographie 1 Siglen 1.1 Hegel Die einfache Angabe von Bandnummer und Seitenzahl bei Hegel-Zitaten (z. B. „11/264“; gegebenenfalls mit Sigle für Titel, z. B. „WdL 6/362“) bezieht sich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. „A“ steht für die Anmerkungen Hegels, „Z“ für die von den ersten Herausgebern kompilierten Zusätze. Enz. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) GPhR Grundlinien der Philosophie des Rechts Jenaer Realphilosophie Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805–06 PhG Phänomenologie des Geistes PhRel Vorlesungen über die Philosophie der Religion Rechtsphilosophie (Ilting) Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831 VÄ Vorlesungen über die Ästhetik VB Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes VGPh Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie VL Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte Bd. 5: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3. Die vollendete Religion Bd. 10: Vorlesungen über die Logik, Berlin 1831. Nachgeschrieben von Karl Hegel Bd. 11: Vorlesungen über Logik und Metaphysik, Heidelberg 1817. Mitgeschrieben von Franz Anton Good Bd. 13: Vorlesung über die Philosophie des Geistes Berlin 1827/1828. Nachgeschrieben von Johann Eduard Erdmann und Ferdinand Walter VPhG Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte WdL Wissenschaft der Logik
1.2 Brandom ASoT A Spirit of Trust. A Semantic Reading of Hegel’s Phenomenology BSD Between Saying and Doing: Towards an Analytic Pragmatism HI „Holism and Idealism in Hegel’s Phenomenology“ MIE Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment RiPh Reason in Philosophy. Animating Ideas SPT „Some Pragmatist Themes in Hegel’s Idealism“
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Personen- und Sachregister Absichten 58, 70, 72, 76 f., 80, 86, 94, 98, 99, 146, 247, 250, 252 n., 262 f., 267, 298, 326, 330 f., 333, 335 f., 346 n., 400 f., 407, 414, 417 f., 423, 426, 437 f., 459, 485, s.a. Intention Abstraktion (Begriffsbildung) 91 f., 203 f., 215–218, 220 f., 227 und Freiheit s. Freiheit: und Abstraktion Akrasie, Willensschwäche 58, 413 n. Aktualismus 235 n. Allgemeinheit 21, 24, 80 f., 119 f., 134 n., 141–145, 151, 190 f., 202–210, 214–216, 218–222, 226, 232 f., 236 f., 240–242, 256–259, 326–328, 378, 386 f., 389– 392, 406, 408–411, 413 f., 419, 426, 471 n., 502 als Gemeinschaftlichkeit 218–221, 232, 327 n., 386 f., 391 des Begriffs 81, 151, 226, 240, 256, 329, 378, 389 f., 392, 413 f., 448 extensionale 202 f., 410 objektive 226, 232 f., 236 Standardmodell von Allgemeinheit und Notwendigkeit 202–206, 209 f., 213, 215, 226 Anders-Handeln-Können s. Möglichkeiten, alternative Aneignung 82 f., 85, 89 f., 92 f., 96 f., 98, 100 f., 104, 110, 113, 204 n., 318 f., 331 n., 341, 387, 405, 408, 433, s.a. Eignerschaft, Transformation Anerkennung 24, 63, 116, 124 f., 127 n., 130, 133 f., 265, 283 f., 287 n., 345, 382, 386 n., 434, 450, 452–457, 459, 467 Anschauung 24, 79, 91 f., 137 f., 141, 150–155, 158, 160, 176, 182, 187, 188 n., 203 n., 209 n., 216 n., 265, 329, 340, 374 f., 378 f., 383–395, 403–406, 489 intellektuelle Anschauung 80, 89 n., 90, 136 n., 160 Anselm von Canterbury 66 f., 490 n., 491 n. Antigone 61 n. Apperzeption, transzendentale s. Kant: transzendentale Apperzeption
Arbeit, rationale 89 n., 98, 134 n., 146, 149, 155, 266, 318 f., 323, 353, 403, 445, 475 f., 501 Aristoteles, aristotelische Tradition 69 n., 106, 109 n., 151 n., 175, 186, 191, 193 n., 196 n., 198, 202, 203 n., 204 n., 239 n., 245 n., 294, 356 n., 362 f., 368 n., 378 n., 391, 472 n. Artefakte 242, 244, 246 n., 247, 249, 321 Arten, natürliche 79, 204, 222–226, 233 f., 236 f., 242, 250 n., 257 f., 260, 295, 298, 304, 322, 363, 399, 401 Atomismus 128, 130 n., 166, 169, 186 Aufklärung 1, 33, 38 f., 41, 62, 88, 348, 372 Augustinus 64 n., 466, 473, 482 Ausdruck 79, 82, 94–96, 99, 107, 111, 276, 278 n., 308, 392, 402 n. Äußerlichkeit 22, 78, 133 n., 169, 218, 226– 232, 235, 238 f., 246, 255, 260, 263 f., 266, 288, 293, 295–297, 305, 309, 319 f., 322 f., 367, 378, 391, 396–398, 404 Autonomie 12, 15, 17, 19, 34, 36, 40 f., 60, 61 n., 68 n., 89, 102–107, 110, 112, 114– 116, 118, 120–122, 148, 210, 265, 270, 277, 279, 283, 410, 496, 501, s. a. Freiheit, Autonomie-Konzeption von explanatorische Autonomie 254 f., 260, 293, 300, 308, 311, 380 n., 392, 404 Autorität 1 f., 13, 17, 62, 65, 88–92, 97 f., 103 f., 113, 124, 126 n., 130 f., 157, 163, 283, 403, 408, 432, 450, 454 f., 459, 500 Averroismus 64 n., 73 n., 472 n. Begreifen 21, 41, 129, 170, 195, 201, 227, 229 f., 239, 243, 254, 261, 278 f., 288 f., 293, 298 n., 299, 340 n., 376, 378–380, 387 f., 394, 397–399, 402–404, 411, 427, 493, 499, 501 f., s. a. Erklärung; Verstehen Begriff, Begriffe 91, 116 f., 124–133, 137, 140 f., 145, 148 f., 150–152, 162, 166 f., 170, 186 f., 199 f., 203, 213, 220, 227, 229, 237 f., 242, 244–246, 248 f., 252–
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Personen- und Sachregister
256, 277, 284 f., 295–298, 302–304, 327, 330 begriffliche Struktur der Wirklichkeit 6, 13–15, 26, 210, 260, 269, 275, 280 f., 283, 286 f., 299, 301, 310 Begriffsmomente (Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit) 143, 191 f., 104, 142 f., 199, 236, 256 Bestimmtheit begrifflichen Gehalts 12 f., 19, 31, 116–118, 120–129, 131 f., 140 f., 152 f., 155, 165, 169 f., 186, 217 n., 265, 267, 281–283, 285, 296 „der Begriff“ 21–24, 27, 142–145, 150 f., 165 n., 171–175, 180, 190–192, 234, 240, 250 n., 257–268, 293 f., 302– 304, 306–311, 315, 320, 323, 329, 333 f., 342, 363, 372, 378, 387, 390, 393, 399, 402, 409, 411, 413, 426, 428, 449, 491 immanente Bestimmung begrifflichen Gehalts 152 f., 161, 163, 177, 187, 189, 264 f., 267, 496 objektive Begriffe 22, 236, 295, 297, 299, 300, 302, 304, 306, 309 f., 322, 363, 379, 404, 502 Realisierung von Begriffen 173 f., 245, 254–257, 260, 263–266, 293, 295, 298, 306–309, 320, 379 n., 399, 401 f., 404, 407, 426–428 Selbstbestimmung des Begriffs 171–177 Unbegrenztheit des Begrifflichen 14, 321 Urteil des Begriffs s. Urteil: des Begriffs Begriffslogik 8, 142 f., 165, 168–172, 174, 177, 179, 189 f., 194, 234, 239, 242, 256, 263, 264 f., 293, 300, 306 f., 310 f., 315, 474 Begriffsrahmen 17, 36–40, 132 f., 272 f., 275 f., 286 f., 368 n., 403 f. Begriffsrealismus 14 f., 21 f., 199, 210–213, 236, 280–287, 294–302, 309–311, 315, 460, 502 f., s.a. Brandom: Begriffsrealismus Behaupten, Behauptung 13 f., 47, 122, 283 f. Bewertung, Evaluation 200, 241–253 Evaluation und Klassifikation 21, 244– 253, 351 intrinsisch vs. extrinsisch 22, 245, 253–255, 298, 351, 401, 427
Bewusstsein 54 f., 182, 327, 345, 384, 387, s. a. Freiheit, Bewusstsein der Bildung 80, 319–321 Böses 65, 108 n., 326 f., 477 f., 482–484 Bramhall, J. 69 n., 70 n., 71 Brandom, R. 3–6, 10–19, 21 f., 24–27, 28 n., 29–31, 33, 36 f., 38 n., 39–44, 55, 60– 63, 68 n., 90, 93 f., 102–104, 114–118, 120–135, 151 n., 162, 185 n., 191, 205 n., 206 f., 209–213, 220, 229, 230 n., 241 n., 252 n., 259 n., 265–267, 269–287, 294, 296, 299–301, 313, 315, 339 n., 350 n., 388 n., 395 n., 410 n., 414, 416 f., 434, 436, 445 n., 450–461, 467, 480, 482, 486, 488 f., 494 n., 497 n., 503 f. absoluter Idealismus 280–287 begriffliche Struktur der Wirklichkeit 6, 13–15, 26, 191, 210, 212 f., 269, 275, 280–282, 285–287, 299, 301 Begriffsidealismus 280, 284 f. Begriffsrealismus 14–16, 21 f., 210, 212 f., 280–287, 299, 315, 503 Bestimmtheit begrifflichen Gehalts 12 f., 19, 31, 114–118, 120–135, 162, 265 f., 281–283, 285, 287, 296, 301, 410 n., 486 case-law-Analogie 124–131 Explizitmachen 30, 90, 127, 133, 161 n. Freiheit 3, 5 f., 12–14, 24–26, 31, 41, 43 f., 55, 60–63, 93 f., 102–104, 114–118, 121–135, 210, 269 f., 276–279, 283 f., 299, 450–461, 503 Handlungstheorie 123, 266 f., 455, 458 f. hermeneutische Theorie 26 n., 456 Inferentialismus 30, 121 Inkompatibilitätssemantik 28 n., 211 logische Begriffe 30, 122, 133 magnanimity 456, 482 Modale Kant-Sellars-These 209 f., 213, 220, 229, 241 n. modaler Realismus 21, 26, 191, 210–213, 280 f., 285, 315 Nach-Moderne 63, 125 n., 127, 450, 461 normative Pragmatik 30, 121, 124 n., 133, 135 objektiver Idealismus 280, 282, 285, 315
Personen- und Sachregister
Pragmatismus 31, 122 f., 284 rationale Rekonstruktion 123, 125–133, 278, 339 n., 445 n., 450, 455 f., 459 f., 494 n. und Metaphysik 6, 10, 12, 14, 16 f., 22, 31, 36 f., 39 f., 132, 269–287, 313, 315 Vertrauen 63 Verzeihung 25, 63, 131, 450, 452–461, 480, 488, 503, s. a. Verzeihung Bratman, M. 343 n., 417 n., 430 n. Carnap , R. 33, 36–40, 116, 118, 125 n., 185, 270–274, 276, 279, 404 Carving at the joints 238 f., 278, 286, 299, 315 Case law s. Brandom: Case-law-Analogie Chemismus 377 n., 253, 255 f., 260, 263, 296, 321 f., 363, 365, 369 Christentum 62, 64, 446 n., 447 n., 455, 461, 464, 468, 473, 482 Common sense 10, 16, 168, 340, s.a. Menschenverstand, gemeiner Davidson, D. 9, 133, 314, 337, 368 n., 413 n. Definition 129, 151 Deixis 90 f., 203, 207–209 Deliberation 59, 80, 109 n., 338, 420, 426, 486, s. a. Überlegung Denken 8 f., 15, 20 f., 24, 32–34, 43, 150, 152 f., 156 f., 162–165, 167, 170, 174–181, 185–187, 203, 234, 262, 264–266, 288 f., 293 f., 299, 310 f., 317 f., 329 n., 333 f., 340, 364, 375, 378–381, 383– 399, 402–406, 408–414, 426 f., 429, 433, 448 f., 457 f., 472 n., 478 f., 483 f., 490 n., 493–496, 502 generischer vs. spezifischer Begriff 385, 390 n., 392, 399 Monismus des Denkens 383–388 Dennett, D. 28 f., 86 Descartes, R. 43 n., 87, 323, 358 n., 362 n., 384, 491, 500 Determinismus 3, 11–14, 23, 69 n., 73 n., 76 f., 107, 298 n., 356–372 historischer 372 f. Dialektik 28, 129 f., 163
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Dispositionen 219–223, 235, 322 f. Duns Scotus 66 f., 69, 70 n. Eignerschaft 69–72, 74, 77–79, 82–94, 104, 111, 146, 330 f., 341, 343 f., 366, 386, s. a. Aneignung; Identifikation starke vs. schwache 78 f., 324 n. Empirismus 2, 4, 6, 9, 21, 90–92, 202–207, 215 f., 218, 226, 240, 313, 318, 339 f., 389 logischer Empirismus 6, 313 Entfremdung 61 f., 77 f., 99 f., 111 n., 146, 167, 335, 341, 347 f., 408, 413 n., 425, 429, 459, 503 Entitäten, abstrakte 297 n. Epistemologie 1, 42, 45, 88, 90, 92, 177, 202, 204 f., 229, 231, 288 f., 376, 379 n., 388 n., 499 f. Erfolgskriterien 248–253, 351–353, s. a. Minimalkriterien Erklärung 22, 79, 85 n., 129, 195, 198, 201 f., 214, 224, 226–232, 234–235, 238, 254, 256 f., 260 f., 278, 293 f., 299 f., 302– 306, 310–313, 335, 358, 363, 376, 398, 399 f., 427 f., 493, s. a. Begreifen; Verstehen Erscheinung 140, 168 n., 293, 297, 307–309, 390 f. Eschatologie 471 f. Esse morale 67 f., 466 f. Evidenz 44–46, 49–51, 53 f., 110 Existenz 295 f., 305 Expressivität 30, 122, 133, 276, 277, s. a. Freiheit, expressive Externalismus semantischer 252 n., 301, 458 f., 486 f. handlungstheoretischer 252 n., 458– 461, 486–488 ontologischer 285, 300 f., 309 f., 487 Familie 24, 63, 81, 336 n., 337, 342, 420– 422, 433, 439, 443 Festlegungen, praktische inferentielle 416–419, 423 f. Fichte, J. G. 7–9 , 18, 90, 124 n., 140, 150, 192 n., 241 n., 484, 487
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Personen- und Sachregister
Fischer, J. M. 50 n., 87 n., 94 n., 98–103 Formalismus-Problem 19, 93, 105–111, 113 f., 117 f., 120, 132, 135–144, 149, 189 f., 207, 213, 215, 240, 266, 330, 374, 389, 399, 403–405, 432, 434 Foucault, M. 63, 453 Frankfurt, H. 50, 78 n., 86–88, 94–100, 111 n., 113, 146 Frege, G. 122, 191–193, 196 n., 198 n., 205 f., 213, 232 n., 235, 237, 356 n. Freiheit als „Beisichsein im Andern seiner selbst“ 27 f., 148, 495 n. als rationale Persistenz 19, 25, 142–149, 153–156, 161, 179, 189, 261 f., 266 f., 288, 317, 322 f., 328, 345, 348, 376, 378, 395, 403, 409, 411, 413, 428, 448, 452, 474–476, 488, 502 als Selbstbestimmung 1 f., 12, 17, 20, 74, 78, 148, 161, 500 als wesentlich für Vernunft/Geist 6, 8, 41, 60, 325, 393 Autonomie-Konzeption von Freiheit/ Autonomie-basierte Freiheitstheorien 12, 15, 19, 36, 60, 61 n., 93 f., 102–118, 130, 131 n., 142, 145, 148 f., 265 Befreiung des Geistes von der Natur 23, 317–323, 345, 352, 354, 495 Bewusstsein/Wissen von Freiheit 60–63, 352, 411 f. bezüglich Willensinhalten 77–85, 90, 96, 318, 366, 408, s. a. Aneignung; Transformation doxastische Freiheit 42, 52 f. durch Konstruktion von Vokabularen 39 f., 276 f. durch Philosophie 25, 277, 397, 489–501 epistemische Freiheit 11, 14–16, 18 f., 23 f., 28, 31, 41–59, 86–93, 95, 100, 104, 299, 310–312, 315, 340, 345, 348, 368, 374–404, 451, 461, 476, 497–500, 502 Erkenntnis-basierte Freiheitstheorien 65, 72, 83–85, s. a. Intellektualismus
evaluativer vs. klassifikatorischer Gebrauch von „frei“ 349–354 expressive Freiheit 276 freier Wille 11, 21, 27, 67, 69–71, 75, 77 f., 119, 190, 349, 353, 366, 406, 409, 413 f., 432–434, 448 f., s. a. Willensfreiheit Freiheits-basiertes Selbstverständnis 3, 8, 10, 14 f., 18, 25, 27, 32, 53, 55, 60, 120, 269 f., 450, 501 f., 504 Freiheits-basiertes Weltverständnis 3, 8, 10–18, 25, 27, 32, 60, 269 f., 314, 321, 450, 501 f., 504, s. a. Metaphysik der Freiheit generischer Freiheitsbegriff 55, 59 Gründe-basierte Freiheitstheorien 98–102 historische vs. „current time-slice“Theorien 94, 98 ideale/höchste Freiheit 24 f., 62, 65, 349, 353–355, 412, 451 f., 461– 501 kommunikative Freiheit 124 n. konstitutiver Zusammenhang mit Selbst und Vernunft 19, 102 f., 111 liberalistischer Freiheitsbegriff 276–279 logische Grundlegung von Freiheit 20– 23, 119–121, 142 f., 155, 165 n., 170, 189, 266–268 logische vs. reale Freiheit 153–155, 160 f., 170, 173–175, 177, 189, 261, 263, 266–268, 315, 399 Metaphysik der Freiheit 11, 14, 16 f., 20– 22, 30 f., 40, 269, 473, 502, s. a. Freiheits-basiertes Weltverständnis negative Freiheit 8 f., 325 f. objektive Freiheit 61–65, 68, 73–75, 83, 335, 338 ohne Wahl/willentliche Kontrolle 18 f., 43, 54–59, 60–118 politische Freiheit 5, 30 praktische Freiheit 14, 17 f., 24, 42, 55, 59, 112, 135, 314, 326, 332, 347, 366, 405–449, 451, 461, 476, 502 Reich der Freiheit 5, 7 f., 52 f., 142, 189, 463
Personen- und Sachregister
Selbst-basierte Freiheitstheorien 94–98, 102 subjektive Freiheit 60–65, 68, 70 f., 74 f., 83, 92, 115, 279, 338, 340 f., 343 f., 397, 447, 450, 453, 455 System der Freiheit 7–9, 16, 27, 156 und Abstraktion 326–328, 367 f. und Allgemeinheit 21, 119, 190, 268, 414 Wahl-basierte Freiheitstheorien 72, 74– 90, 92–94, 96–98, 100–104, 107 n., 130 f., 158, 279, 318 f., 330, 356, 503 f., s.a. Voluntarismus; Wahl Wahlfreiheit 12 n., 52, s. a. Wahl Willensfreiheit 3, 11 f., 28, 69 f., 70 n., 77, 95, 356, 435, s. a. freier Wille Freud, S. 63, 453 Fundamentalismus 7, 203 n. Gattung 222 f., 223–225, 233 f., 236–239, 256 f., 260, 295, 363 Gedanken s. a. Denken objektive Gedanken 15 Gegensatz des Bewusstseins 160 n., 176 f. Geist 8 f., 133 f., 183 f., 277 f., 306 f., 317– 373, 387, 393, 407, 411 f., 450 f., 472, 476, 483 absoluter 23, 25, 128, 184 f., 297, 306– 309, 311, 372, 403, 441, 451 f., 457 f., 461 f., 468 f., 473–475, 476, 482, 488 f., 491–493, 497, 502 als Manifestation 307 f. Homogeneität von Geist und Welt 14, 211, 269, 321, 323 objektiver 133, 297, 306, 308, 345–347, 372, 405, 408, 441 f., 450 f., 456 f., 469, 479–482 subjektiver 12 n., 26 n., 133, 297, 306, 331 n., 345, 383, 386 n., 402 n., 405, 451 und Natur 5, 8 f., 23, 66, 211 f., 261, 269, 284, 297, 305–309, 317–350, 446 vs. Buchstabe 483 f. Geschichte 61, 128, 346, 355, 445, 465, 471, 476, 494, s. a. Normativität, dreistufiges Modell der Geschichte von Begriffsgeschichte 126 f., 130, 132
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Philosophiegeschichte 134, 158 n., 501 n. Gesellschaft, bürgerliche 24, 63, 81, 433, 439 f., 443, 480 Gewohnheit 57 f., 331 n. Gleichgültigkeit (Medium der Begriffsrealisierung) 22, 255 f., 260, 263, 266, 296, 321 n., 323, 346, 357 f., 360, 365, 371, 399, 402, 407, 428 n. Gnade 466–468, 473 f., 482, 484 f., s. a. Reich der Gnade Gott 48 n., 65, 67 n., 68 n., 140, 173–175, 181 n., 186, 201, 312 n., 314 n., 362, 395, 458 n., 461 f., 465–468, 470–476, 483 f., 489, 491 n., 492 Gottesbeweis ethikotheologischer 469 ontologischer 140, 173, 490–492 Grund, zureichender 231, 336 Prinzip des zureichenden Grundes 302 f., 312 Gründe 13, 30, 47, 49, 53 f., 56–59, 65, 73– 76, 82 f., 89, 93 f., 98–104, 107, 114, 118, 120, 132, 145, 224, 237, 241, 283, 318 n., 325, 328, 331–339, 341, 347, 353, s. a. Evidenz externe vs. interne Gründe 338 f., 453 Gründe-basierte Freiheitstheorien s. Freiheit logischer Raum der Gründe 3–5, 7, 9, 34 f., 41, 52 motivationale Gründe 453 n. normative Gründe 103 pro-tanto-Gründe 56 f. Grice, P. 350 n., 353 n. Gut, Höchstes 463–466, 470 f. Gute, das 64–66, 87, 109, 111 n., 483, 487 Halbig, C. 298 n., 380 n., 384 n., 385 n. Handeln, Handlung 4, 31, 56–58, 69–74, 76 f., 80, 111 f., 123 f., 200, 231, 241 f., 244, 248–252, 262, 266–268, 300, 321, 330, 332, 336–339, 341 f., 364, 368 n., 372, 373 n., 400, 407, 409, 412–416, 423, 427, 435–442, 452–456, 458–461, 480 f., 485–488
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Personen- und Sachregister
Anders-Handeln-Können s. Möglichkeiten, alternative epistemische Handlungen 44 f., 53 f. heroisches Handeln 252, 455, 480–482, 501 n. Handlungstheorie 31, 69 n., 123, 252 f., 267 n., 368 n., 455, 458 f., 485–488 Harmonie 61 n., 95, 98 f., 335, 443 Henrich, D. 171–173, 452 Herr und Knecht 133, 327 n., 345 Heteronomie 1 f., 4, 105, 110 s. a. Unfreiheit Hobbes, T. 1, 59 n., 69 n., 71–73 Hölderlin, F. 61 n., 192 n. Holismus semantischer Holismus 7, 128, 142, 170, 281 ontologischer Holismus 22, 281, 285, 300–316, 346 f., 359, 407, 458 f., 473 f., 485, 487 f., 490, 492 f., 502 f. starker vs. schwacher ontologischer Holismus 300–316 Houlgate, S. 28, 158 n., 160 n., 164 n., 174 n., 175 n. Humboldt, W. v. 276, 278 Hume, D., Humeanismus 59 n., 69 n., 71, 73 n., 80, 84 n., 106 f., 204–206, 213, 215 f., 225 n., 226 n., 235, 246, 407 Ich 134 n., 144 f., 324, 328, 386, s. a. Apperzeption, transzendentale; Selbstbewusstsein Idealismus 288–294 absoluter Idealismus 16, 22, 26, 33, 280–285, 346, 488, 490, 502 epistemologischer Idealismus 288 f. metaphysischer Idealismus 288–316 transzendentaler Idealismus 107 n., 290 Identifikation 95 f., 98, 101 f., 113, 324 n., 330–344, 420, 442 f., s. a. Eignerschaft Identifizierung 324, 328 f., 331, 382, 394, 482 Identität Grundidentität rationaler Wesen 330, 386–388, 406 f., 423, 425, 428– 430, 432, 434, 502 intersituative Identität 324, 328–330, 380–382, 386, 388, 394, 406, 416
intersubjektive Identität 328–330, 347, 380–382, 386, 388, 394, 416 moralische Identität 423, 428, 444 praktische Identitäten 24, 112–114, 414– 426, 429–434, 436 f., 439–444, 446, 448 f. Implikation 13, 209, 228, 281 f., 284, 299, 302 Induktion 203, 223–226, 233, 258, 382 n. Inferentialismus 30, 121, 199–201, 241 Inferenzen, inferentiell 30, 84 n., 89 f., 91, 104, 122, 201, 212 n., 229 f., 231 f., 273, 281, 285–287, 299, 318, 388, 395, 403, 415–426 materiale vs. formale Inferenzen 201 n. Inkompatibilismus 12, 23, 57, 69 n., 70 n., 337 n., 336–373, 453 n., s. a. Libertarismus Inkompatibilität (Semantik) 13, 28 n., 210– 212, 282, 299 Institutionen 24, 61, 184, 224 n., 278, 344– 348, 349, 402 f., 420, 432–449, 486, 502 Instrument, instrumentell 37, 38 n., 40, 78, 80 f., 84 n., 85, 123 n., 437 Intellektualismus 64–69, 73 f., 103, 105, s. a. Freiheit: Erkenntnis-basierte Freiheitstheorien Intention 94, 250–252, 351, 400 f., 416, 417 n., 427, 486, s. a. Absichten Internalismus (bezüglich Gründen) 85 n., 330, 338 f., 341 f., 410, 443, 453 Intersubjektivität 29, 31, 63, 116, 123 f., 133 f., 176 f., 324, 328–330, 345, 380–382, 386, 388, 394, 406, 410 f., 416, 424 f., 434 f., 450, 453–457, 459, 495 f. Irrationalität 51, 53, 56, 73, 167, 170, 262, 339, 343, 348, 497, 500 Jacobi, F.H. 7, 9 n., 18, 90, 340, 484 n. James, W. 36, 38 n., 43 n., 48 n. Kane, R. 70 n., 82 n. Kant, I. 1 f., 5–8, 12, 15, 17–19, 21, 32–34, 35 n., 39 n., 41 n., 44 n., 61 n., 80, 84 n., 86, 88, 89 n., 93, 98, 102–115, 116 n., 118, 120–122, 130, 131 n., 135–155, 162,
Personen- und Sachregister
174 n., 175, 179–183, 185–187, 189, 192– 194, 198 f., 200 n., 201, 204 f., 207, 209, 211, 213, 220, 227 n., 229, 235, 237 n., 241 n., 242 n., 265 f., 270, 288 n., 289 f., 311, 315, 324–329, 352, 358 n., 367 n., 384, 386, 387 n., 394, 404, 410, 423, 435, 462–473, 479, 484 n., 487, 488 n., 492 n., 496 n., 500, 503 Autonomie 12, 17, 19, 41 n., 61 n., 102– 111 Ding an sich 8, 140, 183 intelligibler vs. empirischer Charakter 107 Kategorien 140 f., 146 f., 150, 152 f., 162, 182, 198, 205, 404 Kategorischer Imperativ 19, 93, 105, 107, 109, 110 n., 112, 120, 139, 154, 189, 464 n. Maximen 105, 107–110, 112, 410, 463 Metaphysikkritik 32–34, 151, 182, 186 f., 315 Modale Kant-Sellars-These s. Brandom: Modale Kant-Sellars-These Moralphilosophie 7, 84 n., 108–111, 139, 435, 463–469, 479 Sittengesetz 105–108, 110, 112–115, 265, 423, 464, 467 synthetische Urteile a priori s. Urteil: synthetische Urteile a priori transzendentale Apperzeption 116 n., 139 f., 143–152, 155, 182, 211, 284 n., 325, 327, 386 f., 394 Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 19, 142–149, 152, 155, 182, 211 über epistemische Freiheit 41 n., 44 n., 145 n., 146 n., 325 f., 367 n. über Modalität 21, 141, 147, 186 f., 204 f., 213, 235 über Wille vs. Willkür 105 f. Wahrnehmungs- vs. Erfahrungsurteile 198, 329 n. Kategorien 8, 20–22, 36, 91 n., 92, 110, 132 f., 140, 142, 149 f., 152 f., 161 f., 164, 167, 168 f., 171–173, 177–183, 185 n., 186, 188 n., 193, 236, 264,
529
295, 297 n., 306 f., 314, 348, 395 n., 404, 433, 474, 498, 500, s. a. Kant: Kategorien Kausalität 12 n., 71, 73, 77, 85 n., 91, 99, 106 f., 111, 137 n., 141, 148, 167 n., 204, 205 n., 225, 231, 261 f., 267, 283, 298 n., 301 n., 318 n., 322, 324, 337 n., 355, 356 n., 364, 367, 486, s.a. Spontaneität, kausale Akteurskausalität 77, 368 n. Kirche, unsichtbare 463 f., 468, 471 n. Klassifikation 239 n., s.a. Bewertung Kohärentismus 9, 229 n., 337 Kohärenz explanatorische 225, 229 n., 230 f., 335, 377, 396 rationale 333–337, 339, 341–344, 347, 396 Kompatibilismus 19, 57–60, 64, 69 n., 70– 76, 82 f., 87, 148, 356–359, 361, 363, 365 n., 366, 372 f. Konditionalanalyse 72, 73 n., 74 Konsistenz 332–335, 341, 410 Kontemplation 493–495, 500 Kontextabhängigkeit 197, 207, 249 n., 351, 422 n. Kontrolle 18–20, 42–56, 70 f., 76 f., 79, 82 f., 88–90, 92, 104, 131, 146, 148, 153, 161, 164, 167, 175, 189, 251, 264, 366, 374, 390, 391, 395 f., 413 n. Korsgaard, C. 54–56, 111–114, 245 n., 419 f., 431 f. Kreines, J. 185 n., 302 f., 315 Kritik 1 f., 186 immanente Kritik 25 n. Kunst 25, 138, 175, 200, 249 n., 278 n., 352 n., 441, 451, 462, 472, 475 f., 489, 493 Leibniz, G.W. 70 n., 106, 312 n., 465–468, 470, 472 f., 482 Libertarismus 19, 58, 60, 64, 69–72, 74, 76 f., 82 f., 318 n., 356 f., 366, 368, 453 Locke, J. 59 n., 69 n., 71, 73 n., 215 f., 219 n., 331 n. Logik formale vs. materiale Logik 193 f.
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Personen- und Sachregister
logische Freiheit s. Freiheit: logische Freiheit logische Oberflächenform 79 f., 83, 390 moderne vs. traditionelle Logik 38 f., 191 f., 196 n., 198 n., 273, 279 natürliche Logik 168 n., 178, 395 n. Malebranche, N. 466–468, 473, 482 Manipulation 50, 98, 337–339, 341, 443, 446 Marx, K. 1, 63, 453 McDowell, J. 3–6, 9, 13 f., 33, 42, 88–90, 114 n., 203 n., 283, 315, 319 n., 320 n., 387 n., 388 n. Mechanik irdische vs. Himmelsmechanik 362 f. Mechanismus 137 f., 177 n., 253, 255 f., 260, 263, 296 f., 312 n., 321 f., 357–364, 368–372, 399 Menschenverstand, gemeiner 497 f., s. a. common sense gemeiner vs. gesunder Menschenverstand 168 Metaphysik/Metaphysikkritik 11–16, 17, 20– 22, 30 f., 32–40, 151, 162, 169, 177–187, 270–287, 302 f., 313–316, 317 n., 465, 468, s. a. Kant: Metaphysikkritik der Freiheit s. Freiheit: Metaphysik der Freiheit dogmatische Metaphysik 33, 40, 162, 165, 166 n., 168, 181, 186, 312, 315, 496 pragmatistische Metaphysikkritik 36– 40, 132, 270, 272–279, 285–287, 315 metaphysische vs. nicht-metaphysische Hegel-Deutungen 20, 34, 181–187, 314– 316 Mill, J. S. 172 n., 276 Millgram, E. 84 n., 85 n. Minimalkriterien 248–253, 351–353, 382, 394, 401, 427, s. a. Erfolgskriterien Modalität 12 f., 21, 26, 70 n., 79, 91, 141, 147, 186 f., 191, 198, 203–207, 209–213, 217, 229, 230 n., 232, 233 n., 234–236, 240– 243, 253, 256, 261, 265, 273, 278–281, 285, 289, 311 n., 322, 327 n., 333–335, 396, 398, 399
alethische vs. deontische Modalität 12, 205 n., 211–213,261, 281 Modale Kant-Sellars-These s. Brandom: modale Kant-Sellars-These modaler Antirealismus 21, 205, 235, s. a. Kant: über Modalität modaler Realismus 21, 191, 210, 212 f., 235 f., 242 n., 280 f., 285, 295, 298, 311, 315 Moderne 1 f., 8, 60–63, 125 n., 127 n., 450– 455, 479–481, 493, 497, 500 Möglichkeiten, alternative/Anders-HandelnKönnen 11 f., 14, 49 f., 57 f., 66 f., 69 f., 72–74, 87, 100, 111 n., 361, 364, 366 f., 373 n. Monismus ontologischer 181, 184 f., 270, 308 f. des Denkens s. Denken Moore, G.E. 71, 80 Moral 62, 69, 86, 101 f., 381, 410, 417 f., 421, 423–425, 433, 453 f., 460, 463–465, 468, s. a. esse morale; Identität, moralische; Moralität; Normen, moralische Moralität 61 n., 62, 423 n., 453, 455, 457, 479 n., 482, 487 Mythos des Gegebenen 4, 6, 9, 66, 68, 84 f., 88–92, 96–98, 207–209, 216 n., 493 Nachdenken 385, 392 f. Naturalismus 1, 4, 9, 35 n., 62, 66 f., 84, 184 f., 319 n., 320 n. Natur 1, 5 f., 41, 65–68, 136–138, 170, 174 n., 244 f., 253, 255, 260 f., 296–298, 303– 311, 317–323, 326, 350, 352–355, 365, 370, 378, 396, 399–404, 408 f., 429, 463, 465 f., 470; s. a. Geist: und Natur Form der Natur/Natürlichkeit 23, 78, 353 f., 396, 398, 404, 408 f., 440 materialer vs. formaler Sinn von „Natur“ 321–323 organische vs. anorganische Natur 22, 244 f., 253, 255 f., 260, 305, 321 f., 401 zweite Natur 320 n. Naturgesetze 4, 136–139, 141, 187, 203 f., 233, 235, 358 f., 362 n., 363, 365, 370 f., 399
Personen- und Sachregister
Negation 28 n., 217, 239 n. Neukantianismus 211 n., 246 Nietzsche, Friedrich 1, 63, 453 Normalität 482, 497–501 Notwendigkeit 21, 41, 43, 87, 141, 147 f., 153, 164–166, 170, 186 f., 189, 191, 202, 204, 205 n., 206, 210, 211, 213, 215, 225 n., 226, 233–240, 242, 255–259, 261–266, 298 f., 304, 318, 333 f., 341, 350, 357 n., 372, 378, 387, 396–400, 402 f., 405, 407, 409, 427–432, 470, 486 Normativität, Normen 2 n., 4 f., 12 f., 19, 30 f., 34 f., 42 f., 47, 54, 56 f., 61–63, 65 f., 67 n., 68 f., 98 n., 102–103, 109 f., 113– 118, 120 f., 124, 125 n., 126–128, 130– 135, 154, 172, 184, 210–212, 241, 245– 248, 269, 283–285, 320 n., 324 f., 327–329, 333–336, 368 n., 414–425, 428, 452–424, 467 dreistufiges Modell der Geschichte von Normativität 61–63 moralische Normen 69, 80, 410, 417 f., 421, 424, 460, s. a. Moral „welche-Norm?“-Frage vs. „welche Folgen?“-Frage 117 f., 121, 132, 162 n., 266 Olivi, P. J. 67 n., 69 n. Ontologie, ontologisch 9, 13–15, 22, 37 f., 67 f., 162, 177 n., 183–185, 204, 206 f., 211 n., 255, 259 f., 270–274, 279–281, 285, 290 n., 292, 294, 297–311, 314–316, 321, 345, 359, 361, 372, 379 n., 400, 456, 458 f., 466 f., 474, 484 f., 489 f., 492 Partikularität 24, 78–82, 85, 89 f., 381, 406– 414, 425 Persistenz, rationale s. Freiheit: als rationale Persistenz Philosophie 25, 130, 134 n., 156 f., 158 n., 195, 276–279, 291 f., 294, 333 n., 335, 340, 341 n., 354 f., 375, 379, 390 n., 397, 399, 403, 441, 442 n., 444, 446–448, 451, 462, 473, 474–476, 489–501 Pippin, R. 11 n., 20, 34, 75, 124 n., 182–185, 368 f., 411 n., 435–437
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Pläne 80 f., 267 n., 426, 430 n. Plato 109 n., 141 n., 180 n., 186, 198 n., 238 f., 376, 378 n. Plotin 239 n. Polis 61, 338, s. a. Sparta Power, one-way vs. two-way 368 Pragmatismus 36–40, 123 n., s. a. Brandom: Pragmatismus Praxis (soziale) 5, 30, 61, 184, 345, 347, 433– 442 Psychologismus 172 Putnam, H. 38 n., 246, 286–288, 301 Quante, M. 368 n. Quine, W. V. 6, 116, 185 n., 205 n., 206, 213, 314 Rational-choice-Theorien 409 f. Rationale Rekonstruktion s. Brandom: rationale Rekonstruktion Rationalismus 2, 90, 186, 277 n., 296 n., 303, 311 f., 315, 465 f., 503 f. Rationalität, rational 1–6, 18–21, 41, 43, 54, 56, 66–67, 69, 73 f., 83, 109–118, 146– 149, 167, 283, 320 f., 325–345, 349–351, 353 n., 428–432, 434, 442, 480, 498, s. a. Gründe; Irrationalität; Vernunft evaluativer vs. klassifikatorischer Gebrauch von „rational“ 349–354 Humeanische Theorie von Rationalität 73 n., 84 n. rationale Einschränkung/rational constraint 13, 32 f., 283 Raum 208 f., 290, 297, 304, 365 n., 394 n. Ravizza, M. 50 n., 94 n., 98–103 Rawls, J. 437–439 Realismus epistemologischer Realismus 288 f. interner Realismus 286 modaler Realismus s. Modalität: modaler Realismus Rechtfertigung 4, 22, 24, 41 f., 66, 79–82, 90, 125, 152, 182, 195, 197 f., 200–202, 207, 226–232, 320, 335, 337, 377, 388–390, 432–449, 497 f., 500 deontologische Konzeption epistemischer Rechtfertigung 42, 48, 52
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Personen- und Sachregister
Reich der Freiheit s. Freiheit: Reich der Freiheit Reich der Gnade 463, 466 f., 473, 482, 488 Reich der Zwecke 464, 468, 470, 472 f., 488 Reich Gottes 464–468, 470–472 Reinhold, C. L. 18, 150 Rekonstruktion, rationale s. Brandom: rationale Rekonstruktion Religion 25, 90, 175, 390, 441, 446 f., 451, 457 f., 462, 465, 472–476, 489 f., 493, 494 n. Romantiker 1, 8 Rorty, R. 6 n., 36, 40 n., 184 n., 270, 272 n., 273, 274 n., 276–279, 384, 451 n., 493, 503 Schein, notwendiger 166 Schelling, F.W.J. 7–9, 18, 90, 160 n. Schema-Inhalt-Dualismus 133 n. Schleiermacher, F.D.E. 90, 478 n. Schluss 177 n., 179 n., 191, 193, 194 n., 199–201, s. a. Inferenz Schmid, C.C.E. 18 Schopenhauer, A. 59 n. Sein 159–164 Seinslogik 164, 166–169 Selbst 12 f., 19, 20, 24, 62, 93–118, 154, 209, 420, 428 Selbst-basierte Freiheitstheorien s. Freiheit: Selbst-basierte Freiheitstheorien Selbstbewusstsein 133, 134 n., 175, 176 n., 386 n., 437, 475 Selbstkonstitution 19 f., 23 f., 93, 96–98, 104, 107–112, 116, 118, 120, 133, 142, 148 f., 154, 189, 215, 266, 319 f., 342, 405, 408 f., 432, 449, 502 Selbstkonzeption, -verständnis 100 f., 328, 412, 437, 449, s. a. Freiheits-basiertes Selbst- und Weltverständnis Sellars, W. 3–7, 9, 34 f., 42, 65, 84 n., 85 n., 88, 91, 97, 161 n., 201, 205 n., 207, 209, 216 n., 246, 261, 270, 314, 377, 388 n., 395 n., 414 Semantik 8, 10 n., 13, 21, 30, 120, 122–125, 128, 132, 166, 178, 186, 192, 200, 203,
204, 205 n., 206 n., 207, 211, 216, 229 f., 258–260, 270–272, 275, 280 f., 301, 309, 313, 315, 350 f., 450, 503, s. a. Brandom: Inkompatibilitätssemantik; Externalismus, semantischer; Holismus, semantischer; Inferentialismus Siger von Brabant 64, 73 n. Sittlichkeit 24, 63, 65, 81, 319, 335, 338, 346, 390, 439, 455–458, 471, 479–482, 493, 497 f., 501 Skeptizismus, Skepsis 157, 158 n., 163, 497, 500 Sollen 4 f., 224, 240, 241 n., 243 f., 246, s. a. Normativität Sollenskritik 241 n., 471 Sparta 335–337 Spinoza, B. 7, 165 n., 172, 309, 491, 494 Spontaneität, kausale 69, 71, 74, 154 n., 318 n., 337 n., 361–371, 409 Sprache 178 Staat 24, 63, 81, 112, 336, 346, 348, 425, 431, 433–435, 437, 439–441, 444–447, 457, 458 n., 465 n., 466, 470 f., 479 Stekeler-Weithofer, P. 122 n., 125 n., 175 n., 241 n. Subjektivität 63, 140, 145 n., 146, 171–177 in der „Wissenschaft der Logik“ 171–177 Substanz 234 f. Sittlichkeit als Substanz 346 f. vs. Subjekt 165 n., 172 Tatsachen-Werte-Unterscheidung 244, 246 Teleologie 1, 21–24, 137, 138 n., 215, 236, 246 n., 253–268, 293, 295, 298, 300, 302, 305 f., 309 f., 312, 320, 349, 350 n., 355, 363 f., 371, 374, 378, 399 f., 402 f., 409, 411 f., 413, 426 f., 450, 463, 465, 470 f., 474, 491 n., 502, s. a. Zweck Theunissen, M. 165, 176 n., 190 n., 199 n. Thomas von Aquin 64 Transformation 23, 83, 92, 96 f., 155, 176, 180, 276–289, 299, 305, 318, 321, 329– 344, 352, 379, 396, 404 f., 409–411, 426, 431–433, 448 f., 453, 502, s. a. Aneignung Transzendentalphilosophie 20, 34, 40, 182 f., 187
Personen- und Sachregister
Überlegung 49, 54, 80 f., 98, 101, 339, 400, 414 f., 417–419, 423, s. a. Deliberation Überzeugung 12 f., 16 f., 42–48, 51–54, 56, 57 n., 58, 74, 86, 88–90, 94 f., 98, 100 f., 146, 195, 212, 228, 230, 262, 283, 288, 290, 301, 309 f., 320, 322, 325 f., 330– 337, 347, 367 f., 374, 376 f., 380, 388, 395, 404, 498–500 Unfreiheit 1, 23 f., 32 f., 36, 40, 56, 76–78, 88, 92, 94 f., 99, 103, 146 f., 155, 161, 163, 166 f., 181, 210, 217, 228, 298, 312, 335, 349, 351 f., 366, 381, 393–396, 409 f., 412 f., 447, 493, 498, 500, s. a. Entfremdung; Heteronomie Unmittelbarkeit 65, 78–80, 82, 85, 90, 97, 104, 160 n., 166, 215, 340, 381, 392, 397 Unsterblichkeit der Seele 297 n., 463, 465, 472 n. Urteil 21 f., 32 f., 49 n., 50 n., 99, 147, 177 n., 179 n., 189–268, 329, 381, 388 n., 406 all-things-considered-Urteil 56–59, 73 f. des Begriffs 21, 27, 195, 240–268, 326, 351, 409 synthetische Urteile a priori 32, 151 f., 187 vs. Satz 196–198 Vaihinger, H. 36, 39 n. Velleman, J.D. 99 f., 335, 411, 413 n., 428 Verantwortung 41 f., 44 n., 48–54, 69, 87 n., 100, 101 n., 103, 124, 131, 197, 324 f., 327 f., 388, 450, 455 f., 480 f. Verifikationismus 33, 38, 40, 270 Vernunft 1–4, 6–8, 16–24, 26, 32, 34–36, 42, 52, 55, 68, 73 n., 76, 102, 104, 110, 140, 195, 201, 265, 277, 328, 343, 353, 420, 447, 478 f., s. a. Rationalität List der Vernunft 338, 355, 372 theoretische vs. praktische Vernunft 14, 368, 380 f. vs. Verstand 128–130, 162 f., 165 f., 206 Verstand 144 f., 130 n., 137, 146, 152 f., 297 n., 312 n., 325, 384, 478 intuitiver Verstand 137–139
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Verstehen 230, 376–378, s. a. Begreifen; Erklärung Vertrauen 63, 444–446 Verzeihung 24 f., 63, 131, 450, 452, 454–461, 467, 480, 482–485, 487 n., 488–490, 492, 496, 502 f., s. a. Brandom: Verzeihung Vokabulare 30 f., 38, 40 n., 132, 271–277, 286, 299 Voluntarismus 64–72, 74, s. a. Wahl-basierte Freiheitstheorien doxastischer Voluntarismus 43–56, 367 f. Voraussetzungslosigkeit 9, 16, 20, 28, 134, 143, 157, 161 f., 166, 168, 189, 315, 318, 340, 495–497, 500 Vorstellung 24, 158, 178, 181 n., 186 n., 198, 289, 293, 333 n., 375, 378 f., 383–385, 387–388, 391–396, 402 n., 403, 405 f., 427, 429, 462 n., 473, 497 Wahl 16–19, 36 f., 40 n., 42 f., 48 f., 55–93, 105–110, 112, 115, 132, 139, 368, 400, 404, s. a. Freiheit ohne Wahl; Freiheit: Wahl-basierte Freiheitstheorien; Freiheit: Wahlfreiheit deliberative vs. dezisionistische Wahl 56–59 Wahlfreiheit s. u. Freiheit Wahrheit 16, 30, 37, 38 n., 46 f., 87, 89, 123 n., 161, 179 f., 194 n., 195, 243, 288, 375, 377, 379 n., 380 n., 396 Wahrnehmung 2, 44, 49, 56, 89, 178, 195, 197 f., 203, 211, 215, 293, 297, 322, 326, 329, 340 Watson, G. 96, 99 Wesenslogik 166–169, 171, 189, 234, 236 f., 260–262, 264, 297 n., 307, 312 Westphal, K. 302 f., 315,346 n., 347 n., 435 Wiener Kreis 33, 271 Wildenauer, M. 84 n., 318 n. Wille, willentlich 11, 16, 18, 21, 24, 27, 42–99, 105–108, 110, 111 n., 113, 115, 119, 190, 297, 318, 332 f., 338 f., 342, 345 f., 349, 353, 355 f., 364, 366, 368–370, 374, 406–414, 428, 430, 432–436, 441 f., 446, 448 f., 453 f., 463–465, 477 f., 502
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Personen- und Sachregister
freier Wille s. Freiheit natürlicher Wille 78, 339, 342, 428, 433, 446, 477 Recht des subjektiven Willens 62 f., 68, 338 f. Willensfreiheit s. Freiheit: Willensfreiheit Willensinhalte s. Freiheit bezüglich Willensinhalten Willensschwäche s. Akrasie Williams, B. 45 f., 85 n., 338, 421, 453 Willkür, willkürlich 11 f., 19, 30, 33, 60, 63 f., 69, 71–76, 80, 82 f., 85, 93, 103, 105– 111, 113–116, 118, 120, 131 f., 135, 137, 141, 144 f., 152, 154–156, 160, 164, 189, 217, 228, 231, 238, 288, 296, 319, 326, 332 f., 356, 366–368, 373 n., 395, 399, 404, 410 f., 431 f., 467, 476, 481, 484, 485 n., 492 Wissen 207, 278, 288, 349, 376–379, 380 n. praktisches Wissen 418, 422 n. Wert von Wissen 376–378 Wittgenstein 6 n., 36, 123, 124 n., 129 n., 162 n., 197 f., 301, 311 f., 497–500
Wolf, S. 111 n. Wolff, C. 11, 106 Wunsch, Wünsche 58, 71, 74, 78, 80–83, 84 n., 85, 95–99, 113, 146, 154, 318, 332 f., 335 f., 338, 342, 381, 407 f., 410 n., 415 n., 418–422, 437 f., 444 Yeomans, C. 11 n., 12 n. Zeit 208 f., 290, 297 n., 304, 394 n. Zufall, Zufälligkeit 19, 75–89, 93, 104, 109 f., 113, 118, 120, 132, 137 f., 141, 144, 147, 165, 167 n., 189, 191, 217, 227 f., 231, 237, 255 f., 268, 278, 295–297, 303, 320, 333, 350, 395, 398 f., 401, 409, 411, 427, 431 f. Zufallseinwand 76–85, 366 Zweck 37–40, 137, 246, 254, 256 f., 262, 265, 270, 273, 277, 298, 322, 326, 364, 365, 371, 381, 408, 417, 423 n., 434 n., 440, 444, 463 f., 470 f., 477, 485 f., 487 n., 493, s. a. Teleologie