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German Pages 324 Year 2014
Michael Andreas, Natascha Frankenberg (Hg.) Im Netz der Eindeutigkeiten
Michael Andreas, Natascha Frankenberg (Hg.)
Im Netz der Eindeutigkeiten Unbestimmte Figuren und die Irritation von Identität
Gedruckt mit Unterstützung durch das Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK), Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung | 7
VERGESSEN Passing im Konsum Instabilität von ›Rasse‹ und Farbenblindheit in Imitation of Life (1959) und First Person Plural (2000)
Anja Michaelsen | 19 In/stabile Figurationen Weiße Männlichkeit in bundesdeutschen Filmen der 1950er Jahre
Maja Figge | 39
POSITIONIEREN Sich nicht entscheiden wollen, aber dennoch eine Haltung haben
Nanna Heidenreich | 67 Subjektivität und Selbstreflexion Drei Formen von »Film-Ichs«
Eva Kuhn | 89
STELLVERTRETEN Die verstellte Stimme Zur Identität des Ventriloquisten
Stefan Rieger | 109 »This thing walks and talks and acts like me« Der Synthespian und die Identitätskrise des Filmschauspielers
Julia Eckel | 135
WISSEN Gesichter im Sand Schwärme zwischen Nicht-Identität und Pattern Recognition
Sebastian Vehlken | 165 Die Identität der Amöben
Peter Berz | 189
WIDERSPRECHEN Dichtung und Wahrheit über Identität und Nichtidentität
Robert Pfaller | 219 »I’ll be grotesque before your eyes« Zwei Gedanken zu Michael Jackson
Michael Andreas / Natascha Frankenberg | 243
ZURÜCKBLEIBEN Freunde verraten Prinzipien einer Kehre
Andrea Sick | 273 Divisionen des Individuums Selbstgespräche am Ende der Zeit
Florian Sprenger | 291 Autor_innen | 315
Einleitung M ICHAEL A NDREAS | N ATASCHA F RANKENBERG
Die Erfindung der Identität beginnt mit einer so genannten Moderne. An die Stelle, an der sich das Volk als eine anonyme, vom Souverän zu beherrschende Masse darstellte, tritt fortan eine Vielzahl politischer, d.h. zu beherrschender Individuen, die verortet, verdatet und identifiziert werden müssen. Die Vorstellung von inhärenter Übereinstimmung und soziologischer Klassifizierbarkeit – von Subjekten mit sich selbst, von ethnischer, geschlechtlicher oder ökonomischer Zugehörigkeit – hat Ordnungen hinsichtlich Raum, Zeit und Sinnhaftigkeit beschreibbar gemacht. Unbestimmte Figuren als eine die Identität immer schon begleitende Irritation zeigen sich dabei vielfach als konstituierende Gegenstände kultur- und geisteswissenschaftlicher Analysen der letzten einhundert Jahre. Der vorliegende Band geht der Frage nach, inwieweit Entwürfe mehrfacher Identitäten oder einfacher Nicht-Identität gängige Vorstellungen von Individualität, von inhärenter Übereinstimmung, von Grenzen zwischen Individuen, aber auch Grenzen zwischen Subjekten und ihrer Umwelt hinterfragen. Identität wird dabei als diskursives, mediales und/oder wissensgeschichtliches Konstrukt begriffen werden, dessen Irritation vermeintliche Ontologien als kulturelle, theoretische und soziale Setzungen deutlich macht. Dabei steht nicht eine Apologie flexibler Lebensentwürfe im Vordergrund, sondern die reflexiven politischen, ästhetischen und wissenschaftsgeschichtlichen Begleitprogramme möglicher Figurationen von NichtIdentität. Gerade jüngere gesellschaftliche Entwicklungen haben gezeigt,
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dass eine Frage nach Identität innerhalb neoliberaler Märkte eine Anforderung nach flexiblen Lebensentwürfen hervorruft.1 Diese Flexibilisierung von Identität führt unter technologischen Bedingungen zu einer Überindividualisierung, zu einer Vielzahl von Adressierbarkeiten und Profilierungen; auf der anderen Seite werden ökonomische Diskurse an technologische Bedingungen geknüpft, in denen die oder der Einzelne im produktiven Kollektiv aufgeht.2 Aus historischer Perspektive ist die Frage nach Identität jedoch nicht in erster Linie eine ökonomische, sondern eine Frage nach Hegemonie, also nach Machtverhältnissen. Identität ist ein machtvoll besetztes Element gesellschaftlicher Organisation, die auf einem historisch wandelbaren Wissen beruht.3 So kann Identität keine Frage nach Wahrheiten sein, obschon sie genau dies suggeriert, sondern vielmehr eine Frage nach den Effekten der Idee einer inhärenten Übereinstimmung und nach den Konstellationen, in denen diese Idee performativ, also handelnd wird. Die Wahrheit taucht erst über ein solches historisches Wissen auf, und wird zum Modus ihres Funktionierens. Dies zeigt sich laufend in anhaltenden Kämpfen und Aushandlungen. So sind und waren es die sozialen Bewegungen, die immer wieder gesellschaftliche Effekte nach Identität sichtbar gemacht, bestritten und verändert haben. Als kollektivierende Formen, als Kategorisierungen von Identität und ihrer Aushandlung sind race, class und gender zu den wichtigsten Topoi der Cultural Studies geworden. Es ist ein Kennzeichen der Aushandlungen von Identität, dass sich auch in ihnen die Schwierigkeiten der Setzung immer aktualisieren. So haben beispielsweise die Kämpfe der
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Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjekti-
2
Vgl. beispielsweise Don Tapscott/Anthony D. Williams, Wikinomics. Die Re-
vierungsform, Frankfurt/M. 2007. volution im Netz, München 2009; für eine Kritik unter Rückbezug auf den Deleuz’schen Begriff von der Kontrollgesellschaft vgl. Gerald Raunig, »Dividuen des Facebook. Das neue Begehren nach Selbstzerteilung«, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.), Generation Facebook, Bielefeld 2011. 3
Vgl. im Anschluss an Michel Foucault Stuart Hall, »Introduction: Who needs identity?« In: ders., Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London/Thousand Oaks/New Delhi 1996, S. 4.
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zweiten Frauenbewegung gezeigt, dass identitätspolitische Bewegungen nicht nur mit einer Politik der Gleichstellung einhergehen, sondern auch mit wiederholten Ausschlüssen. Gerade Schwarze Feministinnen haben stark gemacht, dass sie sich selbst in einer solchen Kategorie von Frau, die eine diskursiv weiße Kategorie war, nicht wiedergefunden haben. Auch identitätspolitische Bewegungen sind somit immer konfrontiert mit Setzungen von Eindeutigkeiten, denen Offenheit und sich stetig verändernde Prozesse entgegenstehen. In diesem produktiven Prozess sind race, class und gender nicht als getrennt voneinander existierende Felder zu betrachten.4 Als Effekt dieser Prozesse ist eine Vervielfältigung wissenschaftlicher Disziplinen zu beobachten, die Identitätsfragen zu ihren Kernfragen machen wie etwa African American Studies, Disability Studies, Gay/Lesbian Studies, Gender Studies und, in der Aufbrechung identitärer Kategorien, die Postcolonial Studies und Queer Studies. Dabei sind es vor allem mediale Formen, die ein Wissen von Identität erzeugen. Sie transformieren, während sie sich technisch wie diskursiv verändern, auch zeitgenössische Bedeutungen von Identität. Diese Transformation ist allerdings nicht allein auf eine Untersuchung nach Formen von Repräsentation zu beschränken (Repräsentationskritik), vielmehr ist die Performativität der Medien selbst in die Analyse mit einzubeziehen, als ein Aspekt jenes Gefüges, das Identität hervorbringt und verändert.5 Identität ist damit auch eine Frage nach ihren Medien. So ist sie ein zentraler Gegenstand gerade der Medienwissenschaft geworden. Methoden der Cultural Studies, sozialwissenschaftliche Theorien und poststrukturalistische Perspektiven, Methoden wie die Diskursanalyse und die Dekonstruktion, haben hier Eingang in den Theoriekanon gefunden. An Figuren der Unbestimmtheit zeigt sich eine Vielzahl ästhetischer, politischer, wissensgeschichtlicher Setzungen, die in diesem Band vor allem als mediale Setzungen zusammengeführt sind. Wo unbestimmte Figuren zum Gegenstand der Analyse werden, zeigen sich nachdrücklich historische wie aktuelle Irritationen von Identität.
4
Vgl. Judith Butler, Queere Bündnisse und Antikriegspolitik, Hamburg 2011.
5
Vgl. Andrea Seier, Remediatisierung: Die performative Konstitution von Gender und Medien, Berlin 2007.
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Anja Michaelsen und Maja Figge legen in ihren Beiträgen filmische Strategien offen, die Herstellungsprozesse nationaler Identität über das Moment des Vergessens organisieren. Für beide wird das Medium selbst zentral, weil es sich bereits über seine Struktur als widerständig erweist, so dass es eine eindeutig gerichtete Produktion von Sinn unmöglich werden lässt und immer noch das aufscheinen lässt, was zu benennen über die Narration vermieden werden soll. Die beiden Texte sind vorangestellt, weil sie die Performativität des Mediums in Bezug auf Herstellungsstrategien von Identität signifikant zeichnen und weil sie nachweisen, wie race, class und gender in diesen Strategien nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind. Während sich Anja Michaelsen der US-amerikanischen Filmgeschichte widmet, untersucht Maja Figge die Diskurse des bundesdeutschen Nachkriegskinos. In verbindenden Analysen dokumentarischer wie fiktionaler Filme zeigt der Beitrag Passing im Konsum. Instabilität von ›Rasse‹ und Farbenblindheit in IMITATION OF LIFE (1959) und FIRST PERSON PLURAL von Anja Michaelsen wie ein US-amerikanischer Diskurs von Gleichheit über unterschiedliche Strategien, etwa eine Problematisierung des Passing, Differenzen wie Geschichtlichkeit auszublenden sucht, und dabei race, class und gender nur als strukturell getrennt voneinander thematisieren kann. Sie stellt heraus, wie sich hierbei in den Filmen eben doch ein Mehr an Bedeutung und eine Widerspenstigkeit einschreibt. In ihrem Beitrag In/stabile Figurationen. Weiße Männlichkeit in bundesdeutschen Filmen der 1950er Jahre analysiert Maja Figge die filmischen Mechanismen einer Wiederherstellung weißer Männlichkeit im Nachkriegskino der BRD, die einhergehen mit den Bemühungen einer medialen Entschuldung und einem filmischen Vergessen der Verbrechen des Nationalsozialismus und der Shoah. Auch hier, so weist sie nach, ist dieser Versuch gekoppelt an eine vereinnahmende Gleichsetzung und damit an den Wunsch des Verschwindens von Differenz und Geschichte, der gebunden ist an die Herstellung einer hegemonialen Position. Film ist auch bei ihr das Medium, das sich einer solchen Eindeutigkeit widersetzt. Die Möglichkeiten, eine Position einzunehmen, loten Nanna Heidenreich und Eva Kuhn aus. Beide Beiträge weisen Varianten des Sprechens nach, die sich nicht in Eindeutigkeit verlieren und dadurch erst präzise werden.
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Nanna Heidenreich zeigt, dass Sich nicht entscheiden wollen, aber dennoch eine Haltung haben nicht etwa ein Dilemma darstellt, sondern eine genaue Verortung beschreibt. Dafür wählt sie die Textform einer – auch autobiographischen – Wanderung, die gesellschaftspolitische Ereignisse, Manifeste, post-/koloniale wie queer/feministische Theorien und Filme durchstreift und so einen Dialog ermöglicht, der über die Zeit hinaus Räume des Denkens entstehen lässt. In der Bewegung, die sie vollzieht, macht sie Begrenzungen von Identität sichtbar und wahrnehmbar. Sie findet im Kino den Ort, an dem diese Wahrnehmung zur sinnlichen Erfahrung wird, aus der »auch das Unmögliche hervorgehen kann.« Auch Eva Kuhn befindet sich im Kino. Sie fragt nach der Möglichkeit des Films »Ich« zu sagen. Dieser Möglichkeit stellt sie die Verfasstheit des klassischen Erzählkinos gegenüber, das auf der Konstruktion von Objektivität aufbaut und das eigene Dispositiv zum Verschwinden bringt. Dieser Tendenz des Apparates, unsichtbar zu werden, muss da, so ihre These, wo ein Eindruck von Subjektivität entstehen soll, entgegengewirkt werden. Kuhn zeigt mit ihrem Beitrag Subjektivität und Selbstreflektion. Drei Formen von »Film-Ichs« in genauen Filmanalysen Strategien der von ihr gewählten Filme auf, sich von der Anforderung einer Objektivität zu lösen. In diesem Vorgang wird Film, wie schon bei Nanna Heidenreich, zum Moment von Erfahrung, zu einem, wie Eva Kuhn folgert, Denkmal, das sie charakterisiert über seine Opazität, nicht über seine Transparenz. Figuren der Stellvertretung bringen die Beiträge von Julia Eckel und Stefan Rieger zusammen. Sie befassen sich mit Phänomenen der Übertragung: zum einen der Übertragung von Stimme, zum anderen der Übertragung von Stimme und Physiognomie/Bewegung auf eine künstliche Figur. Julia Eckel nimmt in This thing walks and talks and acts like me. Der Synthespian und die Identitätskrise des Filmschauspielers das Aufkommen sogenannter Synthespians zu ihrem Ausgangspunkt und analysiert, über welche Effekte und definitorischen Fragen diese digitalen Figuren in Bezug auf die ihr zugrunde liegenden Schauspieler_innen verortet werden. Synthespians werden, so pointiert Eckel, »quasi zu einer Versinnbildlichung dessen, was Identität als Vorstellung kreieren soll: eine Einheit trotz Zweiheit.« Das Verhältnis von Schauspieler_in zu Synthespian und die an dieses Verhältnis gebundenen Verunsicherungen verfolgt Eckel weiter und zeigt fundiert filmgeschichtlich auf, wie sich Diskurse, die sich an der von
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ihr perspektivierten Figur zeigen, wiederholen, und zwar als diskursives Feld, das bereits beim Aufkommen des Mediums Film das Verhältnis von Mensch zum Medium in existenziellen Fragen suchte. Zu einer ebenfalls historischen Figur wird Stefan Riegers Bauchredner, an der er unterschiedliche Wissensordnungen in ihrem Rückgriff auf das gespaltene Verhältnis von Stimme/Redner_in und Puppe untersucht. Rieger versammelt in seinem Beitrag Die verstellte Stimme. Zur Identität des Ventriloquisten eine umfassende Wissensgeschichte und weist nach, wie der Ventriloquist als Gegenstand medizinische, psychologische, juridische und medientechnische Disziplinen durchwandert hat und für diese als Wissensfigur produktiv geworden ist. Im Verhältnis von Puppe zu Sprecher_in zeigt Rieger dabei auch auf, wie die Puppe als Medium von Identität wirksam wird: »Die Puppe ist nicht Accessoire, nicht Werkzeug, nicht Maschine, sondern Ermöglichungsgrund eines Selbstumgangs, vielleicht gar einer Selbsttechnik im Sinne Foucaults.« Sebastian Vehlken und Peter Berz entdecken Fragen nach Identität im Wissen vom Tier, genauer: im Wissen um die Organisation von Schwärmen (Vehlken) und in der prekären Identität der Amöbe (Berz). Beide zeigen dabei die Wechselwirkungen zwischen einem kulturellen Wissen und naturwissenschaftlichen Paradigmen auf. Sebastian Vehlken beschreibt in seinem Beitrag Gesichter im Sand. Schwärme zwischen Nicht-Identität und Pattern Recognition die Wechselwirkung zwischen soziopolitischen sowie technologischen Paradigmen und einem biologischen Wissen um Schwärme. Vehlken zeigt, wie sich ein einstmals biologisches Wissen aus den Naturwissenschaften löst und in andere Bereiche abzuwandern beginnt. Ausgehend von einem ökonomischen Wissen von Schwarmintelligenz, das sich zu einer der nachhaltigsten Erzählungen der Organisation von Finanzmärkten entwickelt habe, beschreibt er die Visualisierung von Schwärmen im Hollywood-Film. Die technologischen Möglichkeiten von Computer Generated Images führen zu einer gehäuften Darstellung von Schwärmen, welche (zumeist anthropomorphe) Gestalt annehmen. Demgegenüber stehen klassische Beispiele wie Hitchcocks THE BIRDS, in denen sich der Schwarm als »pure Negation von Kommunikation« darstellt. Der Schwarm, so Vehlken, stelle klassische Subjektpositionen in Frage: Er ist Einheit und Vielheit zugleich. Als Zootechnologien, so Vehlken, irritieren Schwärme nicht nur die Grenze
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zwischen Masse und Individuum, sondern zugleich auch die Grenze zwischen Tier und Maschine. Diese Grenze ist ebenfalls der Gegenstand von Peter Berz’ Beitrag Die Identität der Amöben. Sein Ausgangspunkt ist die Benennung von Amoeba proteus nach dem Gott der griechischen Mythologie, der sich durch Formwandlung den Menschen entzog. Berz richtet Fragen nach dem Werden, der unbestimmbaren und im Wandel begriffenen Identität an den nach Proteus benannten Einzeller – genauer an dessen Karriere in der Biologie und Philosophie des 20. Jahrhunderts. Den prekären Status der Amöbe in dieser Wissensgeschichte – ist die Amöbe Tier oder Pflanze oder weder/noch? – überführt Berz auf eine Frage nach zwei Organen der Identität: Den Mund und die Füße der Amöbe. Der Blick auf die Organe der Amöbe, so Berz, verändere die Relationen des Dreiecks Mensch/Tier/Maschine: »Nach dem Jahrhundert Des Menschen (Foucault) beginnen sich Tiere und Maschinen ganz ohne den Menschen zu verständigen.« Die Frage der Identität der Tiere wird in dem Beitrag von Berz also auch eine nach dem Status des Menschen. Um Widersprechen und Fürsprechen geht es in den Beiträgen von Robert Pfaller und Michael Andreas/Natascha Frankenberg. Robert Pfaller geht es um den ideologischen Status eines Wissens von Hybridität und Ambivalenz: In seinem Beitrag Dichtung und Wahrheit über Identität und Nichtidentität analysiert Pfaller einen Trugschluss. Die Beschäftigung mit uneindeutigen Identitäten sei der Gestus einer Gesellschaft, die Pfaller als neoliberal und von postmoderner Ideologie durchzogen kennzeichnet. Pfaller bringt gegen diesen Gestus die Ideologietheorie Althussers in Stellung: Die Möglichkeit »›subversiv-performativer Umgestaltung‹ einer symbolischen Rolle führt nicht aus dem Subjekt-Effekt (der ideologischen Unterwerfung der Individuen) heraus, sondern vielmehr direkt in sie hinein.« Unbestimmte Figuren seien damit als ideologische Formen verstärkter Subjektivierung zu betrachten, welche statt zu Freiheit zu verstärkter ideologischer Rekrutierung und damit zu Unterwerfung von Individuen führten. Michael Andreas und Natascha Frankenberg gehen von einer Unbestimmbarkeit medial konstituierter Figuren aus. In ihrem Beitrag »I’ll be grotesque before your eyes«. Zwei Gedanken zu Michael Jackson zeigen sie, wie die Entschlüsselungen zu eindeutigen Identitäten immer wieder auf
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mediale Oberflächen treffen und von dort gespiegelt und gebrochen werden. Am Beispiel Michael Jacksons analysieren sie, dass identitäre Eindeutigkeit vor allem im popkulturellen Diskurs der USA verlangt und an der visuellen Oberfläche des Subjekts festgemacht wird. An Michael Jackson zeige sich dabei besonders nachdrücklich, so ihre These, dass eine mediale Figur jede Frage nach unhintergehbarer Übereinstimmung von vornherein zu unterlaufen vermag. Anhand zweier Beispiele – der Technologie des Morphings sowie an Jacksons weißem Bühnenhandschuh – zeigen Frankenberg/Andreas, unter welchen technologischen und wissenshistorischen Bedingungen die Unbestimmbarkeit von Jacksons Persona verhandelt wird. Andrea Sick und Florian Sprenger definieren Identität als Verhältnis innerhalb kommunikativer Relationen. Die Irritation von Identität taucht hier als Gedankenexperiment auf: was passiert, wenn Sprecher_innen die Adressierungen entzogen sind; im Selbstgespräch (Sprenger) oder im Entzug, im digitalen Suizid, nach der Flucht aus sozialen Netzwerken (Sick)? In ihrem Beitrag Freunde verraten. Prinzipien einer Kehre entfaltet Andrea Sick eine kritische Perspektive auf die Rede von »Freundschaft« nach sozialen Medien. Identität in Netzwerken, so ihre zentrale These, konstituiere sich nicht im Selbst, sondern durch die Verbundenheit mit anderen. Freundschaft, so Sick, sei in sozialen Netzwerken immer auch von Verrat gekennzeichnet: als ständiges Teilen von Information, durch das sich Subjekte innerhalb ihrer Netzwerke mit anderen abgleichen und dadurch selbst justieren. In Sicks Beitrag stehen soziopolitische Phantasmen eines ständigen Mit-Teilens künstlerischen Praktiken ihrer Verweigerung gegenüber. Die Datenansammlungen mit ihrem Bestätigungsgestus versteht Sick als »Identitätsstiftungsmaschine«, deren Unterbrechung auch eine Zerstörung an den sich hierdurch justierenden Identitäten bedeute. In Florian Sprengers Beitrag stellt sich die Frage der Kommunikation mit Abwesenden aus einer anderen Perspektive. Auftakt seines Beitrags Divisionen des Individuums. Selbstgespräche am Ende der Zeit ist ein Aphorismus Friedrich Nietzsches, in dem dieser sich als letzten Philosophen imaginiert: »Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir.« Sprengers unbestimmte Figur ist der letzte Mensch, der auf das Selbstgespräch zurückgeworfen ist, und den Sprenger auch in andere Erzählungen der Moderne verfolgt. Für ihn wird
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durch das Selbstgespräch ein Paradox von Kommunikation sichtbar: eine Spaltung in Zwei, die Kommunikation überwindet. Identität begreift er als kommunikative Aushandlung dieser Spaltung und als Einheit aus Vielheit. Außerdem, so Sprenger, könne das Selbstgespräch mit Michel Foucaults Konzept der Technologien des Selbst als Kulturtechnik der Hermeneutik des Subjekts beschrieben werden. Die Produktivität des Soliloquismus als Kulturtechnik liege gerade in einem performativen Aushandeln, in dem die Rede über den Wissensinhalt des Gesagten, die Repräsentation eines Wissens hinausgeht. Der vorliegende Band führt die Vorträge und Diskussionen einer Tagung weiter, die gemeinsam mit dem Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) im Wiener Depot durchgeführt wurde. Für diese Kooperation möchten wir uns, insbesondere bei Thomas Hübel, sehr herzlich bedanken. Für die Gastfreundschaft in Wien geht unser Dank an Michaela Taschek sowie an das Team des Depot, außerdem an Jan Müggenburg und Christof Windgätter für ihre Moderationen während der Tagung. Ein Dank geht außerdem an das Rektorat der Ruhr-Universität Bochum für die finanzielle Unterstützung der Tagung. Die Drucklegung dieses Bandes wurde möglich durch großzügige Unterstützung des IWK sowie des Instituts für Medienwissenschaft der RuhrUniversität Bochum, Professur für Mediengeschichte und Kommunikationstheorie; unser Dank hierfür gilt Thomas Hübel und Stefan Rieger. Für Rat und Tat bei der Finalisierung des Bandes bedanken wir uns bei Martin Müller, Jennifer Peters und Matthias Thiele. Schließlich, aber nicht zuletzt, gilt unser Dank allen Beitragenden des Bandes. Bochum, März 2013
Passing im Konsum Instabilität von ›Rasse‹ und Farbenblindheit in IMITATION OF LIFE
(1959) und FIRST PERSON PLURAL (2000)
A NJA M ICHAELSEN
Deann Borshay Liems autobiographischer Dokumentarfilm FIRST PERSON PLURAL (USA 2000) erzählt vom Aufwachsen der Filmemacherin als koreanisches Adoptivkind in einer weißen US-amerikanischen Mittelschichtsfamilie. Wir erfahren, dass Spendenaufrufe im Fernsehen der 1960er Jahre Arnold und Alveen Borshay in Kalifornien dazu veranlassen, ein Kind zu adoptieren.1 Vor allem aber entwirft FIRST PERSON PLURAL in Interviews und Selbstreflektionen der Filmemacherin ein emotionales Bild einer Identitätskrise, die aus dem Umstand zu resultieren scheint, dass Deann in ihrem Leben verschiedene, koreanische und amerikanische Identitäten ›hatte‹, die sie eingangs anhand mehrerer Geburtsdaten und Namen aufzählt. Verschiedene Identitäten zu ›haben‹ wird in FIRST PERSON PLURAL als krisenhaft und problematisch, insbesondere hinsichtlich Deanns Beziehungen zu ihrer Adoptivfamilie dargestellt. Auf der einen Seite steht Deanns
1
Dass es sich um ein koreanisches Kind handelt, ist auf einen historischen ›Zufall‹ US-amerikanischer Außenpolitik und Kriegsführung zurückzuführen. S. zur Geschichte transnationaler Adoption aus Südkorea als Folge von Koreakrieg und Kaltem Krieg: Christina Klein: Cold War Orientalism. Asia in the Middlebrow Imagination 1945-1961, Berkeley u.a.: University of California Press 2003.
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Begehren, sich der Bedeutsamkeit der Beziehungen zu ihren Adoptiveltern und -geschwistern vergewissern zu wollen. Auf der anderen Seite verfolgt der Film das Anliegen, zu erfassen, wodurch Deanns Identität, über die Adoptivbeziehungen hinausgehend und diese beeinträchtigend, bestimmt wird. Dieser ›Überschuss‹ wird im Film in den Bedingungen von Deanns spezifischer Adoptionsgeschichte, der kollektiven Geschichte transnationaler Adoption aus Südkorea im 20. Jahrhundert und einer spezifischen Haltung von Adoptivgeschwistern und -eltern zu diesen inviduellen und kollektiven Geschichten, gesucht. Die sich entziehenden Bedeutungen der Geschichtlichkeit von Deanns Adoptivbeziehungen scheinen sie auf eine Weise zu verfolgen, die erfordert, diese Beziehungen und die Voraussetzungen ihrer Identität immer wieder erneut zu befragen, und die so den Film selbst vorantreibt. FIRST PERSON PLURAL ist in der Thematisierung intimer Beziehungen eine »Dokumentation von Affekt«2, wie David Eng schreibt, ein schmerzhafter und beunruhigender Affekt, der hier durch das widersprüchliche Begehren nach sowohl Vereindeutigung und Versicherung bestehender Beziehungen, als auch danach, diese in Bezug auf eine individuelle und kollektive Geschichte zu hinterfragen, bestimmt ist. Dieser, das Projekt des Films vorantreibende Überschuss in den Beziehungen Deanns zu ihrer Adoptivumgebung, die ambivalente Suche nach Bestätigung von Beziehungen und zugleich nach dem, was diese in Frage stellt und die Darstellung als Identitätskrise, ist nicht nur für das Thema der Adoption von Bedeutung. Ich gehe hier davon aus, dass sich in der Thematisierung der Adoptivbeziehungen etwas zuspitzt, das die Idee ›multikultureller‹, ›Rassengrenzen‹ überschreitender Gemeinschaften am Ende des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen verfolgt. Ich verstehe transnationale Adoption als exemplarisch für eine sich seit den 1960er Jahren in den USA durchsetzende Haltung, die als »Farbenblindheit« bezeichnet wird. Damit ist mit Peggy Pascoe eine Überzeugung gemeint, die davon ausgeht, dass, um Rassismus zu überwinden, ein explizites Nicht-Berücksichtigen von ›Rasse‹ notwendig sei.3 Aus dieser
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David Eng: The Feeling of Kinship. Queer Liberalism and the Racialization of Intimacy, Durham, London: Duke University Press 2010, S. 122.
3
Peggy Pascoe: »Miscegenation Laws, Court Cases, and Ideologies of ›Race‹ in Twentieth-Century America«, in: The Journal of American History 83/1 (1996), S. 44-69, hier S. 48. Pascoe führt anhand von in der amerikanischen
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sich als anti-rassistisch und liberal verstehenden Perspektive scheint die Bezugnahme auf ›Rassenkategorien‹ identisch mit Rassismus selbst.4 In FIRST PERSON PLURAL wird Farbenblindheit als dominante Haltung von Adoptivgeschwistern und -eltern bezüglich der ›Rassengrenzen‹, die durch ihre Beziehungen zu Deann hindurch verlaufen, dargestellt. Ich betrachte Farbenblindheit in Bezug auf transnationale Adoption hier exemplarisch für die Sagbarkeit von ›Rasse‹ in ›multikulturellen‹, intimen Beziehungen und für die Strategien, mit den diesbezüglichen Verunsicherungen und Uneindeutigkeiten umzugehen. Ich möchte im Folgenden, von einer signifikanten Szene in FIRST PERSON PLURAL ausgehend, fragen, worin der Überschuss der Farbenblindheit besteht. Die Art und Weise, wie ›Rassendifferenz‹ in FIRST PERSON PLURAL thematisiert wird, macht nachvollziehbar, unter welchen Bedingungen ›Multikulturalität‹ am Ende des 20. Jahrhunderts in den USA, aber auch in einem europäischen Kontext denkbar wird. Ich betrachte exemplarisch an FIRST PERSON PLURAL die Möglichkeitsbedingungen nicht-weißer Identitäten in Kontexten, in denen ›Rasse‹ vermeintlich keinen Unterschied macht.
Rechtsgeschichte bekannten Gerichtsprozessen aus, wie sich die Haltung der Farbenblindheit in Zusammenhang mit ›gemischten‹ Ehen (miscegenation) durchsetzt, Schauplatz einer wissenschaftlichen Kontroverse zwischen biologistischen und kulturalistischen ›Rassen‹-Definitionen, letztere prominent durch den Kulturanthropologen Franz Boas vertreten. 4
Ebd., S. 67. Farbenblindheit wird entschieden dafür kritisiert, dass mit der Verneinung der Existenz von ›Rassen‹ Rassismus selbst unsagbar werde. Farbenblindheit bedeutet darüber hinaus, nicht nur Rassifizierungen und Marginalisierungen der ›Anderen‹ nicht sehen zu können, sondern auch Privilegien, die mit Weißsein einhergehen, auszublenden, was z.B. dazu führt, Maßnahmen der affirmative action als unnötig anzusehen. Pascoe schreibt: »In the political arena, some radicals [!] have begun to argue that the legal system’s deliberate nonrecognition of race erodes the ability to recognize and name racism and to argue for such policies as affirmative action, which rely on racial categories to overturn rather than to enforce oppression.« (Ebd., S. 68f.) S. zur Kritik an Farbenblindheit auch: Fatima El-Tayeb: »Vorwort«, in: Eggers, Maureen Maisha, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 7-10.
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F ARBENBLINDHEIT UND R ACIAL P ASSING IN F IRST P ERSON P LURAL Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu den Möglichkeitsbedingungen der Überwindung von ›Rassendifferenz‹ in intimen Beziehungen Ende des 20. Jahrhunderts ist eine Szene in FIRST PERSON PLURAL, die aus einem Ausschnitt der home movies ihres Adoptivvaters Arnold besteht. Wir sehen darin Deann als kleines Mädchen mit ihrer Adoptivmutter Alveen während eines Familienausflugs. Deann integriert an verschiedenen Stellen Videomaterial ihres Adoptivvaters in den Film, das die Familie während diverser Freizeitaktivitäten, bei Besuchen in Freizeitparks, im Schwimmbad und auf Urlaubsreisen zeigt und das Wohlstand und Sicherheit vermittelt. In dieser spezifischen Szene macht die Familie einen Ausflug zu Aunt Jemima’s (Abbildung 1). Mutter und Tochter tragen bunte Kleider und mädchenhafte Schleifen im Haar, sie sehen einander ähnlich. Die Szene zeigt sie beim gemeinsamen Konsum der für Aunt Jemima’s typischen Pfannkuchen (Abbildung 2). Im Voice Over ist die Szene mit Kommentaren Deanns und ihres Adoptivvaters Arnold unterlegt, in denen beide auf kontrastierende Weise den Prozess der Eingewöhnung Deanns in ihrer Adoptivfamilie beschreiben.
Abbildung 1: Familienausflug
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Abbildung 2: Doppeltes Vergessen Deann (Off): I forgot everything … I forgot how to speak Korean … I forgot every memory of ever having a family … and I even forgot my real name. Arnold (Off): In about three years she was about as American as hot dogs and apple pie.
Mit hot dogs und apple pie beschwört Arnold das spielerische Amerikanisch-Werden des Adoptivkindes, der Eindruck von Unbeschwertheit wird dabei durch Deanns vorangestellte Reflexion über den Verlust ihrer Erinnerungen an eine koreanische Identität in Frage gestellt. Die Szene erzählt von einer zweifachen Negierung als Bedingung von Deanns AmerikanischWerden, dem Verlust einer ›Vorgeschichte‹ auf der einen und dem Ausblenden dieses Verlusts, der eine Differenz zwischen Deann und ihrer Adoptivfamilie bedeutet, auf der anderen Seite.5 In Verbindung von Bildern und Kommentaren zeigt die Szene mehr als einen harmlosen Familienausflug, sie erzählt vom Vergessen einer Differenz als Voraussetzung für Assimilation, eine ›Blindheit‹, die durch Deanns Sonnenbrille – punctum des Bildes – symbolisiert ist: Die Brille verbirgt, indem sie die Augen als Merkmal rassifizierter Identität Deanns unkenntlich macht, eine Differenz
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David Eng stellt daher eine melancholische Struktur transnationaler Adoption heraus, die er anhand von FIRST PERSON PLURAL veranschaulicht. Ebd., S. 93ff.
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zwischen Mutter und Tochter und ermöglicht so eine Wahrnehmung beider als ohne Unterschied amerikanisch; jedoch fügt sie sich nicht nahtlos in Deanns Gesicht ein. Die Sonnenbrille ›sitzt‹, an weißen Gesichtszügen ausgerichtet, nicht ›richtig‹, so dass sie Differenz zugleich verbirgt und ausstellt. Die Szene bei Aunt Jemima’s ist charakteristisch für die Darstellung von Deanns Beziehungen zu ihrer Adoptivfamilie in FIRST PERSON PLURAL als von einem Kreisen um das Verbergen einer Differenz bestimmt, die Assimilation und Zugehörigkeit in Frage stellen könnte. Das Ausblenden biographischer Differenz, so suggeriert die Szene, erscheint als Voraussetzung für Deanns Integration in ihre Adoptivfamilie und -gemeinschaft. Symptomatisch für dieses Ausblenden ist ein farbenblinder Umgang mit ›Rassendifferenz‹. Arnolds Beschreibung des Amerikanisch-Werdens Deanns impliziert, dass auch ›Rasse‹ im Verhältnis zu ihrer Adoptivfamilie keinen Unterschied bedeuten darf. Adoptivgeschwister und -eltern repräsentieren in FIRST PERSON PLURAL eine liberale farbenblinde Haltung, aus der heraus ›Rassendifferenz‹ nicht zu sehen ist oder keine Bedeutung zugeschrieben wird. Deanns Schwester Denise behauptet physische Ähnlichkeit, ihre Adoptivmutter Alveen betont Gleichgültigkeit (»We didn’t care«) und ihr Bruder Duncan formuliert explizit: »Color and look doesn’t [sic] make any difference«. David Eng hat diese Weigerung, ›Rassendifferenz‹ innerhalb der Beziehungen transnationaler Adoption Bedeutung zuzuschreiben, als eine »neue Form von Passing« bezeichnet: »As a contemporary example of the forgetting of race [transnational adoption] must be analyzed as a new form of passing in our putatively colorblind age. Unlike previous historical incarnations of passing that demand the concealment of racial (or sexual) difference, […] here we witness not the suppression of difference, but the collective refusal to see difference in the face of it.«6
Mit der Unterscheidung zwischen einem älteren Passing, verstanden als »Unterdrücken« von Differenz und einem neuen, in Farbenblindheit begründetem Passing, verweist Eng auf unterschiedliche Formen von Rassismus, wobei ersteres Passing im Bedeutungszusammenhang der Geschichte der amerikanischen Sklaverei und der sexuellen Ausbeutung versklavter schwarzer Frauen zu verorten ist. Diese Form von Passing lässt
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sich als Effekt einer rassistischen Struktur verstehen, in der von einem »epidermischen Schema«7 abstrahiert und ›Rasse‹ durch eine rechtliche Definition in ein kontingentes Verhältnis zur Körperoberfläche gesetzt wird.8 Die Performance rechtlich als schwarz definierter Subjekte als weiß, ist als Effekt einer rassistischen paranoiden Ordnung beschrieben worden, innerhalb derer versucht wird, rechtlich Kontrolle über die Definition von Weißsein zu erlangen.9 Dieses Passing ist wesentlich durch die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Rassendefinitionen bestimmt, die je unterschiedlich auf Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit von ›Rasse‹ abheben. Auch Randall Kennedy sieht die Notwendigkeit, von einer solchen früheren Form ein neues Passing zu unterscheiden, das weniger an die Frage sichtbarer physischer Differenz gebunden scheint und dann relevant wird, wenn Privilegien nicht mehr zwingend an Weißsein im Sinne sichtbarer Differenz gebunden sind: »One might have thought that racial passing and anxieties about it would have been rendered marginal by now given substantial declines in the intensity and power of anti-black feelings and practices. Simply being perceived as black no longer bars one absolutely from most of society’s attractive opportunities. But for some observers, the specter of racial disunity, racial disloyalty, and even racial dissolution looms larger now because African Americans have more choice now than ever before regarding whom to date, where to live, or what school to attend. With more choices, larger numbers of blacks have more opportunity to distance themselves physically, socially, and psychologically from other blacks. The prospect of new modes of passing in which, regardless of hue, Negroes become so-called ›oreos‹ – black on
7
Frantz Fanon: Black Skin, White Masks, New York: Grove 1967, S. 112, zitiert nach Elaine K. Ginsberg: »The Politics of Passing«, in: dies. (Hg.): Passing and the Fictions of Identity. Durham, London: Duke Univ. Press 1996, S. 1-18, hier S. 4.
8
S. insbesondere zum rechtlichen Hintergrund Randall Kennedy: »Racial Passing«, in: Ohio State Law Journal 62 (2001), S. 1145-1193.
9
S. zur Diskussion dieser Form von Passing und zur Frage nach subversiven und affirmativen Effekten, Sara Ahmed: »›She’ll Wake Up One of These Days and Find She’s Turned into a Nigger‹. Passing through Hybridity«, in: Theory, Culture & Society 16/2 (1999), S. 87-106; Catherine Rottenberg: »Passing: Race, Identification, and Desire«, in: Criticism 45/4 (2003), S. 435-452.
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the outside but white on the inside – has played a role in prompting some African Americans to pursue a renewed commitment to group solidarity.«10
Im Gegensatz zur früheren Form scheint dieses Passing, das aufgrund neuer Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Privilegien ermöglicht wird, nicht auf die selbe Weise Folge rassistischer Paranoia zu sein. Das NichtSehen von ›Rassendifferenz‹ gilt, wie in den Äußerungen von Deanns Adoptivfamilie, als Ausdruck einer anti-rassistischen Überzeugung. Die oben beschriebene Szene aus FIRST PERSON PLURAL und die Kritik, auf die sich Kennedy bezieht, weisen jedoch darauf hin, dass, auch wenn Farbenblindheit nicht mehr den grundsätzlichen Ausschluss nicht-weißer Subjekte bedeutet, jedoch das Vergessen von und die Distanzierung zu einer nichtweißen Geschichte und Gemeinschaft erfordert. Farbenblindheit setzt die Aufgabe einer nicht-weißen Identität und die Assimilation an eine nicht als rassifiziert markierte weiße Norm voraus.11 Die oben beschriebene Szene aus FIRST PERSON PLURAL deutet an, dass die Struktur des Rassismus’, aus der diese neue Form ›multikulturellen‹, ›Rassengrenzen‹ überschreitenden Passings hervorgeht, noch komplexer ist, denn der Konsum, der Deanns Amerikanisch-Werden symbolisiert, besteht nicht im Konsum von hot dogs und apple pie, sondern von Aunt Jemima’s Pfannkuchen. Passing ist hier nicht nur in Zusammenhang mit einem neuen Zugang zu Privilegien und Assimilation relevant, dass Passing in einem expliziten Konsumkontext thematisiert wird, verweist auf den Umstand, dass hier ›Rassengrenzen‹ innerhalb einer kapitalistischen Struktur ›überwunden‹ werden. Wie Lauren Berlant schreibt, handelt es sich bei Aunt Jemima um eine der ersten »Persönlichkeiten«, deren Gesicht seit Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt wird, um ein Produkt – Fertigpulver für Pfannkuchen – an ein Massenpublikum zu verkaufen. Aunt Jemima
10 Kennedy 2001, S. 16. 11 S. zur Diskussion struktureller Unsichtbarkeit von Weißsein in den Critical Whiteness Studies: Richard Dyer: White, London, New York: Routledge 1997; Carsten Junker: »Weißsein in der akademischen Praxis. Überlegungen zu einer kritischen Analysekategorie in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften«, in: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 427-443.
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verkörpert, im Rückgriff auf das Stereotyp der afro-amerikanischen mammy, eine spezifische Verbindung zwischen exotisierter schwarzer Weiblichkeit und Massenkonsum.12 Die Szene bei Aunt Jemima’s erzählt nicht nur vom Vergessen einer Differenz, verkörpert durch Deanns koreanische Vergangenheit, als Voraussetzung ihrer Assimilation. Dass Assimilation und Amerikanisierung in FIRST PERSON PLURAL durch einen Besuch bei Aunt Jemima’s veranschaulicht werden, verweist ironischer Weise auf die Verbindung von Assimilation und rassifizierter Kommodifizierung insbesondere weiblicher Körper in der jüngeren US-amerikanischen Geschichte. Im amerikanisierenden Konsum wird auch eine ambivalente Geschichte amerikanischen Rassismus’ ›geschluckt‹, die ›multikulturelles‹ Amerikanisch-Sein verfolgt. Es handelt sich um ein Vergessen von sowohl Deanns (individueller und kollektiver) Geschichte transnationaler Adoption als auch dem Vergessen einer Geschichte des Differenzkonsums, die der ›Überwindung‹ von ›Rassendenken‹ und Rassismus durch Farbenblindheit eingeschrieben ist. Dieser Versuch, Rassismus zu vergessen, entspricht dem, was Linda Williams als Begehren nach »Rassen-Neutralität« bezeichnet hat, ein Begehren danach, sich unschuldig, »uncontaminated by any preexisting scripts of racial pity or antipathy« fühlen zu können.13
A UNT J EMIMA ’ S E RBE . K ONSUMKULTUR , I NTIMITÄT UND R ASSISMUS IN I MITATION OF L IFE Die Präsenz von Aunt Jemima in FIRST PERSON PLURAL erinnert an eine unbehagliche Geschichte ›Multikulturalismus‹ vorausgehender Verschränkungen von intimen Beziehungen und Rassismus, die in der Behauptung von Farbenblindheit ausgeblendet wird und über einen Zwang zur Assimilation hinausgeht. Aunt Jemima steht sowohl für eine Tradition exotisierenden Konsums als auch für eine Genealogie populärkultureller Darstellung
12 Lauren Berlant: The Female Complaint. The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture, Durham, London: Duke University Press 2008, S. 122. 13 Linda Williams: Playing the Race Card. Melodramas of Black and White from Uncle Tom to O.J. Simpson, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2001, S. xiv.
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der darin enthaltenen Ambivalenzen. Wie Lauren Berlant feststellt, wird Aunt Jemima in Fannie Hursts Roman Imitation of Life (1933) und den gleichnamigen Verfilmungen von John Stahl (USA 1934) und Douglas Sirk (USA 1959) als Aunt Delilah reinkarniert.14 Berlants Deutung ist hier insbesondere hilfreich, weil sie ausgehend von Aunt Jemima bzw. Aunt Delilah in den verschiedenen Versionen von IMITATION OF LIFE den Zusammenhang zwischen rassifizierter, vergeschlechtlichter Kommodifizierung und Assimilation herausstellt, auf das sich, so meine ich, das doppelte Vergessen im Amerikanisch-Werden bezieht. IMITATION OF LIFE erzählt von intimen Beziehungen zwischen schwarzen und weißen weiblichen Subjekten in einer kapitalistischen Struktur. Berlant veranschaulicht, wie in den verschiedenen Versionen unterschiedliche Akzente auf die komplexen Überlagerungen von Weiblichkeit, Rassendifferenz und Konsumkultur gelegt werden. Durch die Versionen hindurch zieht sich die Frage, mit welchen Kosten es für marginalisierte Subjekte verbunden ist, sich in der Öffentlichkeit bewegen und artikulieren zu können. Bewegungsfreiheit, so lässt sich anhand von IMITATION OF LIFE sehen, ist davon abhängig, inwiefern der eigene Körper als »Hürde« oder als etwas, von dem abstrahiert werden kann, erfahren wird. IMITATION OF LIFE kreist um das Thema unterschiedlicher Möglichkeitsräume für weiße und schwarze weibliche Subjekte, öffentlich zu werden, die jedoch in einer rassifizierten Struktur miteinander verschränkt sind. Eine zentrale Strategie weißer weiblicher Subjekte, sich Handlungs- und Bewegungsfreiheit zu verschaffen, besteht in IMITATION OF LIFE in der Instrumentalisierung schwarzer weiblicher Körper, die Berlant als Annahme eines »prothetischen Körpers« bezeichnet: »This involves borrowing the corporeal logic of an other, or a fantasy of that logic, and adopting it as a prosthesis. The way women have usually tried this is heterosexual: but marriage turns out to embody and violate the woman more than it is worth. Thus other forms of bodily suppression have been devised. This is how racial passing, religion, bourgeois style, capitalism, and sexual camp have served the woman; indeed, in IMITATION OF LIFE this ameliorative strategy has become the ›trademark‹ of female existence across race and class and sexual preference.«15
14 Ebd., S. 121. 15 Ebd., S. 141.
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IMITATION OF LIFE inszeniert diese Logik der Annahme eines prothetischen Körpers nach dem Vorbild von Aunt Jemima’s, das verspricht, den weißen Konsumentinnen Bewegungsfreiheit zu verschaffen (durch den Einsatz von Fertigpulver).16 Stahls Version von IMITATION OF LIFE nimmt diese Logik auf, indem die weiße Protagonistin Bea den Körper ihrer afroamerikanischen Haushälterin Delilah in eine an Aunt Jemima angelehnte Karikatur verwandelt wird, um auch hier für Pfannkuchenpulver zu werben und Bea zum ökonomischen Erfolg zu verhelfen. Letztere hatte zuvor erfahren müssen, dass ihr weiblicher Körper in einer männlichen Arbeitswelt eine Hürde darstellt. Stahls IMITATION OF LIFE zitiert und ironisiert die kommodifizierende Exotisierung schwarzer Weiblichkeit, indem er Delilahs Blackface in eine überdimensionierte Neonreklame überführt.
Abbildung 3: Prothetische Körper
Berlant beschreibt, wie in IMITATION OF LIFE weiße Frauenfiguren schwarze weibliche Körper als prothetische Körper instrumentalisieren, um Erleichterung von einer eigenen, hinderlichen Körperlichkeit zu erlangen, präsentiert als Emanzipationsgeschichten. Aunt Jemima bzw. Aunt Delilah ist in IMITATION OF LIFE Symbol für die Kommodifizierung des
16 Berlant weist hier auf den expliziten Zusammenhang zwischen Moderne und Exotisierung hin. Ebd., S. 121.
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rassifizierten weiblichen Körpers und veranschaulicht die Verschränkung von Kapitalismus, Exotismus und Geschlechterhierarchie als Kontext, innerhalb dessen ein ›positives‹ Bild schwarzer Weiblichkeit gedacht werden kann. IMITATION OF LIFE erzählt jedoch nicht nur von kapitalistischen Machtverhältnissen, die Rassismus wiederholen, sondern auch von den destabilisierenden Effekten dieser Wiederholung. So verwandelt sich in Stahls Version nicht nur die Blackface-Grimasse Delilahs in ein für Bea gewinnbringendes Logo, Delilah ersetzt Bea außerdem in allen Fragen des Haushalts und der Familie und gibt ihr dadurch die Möglichkeit, auch im Privaten als Körper unsichtbar zu werden.17 Delilah wird zum mütterlichen Ersatz für Beas Tochter, aber auch Mutter und Partnerin für Bea, lange Zeit einzige Person, die sie berührt, ihr etwa nach einem langen Arbeitstag Rücken und Füße massiert.18 Die Aneignung des schwarzen weiblichen als Prothese des weißen weiblichen Körpers führt nicht nur zur Ausbeutung, sie schafft auch Intimität und Abhängigkeit. Die öffentliche Präsenz, die Delilah durch ihre Auftritte als Aunt Delilah gewinnt und die Intimität zwischen den beiden Frauenfiguren produzieren Räume, in denen das Denken eindeutiger ›Rassengrenzen‹ ins Wanken gerät. So weist Berlant darauf hin, wie die Kommodifizierung des schwarzen weiblichen Körpers und die ›Partnerschaft‹ zwischen Bea und Delilah Kritik an einer rassistischen Struktur andeutet, explizit bei Stahl in der Szene, in der Peola, Delilahs ›weiße‹ Tochter voller Wut zurückweist, als schwarz adressiert zu werden. Das Melodrama des Passing, das sich ankündigt, ist hier Auslöser dafür, nach den Ursprüngen eines Rassismus’ zu fragen, der Peola zu dieser Zurückweisung schwarzer Identität veranlasst. Delilah, im Close-up, nachdenklich in die Kamera blickend, stellt fest: Delilah: It ain’t her fault, Miss Bea. It ain’t yourn, and it ain’t mine. I don’t know rightly where the blame lies. It can’t be our Lord’s. Got me puzzled.
Berlant weist darauf hin, dass Delilah in dieser Szene, im Aunt Delilah-Kostüm mit Schürze und Kochmütze in die Kamera sprechend, ein nationales Publikum adressiert: »And by having her speak from within the trademark,
17 Ebd., S. 119. 18 Ebd.
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[IMITATION OF LIFE] creates a space for political agency that exists elsewhere […].«19 Kommodifizierung des schwarzen weiblichen Körpers ermöglicht hier eine öffentliche Artikulation von Kritik am Rassismus. Insbesondere bei Stahl, so Berlant, deutet sich so eine Utopie eines weiblichen, ›Rassengrenzen‹ überschreitenden Haushalts und Arbeitsverhältnisses an.20 Auch auf einer weiteren Ebene inszenieren die Versionen von IMITATION OF LIFE Destabilisierung von Rassismus, bedingt durch den Komplex von Kapitalismus, Exotismus und Geschlechterdifferenz. Berlant weist daraufhin, wie sowohl bei Hurst und Stahl, als auch verstärkt bei Sirk der weiße weibliche Körper als seinerseits Kommodifizierung unterliegend dargestellt wird. Stahls Version beginnt mit der Inszenierung von Selbstvermarktung Delilahs gegenüber Bea, wenn sie versucht, gegen unbezahlte Hausarbeit eine Unterkunft für sich und ihre Tochter zu finden. Dabei objektiviert sie sich selbst als das Bild der mammy, das Bea später für ihre eigenen geschäftlichen Zwecke einsetzen wird. Demselben Prinzip der Selbstvermarktung folgend wird jedoch auch Bea in Bezug auf ihre eigenen Geschäftsbeziehungen dargestellt. Noch deutlicher wird die Analogie im Vergleich der beiden filmischen Versionen. In Stahls Version sehen wir eine success montage, die Delilahs Transformation in eine Marke, die Massenproduktion ihres Pfannkuchenpulvers und schließlich ihr überdimensioniertes Neonzeichen zeigt. In Sirks Version ist es die weiße Protagonistin Lora Meredith, die sich, wiederum durch eine success montage veranschaulicht, in ein Bild verwandelt: zur Veranschaulichung ihres Erfolges als Schauspielerin löst sich ihr Kopf von ihrem Körper, schwebt frei durch den Zuschauerraum und wird schließlich auf den Titelseiten einschlägiger Gesellschaftsmagazine platziert.21 Stahls und Sirks Versionen von IMITATION OF LIFE zeigen eine Kommodifizierung des schwarzen weiblichen Körpers, die weißen weiblichen Subjekten Bewegungsfreiheit verschafft, aber, so Berlant, nur mit dem Effekt, wiederum den eigenen Körper kommodifizieren und zur Prothese machen zu können: »In the 1930s versions of IMITATION OF LIFE, national nostalgia for a safe domestic space was played out in commodity culture through the production and transcenden-
19 Ebd., S. 131. 20 Ebd., S. 123. 21 Ebd., S. 133.
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ce of a black trademark. […] In the novel, this trademark is appropriated callously from the body of a black domestic worker as part of a woman’s emancipatory strategy. […] Twenty-five years later, Douglas Sirk pulls back the black trademark’s curtain and reveals the white woman hovering there: in one of the greatest tu quoque sequels of our time, his IMITATION OF LIFE exposes the form of the white woman to the commodification she has for so long displaced onto the black woman’s body.«22
Nicht nur eignen sich in IMITATION OF LIFE weiße weibliche Subjekte schwarze weibliche Subjekte als prothetische Körper an, mit dem Effekt einer intimen, fast ›partnerschaftlichen‹ Beziehung. Die Strategien ihrer Bewegungsfreiheit, die Kommodifizierung des weiblichen Körpers, scheinen identisch, auch wenn sich die Art des Konsums unterscheidet und die damit einhergehenden Privilegien. In den Versionen von IMITATION OF LIFE destabilisieren räumliche, körperliche und emotionale Nähe und strukturelle Ähnlichkeit die eindeutige Grenzziehung zwischen weißer und schwarzer Weiblichkeit unterschiedlicher Klassen. Ausgehend von der Kommodifizierung schwarzer Weiblichkeit, symbolisiert durch die Marke Aunt Jemima bzw. Aunt Delilah, lässt sich mit Berlant nachvollziehen, wie IMITATION OF LIFE die Überschreitung von ›Rassengrenzen‹ als ambivalenten Effekt kapitalistischer und rassistischer Strukturen inszeniert. Auf unterschiedlichen Ebenen wird Trennung und Hierarchie von ›Rassen‹ in Frage gestellt, so dass das Verhältnis zwischen den weißen und schwarzen weiblichen Subjekten zwischen Ausbeutung und Partnerschaft schwankt. IMITATION OF LIFE erzählt von dem Widerspruch, der sich aus der Intimität schwarzer und weißer, unterschiedlich marginalisierter weiblicher Subjekte innerhalb einer kapitalistischen Ordnung ergibt: Wie wäre ›Rassenhierarchie‹ in einer allumfassenden Konsumkultur aus der Perspektive weißer weiblicher Subjekte noch zu rechtfertigen, deren Beziehungen zu schwarzen weiblichen Subjekten nicht nur durch Abhängigkeit, sondern auch durch, Solidarität nahelegende, strukturelle Ähnlichkeit charakterisiert sind? Hier zeichnet sich paradoxer Weise eine in Kommodifizierung und Kapitalismus bedingte Utopie der Überwindung von Rassismus ab.
22 Ebd., S. 131f.
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IMITATION OF LIFE ist exemplarisch für sentimentale »Frauenkultur« und als solche nicht primär an Politisierung und Machtkritik interessiert, auch wenn, wie dargestellt, die verschiedenen Versionen ein durchaus politisches Bild rassifizierter und kommodifizierter Weiblichkeit entwerfen. Stattdessen ist die Dramaturgie in IMITATION OF LIFE darauf ausgerichtet, jene Ambivalenz der Transgression von ›Rassengrenzen‹ stillzustellen, die die Versionen im Laufe der Narration entfalten. Mit Berlant folgt IMITATION OF LIFE einem Prinzip populärkulturellen Managements von Ambivalenz: »[M]iddlebrow popular genres are about the management of ambivalence, and not the destruction of pleasures or power. My claim is that the gender-marked texts of women’s popular culture cultivate fantasies of vague belonging as an alleviation of what is hard to manage in the lived real – social antagonisms, exploitation, compromised intimacies, the attrition of life.«23
In IMITATION OF LIFE entsteht affektive Spannung aus dem Widerspruch, von einer rassistischen Struktur zu profitieren, die die exotisierende Kommmodifizierung schwarzer weiblicher Körper ermöglicht und einer darin enthaltenen Intimität und strukturellen Ähnlichkeit, die Partnerschaft denkbar macht. Es ist die Figur des Passing, mittels derer die Spannung gelöst oder zumindest verschoben wird. Peola bei Stahl bzw. Sarah Jane bei Sirk verkörpern jene Instabilität eindeutiger ›Rassengrenzen‹, die die Beziehung zwischen den weißen und schwarzen Subjekten zunehmend beunruhigt. An ihnen wird in zugespitzter Weise die rassifizierte Kommodifizierung des weiblichen Körpers dramatisiert, die den anderen Figuren zumindest vorübergehend Erleichterung zu verschaffen scheint. Physische und sexualisierte Gewalt, die in Bezug auf die anderen Figuren nur angedeutet ist, wird an den Figuren des Passing expliziert. Insbesondere bei Sirk wird dies im Vergleich zwischen Sarah Jane und Annie bzw. Lora deutlich. Während Annie von einem Rassismus spricht, den sie einer Vergangenheit und einem entfernten Ort zuweist, ist Sarah Jane gegenwärtiger, direkter physischer Gewalt ausgesetzt, nachdem ihr Passing ›entlarvt‹ wird. Und während Lora sich zunächst der sexuellen Dienste verweigert, die als
23 Ebd., S. 5.
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Voraussetzung für eine Schauspielkarriere unvermeidlich scheinen und das sexualisierte Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnis zu dem Regisseur, der sie berühmt machen wird, nur durch einen Kuss symbolisiert wird, sehen wir Sarah Jane in einer strukturell ähnlichen, jedoch expliziteren Performance von Verführung und Geschlechtsverkehr in Nachtclubs und auf Showbühnen. Wie Berlant feststellt sind diese Szenen körperlich, aber nicht erotisch. Nicht nur wirken Sarah Janes Bewegungen grob und automatisiert, betont durch die Wiederholungen in den Bewegungen der anderen Showgirls, die Kamera zeigt außerdem den voyeuristischen Blick des innerdiegetischen Publikums, der den voyeuristischen Blick des Filmpublikums bricht. Die Szenen sind nicht auf die sexuelle Schaulust der Filmzuschauer ausgerichtet, sondern auf den Blick Annies, die am Passing der Tochter, das zugleich Sexualisierung und Kommodifizierung ihrer Weiblichkeit bedeutet, leidet. Indem wir ihren Blick sehen, begünstigt Sara Janes sexualisierte Performance nicht erotische, sondern melodramatisch mitleidende Schaulust.24 Berlant deutet diese Lenkung des Zuschauerbegehrens als Darstellung einer Komplizenschaft der Betrachterin in der Kommodifizierung des weiblichen Körpers. Ihr Gewinn daraus besteht in einem masochistischen Leiden, deren Ansicht selbst zum Spektakel selbst wird: »In short, if the film spends its most explicit time on the ›problem‹ of the prosthetic public female body, it also shows how the problem of the female body itself becomes a commodity.«25 Die ›durchgehenden‹ Figuren werden affektives Zentrum des problematisierenden, melodramatischen Spektakels. Passing in IMITATION OF LIFE generiert Lust am Leiden an einer Kommodifizierung, der alle weiblichen Subjekte unterworfen sind, die jedoch an den Figuren des Passing stellvertretend zugespitzt wird. Die Inszenierung von Passing als Lust generierendes Leiden lenkt in den Versionen von IMITATION OF LIFE die affektive Aufmerksamkeit von den widersprüchlichen Positionen und Beziehungen zwischen Delilah und Bea bei Stahl, bzw. Annie und Lora bei Sirk weg. Als Effekt dieser dramatischen Fokussierung auf das Passing wird die Instabilität der ›Rassengrenzen‹, die die intimen Beziehungen zwischen den weißen und schwarzen weiblichen Subjekten beunruhigt, überdeckt. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von der analytischen, lakonischen Frage Delilahs nach den Ursachen von
24 Vgl. ebd., S. 138. 25 Ebd., S. 139.
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Rassismus (»Got me puzzled«) zur affektiven ›Wahrheit‹ des Leidens am Passing. Der ›Fakt‹ des Leidens am Passing wird aber auf den ›Verrat‹ der als weiß ›durchgehenden‹ Subjekte an einer ›wahren‹ ›Rasse‹ zurückgeführt, die vorausgehende Existenz dieser reaffirmierend. Die Versionen von IMITATION OF LIFE versuchen, Ambivalenz durchlässiger Rassengrenzen zu ›managen‹, indem Passing als affektives Zentrum des Leidens inszeniert wird. Das Leiden an der ›Uneindeutigkeit‹ im Passing wird nicht nur als Identitätskrise dargestellt, seine Ausstellung funktioniert auch in einer Weise, die Eindeutigkeit von ›Rasse‹ wieder herzustellen scheint. Die Darstellungstradition des Passings als Verkörperung von Durchlässigkeit und Unbestimmtheit von ›Rassengrenzen‹ und daraus resultierender ›Identitätskrise‹, kann, entlang von Berlants Deutung von IMITATION OF LIFE, als Technik zum Management jener Destabilisierung verstanden werden, die aus der Intimität und strukturell ähnlichen Positionierung unterschiedlich rassifizierter Subjekte im Öffentlichen wie im Privaten entsteht. Ist über diesen Rekurs auf die Darstellungstradition der Aunt Jemima/ Delilah und des Racial Passing besser zu verstehen, worin der Überschuss ›multikultureller‹ Beziehungen besteht, für die hier eingangs transnationale Adoption als exemplarisch zu betrachten vorgeschlagen wurde? Was verbirgt und markiert Deanns Sonnenbrille zugleich, über eine Differenz zu ihrer Umgebung hinausgehend, die in der spezifischen Geschichte und physischen Differenz der Anderen besteht? Der Umstand, dass Farbenblindheit in FIRST PERSON PLURAL als Ausblenden einer Differenz gedacht wird, die Deanns Identität eigen zu sein scheint, macht verständlich, warum sich Unbehagen an Assimilation und ›Multikulturalität‹ so häufig als Identitätskrise artikuliert. Verfolgt man die Spur Aunt Jemima’s, wird jedoch deutlich, dass in der Haltung der Farbenblindheit nicht nur eine Differenz zwischen Deann und ihrer Adoptivfamilie ausgeblendet wird, sondern auch eine der Assimilation Deanns vorausgehende komplexe Verschränkung von Geschlechter-, Klassen- und ›Rassendifferenz‹ in einer kapitalistischen Ökonomie und deren unkontrollierbaren, potentiell emanzipatorischen, immer wieder reaffirmierend eingeholten Effekte. In der Fixierung einer kritischen Diskussion auf Farbenblindheit, die Passing als Ausblenden der Differenz der Anderen versteht, wird tendentiell diese umkämpfte Geschichte von Instabilität und Affirmation von ›Rassengrenzen‹ vergessen. So wie die Figur des Passing in der Darstellungstradition des »Managements« von
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›Rassengrenzen‹ der Wiederherstellung von Eindeutigkeit dient, so hat auch das neue, in Farbenblindheit bedingte, ›multikulturelle‹ Passing einen beruhigenden Effekt insofern, als dass es eine »neutrale«, von Rassismus und Exotismus ›bereinigte‹ herzustellende Gesellschaft scheint. Passing betrifft also in seiner neuen Form eher das ›Durchgehen‹ der Umgebung als geschichtslos und »unkontaminiert«. Aunt Jemima’s grimassenhaftes Logo in FIRST PERSON PLURAL kann daher als widerspenstige Erinnerung an eine, ›Multikulturalität‹ verfolgende verdrängte Geschichte vergeschlechtlichten und rassifizierten Differenzkonsums verstanden werden.
L ITERATUR Sara Ahmed: »›She’ll Wake Up One of These Days and Find She’s Turned into a Nigger‹. Passing through Hybridity«, in: Theory, Culture & Society 16/2 (1999), S. 87-106. Lauren Berlant: The Female Complaint. The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture, Durham, London: Duke University Press 2008. Richard Dyer: White, London, New York: Routledge 1997. Fatima El-Tayeb: »Vorwort«, in: Eggers, Maureen Maisha, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 7-10. David Eng: The Feeling of Kinship. Queer Liberalism and the Racialization of Intimacy, Durham, London: Duke University Press 2010. Frantz Fanon: Black Skin, White Masks, New York: Grove 1967. Elaine K. Ginsberg: »The Politics of Passing«, in: dies. (Hg.): Passing and the Fictions of Identity. Durham, London: Duke 1996, S. 1-18. Carsten Junker: »Weißsein in der akademischen Praxis. Überlegungen zu einer kritischen Analysekategorie in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften«, in: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 427-443. Randall Kennedy: »Racial Passing«, in: Ohio State Law Journal 62 (2001), S. 1145-1193.
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Christina Klein: Cold War Orientalism. Asia in the Middlebrow Imagination 1945-1961, Berkeley u.a.: University of California Press 2003. Peggy Pascoe: »Miscegenation Laws, Court Cases, and Ideologies of ›Race‹ in Twentieth-Century America«, in: The Journal of American History 83/1 (1996), S. 44-69. Catherine Rottenberg: »Passing: Race, Identification, and Desire«, in: Criticism 45/4 (2003), S. 435-452. Linda Williams: Playing the Race Card. Melodramas of Black and White from Uncle Tom to O.J. Simpson, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2001.
F ILME FIRST PERSON PLURAL (USA 2000, R. Deann Borshay Liem) IMITATION OF LIFE (USA 1934, R. John Stahl) IMITATION OF LIFE (USA 1959, R. Douglas Sirk)
A BBILDUNGEN Abb. 1: Familienausflug. Standbild aus FIRST PERSON PLURAL (USA 2000, R. Deann Borshay Liem) Abb. 2: Doppeltes Vergessen. Standbild aus FIRST PERSON PLURAL (USA 2000, R. Deann Borshay Liem) Abb. 3: Prothetische Körper. Standbild aus IMITATION OF LIFE (USA 1934, R. John Stahl)
In/stabile Figurationen Weiße Männlichkeit in bundesdeutschen Filmen der 1950er Jahre1 M AJA F IGGE
In einem Aufsatz über Schwarze Deutsche im deutschen Kino formuliert der Filmwissenschaftler Tobias Nagl die These, dass nach 1945 zwar expliziter Rassismus von den Leinwänden verschwand, aber nicht die Vorstellung von Deutschland als weiße Nation.2 In dieser These verbirgt sich ein komplexer Zusammenhang, den ich in diesem Aufsatz zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu Figurationen weißer Männlichkeit in bundesdeutschen Filmen der 1950er Jahre mache: Die repräsentationskritische Beobachtung der Abwesenheit von explizitem Rassismus unter der Voraussetzung afrodeutscher Präsenzen (im Kino) verweist auf die veränderten Bedingungen des Rassismus in der frühen Bundesrepublik.
1
Der Aufsatz basiert auf den Ergebnissen meiner Dissertation »Ausblendungen, Einblendungen, Überblendungen. (Wieder-)Herstellungsprozesse von Deutschsein im bundesdeutschen Kino der 1950er Jahre«, die voraussichtlich Anfang 2014 bei transcript in der Reihe post_koloniale Medienwissenschaft (herausgegeben von Ulrike Bergermann) erscheinen wird.
2
Tobias Nagl: »Fantasien in Schwarzweiß. Schwarze Deutsche, deutsches Kino«, in: cybernomads/Antidiskriminierungsbüro Köln (Hg.): The Black Book – Deutschlands Häutungen, Frankfurt/M.: IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation 2004, S. 300.
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Diese stehen wiederum in engem Verhältnis zu den Bemühungen um ein ›neues‹ Selbstverständnis von Deutschsein, die auf Abgrenzung vom Nationalsozialismus und der Shoah zielten. Zugleich öffnet sich der Blick darauf, dass dieses Selbstverständnis auf rassistischen Ein- und Ausschlüssen basierte, die die Kontinuität der Gleichung von Deutschsein und Weißsein erst ermöglichten. Aber welchen Anteil hatte das Kino bzw. die Filme an diesem Prozess der (Wieder-)Herstellung von Deutschsein als weiß und gibt es Momente in den Filmen, in denen dieses Selbstverständnis unterlaufen wird? Um dieser Frage nachzugehen, rücke ich anhand von zwei Filmen der 1950er Jahre, DIE GROSSE VERSUCHUNG (BRD 1952, R: Rolf Hansen) und ALLE LIEBEN PETER (BRD 1959, R: Paul May) die Figurationen weißer Männlichkeit ins Zentrum der Betrachtung. Nagls Befund von der angeblichen Abwesenheit von Rassismus bei gleichzeitiger Herstellung von Deutschsein als Weißsein soll hier weniger überprüft oder einfach widersprochen werden, sondern unter der Voraussetzung das Rassismus und Weißsein nicht zu trennen sind, dient dieser als Ausgangspunkt, das bundesdeutsche Kino der 1950er Jahre als technology of race and gender3 in den Blick zu nehmen und zu fragen, welche Bedeutung und Funktion Weißsein in den kinematografischen (Wieder-) Herstellungsprozessen der frühen Bundesrepublik erhält. Unter dieser Voraussetzung werden Weißsein und Geschlecht nicht als den Filmen vorgängig betrachtet; vielmehr werden Weißsein und Geschlecht in und durch die Filme hergestellt, und entfalten erst nachträglich in der Rezeption ihre Wirkungsmacht.
3
Vgl. Teresa de Lauretis: Technologies of Gender. Essays on Theory, Film and Fiction, Bloomington & Indianapolis: Indiana University Press 1987, Robyn Wiegman: American Anatomies. Theorizing Race and Gender, Durham, London: Duke University Press 1995.
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M ÄNNLICHKEIT – R HETORIK
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Ausgangspunkt ist die Rede von der ›Krise der Männlichkeit‹ im Nachkrieg.4 Der Krisendiskurs steht in engem Zusammenhang mit der militärischen Niederlage des Zweiten Weltkrieges und der Besatzung durch die Alliierten und ist daher mit der Frage der Wiederherstellung von Deutschsein verknüpft.5 An dieser ›Krise der Männlichkeit‹ lässt sich die Verschränkung von Weißsein, Rassismus und Geschlechterverhältnissen nachvollziehen, denn sie artikuliert sich u.a. in der Vorstellung der Gefährdung und Bedrohung der Nation durch die Anwesenheit der Besatzungssoldaten und insbesondere durch die sexuellen Beziehungen, die deutsche Frauen mit ihnen eingingen. Die zahlreichen Filme, die diese Verhältnisse (de)thematisieren, zeigen eindrücklich, in welcher Weise die ›Krise der Männlichkeit‹ mit den Beziehungen zwischen »Fräuleins und GIs«6 und den aus diesen Verbindungen hervorgegangen Kindern zusammengebracht wird. Sexuelle Beziehungen bzw. Liebesverhältnisse zwischen deutschen Frauen und afroamerikanischen Armeeangehörigen blieben in den Filmen unsichtbar, während afrodeutsche Kinder spätestens im Jahr ihrer ersten Einschulung 1952 zum Politikum wurden. Das Melodram TOXI (BRD 1952, R: Robert A. Stemmle) ist in jenem Diskurs verortet, in dem sich die Sorge um das Wohl der Kinder mit dem Anliegen verknüpft, das Ansehen der Bundesrepublik (wieder-)herzustellen.7 Aber auch die
4
Vgl. u.a. Heide Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany. Reconstructing National Identity after Hitler, Chapel Hill & London: University of North Carolina Press 1995, Uta G. Poiger: »Krise der Männlichkeit. Remaskulinisierung in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften«, in: Naumann, Klaus (Hg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 227-263.
5
Fehrenbach 1995, S. 95.
6
Annette Brauerhoch: Fräuleins und GIs. Geschichte und Filmgeschichte, Frankfurt/M.: Stroemfeld/Nexus 2006.
7
Zu Toxi vgl. u.a. Heide Fehrenbach: Race after Hitler, Black Occupation Children in Postwar Germany and America, Princeton, NJ: Princeton University Press 2005, Maja Figge: »›Der Konsum hilft!‹ Rassismus und ›Heilung‹ durch Integration im Spielfilm Toxi«, in: Klaus Krüger/Matthias Weiß/Leena Crasemann: Um/Ordnungen. Fotografische Menschenbilder zwischen Konstruktion und Destruktion, München: Wilhelm Fink 2010, S. 135-153, Angelica Fenner:
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Frage der ›Heimkehrer‹, der aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, und ihre Integration in die Nachkriegsgesellschaft beschäftigte die Bundesrepublik bis in die Mitte des Jahrzehnts und fand – ebenfalls prädestiniert dazu die Männlichkeitskrise und ihre Überwindung zu erzählen – Eingang in zahlreiche Filme, u.a. DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946, R: Wolfgang Staudte), LIEBE ’47 (D 1948/9, R: Wolfgang Liebeneiner) oder EINE FRAU VON HEUTE (BRD 1954, R: Paul Verhoeven), LIEBE OHNE ILLUSION (BRD 1955, R: Erich Engel) und eben DIE GROSSE VERSUCHUNG, den ich später ausführlich betrachten werde. In diesen filmischen Krisen(überwindungs)-narrativen artikuliert sich das Bemühen um »männliche Resouveräni-sierung«.8 In diesem Zusammenhang ist nach Heide Fehrenbach die Herausbildung einer spezifischen Figur ›moralischer Männlichkeit‹ zu beobachten, die in den Filmen der frühen 1950er Jahre als ideale Version von Männlichkeit entstand und der Bundesrepublik den Weg in die Zukunft zu eröffnen schien.9 Aber warum und wodurch wird diese weiß codiert? Und welche Verschiebungen lassen sich im Verlauf des Jahrzehnts beobachten?
F IGURATIONEN
WEISSER
M ÄNNLICHKEIT
Als relationale Figur, die in Abgrenzung bzw. im Zusammenspiel mit ›anderen‹ Figuren, Bildern, Tönen, Symbolen und Metaphern entsteht, wird weiße Männlichkeit als prozesshaft und nicht identitär begriffen. Nicht allein an die Inszenierung der Filmkörper bzw. die Körper der Schauspieler gebunden, kann sie als machtvolle Konstellation verstanden werden, die in filmischen Interaktionen – das heißt in und durch filmischen Bewegungen und Beziehungen – entsteht. Als »semantische[s] und ästhetische[s] Spannungsfeld« und »vielschichtiger Knotenpunkt von Verweisen« ist die
Race under Reconstruction in German Cinema: Robert Stemmle’s TOXI, Toronto: University of Toronto Press 2011. 8
Edgar Forster: »Männliche Resouveränisierungen«, in: Feministische Studien, 2006/2, Nr. 24, S. 193-207.
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Fehrenbach 1995, S. 154f.
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filmische Figur weißer Männlichkeit Ergebnis ihrer Figuration.10 In den Filmen werden die Figurationen weißer Männlichkeit zu Vehikeln der Resouveränisierung, die die (Wieder-)Herstellung von Deutschsein im bundesdeutschen Kino der 1950er Jahre vorantreibt. Hier beziehe ich mich auf Homi Bhabhas Ausführungen zu der grundlegenden Ambivalenz der zwei Zeitlichkeiten der Nation, denn wie Bhabha ausführt, wird gerade die Ambivalenz zu dem »Ort, an dem sich das Schreiben der Nation vollzieht«.11 Nach Walter Benjamin, auf den Bhabha in seinem Konzept der zwei Zeitlichkeiten referiert, ist das Fortschrittsdenken, um überhaupt das Neue an der nationalen Entwicklung festmachen zu können, abhängig von den erfundenen Bildern und Vorstellungen einer archaischen Zeit. Anne McClintock betont in ihrer kritischen Bhabha-Lektüre, dass die doppelte Zeitlichkeit der Kontinuität und des Fortschritts geschlechtlich codiert ist: Während Weiblichkeit die Kontinuität verkörpernd, zum Zeichen der Tradition der Nation wird, repräsentiert Männlichkeit die vorwärtsstrebende Handlungsfähigkeit der Moderne und verkörpert das Prinzip der Diskontinuität.12 Diese Beobachtung lässt sich auf die frühen bundesrepublikanischen Filme übertragen, in denen die Figurationen weißer Männlichkeit als Vehikel der Resouveränisierung dienen. Zum einen halten sie die Krisenüberwindung in Gang, denn Souveränität ist, wie Edgar Forster schreibt, gerade »kein statischer Zustand, sondern per se instabil«, denn »sie muss durch Praktiken ständig reproduziert und demonstriert werden«.13 Zum anderen verweisen diese Figurationen auf die Notwendigkeit der Neubestimmung von Deutschsein in der frühen Bundesrepublik. Diese ist dabei eben gerade nicht ›neu‹, vielmehr werden Bilder und Diskurse aktualisiert, die
10 Margrit Tröhler/Jörg Schweinitz (Hg.): »Editorial zum Themenscherpunkt«, in: montage av, Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, Themenheft Figur und Perspektive I, 15. Jahrgang, Heft 2, 2006, S. 3f. 11 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg Verlag 2000, S. 218. 12 Anne McClintock: »No Longer in a Future Heaven: Gender, Race and Nationalism«, in: Dies./Aamir Mufti/Ella Shohat (Hg.): Dangerous Liaisons. Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives, Minneapolis, London: University of Minnesota Press 1997, S. 92. 13 Forster 2006, S. 194.
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im Fortschrittsdenken der Moderne zirkulieren und in deren ›verdeckten‹ Zentrum die Stabilisierung weißer Männlichkeit steht.14 Dies korrespondiert auf filmischer Ebene damit, dass im dominanten Bildtypus des klassischen Erzählkinos, dem ›Aktionsbild‹, die Narration dem (meist weißen) männlichen Helden folgt. Die ›Männlichkeitskrise‹ fungiert im Film als Auslöser eines Krisenüberwindungsnarrativs. So beginnen Filme oftmals mit einer Situation, die die Protagonisten ›in der Krise‹ zeigt, die es im Verlauf des Films zu überwinden gilt. Dies entspricht der großen Form des Aktionsbildes, in der es darum geht, die (Krisen-)Situation durch Aktion zu lösen und so die (Ausgangs-)Situation bzw. die Ordnung (wieder-)herzustellen.15 Siegfried Kaltenecker hat deshalb das Erzählkino als »Institution der Krisenverwaltung«16 beschrieben, die »permanent an einem Narrativ [strickt], das die Hegemonie der angeblich kriselnden Männlichkeit stabilisiert bzw. erst herstellt«.17 Auch Robin Celikates und Simon Rothöhler betonen den Aspekt der Stabilisierung, wenn sie schreiben, dass das Aktionsbild »in keiner Form die generelle Handlungsfähigkeit der Protagonisten irritiert, noch die raum-zeitliche
14 Vgl. Peggy Piesche: »Der ›Fortschritt‹ der Aufklärung – Kants ›Race‹ und die Zentrierung des weißen Subjekts«, in: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 30-39. 15 Deleuze fasst die große Form des Aktionsbildes mit der Formel S-A-S (von der Situation über die Aktion zur transformierten Situation) und führt aus: »Das Milieu und die Kräfte krümmen sich und wirken auf den Protagonisten, fordern ihn heraus und stellen die Situation her, die ihn ganz vereinnahmt. Der Protagonist reagiert seinerseits (das Handeln im eigentlichen Sinne), antwortet auf die Situation und verändert dadurch das Milieu oder seine Beziehung zum Milieu, zur Situation oder zu anderen Personen. Er muß zu einer neuen Lebensform (habitus) gelangen beziehungsweise sein Wesen auf die Erfordernisse des Milieus oder der Situation einstellen. Daraus geht eine veränderte oder restaurierte, eine neue Situation hervor.« Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 194. 16 Siegfried Kaltenecker: Spiegelformen. Männlichkeit und Differenz im Kino, Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1996, S. 304. 17 Ebd., S. 280.
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Kontinuität der Diegese folgenreich brüchig werden lässt«18 und die Resouveränisierung immer auf Schließung und die Unsichtbarmachung der Instabilität von Männlichkeit beziehungsweise der »Unabschließbarkeit des Kampfes um die herrschenden Ordnungen der Sichtbarkeit«19 zielt. Dem ist zwar zuzustimmen, aber im Folgenden soll der Fokus etwas verschoben werden und das Augenmerk auf die »Unabschließbarkeit« der Resouveränisierung bzw. des Aktionsbildes gelegt werden. Denn Deleuze betont in seinem ersten Kinobuch, Das Bewegungs-Bild, die relative Offenheit des Bewegungsbildes, zu dem auch das Aktionsbild gehört: Diese begründet sich vor allem durch seine grundlegende Eigenschaft, Bewegung zu vermitteln.20 Darüber hinaus verhindert sowohl die Beziehung zum hors-champ, das außerhalb des Kaders liegt und von einer »beunruhigenden Präsenz« zeugt, als auch die Montage, die das Bild in Beziehung »zu der als das Offene begriffenen Zeit«21 setzt, die vollständige Schließung. Ausgehend davon begreife ich die filmischen Bewegungen eher als Deund Reterritorialisierungen, die gerade in den Momenten des Bruchs bzw. des Spektakels Auskunft über die grundlegende Ambivalenz der Resouveränisierung geben. Damit sind zwei Anliegen verbunden: Zum einen soll gezeigt werden, dass die in den Filmen entworfene ›moralische Männlichkeit‹ vor dem Hintergrund der bundesdeutschen ›Vergangenheitspolitik‹ notwendigerweise als weiß (wieder-)hergestellt werden musste. Denn dies ermöglichte erst die Behauptung eines ›bereinigten‹, d.h. moralisch integren bzw. demokratisierten und damit nicht (mehr) rassistischen Selbstverständnisses von Deutschsein, das auf der Ausblendung der Verbrechen des Nationalsozialismus und der Shoah basierte. Indem jedoch der Fokus auf die grundlegende Instabilität der Figurationen gerichtet wird, öffnet sich der Blick auf die Ausschlüsse und Einschlüsse, die diese Prozesse der Figuration kennzeichnen: Im ersten meiner beiden Filmbeispiele, im Arztfilm DIE GROSSE VERSUCHUNG, wird die Krise des ›Heimkehrers‹ narrativ überwunden,
18 Robin Celikates/Simon Rothöhler: »Erhöhter Körpereinsatz. Zur filmischen Repräsentation des (männlichen) Körpers - zwischen Resouveränisierung und Aufsprengung«, in: Feministische Studien, 2/2006, Nr. 24, S. 213. 19 Ebd., S. 211. 20 Deleuze 1989, S. 22ff. 21 Ebd., S. 82f.
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indem in mehreren Schritten alle Krisensymptome aufgehoben und diese auf ›Andere‹ übertragen werden. Erst dadurch wird im Film aus dem Heimkehrer ein Arzt. Dieser Prozess vollzieht sich als Weißwerdung, die auf die Ablösung von der Hypothek des Nationalsozialismus zielt. Der zweite Film, der Schlagerfilm ALLE LIEBEN PETER setzt einen anderen Akzent. Hier ist die ›Krise‹ nur noch narratives Accessoire eines leichten Musicalplots, in dem die jugendliche Begeisterung für (afro-)amerikanische Musik aus liberaler Perspektive zur Möglichkeit des Entwurfs einer nicht (mehr) rassistischen Männlichkeit wird. Im Gegensatz zur Figuration in DIE GROSSE VERSUCHUNG, die weiße Männlichkeit durch Differenzierung und Abgrenzung von rassifizierten und vergeschlechtlichen ›Anderen‹ herstellt, entsteht weiße Männlichkeit in ALLE LIEBEN PETER durch eine integrative Bewegung, die rassifizierte und sexuelle Differenz in sich aufnimmt und normalisiert. In der Betrachtung der filmischen Bewegungen und Beziehungen in und zwischen den Filmen lassen sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, die diskursiven Aushandlungsprozesse nachvollziehen, die Männlichkeit in den bundesdeutschen Filmen der 1950er Jahre als weiß figurieren.
D IE
GROSSE
V ERSUCHUNG
DIE GROSSE VERSUCHUNG verbindet das Genre des Arztfilms mit einem zeitgenössisch aktuellen Thema, der Frage der Integration der aus der Gefangenschaft zurückgekehrten ehemaligen Wehrmachtsangehörigen in die bundesrepublikanische Gesellschaft. Der Film erzählt die Arztwerdung des ›Heimkehrers‹ Richard Gerbrand als Weißwerdung. In der Hauptrolle war Dieter Borsche zu sehen, der in den frühen 1950er Jahren wie kein anderer das Bild des ›schwer geprüften deutschen Mannes«22 verkörperte und als »Ersatz-Idealmann für die vielen Frauen, die der Krieg zu Witwen gemacht
22 Jens Thiele: »Gesellschaftsbezüge und Filmklischees im ›Zeitfilm‹ der fünfziger Jahre: Die grosse Versuchung von Rolf Hansen«, in: Hilmar Hoffmann/Walter Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt/M. 1989, S. 192.
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hatte«23 zum Publikumsliebling avancierte. Obwohl Richard »im Felde« bereits als Arzt gearbeitet hat, muss er nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft noch die fehlenden Semester bis zum Examen nachholen. In der Eröffnungssequenz wird er als von Hunger und Erschöpfung gezeichnet eingeführt; als leidender ›Heimkehrer‹, der, den Herausforderungen von Arbeit und Studium in der jungen Bundesrepublik kaum gewachsen scheint. Als er jedoch zufällig einen ehemaligen »Kameraden« wiedertrifft und dieser ihm eine Stelle als Oberarzt an einem kleinen Krankenhaus anbietet, kann er der Versuchung nicht widerstehen. Allerdings plagen ihn Gewissensbisse, die im Verlauf des Films dazu führen, dass er sich selbst anzeigt. Das Ende des Films bildet eine ausführliche Sequenz der Gerichtsverhandlung, in der über sein Vergehen befunden wird: es fällt – ganz zeitgemäß – unter die Amnestie. Zu Beginn des Films wird Richard zunächst als Heimkehrer etabliert. Wie der Historiker Frank Biess aufgearbeitet hat, war der Heimkehrerdiskurs von einer »Rhetorik der Viktimisierung« gekennzeichnet, der die Heimkehrer zunächst als ›Opfer des Totalitarismus‹ stilisierte und anschließend in ›Überlebende des Totalitarismus‹ transformierte und ihnen so die Reintegration ermöglichte.24 Zum Narrativ der Viktimisierung gehört auch, dass die Erschöpfungs- und HungerSymptome der Gefangenschaft als ›Dystrophie‹ diagnostiziert wurden. Biess führt aus, dass deutsche Ärzte und Psychiater im Nachkrieg argumentierten, die Lagererfahrung habe die Kriegsgefangenen ununterscheidbar gemacht. Dies wurde nicht allein durch die Gefangenschaft begründet, sondern darüber hinaus teilweise auch auf den Aufenthalt in der ›endlosen Weite der russischen Landschaft‹ zurückgeführt. Durch diesen hätten sich die Kriegsgefangenen den ehemaligen rassifizierten Feinden physisch angenähert.25 Das Krankheitsbild der Dystrophie stellte jedoch nicht nur die ›rassische Identität‹ der Heimkehrer in Frage, sondern auch deren Männlichkeit. Die Diagnosen reichten vom Verlust des Sexualtriebs bis zur
23 Manfred Barthel: Als Opas Kino jung war. Der deutsche Nachkriegsfilm, Frankfurt/M.: Heyne 1991, S. 191. 24 Frank Biess: »Survivors of Totalitarianism: Returning POWs and the Reconstruction of Masculine Citizenship in West Germany, 1945-1955«, in: Schissler, a.a.O., S. 57f. 25 Ebd., S. 59.
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körperlichen Feminisierung.26 Das Problem der Reintegration der aus der Gefangenschaft Zurückgekehrten wurde also in einen medizinischen Diskurs überführt und allein dem Arzt wurde das Vermögen zugesprochen, dieses zu lösen.27 Dieser komplexe Zusammenhang findet sich auch in DIE GROSSE VERSUCHUNG, allerdings nimmt der Film eine Verschiebung vor: Während in der Literatur zur Dystrophie antisemitische-antislavische Ressentiments eingeschrieben sind, überträgt der Film diese in eine symbolische und später auch an (Film-)Körpern festgemachte Differenzierung von Schwarz und Weiß. Explizit wird dies bereits in der Eröffnungsszene des Films, in der Richards vom Regen glänzender schwarzer Ledermantel, der ihn von den übrigen Passanten abhebt und als ehemaligen Wehrmachtssoldaten kennzeichnet, mit dem weißen Mantel eines Verkehrspolizisten gegeneinander geschnitten wird. In der Szene, in der er die Stelle im Krankenhaus antritt, wird dieses Bild wieder aufgegriffen: Beim Betreten des Krankenhauses tauscht er den schwarzen Ledermantel gegen den weißen Arztkittel aus und vollzieht damit seinen ersten dramaturgischen Schritt zur Arztwerdung.
Abbildung 1: Still aus DIE GROSSE VERSUCHUNG (BRD 1952, R: Rolf Hansen)
26 Ebd., S. 61. 27 Ebd., S. 59.
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Durch sein Vergehen, ohne Abschluss seinen Beruf auszuüben, rettet er nicht nur die Leben anderer, sondern er heilt vor allem sich selbst. Wie sich in der plakativen, sich an der Kostümierung manifestierenden Schwarzweißmalerei bereits abzeichnet, ist seine Heilung von den Symptomen der Gefangenschaft als Weißwerdung inszeniert. Der Film vollzieht diese in mehreren Sequenzen in Abgrenzung zu vergeschlechtlichten, pathologisierten und rassifizierten ›Anderen‹: Genau in der Mitte des Films gibt es eine Verführungsszene zwischen Richard und Silva, der reichen Unternehmerstochter, die mit Antritt der Stelle in sein Leben getreten ist. Die Affäre hat im Film die Funktion, Richard seine Sexualität wieder zu geben und so seine Männlichkeit wieder herzustellen, aber nur um Silva anschließend zu verwerfen und den Weg für eine Beziehung mit seiner eigentlichen Liebe, Hilde, der Verlobten seines gefallenen Bruders, freizumachen. Den dramaturgischen Höhepunkt des Films bildet eine schwierige Herzoperation, bei der Richard einer jungen Patientin das Leben rettet, und sich dadurch endgültig von einem an Dystrophie ›leidenden‹ Heimkehrer in einen Arzt verwandelt. Auch wenn wir bei der operativen Rettung des zuckenden Herzmuskels, den wir auf der Leinwand sehen, nicht mehr sehen können, dass es sich dabei um eine Patientin handelt, ist es doch wichtig, dass dieses Herz weiblich ist. Im medical gaze der Kamera, der sich mit dem clinical eye des Arztes verschränkt, wird die weibliche Patientin zum medizinischen Objekt.28 So wird aus dem ›Patienten‹ – im Sinne der etymologischen Bedeutung des Wortes als Leidender29 – ein souverän operierender Arzt. Die Patientin wird zum lebenden Beweis seines medizinischen Könnens; in der Gerichtsverhandlung tritt sie als Zeugin auf und bewirkt seine Freisprechung. Bevor Richard jedoch das Gericht von der Reinheit seines ärztlichen Gewissens überzeugen kann und im befreienden Urteilsspruch ›moralisches Weißsein‹ (wieder-)erlangt, wird dieser, in der Sequenz, die Richard bei seiner letzten Geburtshilfeprüfung zeigt, explizit als weiß und deutsch markiert:
28 Mary Ann Doane: The Desire to Desire: The Woman’s Film of the 40s, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1987, S. 172. 29 Susan Sontag: Krankheit als Metapher, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, S. 104.
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»Ich geb’ ihnen die Irma, unser Fraternisierungsgenie, trägt ’nen kleinen Amerikaner. Hoffentlich lässt sie ihre Freunde nicht zu lange warten«, teilt ihm die resolute Ärztin seine Aufgabe zu. Dieser witzig gemeinte Satz wird auf der Bildebene unterstützt. Nach einem Schnitt sehen wir einen Schwarzen und einen weißen GI im Wartezimmer sitzen. Bereits ihre Haltungen, sie liegen fast in ihren Sesseln, signalisieren eine Differenz zur Steifheit von Dieter Borsches Performance. Es sind ›lässige‹, und damit ›amerikanische‹ Körper, soll uns das Bild vermitteln, wie Annette Brauerhoch in ihrer Lesart der Szene, die sexuelle Beziehungen zwischen deutschen Frauen und Schwarzen und weißen amerikanischen Armeeangehörigen eher lächerlich macht als sie als ›gefährlich‹ zu markieren, betont hat.30 Später kommen die beiden ungeduldig ins Sprechzimmer der Ärztin gerannt, diese pfeift sie jedoch an: »Was wollt ihr eigentlich zu zweit hier«, und will wissen, wer der Vater ist. Der weiße GI antwortet: »Ich bin der Vater, that’s Louis, my friend.« Am Ende der Nacht treten Richard und die Ärztin mit dem Kind auf dem Arm aus dem Kreißsaal. »Na, der blonde Ami wird seine Freude haben«. Wieder kommentiert die Ärztin, was im Bild zu sehen ist: eine Großaufnahme zeigt das Neugeborene. Durch den Satz wird das Augenmerk auf die an Hautfarbe festgemachte Sichtbarkeit rassifizierter Differenz gerichtet, während dies zugleich nur ein Schmunzeln bei Richard hervorruft. Zum einen wird diese zum Witz (über die angeblich promiskuitiven Frauen wie über die US-Soldaten), zum anderen artikuliert sich darin die im Diskurs um die afrodeutschen ›Besatzungskinder‹ liberale Haltung, die Verständnis für diese aufbringt. Nichtsdestotrotz wird das Kind von der Ärztin als »Amerikaner«, also als nicht-deutsch deklariert.31 Aber die Funktion der Einblendung von Schwarzsein für Richards Weißwerdung wird noch weiter ausgereizt: Sobald Richard dem Schwarzen GI das Kind überreicht, fällt dieser ihm vor Freude um den Hals: »What can I do for you?« Da es bereits Morgen ist, gibt es tatsächlich etwas, was dieser für ihn tun kann. In einer rasanten Fahrt im Militärjeep zu
30 Brauerhoch 2006, S. 221f. 31 Obwohl die Kinder von deutschen Müttern und alliierten Besatzungssoldaten automatisch die Staatsangehörigkeit der Mutter erhielten. Vgl. Yara-Colette Lemke Muniz de Faria: Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung. Afrodeutsche »Besatzungskinder« im Nachkriegsdeutschland, Berlin: Metropol Verlag 2002, S. 12.
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Jazzklängen und mit einem singenden GI am Steuer, kehrt Richard, gerade noch rechtzeitig, zum Krankenhaus zurück, um seinen Dienst anzutreten. An dieser Szene ist aufschlussreich, dass der afroamerikanische Soldat nicht von einem Schwarzen Schauspieler gespielt wird, sondern dass es sich mit Kathrin Siegs Worten um ethnic drag handelt, eine performative Praktik also, in der sich weiße Menschen durch die Darstellung und Verkörperung von Figuren rassifizierter Differenz diese aneignen: »By [ethnic drag] I mean the impersonation of ethnic others by a subject that stages and conceals dominance. This performative practice enacts the terms of multiculturalism in the form of a series of displacements. It both excludes material bodies of cultural others, and subsumes the markers of difference under ›universal meanings‹ whose aesthetic and metaphysical dimensions can be adequately expressed by ›German‹ bodies.«32 Um den Eindruck von Schwarzsein zu beglaubigen und zugleich zu kaschieren, dass es sich dabei um eine ästhetische Strategie handelt, die innerhalb des Films symbolische Funktion erfüllt, singt Louis während der Fahrt: »I am the father of a black child.« Wäre er tatsächlich Schwarz, wäre dies nicht unbedingt der Rede wert. Hier dient jedoch die Inszenierung und Adressierung von Schwarzsein dazu, Richards Weißsein zu legitimieren. Dass es sich tatsächlich nur um schwarze Schminke handelt, wird darüber hinaus in dem Moment entlarvt, als sich die beiden Männer zum Abschied die Hände reichen, und der Ärmel der Uniform nach Oben rutscht. Zwischen Handschuh und Saum der Uniformjacke wird ein Stück helle Haut sichtbar. In diesem unbeabsichtigten Bild artikuliert sich das Bemühen, Richard in Abgrenzung zu dem angeblich Schwarzen GI, den Jazzklängen und dem afrodeutschen Kind als ›weiß‹ und ›deutsch‹ zu markieren. Jedoch führt das Bild des hochgerutschten Ärmels dieses Vorhabens für einen Moment ad absurdum; vielmehr gibt die Sequenz Auskunft über den Aufwand, der betrieben werden muss, um im Film den Eindruck rassifizierter Differenz herzustellen, und verweist so auf die Instabilität der Figuration weißer Männlichkeit.
32 Katrin Sieg: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor: University of Michigan Press 2002, S. 297.
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Abbildung 2: Still aus DIE GROSSE VERSUCHUNG (BRD 1952, R: Rolf Hansen)
Zudem ist Richards Nicht-Reaktion auf das Schwarze Kind als ›Farbenblindheit‹ zu deuten, die darauf verweist, dass diese explizit weiße Strategie Teil der Resouveränisierung war. In den Filmen der 1950er Jahre taucht ›Farbenblindheit‹ oftmals auf, um die Abwesenheit bzw. die Überwindung des NS-Rasseideologie zu betonen. Die Betonung der ›Farbenblindheit‹, das heißt die offensive Nicht-Wahrnehmung sichtbarer ›Rassenunterschiede‹ ist im Kontext der Herausbildung einer ›postwar logic of race‹ zu verorten, die Antisemitismus öffentlich ächtete und zugleich Rassismus in die USA verschob und Rasse zunehmend mit Schwarzsein gleichsetzte.33 Dies steht zudem im Zusammenhang mit der allmählichen Durchsetzung eines kulturalistischen Rasse-Begriffs zu situieren, der sich in der Folge des wichtigen UNESCO-Statement on Race von 1950 etablierte: Im Unterschied zu der Erklärung, in der unmittelbar vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg und der Shoah ein explizit antirassistisches Anliegen formuliert und ›Rasse‹ als sozialer Mythos beschrieben wurde, lässt sich bei den Bekundungen der ›Farbenblindheit‹ von einer Verschiebung sprechen: statt Rassismus zu benennen, artikuliert sich in diesen der Wunsch, diesen bereits überwunden
33 Fehrenbach 2005, S.14.
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zu haben und, wie Linda Williams schreibt, »uncontaminated by any preexisting scripts of racial pity or antipathy«34 zu sein: Auf dieser Ebene verschränkt sich Farbenblindheit mit den Bemühungen um ›männliche Resouveränisierung‹ – eingebunden in einen Prozess den Fatima El-Tayeb als ›Normalisierung von Weißsein‹ beschrieben hat und »der immer nur die ›Anderen‹ als rassifiziert wahrnimmt und Rassismus so letztlich als an die Existenz dieser ›Anderen‹ gebunden betrachtet«.35 Darüber hinaus macht die Sequenz endgültig den Weg frei für Richards moralische Rehabilitation vor Gericht, die mit seiner Amnestie vollzogen wird. Dieser Urteilsspruch macht deutlich, worauf diese abzielte. Richards Weißwerdung lässt sich als in die ›Vergangenheitspolitik‹ der frühen Bundesrepublik eingebunden betrachten, die die Entschuldung und Integration ehemaliger Nazis auf judikativer wie legislativer Ebene durchsetzte36 und zielt zudem auf ›männliche Resouveränisierung‹.
A LLE
LIEBEN
P ETER
Auch das zweite Beispiel, ALLE LIEBEN PETER, ist von ›Farbenblindheit‹ gekennzeichnet. Auch hier wird die (afro-)amerikanische Musik mit Schwarzsein assoziiert, allerdings wird dieses im Unterschied zu DIE GROSSE VERSUCHUNG vom männlichen Protagonisten angeeignet und inkorporiert. ALLE LIEBEN PETER setzt an der Begeisterung deutscher Jugendlicher für afroamerikanische Musik, Jazz und sein »tanzbares Erbe«37
34 Linda Williams: Playing the Race Card. Melodramas of Black and White from Uncle Tom to O.J. Simpson , Princeton, Oxford: Princeton University Press 2001, S. xiv. 35 Fatima El-Tayeb: »Vorwort«, in: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 8. Zu Farbenblindheit im US-Kontext vgl. den Aufsatz von Anja Michaelsen in diesem Band. 36 Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999. 37 Oona Leganovic: »Die Bewegung ist nicht tot zu kriegen – Eine kurze Geschichte von Tanz und Ekstase«, in: testcard. Beiträge zu Popgeschichte, Nr. 13/2004: Black Musik, S. 60.
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Rock’n’roll an, um eine belanglose Geschichte zu erzählen. Anders als noch wenige Jahre zuvor, stellt diese Musik keine ›moralische Gefahr‹ mehr dar, sondern Differenzkonsum ist eingebunden in die Transformation von Jugendlichen in ›Teenager‹ und damit in Konsument/innen von Filmen, Schallplatten und Klamotten. Um der In/stabilität weißer Männlichkeit nachzugehen, rücke ich die zentrale Tanzszene in den Fokus und frage danach, ob und inwiefern der liberale Duktus des Films nicht doch für einen Moment überschritten wird und welche Auswirkungen das auf das Bemühen um ›männliche Resouveränisierung‹ hat. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität als ›deutscher Elvis Presley‹ machte der Film Peter Kraus zum alleinigen Star und weiße Männlichkeit zum Spektakel. Anders als in den ›Peter und Conny‹-Filmen, WENN DIE CONNY MIT DEM PETER... (BRD 1958, R: Fritz Umgelter) und CONNY UND PETER MACHEN MUSIK (BRD 1960, R: Werner Jacobs), die versuchten, den Rock’n’roll zu ›zähmen‹ und ihn – entsexualisiert und seiner Schwarzen Anteile beraubt – zum Ausdruck einer unpolitischen Jugendkultur zu machen38, entwirft der Film ›Peter‹ als einen Superstar, dem weder die Assoziation von Schwarzsein noch der Sexualisierung der von ihm performten Musik ›gefährlich‹ werden kann. Vielmehr lassen sich, wie ich zeigen möchte, die integrativen und aneignenden Gesten im Tanz als Ausdruck einer »imaginären Afroamerikanisierung«39 beschreiben, die Peter als demokratisiert und nicht (mehr) rassistisch markiert. Den Höhepunkt und das Finale von ALLE LIEBEN PETER bildet eine Szene im Jazzkeller. Peter und seine Freunde haben einen Auftritt, der erst in einer Schlägerei, dann im Gefängnis und schließlich im Happy End mündet. Die Szene beginnt wie das klassische Setting eines Schwarz-weißen Buddy-Movies: Auf den ersten Blick steht die Schwarz-weiße Männerfreundschaft zwischen Peter und Billy, der von dem kamerunischdeutschen Schlagersänger Max Kutta gespielt wird, im Mittelpunkt, während Peters love-interest Kitty in den Hintergrund verwiesen wird. In diesem Setting des harmonischen Miteinanders zwischen Schwarz und weiß
38 Uta G. Poiger: Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley Los Angeles London: University of California Press 2000, S. 192. 39 Moritz Ege: Schwarz werden. ›Afroamerikanophilie‹ in den 1960er und 1970er Jahren, Bielefeld: transcript 2007, S. 18.
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scheint Rassismus überwunden,40 gleichwohl Differenzen weiter festgeschrieben werden. Wir sehen Peter und Billy beim gemeinsamen Auftritt im Jazzkeller. Sie sitzen auf einem Gerüst, während sie »Oh when the saints go marchin’ in...« spielen. Der gewählte Bildausschnitt zeigt die Beiden durch die Streben des Gerüsts getrennt, Billy wird vollständig gerahmt. In dieser Szene wird, wie schon zuvor im Film, Billys Schwarzsein als auf Sichtbarkeit setzendes Zeichen von Rasse erneut fixiert. Durch wechselnde Einstellungen wird der Eindruck unterstrichen, dass Billy die Funktion zukommt, Peters jugendliche Vitalität zu unterstützen und ihn mit Schwarzsein ›aufzuladen‹. Gleichzeitig betont die Szene ihre Freundschaft und unterstützt dadurch den Eindruck der ›Farbenblindheit‹ und der Abwesenheit von Rassismus. ALLE LIEBEN PETER rekurriert auf die zeitgleich in Hollywood entstehenden race movies, die Sidney Poitier an der Seite von krisengeschüttelten weißen Männern zeigten. Insbesondere BLACKBOARD JUNGLE41 (USA 1955, R: Richard Brooks) scheint hier aufgerufen, der mit seinem tanzbaren Soundtrack in der Bundesrepublik sowohl Begeisterungsstürme bei der Jugend als auch Befürchtungen bei Eltern und Kritikern auslöste. Andrew Gordon und Hérnan Vera haben darauf hingewiesen, dass ›black & white buddy movies‹ einen Versuch darstellen, die Legitimationskrise weißer Männlichkeit zu lösen.42 In ALLE LIEBEN PETER scheint dies ebenfalls der Fall zu sein, wenn auch unter spezifisch (west)deutschen Bedingungen: Während in DIE GROSSE VERSUCHUNG die Einblendung von Schwarzsein die Funktion erhält, Richard in Abgrenzung explizit als weiß zu markieren und so die Krisenüberwindung zu unterstützen, zeigt sich in ALLE LIEBEN PETER, dass die Inszenierung von ›Farbenblindheit‹ und ›nicht(-)(mehr)rassistischem‹ Weißsein als Stabilisierungsversuch jugendlicher bzw. ›neuer‹ Männlichkeit zu werten ist, die ebenfalls als ›männliche Resouveränisierung‹ verstanden werden kann. Wurde bis in die Mitte der 1950er Jahre die Jugend noch als Verführungen ausgesetzt erachtet – erst durch Hitler und später dann auch durch die (afro-)amerikanische Musik –, treten die Bedrohungsszenarien aufgrund der Durchsetzung liberaler Auf-
40 Andrew M. Gordon/Hernán Vera: Screen Saviors. Hollywood Fiction of Whiteness, Lanham, Boulder, New York, Oxford: Rowman & Littlefield Publishers 2003, S. 183. 41 Dt. DIE SAAT DER GEWALT 42 Ebd., S. 187.
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fassungen am Ende des Jahrzehnts in den Hintergrund und es findet eine Umdeutung statt: Betont wird nun die ›Unschuld‹ der Jugend mit der das Versprechen auf Entschuldung verknüpft wird. Während des gemeinsamen Auftritts von Peter und Billy kommt also Kitty herein und möchte ihr Missverständnis mit Peter klären. Dieser singt jedoch einfach mit Billy weiter und ignoriert sie offensichtlich. Immer wieder beteuert Kitty, sie könne alles erklären, bis Billy das Mikro wegkickt und ihre damit die Aufmerksamkeit enzieht. Die beiden verändern nun ihre Tonlage und es scheint, als konkurrierten sie darum, wer von beiden mit tieferer Stimme singt. Indem Peter zeigt, dass er den »imitierte[n] heisere[n] ›Negergesang‹ à la Armstrong«43 beherrscht, vollzieht er den ersten Schritt seiner ›imaginären Afroamerikanisierung‹, die in dieser Sequenz Bedingung der Figuration weißer Männlichkeit ist. Kitty setzt sich schließlich an einen Tisch mit lauter ›Halbstarken‹ die sie belästigen. Die folgende Tanznummer ist mit dem Geschehen am Tisch parallel montiert bis sie in eine Schlägerei mündet, an deren Beginn der Versuch von Kittys Rettung steht. Hier gehen generischen Mustern des Musikfilms folgend »Augenblicke eines blockierten Aktionsraumes auf der Plot-Ebene oder emotionale Verstrickungen der Protagonisten in Tanz über«.44 Zwar zielt der Tanz auf Peters Versöhnung mit Kitty, dient also der Überwindung der narrativen Krise bzw. des Konflikts, aber zugleich unterbricht die Tanznummer für einen Moment die Narration. Vielmehr betritt Peter durch den Tanz eine andere Welt. Für Deleuze besteht »[d]er kinematographische Akt […] darin, daß der Tänzer selbst in den Tanz eintritt, so wie der Träumer in einen Traum«.45 Es ist also der Übergang vom Narrativen zum Spektakulären, den Deleuze als »Öffnung des Raums« beschreibt: »Der Tanz [...] steigert und vertieft [...] sich, da er der einzige Zugang zu einer anderen Welt ist, das heißt zur Welt eines anderen, zum Traum oder zur Vergangenheit eines Anderen.«46 Folgt man Deleuze so liegt im Tanz die Potentialität ein
43 Lothar Zenetti: Peitsche und Psalm. Geschichte und Glaube, Spirituals und Gospelsongs der Neger Nordamerikas, München: J. Pfeiffer 1963, S. 248. 44 Thomas Elsaesser: »›Zu spät, zu früh‹: Körper, Zeit und Aktionsraum der Kinoerfahrung«, in: Brütsch, Matthias (Hg.): Kinogefühle: Emotionalität und Film, Marburg: Schüren 2005, S. 430. 45 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 86. 46 Ebd., S. 88.
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Anderer zu werden bzw. sich zu verändern. Peter beginnt am Klavier seine Nummer »Kitty Cat« zu spielen, während Billy sich zunächst im Hintergrund hält. Peter tanzt am Klavier, setzt zum Sprung nach hinten an, in dem Moment springt Billy unter Peter hindurch ans Klavier. Gemeinsam spielen und tanzen sie weiter, Peter greift um Billy herum. Sie bewegen sich weiter gemeinsam zur Musik, was Peter mit einem »That’s good!« kommentiert. In dieser erotisch aufgeladenen Szene artikuliert sich Peters Begehren nach Billy, das dessen Schwarzsein konsumierbar macht, während zugleich Billys bewundernde Blicke Peters Performance legitimieren. Schließlich löst sich Peter von Billy und dem Klavier, springt von der Bühne und beginnt nun einen ausschweifenden Tanz, in dem er nun selbst zum Spektakel wird. Der Liedtext »Zeig’ mir wie du tanzt, Kitty Cat, zeig’ mir was du kannst, Kitty Cat – Schau genau auf mich, Kitty Cat, mach’s doch so wie ich« verschränkt die Erotisierung Kittys mit seiner Objektivierung, die eine Entsprechung in den Blicken hat, die nun alle auf ihn gerichtet sind und ihn zum Spektakel werden lassen – es scheint als habe sich Peter im Tanz mit Billy am Klavier mit dessen Schwarz codierter und sexualisierter Spektakularität aufgeladen, die ihn ins sichtbare Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und zugleich die Vereindeutigung verhindert.47 Parallel montiert ist eine Einstellung am Tisch, in der Kitty erneut von den ›Halbstarken‹ belästigt wird. Billy hat den Vorfall bemerkt und verfolgt das Geschehen, während Peter durch den Raum springt, die Kamera folgt seinen ausufernden Bewegungen, er geht die Wände hoch, macht Stage-diving, lässt sich von der Menge auffangen und fegt über die Tische. Sein Tanz ist mit der zunehmenden Belästigung parallel montiert. Als Kitty von den ›Halbstarken‹ – gleichsam eingebettet in die Choreographie hochgehoben wird, eilt Billy ihr zu Hilfe. Die Szene ist so montiert, dass aus dem springenden Peter im Schnitt der springende Billy wird. Billy tritt für einen Moment an Peters Stelle und wird zu seinem alter ego.48
47 Vgl. Georg Tillner/Siegfried Kaltenecker: »Objekt Mann. Zur Kritik der heterosexuellen Männlichkeit in der englischsprachigen Filmtheorie«, in: Frauen und Film, Nr. 56/57, 1995, S. 126. 48 Vgl. Maja Figge: »Tanzen zum Soundtrack der Demokratisierung. Zum Verhältnis von Männlichkeit, Weißsein und Deutschsein in ›Alle lieben Peter‹ (BRD 1959, R: Erich Engel)«, in: Wentz, Daniela, André Wendler (Hg.): Die Medien und das Neue, Marburg: Schüren 2009, S. 263.
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Abbildung 3: ALLE LIEBEN PETER (BRD 1959, R: Paul May)
Abbildung 4: ALLE LIEBEN PETER (BRD 1959, R: Paul May)
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Peter hingegen tanzt und springt begleitet von »Kitty Cat«-Rufen fröhlich weiter und bis er mit einer Punktlandung und dem dazugehörigem Treffer den Tanz beendet und die Schlägerei beginnt. Die Sequenz zeigt eindrücklich, dass die filmische Figuration des weißen Stars als Spektakel – Peter Kraus – auf ›imaginäre Afroamerikanisierung‹ und (Homo-)Erotisierung angewiesen ist. Sie verweist aber auch auf sich wandelnde Männlichkeitsentwürfe in den späten 1950er Jahren, sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik. Unter der Voraussetzung, dass der klassische Film weder Narration noch Spektakel privilegiert und sich dies in Peters Tanz als Unterbrechung der Narration und narratives Moment in besonderem Maße zeigt, lässt sich dieser als Re- und Deterritorialisierung beschreiben, in der sich die zwei Zeitlichkeiten der Nation, die kontinuierliche und die performative Zeit verschränken. Einerseits zielt der Tanz auf narrativer Ebene auf die Lösung des Konflikts mit Kitty und damit auf die Überwindung der Krise, andererseits lässt sich der Tanz auch als Unterbrechung fassen, die im Spektakel das Betreten einer anderen Welt ermöglicht. Das Begehren danach ›anders‹ bzw. ein ›anderer‹ zu werden, bezieht sich hier jedoch auf die Notwendigkeit, zu bestimmen, was Deutschsein in der frühen Bundesrepublik sein kann. Auf dieser Ebene ist Peters ›imaginäre Afroamerikanisierung‹ im Tanz als ›männliche Resouveränisierung‹ zu verstehen, die ihn zum nicht (mehr) rassistischen weißen Helden werden lässt. Die Sequenz, so möchte ich folgern, zielt durch die Integration und Absorption von rassifizierter Differenz auf die imaginäre Ablösung von der Hypothek des Nationalsozialismus und der Shoah. Zugleich scheint aber auch die Instabilität dieses Prozesses auf, in der der Wunsch durch die (afro-)amerikanische Musik ein ›anderer‹ zu werden (in Abgrenzung zu der Vätergeneration und dem Nationalsozialismus) nicht getilgt ist.
I N / STABIL ? Nimmt man das performative Vermögen des Mediums Film ernst, das heißt, dass Film sich einerseits auf eine vor- bzw. außerfilmische Welt bezieht, diese aber in einer anderen Perspektive zeigt bzw. sie als eigene Welt
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erfindet,49 öffnet sich der Blick auf die filmischen Herstellungsprozesse weißer Männlichkeit. Anhand der Filme DIE GROSSE VERSUCHUNG und ALLE LIEBEN PETER wurde analysiert, wodurch diese in Gang gehalten werden, nämlich durch die Abgrenzung zu bzw. die Einverleibung von rassifizierter und vergeschlechtlicher Differenz, die sie figuriert. Als Vehikel der ›männlichen Resouveränisierung‹ geben sie Auskunft über ihre grundlegende Ambivalenz, die darin liegt, dass die permanente Fixierung und Stabilisierung, zum einen immer auch das Potential der Destabilisierung des Scheiterns in sich trägt und zum anderen auf ihre Umkämpftheit verweist. Vor dem historischen Hintergrund der frühen Bundesrepublik erscheinen die hier analysierten Filme als Versuche der Überwindung des imaginierten kollektiven Schuldgefühls –, die jedoch weder widerspruchsfrei noch vollständig erreicht werden kann. Darüber hinaus wäre zu fragen, ob nicht die immer wiederkehrenden Geschichten der männlichen Krisenüberwindung in einem Bedingungsverhältnis zu der relativen Offenheit des Bewegungsbildes stehen, verstanden als fortwährende Versuche, den Film selbst einzuholen und so seine Botschaft kontrollierbar zu machen.
L ITERATUR Barthel, Manfred: Als Opas Kino jung war. Der deutsche Nachkriegsfilm, Frankfurt/M.: Heyne 1991. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg 2000. Biess, Frank: »Survivors of Totalitarianism: Returning POWs and the Reconstruction of Masculine Citizenship in West Germany, 1945-1955«, in: Schissler, Hanna (Hg.): The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949-1968, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2001, S. 57-82. Brauerhoch, Annette: Fräuleins und GIs. Geschichte und Filmgeschichte, Frankfurt/M.: Stroemfeld 2006.
49 Gertrud Koch: »Latenz und Bewegung im Feld der Kultur, Rahmungen einer performativen Theorie des Films«, in: Sibylle Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004, S. 186.
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Celikates, Robin, Simon Rothöhler: »Erhöhter Körpereinsatz. Zur filmischen Repräsentation des (männlichen) Körpers – zwischen Resouveränisierung und Aufsprengung«, in: Feministische Studien, 2, Nr. 24, 2006, S. 208-223. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. Doane, Mary Ann: The Desire to Desire: The Woman’s Film of the 40s, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1987. Ege, Moritz: Schwarz werden. »Afroamerikanophilie« in den 1960er und 1970er Jahren, Bielefeld: transcript 2007. El-Tayeb, Fatima: »Vorwort«, in: Eggers et al. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 7-10. Elsaesser, Thomas: »›Zu spät, zu früh‹: Körper, Zeit und Aktionsraum der Kinoerfahrung«, in: Brütsch, Matthias (Hg.): Kinogefühle: Emotionalität und Film, Marburg: Schüren 2005, S. 415-440. Fehrenbach, Heide: Cinema in Democratizing Germany. Reconstructing National Identity after Hitler, Chapel Hill & London: University of North Carolina Press 1995. Fehrenbach, Heide: Race after Hitler. Black Occupation Children in Postwar Germany and America, Princeton: Princeton University Press 2005. Fenner, Angelica: Race under Reconstruction in German Cinema: Robert Stemmle’s TOXI, Toronto: University of Toronto Press 2011. Figge, Maja: »›Konsum hilft!‹: Rassismus und ›Heilung‹ durch Integration in Toxi«, in: Klaus Krüger et al. (Hg.): Um/Ordnungen. Fotografische Menschenbilder zwischen Konstruktion und Destruktion, München: Fink 2010, S.135-153. Figge, Maja: »Tanzen zum Soundtrack der Demokratisierung. Zum Verhältnis von Männlichkeit, Weißsein und Deutschsein in ›Alle lieben Peter‹ (BRD 1959, R: Erich Engel)«, in: Wentz, Daniela, André Wendler (Hg.): Die Medien und das Neue, Marburg: Schüren 2009, S. 253-267. Forster, Edgar: »Männliche Resouveränisierungen«, in: Feministische Studien, Jg. 24, Nr. 2 (2006), S. 193-207. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999.
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F ILMVERZEICHNIS ALLE LIEBEN PETER (BRD 1959, R: Paul May) BLACKBOARD JUNGLE (USA 1955, R: Richard Brooks) CONNY UND PETER MACHEN MUSIK (BRD 1960, R: Werner Jacobs) DIE GROSSE VERSUCHUNG (BRD 1952, R: Rolf Hansen) DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946, R: Wolfgang Staudte) EINE FRAU VON HEUTE (BRD 1954, R: Paul Verhoeven) LIEBE ‘47 (D 1948/9, R: Wolfgang Liebeneiner) LIEBE OHNE ILLUSION (BRD 1955, R: Erich Engel) TOXI (BRD 1952, R: Robert A. Stemmle) WENN DIE CONNY MIT DEM PETER... (BRD 1958, R: Fritz Umgelter)
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A BBILDUNGEN Abb. 1: Still aus DIE GROSSE VERSUCHUNG (BRD 1952, R: Rolf Hansen) (Privatarchiv Maja Figge) Abb. 2: Still aus DIE GROSSE VERSUCHUNG (BRD 1952, R: Rolf Hansen) (Privatarchiv Maja Figge) Abb. 3: ALLE LIEBEN PETER (BRD 1959, R: Paul May) (DVD Kinowelt 2006) Abb. 4: ALLE LIEBEN PETER (BRD 1959, R: Paul May) (DVD Kinowelt 2006)
Positionieren
Sich nicht entscheiden wollen, aber dennoch eine Haltung haben N ANNA H EIDENREICH
Abbildung 1: BRUCE LEE IN THE LAND OF BALZAC, Videostill, Courtesy d. Künstlerin
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Während eines Stipendienaufenthaltes in Frankreich hat die in Brasilien geborene Künstlerin Maria Thereza Alves (die heute in Rom und Berlin lebt, oder, wie sie selbst formuliert, in Europa) die Arbeit BRUCE LEE IN THE LAND OF BALZAC (F 2007, 2min) realisiert. Sie beschreibt sie wie folgt: »What does a Brazilian artist do when confronted with the vast beauty of the French landscape? A beauty which the French writer, Honoré de Balzac, wrote exactly and precisely about. In particular, he wrote about this area, Saché, and human nature as bent by the structures of the local society’s ›normality‹.«1
In diese Landschaft setzt sie nun »the ›Other‹« ein, »removed but now replaced within the context – and there is no return«.2 Es gibt kein Zurück hinter die Anwesenheit der/des Anderen, es gibt kein Zurück in die ›Normalität‹. Was wir sehen: eine statische Kameraeinstellung, die den Nebel einer Flusslandschaft einfängt, Himmel, Horizont, Fluss, Wald, verschwimmen zu einer einzigen blau-grau wabernde Wolkenformation. Darüber, plötzlich, Bruce Lees Kampfschrei, eine ansteigende Tonfolge, dann im Rhythmus mit Schlägen Zäsuren setzend, in tieferen Registern. Ein Soundtrack, den man erkennt, selbst wenn man kein Bruce Lee Fan ist und sich weder in Details zu den Spekulationen um seinem frühen Tod noch zu seiner ebenso sagenumwobenen Kampfkunst, dem Jeet Kune Do, ergehen kann (oder mag). Bruce Lee ist eine Ikone des transnationalen Kinos, ein Kino, das unser kulturelles Imaginäres formt, auch dann, wenn wir es gar nicht selbst gesehen haben.3 Maria Thereza Alves, wie so viele Künstlerinnen und
1
Filmbeschreibung der Künstlerin, auf der Webseite ihres deutschen Verleihs, dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst, zu sehen: http://films.arsenalberlin.de/index.php/Detail/Object/Show/object_id/9266 (zuletzt abgerufen am 21.08.2012).
2
Ebd.
3
Zu einer postkolonialen Perspektive auf Bruce Lee sei hier auf die Arbeiten von Paul Bowman verwiesen. Zum Einstieg beispielsweise das folgende Interview: http://www.academia.edu/410421/Interview_on_Theorizing_Bruce_Lee_and_J KD (zuletzt abgerufen am 02.01.2013), sowie z.B. Bowman, Paul: Sick Man of Transl-Asia. Bruce Lee and Queer Cultural Translation, in: Social Semiotics, Vol. 20, Nr. 4, September 2010, S. 393-409. sowie seine Monographien: Ders.:
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Künstler heutzutage, lebt ebenfalls ein spezifisches transnationales Leben: von einer ›Residency‹ zur nächsten sind Ausstellungsprojekte mit Arbeitsaufenthalten verbunden, aus denen oftmals ortsspezifische Projekte hervorgehen, die, selbst wenn sie nicht als Auftrag an das jeweilige Stipendium geknüpft sind, der Selbst-/Verortung dienen, der Auseinandersetzung mit der Frage der Lokalität und der eigenen steten Relokalisierung. BRUCE LEE IN THE LAND OF BALZAC ist auch ein Kommentar zur Suche nach dem Ort des Sprechens, der Artikulation eines transnationalen Selbst, und die in ihrem Fall damit verbundene Kritik am weißen Europa, am kolonialen Inbesitznehmen anderer Welten, wie sie sie in zahlreichen ihrer anderen Arbeiten formuliert.4
» REQUIRES
US TO REVISIT «
Dieser Text basiert auf einer Einladung. Zunächst zu einem Vortrag, in dem ich Ergebnisse meines Promotionsprojekts vorstellen sollte, und dann zur Publikation dieses Vortrags. In meinem Promotionsprojekt habe ich mich mit den Verschränkungen von Sagbarkeiten und Sichtbarkeiten, mit dem, was ich den deutschen Ausländerdiskurs nenne und seinen V/Erkennungsdiensten befasst: wie das deutschsprachige offizielle Nicht-Sprechen von ›Rasse‹ anderweitig zum Ausdruck kommt, in anderen Begriffen, aber auch in Vorstellungen, die sich wiederum in Darstellungen zu erkennen geben. Film war hier mein Ansatzpunkt: wie wird dieses voraussetzungsvolle V/Erkennen organisiert? Wie wird es intelligibel gemacht? Aber auch: welches ›Durcharbeiten‹ findet sich in den Filmen, die eben nicht einfach nur diesen Diskurs illustrieren oder inszenieren beziehungsweise perpetuieren,
Theorising Bruce Lee, Amsterdam/New York:Rodopi 2010 und ders.: Beyond Bruce Lee, London/New York 2012. 4
Alves setzt dabei oft ethnografische Strategien ein, so z.B. in »Male Display among European Population« (2008, DV, 2min), oder in »What is the Color of a German Rose?« (2005, DV, 6min). Einen (allerdings nicht deskriptiven) Überblick über einen Teil ihrer Arbeiten findet sich bei der sie vertretenden Galerie Michel Rein (Paris), http://michelrein.com/en/artistes/oeuvres/34/Maria%20 Thereza%20Alves (zuletzt abgerufen am 21.08.2012).
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zumal sie sich ja nur im Gesehen-Werden ereignen. Und letztlich: Wo nimmt Kino die Perspektive der Migration ein?5 Die Einladung zu einem Vortrag im Kontext der (Tagungs-)Frage von Unbestimmtheit und der Irritation von Identität bedeutete nun, diese Fragen erneut auf ihre Voraussetzungen hin zu durchleuchten, in diesem Fall: erneut jene Kritik an Identitätspolitik zu resümieren, für die mittlerweile der Begriff ›Third Wave Feminism‹ ebenso steht wie die Fundierungen von ›Queer Theory‹ sowie die Auseinandersetzungen mit ›Third Space‹ und anderen postkolonialen liminalen Räumen. Also jenen Umschlagpunkt zu betrachten, der nicht einfach nur Identität, sondern deren Einsatz im Politischen einer Kritik unterzieht, und an deren Stelle das offene Bündnis tritt, welches Judith Butler in Das Unbehagen der Geschlechter6 gleich im ersten Kapitel verhandelt. Unter der Überschrift »Die Subjekte von Geschlecht/Geschlechtsidentität/Begehren« schreibt sie: »die antifundamentalistische Methode, an die Bündnispolitik heranzugehen, setzt weder die ›Identität‹ als Prämisse voraus, noch die Möglichkeit, dass die Form oder Bedeutung einer Koalitionsvereinigung vor ihrem Zustandekommen bekannt sein kann.«7 Dieser Reibungs- oder Umschlagspunkt der frühen 1990er Jahre, der heute, also retrospektiv, im wesentlichen auf den Nenner Queer vs. Feminismus gebracht wird, ist jedoch nicht nur selbst voraussetzungsvoll, d.h. überhaupt erst denkbar gemacht durch und mit den Arbeiten von Women of Colour Feminist_innen wie Audre Lorde, Gloria Anzaldúa, bell hooks und anderen, sondern verweist eben gerade auf die gleichzeitige analytische Zuspitzung in den Kreuzungspunkten von Geschlecht, Sexualität und ›Rasse‹ sowie die Politisierung dieser Kreuzungen entgegen den gewaltvollen Trennlinien dieser Differenzierungen gerade im Denken gegen die Fundierung von Politik in Identität. Wie aktuell dieses Denken
5
Meine Dissertation erscheint bei transcript (2013), in der Reihe post_koloniale Medienwissenschaft, herausgegeben von Ulrike Bergermann.
6
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M: Suhrkamp 1991 (Gender Trouble erschien im englischen Original 1990). Ich zitiere hier aus der ersten, viel kritisierten und sicherlich oft seltsamen und unbeholfenen Übersetzung, die ich heute allerdings gerade deswegen mag: daran lassen sich heute deutlich die Reibungsverluste des Übersetzungsprozesses nachvollziehen, die wiederum für die Rezeptionsgeschichte des Buchs durchaus interessant sind.
7
Ebd., S. 36.
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auch weiterhin ist, insbesondere im deutschen Kontext sogar dringlich, zeigte sich im Juni 2010 (also kurz vor der Tagung »Im Netz der Eindeutigkeiten«) in Judith Butlers Ablehnung des Zivilcouragepreises, der ihr vom CSD-Berlin e.V. verliehen werden sollte: »Der CSD e.V. verleiht den Zivilcouragepreis an Personen und Einrichtungen, die sich für die Belange von Minderheiten in besonderem Maße eingesetzt haben, ganz im Sinne einer diskriminierungsfreien europäischen Gesellschaft.«8 Butler lehnte den Preis (erst) vor Ort ab, auf der Bühne des CSD, mit einer Rede, die sie auf deutsch hielt. Die Begründung: rassistische Äusserungen der Veranstalter bzw. keine Distanzierung von rassistischen Äusserungen, die im Vorfeld gemacht wurden. Sie formulierte: »die veranstaltenden Organisationen weigern sich, antirassistische Politiken als wesentlichen Teil ihrer Arbeit zu verstehen. In diesem Sinne muss ich mich von dieser Komplizenschaft mit Rassismus einschliesslich antimuslimischem Rassismus distanzieren. Wir haben alle bemerkt, dass homo/bi/lesbisch/trans/queer Leute benutzt werden können von jenen, die Kriege führen wollen, das heißt kulturelle Kriege gegen Immigrant_innen durch forcierte Islamophobie und militärische Kriege gegen Irak und Afghanistan. Während dieser Zeit [sic] und durch diese Mittel werden werden wir rekrutiert für Nationalismus und Militarismus. Gegenwärtig behaupten viele europäische Regierungen, dass ›unsere‹ schwul-lesbisch-queere Freiheit geschützt werden muss, und wir sind gehalten zu glauben, dass der neue Hass gegen Immigrant_innen nötig ist, um uns zu schützen. Deswegen muss man Nein sagen zu einem solchen Deal. Und wenn man Nein sagen kann unter diesen Umständen, das nenne ich Courage. Aber wer sagt Nein, und wer erlebt diesen Rassismus, wer sind die Queers, die wirklich gegen eine solche Politik kämpfen? Wenn ich also einen Preis für Courage annehmen würde, dann müsste ich den Preis direkt an jene weiterreichen, die wirklich Courage demonstrieren […].«9
8
http://2008.csd-berlin.de/index.php?m=15&id=27,
(zuletzt
abgerufen
am
20.08.2012), Hervorh. N.H. 9
Eigenes Transkript des Videoclips auf Youtube, der allerdings erst einsetzt, als Butler bereits spricht. http://www.youtube.com/watch?v=BV9dd6r361k (zuletzt abgerufen am 21.08.2012).
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Sie beendete ihre Rede damit, konkrete Gruppen und Organisationen zu benennen, die sie damit meinte, wie GLADT, SUSPECT, FeMigraS, ReachOut.10 Am selben Wochenende fand (auch in Berlin) ein Screening des Films ANGELA DAVIS: PORTRAIT OF A REVOLUTIONARY (USA 1972, R. Yolande DuLuart) im Kino Hackesche Höfe statt, in Anwesenheit der Protagonistin. Mitglieder der Gruppe SUSPECT nutzten die Gelegenheit – also eine jene der Gruppen, die Butler genannt hatte – Davis zu Butlers »Nein« zu befragen. Davis stellte daraufhin fest, dass dieses Nein »will act as a catalyst on the impact of racism even within groups that are considered progressive.«11 Und besonders vehement: »The assumption that people from the global south and people of colour are more homophobic is racist.«12 Sie bezieht sich im weiteren Verlauf des Filmgesprächs (das in dem hier transkribierten Youtube-Clip nur in Ausschnitten dokumentiert ist) dann noch auf eine andere Frage, der nach der Urgency der Kämpfe in den 1960er Jahren und beantwortet diese, indem sie auf die Geschichte von Kämpfen eingeht: »We wouldnt have the vocabulary and the expanded notion of social justice today if it weren’t for the struggles of the past. I’ve come to believe that when we win victories in movement struggles, that what we do is we change the whole terrain of struggle. So we dont simply add on. We don’t add on women to black people, LGBT people to Women and to black people, we don’t add on trans people and so forth. Each time we win a significant victory it requires us to revisit the whole terrain of struggle. And so therfore we have to ask questions about the impact of racism in gay and lesbian movements, we have to ask questions about the impact of racism in the women’s movement, we have to ask questions about the impact of sexism or
10 Siehe zu den Gruppen deren Webseiten: www.gladt.de, www.lesmigras.de, www.reachoutberlin.de (alle zuletzt abgerufen am 21.08.2012), sowie die Presseerklärung von SUSPECT zu Butlers Ablehnung des Preises: http://nohomo nationalism.blogspot.de/2010/06/judith-butler-lehnt-berlin-csd.html (zuletzt abgerufen am 21.08.2012). 11 Eigenes Transkript des ebenfalls auf Youtube verfügbaren Videomitschnitts, in dem Davis’ Antworten im Gespräch nach dem Film allerdings zusammengeschnitten sind: http://www.youtube.com/watch?v=T0BzKCRgnj8 (zuletzt abgerufen am 21.08.2012). 12 Ebd.
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misogynie in black communities and we have to ask questions about the influence of homophobia in black communities or communities of colour.«13
Es kann also nicht die eine ohne die andere Frage gestellt werden: die Trennung von Homophobie, Rassismus und Sexismus in gesonderte Bereiche, das Sortieren von Kämpfen in ›Zuständigkeitsbereiche‹ hat keine (politische) Zukunft. Was nicht heißt, eine Art Mega-All-in-One Lösung zu kreieren, sondern, mit Davis: Der Boden, das Terrain der Kämpfe muss immer neu vermessen werden, neu abgesteckt, neu beschrieben – und neu betreten. Das heißt beispielsweise, in den Blick zu nehmen, wie Homosexualität zum Besitzstand der phallischen Demokratie geworden ist (mit den Worten von Ghassan Hage14), also einer Demokratie, die man besitzt und nicht ›tut‹ und mit der dann Homosexualität ebenso wie die Rechte der Frauen zur Begründung von Kriegseinsätzen angeführt wird. Dies spielt dann wiederum in die Hände homonormativer Politik, die, wie die Veranstalter des CSD angesichts des kleinen Trüppchens jubelnder Butler UnterstützerInnen im Publikum, nichts anderes in Anschlag bringen konnten als »ihr werdet NIE die Mehrheit sein«.15 Ich werde an dieser Stelle den Streit um Butlers Ablehnung, wie die Vorwürfe, sie habe sich von den genannten Gruppen instrumentalisieren lassen (und damit eine Art internationales Polit-Hopping betrieben) und der Vorwurf, ihre Kritik am Kommerzialismus sei scheinheilig (als BusinessClass Reisende und Berkeley-Professorin), nicht weiter ausführen, obwohl gerade die Frage nach dem Ort des Sprechens (wann und wo bin ich wie politisches Subjekt, was verändert sich in welchem Kontext? Wieviel (orts-/zeit-)spezifisches Wissen ist vorauszusetzen, um eine politische
13 Ebd. 14 Hage, Ghassan: Warring Societies (and Intellectuals), in: Transforming Cultures eJournal 1(1), März 2006, http://epress.lib.uts.edu.au/journals/index.php/TfC/ article/view/202 (zuletzt abgerufen am 21.08.2012). 15 Dies ist am Ende des Videomitschnitts von Butlers Rede beim CSD zu hören. Renate Künast, die die Laudatio auf Butler hielt (allerdings deren Namen nicht einmal richtig auszusprechen vermochte), reagierte hingegen süffisant: Butler sei nicht Butler, wenn sie nicht an allem etwas zu kritisieren hätte (vgl. taz vom 20.6.2010, http://www.taz.de/!54307/ (zuletzt abgerufen am 20.08.2012).
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Kritik in den Plausibilitätsradius zu hieven? Oder ist dies gar nicht der richtige Maßstab?) unbedingt zu diskutieren wäre. Ebenso bleibt hier eine Auseinandersetzung mit Homonationalismus außen vor – so dringlich hier die Diskussionen sind und bleiben. Mich interessiert an dieser Stelle die Kritik, die Butler und Davis in Anschlag bringen, als Markierung eines Umschlagpunktes, der Gefahr läuft, denjenigen zu wiederholen, an dem der radikale Second Wave-Feminismus zum Opferfeminismus (auch als Cultural Feminism bezeichnet) wurde, und zwar begleitet von einem zweifachen Vergessen von Race-Genealogien, wie Gabriele Dietze das in ihrer Habilitationsschrift beschreibt.16 Dieses Vergessen bezieht sich auf die Geschichte gemeinsamer Kämpfe in den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre (auf die ja auch Angela Davis rekurriert) aber auch die geteilte Militanz noch der 1970er Jahre, die an eben jenem Punkt verloren ging, an dem der Opfer-Feminismus Sexismus gegen Rassismus auszuspielen begann, beispielhaft hier Shulamith Firestone, die Racism als »Sexism extended«17 begreift. Dietze formuliert: »Hier ist es zu einer entscheidenden Verschiebung der Akzente gekommen. In der ersten Frauenbewegung hatte man in einer Parallel- oder Analogie-Konstruktion argumentiert. Die Frau war rechtlos wie ein Sklave, die Ehe war ein Institut wie die Sklaverei. Diese Logik hat sich mit dem Feminismus der zweiten Welle grundsätzlich umgekehrt. In der neuen Sichtweise wird das Ursprungsmodell ›Rassismus‹ zu einer abgeleiteten Form des Sexismus. Die Beziehung zwischen Rassismus und Sexismus hat sich von einer äußeren rechtlichen zu einer inneren psychologischen Analogie gewandelt.«18
Eben jene innere Haltung, die auch den Migrant_innen, den Moslems (und denen, die dafür gehalten werden) usw. auch heute als homophobes Defizit kollektiv unterstellt wird.19
16 Dietze, Gabriele: »Weiße Frauen in Bewegung«, Bielefeld: transcript 2013. 17 Ebd., S. 338. 18 Ebd., S. 338-339. 19 Die Kritik an der Projektion auf den Islam als pauschale Verkörperung von Sexismus, Misogynie, Homophobie darf jedoch nicht dabei stehen bleiben, diese Projektion als solche zu entlarven. Es kann nicht darum gehen, auf diesen neoorientalistischen Diskurs nur diskursanalytisch zu reagieren oder gar mit einem
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Die Kämpfe, auf die sich Judith Butler in Gender Trouble bezieht, die den Essentialismus des Subjekts ›Frau‹ auf seine Ausschlüsse hin dekonstruiert haben, waren wie bereits erwähnt die Kämpfe, die Theorie und die Texte von Schwarzen Feminist_innen, von Women of Color-Feminist_innen. Und genau daran erinnert Davis mit Nachdruck: Am Ende des Ausschnitts der Diskussion im Anschluss an die Filmvorführung, der auf Youtube zu sehen ist, hält Davis fest: Die Arbeit, die zu der Erkenntnis dieses »cross hatch or overlaying«, des Überlappens, Verknüpfens, des gegenseitig impliziert Seins von beispielsweise Rassismus und Sexismus geführt hat, verdanken wir »women of color feminists«.20 Und interessanterweise war es auch gerade dieses Denken, auf das sich Butler bezogen hat, und das dann doch bei dem queer re-reading von Feminismen, der Gegenüberstellung von Sex(ualität) und Geschlecht, mit dem Gender Trouble so sehr in Verbindung gebracht wird, zumindest in der deutschsprachigen Diskussion, herausgefallen ist. Und so möchte ich an dieser Stelle noch einen anderen Umschlagspunkt aufgreifen, der fast eine weitere Dekade später stattgefunden hat, und für mich durch das antirassistische Projekt Kanak Attak markiert ist. Kanak Attak begann 1998 mit einem Manifest, das nicht nur damals wirklich zündend war (heute würde man sagen, ›it went viral‹) sondern auch heute in vielerlei Hinsicht nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat (und ich darf
überkompensierenden Diskurs der idealisierenden Gegendarstellung. Was nötig ist, ist eine Kritik, die sich den Zugang zur Analyse von Gewalt, Unterdrückung und Macht nicht dadurch versperren lässt, dass sie die zugewiesenen Positionen des Sprechens annimmt – auch wenn dies komplexere Analysen erfordert! Dass es durchaus möglich ist, den Rassismus deutschen Mehrheitsgesellschaft in Verbindung mit Sexismus auch (und nicht nur!) in sogenannten migrantischen Communities zu kritisieren, haben feministische Migrant_innenorganisationen seit Jahrzehnten vorgeführt; und zugleich gezeigt, dass der antimuslimische Pseudodiskurs um den patriarchalen Migranten nur zu Entrechtung und Depolitisierung führt. Eine Depolitisierung, die sich im verstörenden Schulterschluss mit anderen, auf identitäre Festlegungen eingeschossenen ›kritischen‹ Bewegungen wie den derzeit virulenten Critical Whiteness-Umtrieben befindet. 20 http://www.youtube.com/watch?v=T0BzKCRgnj8 21.08.2012).
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das so enthusiastisch benennen, weil ich mit dem Schreiben desselben nichts zu tun hatte). Darin heißt es wie folgt: »Kanak Attak ist ein selbstgewählter Zusammenschluß verschiedener Leute über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter ›Identitäten‹ hinweg. Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder nach der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft. Unser kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen. Kanak Attak ist anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnt jegliche Form von Identitätspolitiken ab, wie sie sich etwa aus ethnologischen Zuschreibungen speisen.«21
und es endete: »Kanak Attak bietet eine Plattform für Kanaken aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, denen die Leier vom Leben zwischen zwei Stühlen zum Hals raushängt und die auch den Quatsch vom lässigen Zappen zwischen den Kulturen für windigen Promokram halten. Kanak Attak will die Zuweisung von ethnischen Identitäten und Rollen, das ›Wir‹ und ›Die‹ durchbrechen. Und weil Kanak Attak eine Frage der Haltung und nicht der Herkunft oder der Papiere ist, sind auch Nicht-Migranten und Deutsche der n2-Generation mit bei der Sache. Aber auch hier wieder ¡ojo! Die bestehende Hierarchie von gesellschaftlichen Existenzen und Subjektpositonen läßt sich nicht einfach ausblenden oder gar spielerisch überspringen. Es sind eben nicht alle Konstruktionen gleich. Damit bewegt sich das Projekt in einem Strudel von nicht auflösbaren Widersprüchen, was das Verhältnis von Repräsentation, Differenz und die Zuschreibung ethnischer Identitäten anbetrifft. Dennoch: Wir treten an, eine neue Haltung von Migranten aller Generationen auf die Bühne zu bringen, eigenständig, ohne Anbiederung und Konformismus. Wer glaubt, daß wir ein Potpourri aus Ghetto-HipHop und anderen Klischees zelebrieren, wird sich wundern. Wir sampeln ganz selbstverständlich verschiedene politische und kulturelle Drifts, die allesamt aus einer oppositionellen Haltung heraus operieren. Wir greifen auf einen Mix aus Theorie, Politik und künstlerischer Praxis zurück. Kanak Attak sinniert nicht über Kulturkonflikte, lamentiert nicht über fehlende Toleranz.
21 http://www.kanak-attak.de/ka/about.html (zuletzt abgerufen am 21.08.2012).
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Wir äußern uns: mit Brain, fetten Beats, Kanak-Literatur, audio-visuellen Arbeiten und vielem mehr. Dieser Song gehört uns!«22
In dem Manifest – das ich hier in ziemlicher Länge zitiert einfach für sich sprechen lasse – wird ein Bezug zum Feld der Kultur zum Ausdruck gebracht – als politische Arena – die ebenfalls eine wichtige Demarkationslinie kennzeichnet. Und die eine weitere Größe, ohne die ›Identitätspolitik revisited‹ nicht stattfinden kann, ins Spiel bringt: Stuart Hall. Auch Hall machte sich insbesondere in den 1990er Jahren stark dafür, dass das Feld der Kultur notwendig politisch zu begreifen sei. 1996 fragte ihn Christian Höller in Texte zur Kunst in einem Interview: »Aus welchen Notwendigkeiten heraus wurde Identität im Kontext von kultureller Produktion zu einem derart wichtigen Thema?«23, worauf Hall antwortet: »Wir waren seit Beginn an Kultur als einer Produktion von geteilten, gemeinsamen Bedeutungen interessiert, worauf sich auch ein Aspekt von Kollektivität gründete. Es ging also immer eher um Communities, Gruppen, Subkulturen usw., nicht so sehr um subjektive Identitäten oder Identifikationen. Wenn man das Hauptaugenmerk auf das Kulturelle im Gegensatz zum bloß Sozialen legt, muß man sich zwangsläufig mit Fragen der Bedeutung befassen, d. h. wie Individuen ihrem Alltag und ihrem Platz darin Sinn geben. Gleichzeitig sind wir aber davon ausgegangen, daß diese Prozesse nicht von vornherein fixiert seien, festgeschrieben durch eine Klassenidentität oder eine nationale Zugehörigkeit. Vielmehr sind es aktive Praktiken, die kulturelle Bedeutungen erzeugen.«24
Heute würde ich sagen, dass die politische Theoretisierung des Kulturellen nicht nur, wie es bei Kanak Attak hieß, auf die Artikulation des zeitgenössischen Rassismus als kulturellem Rassismus zurück zu führen ist, und auch nicht nur den Zweifeln am Determinismus u.a. des Marxismus, von denen Hall spricht, sondern auch auf die Aids-Krise und den damit zusammenhängenden queeren politischen Praktiken in den frühen 1990er Jahren.
22 Ebd. 23 Höller, Christian/Hall, Stuart: Terrains der Verstörung. Ein Interview mit Stuart Hall von Christian Höller, in: Texte zur Kunst Nr. 24, November 1996, S. 47. 24 Ebd., S.47-48.
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Und so kennzeichnen meine Jahre mit Kanak Attak ebenfalls meine Wendung hin zu den öffentlichen Sphären der Kultur, mit einem intensiven Zwischenstop bei queeren Filmfestivals, aber das ist ein anderes Thema, wenn auch eines, das viel mit der Problematik des Identitainments zu tun hat, mit den Amüsiermeilen der Identitätsbespiegelung.25 Aber nochmals kurz zurück zu Stuart Hall, der, so denke ich, eigentlich das Entscheidende längst beschrieben hat, in seiner Unterscheidung von »Identität Eins« und »Identität Zwei«26, wobei erstere auf das Sein, und auf Einheit und Schließung abstellt und letztere auf das Werden, auf Widersprüchlichkeiten, Diskontinuitäten und Unabgeschlossenheit. Identitäten, so Hall, sind »die Namen, die wir unterschiedlichen Verhältnissen geben, durch die wir positioniert sind, und durch die wir uns selbst anhand von Erzählungen über die Vergangenheit positionieren"«,27 sie sind die »instabilen Identifikationspunkte oder Nahtstellen, die innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden. Kein Wesen, sondern eine Positionierung. Daher gibt es immer eine Identitätspolitik, eine Politik der Positionierung.«28 Dieses Zitat Halls ist hier auch als eine (wenn auch kleine) Intervention gedacht in die gegenwärtigen Fehllektüren (v.a. im Kontext deutschsprachiger Critical Whiteness Politiken) von Positionierung als Mix aus Narzissmus und Festschreibungsterror, in dem das Politische als Evakuation von Konflikten, Bewegungen und Kämpfen imaginiert wird, und die auch ein Ergebnis sind von Identitätspolitik verstanden lediglich als Artikulation von ›Identität Eins‹, eben jenes letztlich politisch entmächtigende Festschreibung in ›Die‹ und ›Wir‹, gegen die das Manifest von Kanak Attak
25 Meine Abwendung war der Frustration mit dem konzeptuellen Inhaltismus dieses Festivalkontextes geschuldet, dem Kaprizieren auf Identitätsbespiegelung, aber vor allen Dingen der Weigerung der meisten Festival-Protagonist_innen, sich überhaupt nur mit der Frage (die meiner Ansicht nach kontinuierlich gestellt werden müsste in der Festivalorganisation und der Programmgestaltung): Was ist ein queeres Filmfestival, was könnte es sein? auseinandersetzen zu wollen. 26 Höller/Hall 1996, S. 51. 27 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität, Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument, 1994, S. 29. 28 Ebd.
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angeschrieben hat. Genau auf diesen Punkt insistiere ich weiterhin: auf die Notwendigkeit – und die Realität – von ›Identität Zwei‹, von Identität als plural, kollektiv, umkämpft und in Bewegung – und gehe damit (zurück) ins Kino.
U N M ÖGLICH
SEIN
Kino begreife ich hier – ähnlich wie das französische cinéma – nicht nur als die Gesamtzahl aller Filme oder Videos, als die Gesamtheit der Orte, die als Kino definiert sind, sondern mit Thomas Elsaessers interessanter Umdeutung des Deleuzschen Terms »cinema effect« als kulturelle Kraft, die all das beinhaltet, aber gerade auch dann existiert, wenn diese Materialitäten dessen, was man so gemeinhin als Kino benennt, nicht da sind. er schreibt: »In making much of human life and history ›visible‹, the cinema has also created new domains of the ›invisible‹.Key elements of cinematic perception have become internalised as our modes of cognition and embodied experience, such that the ›cinema effect‹ may be most present where its apparatus and technologies are least perceptible. […] The cinema is part of us, it seems, even when we are not at the movies, which suggests that in this respect, there is no longer an outside to the inside: we are already ›in‹ the cinema with whatever we can say ›about‹ it!«29
Das Kino ist in diesem Sinne eine der Kräfte in der »Aufteilung des Sinnlichen«, wie das einer der Protagonist_innen zeitgenössischer Diskussionen um die Verbindung von Kunst und Politik, Jacques Rancière, nennt. Mit der Aufteilung des Sinnlichen beschreibt er jene Ästhetik (im Sinne von Wahrrnehmungsweise), die jeder Politik zugrunde liegt: »Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Eine bestimmte Betätigung legt somit fest, wer fähig oder unfähig zum Gemeinsamen ist. Sie definiert Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum und
29 Elsaesser, Thomas: The New Film History as Media Archeology, in: Cinémas, Vol. 14, Nr. 2-3, 2004, S. 76.
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bestimmt, wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer nicht, etc. Der Politik liegt mithin eine Ästhetik zugrunde [...].«30
Kunst ist daher immer Politik, weil sie (mit) aushandelt, wie etwas als Sagbzw. Sichtbar gilt und was Politik ist. Das Kino spielt darin eine wesentliche Rolle, denn so Rancières Argument, »Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann.«31 Die Fiktionen, auch des Kinos, sind jeweils materielle Neuanordnungen von Zeichen und Bildern und damit Beziehungsstifter zwischen dem was man sieht und dem was man sagt, »zwischen dem was man tut und tun kann«32. In der Ausgabe 15 des Onlinejournals von e-flux schreibt Hito Steyerl, dass Identität immer mit etwas ist, genauer immer mit einem Bild. Ihr geht es in ihrem Text um das Bild als Ding, das eine eigene Agency entwickelt. »Identification is always with an image«33, und zwar eben nicht als Repräsentation, so argumentiert sie, sondern als Objekt, als Ding. Aber wer will schon ein JPEG sein, so ihre Frage. Steyerl geht es in diesem Text letztlich um die Partizipation der Gegenstände, der Dinghaftigkeit von Objekten. Das Bild, das heruntergeladen, kopiert, bearbeitet wird und zirkuliert. Und damit in seiner Dinghaftigkeit, so würde ich hinzufügen, auf seiner Opazität besteht. Das Bild ist nicht nur Bild von etwas, das den Blick quasi durch es hindurch auf etwas zu sehen gibt, wie der Transparenzgedanke es denkt, sondern es ist immer auch Bild an sich und verwehrt sich einer inhaltistischen Betrachtungsweise. So fragt auch Maurizio Lazzarato wieso das Paradigma der Repräsentation »weder in der Politik funktioniert noch in den künstlerischen Ausdrucksweisen, und hier insbesondere in der Produktion von Werken, die bewegte Bilder einsetzen?«34 Er setzt als Gegenpol das
30 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books, 2006, S. 26. 31 Ebd., S. 61. 32 Ebd., S. 62 33 Steyerl, Hito: A Thing Like You and Me, in: e-flux Journal, Nr. 15, 04/2010, http://www.e-flux.com/journal/a-thing-like-you-and-me/, (zuletzt abgerufen am 20.08.2012). 34 Lazzarato, Maurizio: Kampf, Ereignis, Medien, in: Transversal, 05/2003, http://eipcp.net/transversal/1003/lazzarato/de (zuletzt abgerufen am 21.08.2012).
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Paradigma des Ereignisses, in dem »die Bilder, Zeichen und Aussagen dazu beitragen, die Welt sich ereignen zu lassen.«35 Lazzarato argumentiert: »dass Bilder, Zeichen und Aussagen nicht irgendetwas repräsentieren, sondern mögliche Welten schaffen. Bilder, Zeichen und sprachliche Aussagen sind also das Mögliche, mögliche Welten, die die Seelen (die Gehirne) affizieren und sich in den Körpern verwirklichen müssen. Bilder, Zeichen und Aussagen intervenieren sowohl bei den unkörperlichen als auch bei den körperlichen Transformationen. Ihre Wirkungsweise ist die der Erschaffung und Realisierung von Möglichem, und nicht die der Repräsentation. Sie tragen zu den Metamorphosen der Subjektivität bei, und nicht zu ihrer Repräsentation.«36
Ein Beispiel dafür, wie dies zu verstehen ist, findet sich in Brigitta Kusters Text »Die Grenze filmen«37 in der sie eine Vielzahl von Dokumentar- und Fernsehfilmen, die Migration ›zeigen‹ analysiert, und wie diese das Ereignis Migration zum Verschwinden bringen beziehungsweise an der Herstellung des Migrationsregimes / der Grenze partizipieren. Und welche Filme das gerade nicht tun, indem sie das videophilosophische Versprechen auf Einmischung einlösen und indem sie – und das bringt mich wieder an den Anfang zurück – die Perspektive der Migration einnehmen, diese als (soziale, politische) Bewegung begreifen und entsprechend als Ereignis zeigen und nicht einfach nur ein weiteres (viktimisierendes, ausstellendes, kontrollierendes, rezentrierendes) Bild der Migration produzieren. Jene Perspektive also, die sich eigentlich schon an Bruce Lee ausführen liesse, an seiner Biographie, seinen Filmfiguren, seinen Filmen, dem Genre der Bruceploitation-Filme,38 den Zirkulationen des HongKong Kinos entlang der Routen
35 Ebd. 36 Ebd. 37 Kuster, Brigitta: Die Grenze filmen, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld: transcript, S. 187-201. 38 Also jenen Filmen, die nach dem frühen Tod Bruce Lees 1973 in China, Hong Kong und Taiwan entstanden und deren Erfolg sich Lees Ruhm verdankten. Darin traten Schauspieler auf, die Lee ähnlich sahen, und für die ähnlich klingende Namen erfunden wurden, wie Bruce Li, Bruce Le, Bruce Thai, Bronson Lee usw.
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der Migration und dessen Globalisierung auch von unten, die durch die neueren Bewegungen von Bollywood und heute Nollywood fast in Vergessenheit geraten sind (an denen sich das jedoch ebenso gut exemplifizieren ließe). Oder anhand der Bruce-Lee-Zitate und -Zirkulationen, wie hier anhand von Maria Thereza Alves’ Arbeit, anhand seiner Stimme, dem Kampfschrei, dem Kiai, den wiederum die Autorin, Filmemacherin und Produzentin Merle Kröger in ihren Krimis39 mit dem Filmschnitt verbindet und zu einer Erzähltechnik umfunktioniert, die eine Vielzahl von Perspektiven und transnationalen Verbindungslinien ermöglichen. Und über diese Verknüpfung ließe sich wieder auf die Notwendigkeit des Schreibens von Geschichten angesichts der Abwesenheit von Migration zumindest in Deutschland in den offiziellen Geschichtsbüchern, von der Geschichte mit grossem G, hinweisen – und damit auf ein Argument, das ich meinem Promotionsprojekt zugrunde gelegt habe.
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AUF
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Die Wendung, mit dem Bild gegen den Inhaltismus zu denken und auf die grundsätzliche Opazität des Bildes zu bestehen, ruft auch jenes Recht auf Opazität auf, das Édouard Glissant in seinem Entwurf eines relationalen Denkens bzw. Seins als Weltverhältnis entwirft: »Agree not merely to the right to difference but, carrying this further, agree also to the right to opacity that is not enclosure within an impenetrable autarchy but subsistence within an irreducible singularity. Opacities can coexist and converge, weaving fabrics. To understand these truly one must focus on the texture of the weave and not on the nature of its components. For the time being, perhaps, give up this old obsession with discovering what lies at the bottom of natures.«40
Opazität bedeutet hier, sich der Vereindeutigung zu widersetzen, die sich auch in Sichtbarkeitsvorstellungen ereignet. Deutlich wird dies besonders
39 Kröger, Merle: Cut!, Hamburg: Argument 2003, und dies.: Kyai!, Hamburg: Argument 2006 sowie dies: Grenzfall, Hamburg: Argument 2012. 40 Glissant, Édouard: Poetics of Relation. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1997, S. 190.
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an zwei ›Figuren‹, beziehungsweise umkämpften Feldern, mit denen ich mich in meiner Dissertation auseinander gesetzt habe: dem Schleier und der illegalisierten Migration. Der Schleier, auf den ich hier abschliessend kurz eingehen will, auch weil ich denke, dass es entscheidende Parallelen zwischen aktuellen Kopftuchdebatten und Homophobie-Diskussionen gibt, ist dabei »weniger [als] Kleidungsstück denn Schnittstelle«41 zu begreifen. Er ist »im elementaren Sinne eine Anschauungsform. Der Blick auf den Gegenstand bricht sich an dem Widerstand seiner Textur und erschafft ein Bild aus Wahrnehmung, Wahrnehmungsirritationen und imaginären Supplementen der entzogenen Wahrnehmung«42 wie Patricia Oster in Der Schleier im Text ausführt. Der Schleier gehört zu jenen Gewebemetaphoriken, die den »Text als Textur fruchtbar machen«.43 Der Schleier als Anschauungsform heißt demnach, die Wahrnehmungsform des Schleiers mit dem Prozeß der Lektüre an sich zu vergleichen, die Aktualisierung des Textes durch den/die Leser/in: »Denn der Leser wird durch ein Textgewebe konditioniert, das ihn anregt, imaginäre Projektionen erst zu erzeugen. Insofern kann der Schleier als ein Bild für den Text und seine Aktualisierung durch den Leser interpretiert werden. Der literarische Textbegriff wird dabei um das Moment des Imaginären und dessen ästhetische Realisierung erweitert.«44
Oster bezieht sich hier dezidiert auf Bildtheorien, die das Bild in struktureller Nähe zur Vorstellung des Schleiers beschreiben.45 Der Schleier verweist damit auf jene Aktualisierung durch das Sehen, das Zu-Sehen, das FilmeSehen, das An-Sehen, welches Dorothée Kreuzer im Sinne des islamischen Bilderverbots als »Dekonstruktion der filmischen Abbildlichkeit zum ›als
41 Wahlster, Barbara: Die Kamera und der Schleier, in: Gläser, Helga/Groß, Bernhard/Kappelhoff, Hermann (Hg.): Blick Macht Gesicht. Berlin: Vorwerk 8 2001, S. 260. 42 Oster, Patricia: Der Schleier im Text, München: Fink 2002, S.9, Hervorh. N.H. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 9-10. 45 Vgl. ebd., S.14.
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ob‹« und »Sinnbildung durch Wiederholung und Variation«46 entworfen hat. In diesem Sinne sind visuelle Strategien der Unsichtbarkeit, der Opazität, der Vermitteltheit im Bild zu denken. Es geht also um Bilder, die an die Stelle von Inhaltismus und Illustration (ins-Bild-Setzen) etwas vorenthalten. Anstatt den Schleier als das zu denken, welches die Wahrheit verdeckt, »die erst entschleiert werden muß«47, steht er so für das »Inbild eines durch die Vorstellungskraft geweckten Imaginären, in dem sich über jede Realität hinausreichende Vollkommenheit konkretisieren kann.«48 Und damit schliesse ich mit dem Hinweise auf eine weitere Videoarbeit, Oliver Husains GREEN DOLPHIN (Kanada 2008, 15min). Husain ist in Offenbach aufgewachsen, hat dort an der Hochschule für Gestaltung Experimentalfilm studiert und ist mit Musikvideos, Installationen und Arbeiten zwischen Performance und Film bekannt geworden. Er lebt heute vor allem in Toronto, wenn er nicht gerade mit Visumsproblemen kämpft oder andernorts eine ›Residency‹ hat.49 In GREEN DOLPHIN erschafft Husain ein nahtloses Kontinuum zwischen Kuala Lumpur, Toronto und Neufundland, indem er eine Philippinisch-Kanadische Amateurtänzerin Lana Turner channeln lässt, und transnationale Ökonomien wie christliche Missionen, Heiratsmärkte, postalische Kommunikation und nicht zuletzt das Kino ins Bild setzt. Verwoben wird das Ganze mit Texturen wie einem grünen Kopftuch, einem roten Tanzkleid, einem Nonnenschleier und der schieren Kraft der (fiktiven? echten? was macht hier den Unterschied?) Erzählung, in der Zeit und Ort vollständig diasporisch werden. Husain ist jedoch nicht einfach ein ›indisch-deutscher Videokünstler‹, in dessen Arbeiten sich Biografisches ausdrückt, das dann genau darin aufgehoben ist. Er ist aber auch nicht NICHT ein indisch-deutsch-kanadischer Videokünstler, dessen Arbeiten unabhängig von eben jenem Erfahrungsraum abgekoppelt ist. GREEN DOLPHIN ist vielmehr eine jener Arbeiten, die
46 Kreuzer, Dorothée: Die Kollision von Transparenz und Schleier. In: Valentin, Joachim (Hg.): Weltreligionen im Film. Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus, Buddhismus, Marburg: Schüren, 2002, S. 97. 47 Oster 2002, S. 19. 48 Ebd. 49 Mehr Informationen zu seinen Arbeiten findet sich auf der Webseite von Oliver Husain: www.husain.de (zuletzt aufgerufen am 02.01.2013).
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die Perspektive der Migration einnimmt. Was hier heißt: Migration entfaltet sich als Erzählraum. Dass Migration erzählt werden muss, ist schon fast ein Gemeinplatz: nur die ›richtige‹ Geschichte garantiert den Grenzübertritt, ermöglicht die formale Anerkennung, z.B. als Flüchtling. Geschichten transportieren zugleich Informationen, dienen dazu, Verbindungslinien zu stricken, Brüchen Ausdruck zu verleihen, dienen der Weitergabe. Migration ist immer auch ein genealogisches Unterfangen, es geht dabei um Unterbrechungen, Neuzusammensetzungen, um die komplexen Aushandlungen von Herkunft und Gedächtnis, das Überliefern, das gerade nicht als das Festschreiben von Tradition zu begreifen ist, wie Jacques Hassoun in »Schmuggelpfade der Erinnerung« hervorhebt50. Die Erzählungen der Migration dienen nicht der Verfestigung, zu ihnen gehören Auslassungen, Entfernungen51 und Destabilisierungen genauso wie die bekannten Narrative von Ursprung, Gerichtetheit und Ankunft: »I often begin with a portrait of a person or place. The outcome is a video or film, a text or a textile; something foldable that can be stored away easily, or something standing on thin chopstick legs. Something that might collapse under the eyes of the viewer – in a film, this could be its fragile narrative structure. The viewers are left with holding up their side by themselves. In this way, I am constructing attractive traps«52
Aus Verunsicherungen werden visuelle Verlockungen für das Zusehen, aus denen nicht nur das Eine (identitäre), sondern auch das UnMögliche hervorgehen kann.
50 Vgl. Hassoun, Jacques: Schmuggelpfade der Erinnerung, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Nexus, 2003. 51 Z.B. das Verbrennen der Papiere, wie die jungen Brûleurs aus dem Maghreb, die, seit Spanien 1991 Schengen beigetreten ist, auf die Visumspflicht mit dem Auslöschen des Nachweises ihrer Herkunft im Versuch, nach Europa zu gelangen, reagiert haben. 52 Artist Statement, Webseite des Künstlers, http://www.husain.de/cv.html (zuletzt abgerufen am 22.08.2012).
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Abbildung 2: GREEN DOLPHIN, Videostill, Courtesy d. Künstler
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L ITERATUR Bowman, Paul: Sick Man of Transl-Asia. Bruce Lee and Queer Cultural Translation, in: Social Semiotics, Vol. 20, Nr. 4, September 2010, S. 393-409. Bowman, Paul: Theorising Bruce Lee, Amsterdam/New York: Rodopi 2010. Bowman, Paul: Beyond Bruce Lee, London/New York 2012 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. Elsaesser, Thomas: The New Film History as Media Archaeology, in: Cinémas 14, Nr. 2-3, 2004 S. 75-117. Glissant, Édouard: Poetics of Relation. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1997. Hage, Ghassan: Warring Societies (and Intellectuals), in: Transforming Cultures eJournal 1(1), März 2006, http://epress.lib.uts.edu.au /journals/index.php/TfC/article/view/202http://epress.lib.uts.edu.au/jour nals/index.php/TfC/article/view/202 (zuletzt abgerufen am 21.08.2012). Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität (1994), Hamburg: Argument-Verlag, 1994. Hassoun, Jacques: Schmuggelpfade der Erinnerung, Basel/Frankfurt/M.: Stroemfeld/Nexus, 2003. Höller, Christian/Hall, Stuart: Terrains der Verstörung. Ein Interview mit Stuart Hall von Christian Höller, in: Texte zur Kunst Nr. 24, November 1996, S. 47-57. Kreuzer, Dorothée: Die Kollision von Transparenz und Schleier. In: Valentin, Joachim (Hg.): Weltreligionen im Film. Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus, Buddhismus, Marburg: Schüren 2002, S.89-98. Kröger, Merle: Cut!, Hamburg: Argument 2003. Kröger, Merle: Kyai!, Hamburg: Argument 2006. Kuster, Brigitta: Die Grenze filmen, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld: transcript, S. 187-201. Lazzarato, Maurizio: Kampf, Ereignis, Medien, in: Transversal, 05/2003, http://eipcp.net/transversal/1003/lazzarato/de (zuletzt abgerufen am 21.08.2012). Oster, Patricia: Der Schleier im Text, München: Fink 2002.
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Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006. Rinck, Monika: Neues von der Phasenfront, Theoriecomic, Berlin: b_books 1998. Steyerl, Hito: A Thing Like You and Me, in: e-flux Journal, Nr. 15, 04/2010, http://www.e-flux.com/journal/a-thing-like-you-and-me/, (zuletzt abgerufen am 20.08.2012). Wahlster, Barbara: Die Kamera und der Schleier, in: Gläser, Helga/Groß, Bernhard/Kappelhoff, Hermann (Hg.): Blick Macht Gesicht. Berlin: Vorwerk 8 2001, S. 248-282.
V IDEOGRAPHIE BRUCE LEE IN THE LAND OF BALZAC (Frankreich 2007, R. Maria Thereza Alves, DV, 2min) GREEN DOLPHIN (Kanada 2008, R. Oliver Husain, DV, 15min)
A BBILDUNGEN Abb. 1: Videostill aus BRUCE LEE IN THE LAND OF BALZAC, Courtesy d. Künstlerin. Abb. 2: Videostill aus GREEN DOLPHIN, Courtesy d. Künstler.
Subjektivität und Selbstreflexion Drei Formen von »Film-Ichs« E VA K UHN
Als subjektive Einstellung wird ein Stück Film bezeichnet, welches eine spezifische Wahrnehmung aus der Perspektive eines bestimmten Subjektes präsentiert. Christian Metz unterscheidet innerhalb seiner Kategorie von subjektiven Bildern zwischen den »optisch-akustischen« und den »mentalen Fokussierungen«, wobei sich die filmische Einstellung im ersten Fall als Blick- oder Hörfeld eines Ichs, im zweiten als ein inneres Bild, als ein imaginiertes, ein geträumtes oder erinnertes Bild ausweist.1 Die subjektive Einstellung eröffnet in und hinter dem, was sie zu zeigen gibt einen unsichtbaren Innenraum, umspielt den blinden Fleck der Wahrnehmung, Zentren der Erfahrung und koppelt die wahrnehmenden und erlebenden Instanzen an sich zurück. Das Subjekt ist selbst nicht sichtbar, doch liegt es dem Gezeigten zu Grunde und infiziert die filmische Einstellung durch seine Präsenz, begleitet das Gezeigte als Blick, als Geste, als Bewusstsein oder als Aufmerksamkeit. Die subjektive Einstellung bezieht sich explizit auf seine Quelle, den wahrnehmenden, bild- und tongenerierenden Ursprung und ist daher ausdrücklich und sichtbar Hervorgebrachtes. Den Film unter den Bedingungen von Subjektivität zu verstehen kann bedeuten, ihn auf den Akt der Produktion zu besinnen und seinen Status als
1
Christian Metz: Subjektive Bilder, subjektive Töne, »Point-of-view«, in: ders.: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster 1997, S. 96115.
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Artefakt, als gefilmtes und montiertes Konstrukt zu bedenken. Die materielle Filmspur ist in diesem Sinne eine optisch-chemische Hinterlassenschaft einer mehr oder minder aktiven Aufzeichnung. Der Film ist daher Index, der nicht nur durch das Bild hindurch in ein Außen zeigt auf seinen Gegenstand, sondern auch in jenes Off verweist, das nach Philippe Dubois als »Äusserungs-Off« bezeichnet wird, als »ein Off, das nicht mehr seitlich ist und über die Ränder des Rahmens hinausreicht, sondern ein Off, das in der Tiefe des Bildes arbeitet oder vielmehr in seinem Vordringen […] nach vorn […], auf das zu, was im Grund am Ursprung des [bewegten] Schnitts ist.«2
Dieses Off kann auf unterschiedliche Art und Weisen besetzt werden wir stellen an den Ursprung den herstellenden Akt beziehungsweise jene standort- und kontextgebundenen menschlichen Handlungen und technischen Leistungen, die den Film hervorgebracht haben. Bekanntlich hat der Film nun aber die Tendenz und vor allem die Tradition, während des Produktions- und Projektionsprozesses die Spuren seiner Herstellung zum Verschwinden zu bringen und dadurch den Anschein von Objektivität zu erwecken. Endlich habe ein teilnahmsloser Empfänger, ein sehendes Objekt, ein scheinbar neutraler Apparat das unzulängliche und stets mit dem Mentalen korrespondierende menschliche Auge ersetzt und das kühle Dokument, die objektive Sicht ermöglicht. Dank der mechanischchemischen Herstellung sei es möglich geworden, das Bild vom stets voreingenommenen Blick des Menschen und von seinen bastelnden Händen zu distanzieren und uns zu einer perfekten Perspektive, einer gänzlich ungestörten und scheinbar unbegrenzten Durch-Sicht zu verhelfen… »Die Fotografie als Zeichenstift der Natur« so lautet die Pointierung der klassischen Mythen, die mit William Fox Talbot geboren wurden und besonders auch von Praktikern und Theoretikern des Dokumentarfilms in verschiedensten Zeiten und Strömungen immer wieder zugezogen wurden, um einen Wahrheitsanspruch zu postulieren.3 Mit der Perfektionierung der
2
Philippe Dubois: Der fotografische Akt: Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam 1998, S. 179.
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Vgl. Volker Wortmann: Authentisches Bild und authentisierende Form. Köln 2003.
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Technik, der Entwicklung von Continuity-Schnittverfahren und anderen Regelwerken zur Konstruktion einer Illusion von Wirklichkeit und Wirklichkeiten bis hin zur Konzeption der Kinosäle wurde und wird noch immer am Transparenzideal des filmischen Dispositivs gearbeitet, um den Fokus in die Welt des Dargestellten zu lenken und das Publikum auf diese Weise in der Wirklichkeit, die der Film schafft und zeigt, zu bannen. Das Gezeigte löst sich von der Geste des Zeigens los und die Dinge erscheinen entkoppelt von den herstellenden Instanzen auf der verschwindenden Leinwand wie von selbst, als scheinbar substanzialisierte, eigenständige Objekte, die sich mit dem »Ton der Evidenz« an das Publikum und dessen »Illusionsbereitschaft« wenden.4 Auch eine Story soll sich, nach klassischen Drehbuchanleitungen, wie von selbst erzählen und als in sich funktionierende Wirklichkeit plausibel werden. Das klassische Erzählkino steht in Hinsicht auf die Darstellung von Subjektivität im Konflikt mit dem Transparenzideal. Denn jeglicher Verweis auf das Dispositiv ist eine Störung der Illusion und unterbricht den scheinbar selbsttätigen Lauf der Dinge. Im Gegensatz zu einem Text kann der Film nicht »Ich« sagen, so Brinckmann in ihrem Aufsatz »Ichfilm und Ichroman«, in welchem die Problematik des subjektiven Erzählens im narrativen Spielfilm verhandelt wird.5 In der Sprache existiert durch die Ichform die Möglichkeit, eine Aussage als die unsere oder die seinige oder die ihrige zu markieren und sie dadurch mit ihrem Erzeuger zu verkoppeln, ohne die Fiktion zu zerstören. Solche Zuschreibungen erfolgen im Medium des Films nicht selbstverständlich. Wenn, dann könnte der Film »Ich« zeigen, aber in dem Moment handelt es sich nicht mehr um eine subjektive Einstellung, da das Subjekt ja gezeigt und dadurch gewissermaßen objektiviert wird. Im Gegensatz zu Literatur, Malerei und anderen Kunstgattungen ist der Film bei der Produktion notwendigerweise mit der Wahrnehmung der äußeren Welt beschäftigt, wobei die Objektivierung der Welt durch das Objektiv und die Tendenz filmischer Bilder, sich im Herstellungsprozess und in der Projektion von den zeigenden Instanzen zu entkoppeln, im
4
Christian Metz: Zum Realitätseindruck im Kino, in: ders.: Semiologie des
5
Christine Noll Brinckmann: Ichfilm und Ichroman, in: dies.: Die anthropomor-
Films, München 1972, S. 22. phe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Zürich 1998, S. 82113.
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Zusammenhang mit der Nachahmung einer subjektiven Sichtweise und der Darstellung von Subjektivität eine der Hauptschwierigkeiten darstellt. Soll im Film der Eindruck von Subjektivität entstehen, so muss dies ist die These dieser objektivierenden Tendenz und Tradition des Films entgegengewirkt werden. Sollen filmische Passagen die Qualität von subjektiven Prozessen annehmen und Einstellungen als Einstellungen im wörtlichen Sinne begriffen werden, so müssen sich die filmischen Mittel und Möglichkeiten und die herstellenden Instanzen mehr oder minder explizit zu erkennen geben. Bereits in frühen Jahren wurden allerhand Kniffe ausgearbeitet, um einen Kamerablick mit der Sicht einer Figur zu identifizieren und einzelne Einstellungen oder Einstellungsfolgen als subjektive Wahrnehmungen zu markieren. Meist wird dafür eine ungewohnte, vom Rest abweichende Ästhetik verfolgt. Es werden extreme Winkel gewählt, mit Unschärfen, Doppelbelichtungen und Überblendungen gespielt, Farben und Geschwindigkeiten manipuliert oder auffällige Schnittmuster eingesetzt. Um auf einen konkreten Standpunkt einer subjektiven Instanz zu verweisen, wird die direkte Sicht auf den Gegenstand des Interesses durch Fensterreflexionen, Vorhänge oder andere Hindernisse verstellt. Das Nahelegen einer ungesehenen aber sehenden Präsenz dient denn auch oft dazu, Suspense zu erzeugen. Was blickt oder denkt denn so? soll sich das Publikum fragen und zwar ohne, dass es dadurch aus der Fiktion herausgerissen würde. Der Blick beziehungsweise die Ursache der abweichenden Ästhetik muss im konventionellen Erzählfilm innerhalb des fiktiven Universums motiviert sein und das geöffnete blickende oder geschlossene träumende Auge wird früher oder später innerhalb der Diegese entdeckt. Auch Christian Metz stellt im Zusammenhang mit der subjektiven Einstellung im Erzählfilm einen Widerspruch fest und referiert damit auf den alten Topos vom Kino als einer behavioristischen Kunst, die unfähig ist, die Dinge anders als von Außen zu betrachten. Beobachtetes könne nur als solches verstanden werden, wenn der Beobachter selbst auch gezeigt würde, beziehungsweise: die Identifikation mit einer Figur funktioniert nur, wenn wir diese auch von Außen kennenlernen.6 Den meisten subjektiven Einstellungen geht eine objektive Einstellung voraus, welche eine bestimmte Figur als Ich und damit als Quelle des Hervorgebrachten zunächst von
6
Vgl. Metz 1997, S. 96-115.
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ihrer Außenseite etabliert. Die Figur des »Point-of-view-shots«, welche Edward Branigan in ihren verschiedensten Erscheinungsformen analysiert und systematisiert hat, stellt eine solche konventionelle Einstellungsfolge dar.7 Die gefragte Person wird in eine bestimmte Richtung blickend gezeigt und das darauffolgende Bild zeigt den Inhalt dieses Blicks quasi aus den Augenhöhlen der Figur. Soll eine Filmsequenz als Traumsequenz verständlich werden, wird zuvor ein Blick auf die schlafende Person geworfen und der Übergang von einer Außen- zu einer Innenwelt wird beispielsweise mittels einer Überblendung sanft gestaltet. Der Film LADY IN THE LAKE (USA 1947) unternimmt den ambitionierten Versuch, eine ganze Geschichte aus der optischen Perspektive eines Protagonisten zu erzählen. Alle Einstellungen des Films behaupten, Wahrnehmungen der Hauptfigur zu sein und das Gesicht des Helden erscheint denn auch konsequenterweise nur dann, wenn er sich in einem Spiegel betrachtet, oder scheinbar zufällig als Schatten im Bild auftaucht. Christine Noll Brinckmann hat diesen Film als interessantes, doch gescheitertes Experiment bezeichnet.8 Wörtlich halsstarrig wirkt dieses Unterfangen und man sehnt sich stets nach dem erlösenden Gegenschuss, welcher uns die Figur von ihrer Außenseite zeigt und die Befangenheit aufbricht. Eine Variante wäre der exzessive Aufbruch der formalen Konventionen, ein wilder Schwenk, Unschärfe oder ruckartige Schnitte, die zumindest den Versuch andeuten würden, sich mit den Mitteln der filmischen Technik einer möglichen Ästhetik der menschlichen Wahrnehmung anzunähern. Doch der Film hält die Prinzipien des klassischen Hollywoods konsequent aufrecht so etwa den kontinuierlichen Schnitt, die Horizontalität der Kadrage und die ruhig fließende Kamerabewegung. Dieser kühlen, geschliffenen Ästhetik gelingt es nicht, die vorgeführten Bilder als subjektiv durchwirkte, als verinnerlichte plausibel zu machen. Es bleibt bei der Behauptung von Subjektivität und anstelle einer Identifikation stellt sich das Gefühl von Distanz ein.
7
Vgl. Edward Branigan: »The point-of-view shot«, in: ders.: Point of view in the cinema: a theory of narration and subjectivity in classical film, Berlin et al. 1984, S. 103-121.
8
Vgl. Brinckmann 1998, S. 82-113.
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I. Julian Schnabel hat sich in seinem Spielfilm LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON (F 2006) auf ähnlich radikale Weise zur Aufgabe gemacht, eine filmische Erzählung aus der subjektiven Perspektive einer einzelnen Figur zu konstruieren. Zu Beginn des Films ist die Leinwand schwarz, dann färbt sie sich rötlich, gelb und allmählich wird die zitternde Fläche als eine von Adern durchsetzte Haut erkennbar. Licht dringt durch das geschlossene Augenlid ein. Das Auge öffnet sich und Gegenstände nehmen langsam Kontur an die Schärfe wird gezogen. Der Horizont ist schräg, die Welt in Untersicht und wir erkennen die sich über uns versammelnden Personen einen Arzt und Krankenschwestern. Die Wahrnehmung wird wieder unscharf, dann wird aufs Neue fokussiert. Mit explizit filmtechnischen Mitteln wird hier ein Film-Ich etabliert: Jean-Dominique Bauby der aus dem Koma aufwacht und zusammen mit uns allmählich realisiert, dass er sich zwar bei vollem Bewusstsein befindet was durch seinen inneren Monolog im Voice-Over zum Ausdruck kommt sich jedoch weder bewegen, noch sprechen kann. Einzig ein funktionstüchtiges Auge dient ihm als Öffnung zur äußeren Welt. Er leide am Locked-In Syndrom, teilt ihm und uns der Arzt auch alsbald mit. Im Laufe des Films erarbeitet Bauby zusammen mit einer Logopädin ein sprachliches System, das mittels Augenzwinkern funktioniert und diese Art der Kommunikation ermöglicht ihm dann das Schreiben des autobiografischen Buches, welches der Entstehung des Films vorlag. Der Film LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON erzählt und zeigt zu einem großen Teil aus Jean-Dominic Baubys streng optischer Perspektive Kamera und das Auge der Figur beziehungsweise Bildfeld und Baubys Blickfeld werden einander angenähert. Wir sitzen quasi in seinem Kopf und erleben mit ihm, wie der Arzt ihm das eine kranke Auge zunäht oder wie sein bester Freund mit den neuen physischen Umständen seines Freundes noch nicht vertraut ihn und uns stets von den Rändern des Bildfeldes oder ganz aus dem seitlichen Off des Bildes anspricht, bis dass die Krankenschwester ihm nochmals erklärt, dass er vor seinem Gesicht, beziehungsweise direkt vor der Kamera sprechen muss, damit sein Gegenüber ihn auch sehen kann. Der Kinosaal entspricht dem Innern des immobilisierten Körpers er wird zu unserer Taucherglocke und die Leinwand wird zum Fensterauge, durch das hindurch wir die begrenzte Sicht der Hauptfigur
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einnehmen und sein Gefangensein förmlich miterleben. Die Bilder, die auf diese Weise entstehen, sind eng an den behinderten Körper gebunden und das Gefühl der Klaustrophobie wird durch die Zuschauer geteilt. Bald schon entdeckt der Hauptdarsteller seine Fähigkeit, die körperliche Immobilisierung zu überwinden, indem er seinen Blick nach innen kehrt und seine mentalen Bilder aktiviert. Damit kommt die Metapher des Schmetterlings ins Spiel der Papillon, welcher schwerelos jeder physischen Gebundenheit entflattert. Die Einbildung und Vorstellung tritt an die Stelle der optischen Wahrnehmung, angenehme Tag- und unheimliche Nachtträume suchen ihn heim, schöne und schmerzhafte Erinnerungen kommen auf der Leinwand auf und fügen sich aneinander oft durch harte Schnitte getrennt und ohne eine raum-zeitlicher Kohärenz zu erschaffen. Die Möglichkeiten der Montage beziehungsweise ihre Fähigkeit über den Raum und die Zeit frei zu verfügen, werden mit unseren kognitiven Prozessen enggeführt und die Leinwand wird in Bruce Kawins Sinne explizit zum »Mindscreen«.9 Die Filmbilder wechseln den Modus, lösen sich von der konkreten, optisch erblickten Gegenwart ab und werden zu frei schwebenden Bilderfolgen, zu imaginären Projektionen, die auf der Leinwand Gestalt annehmen, immer neue Verbindungen eingehen und die Qualität von Vorstellungen, Assoziationsketten, Traumsequenzen oder Denk- und Erinnerungsversuchen annehmen. Der Film nimmt seinen Lauf wie die Gedanken, und die harten Schnitte wirken wie mentale Blackouts. Im Gegensatz zu LADY IN THE LAKE, welcher an den Konventionen des klassischen Erzählkinos festhält und jegliche Spuren der Herstellung sorgfältig zu verwischen sucht, werden in LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON die filmischen Mittel und Möglichkeiten offensiv thematisiert. Der Film könne nicht »Ich« sagen so Brinckmann und wenn er »Ich« zeigt, so wird das Subjekt zum Objekt. Wohl aber kann der Film sich zeigen, sich öffnen hinsichtlich seines eigenen Funktionierens und Schaffens, sich als Welt konstruierendes und animierendes Medium selbstreflexiv zu erkennen geben, als verkörpertes und verkörperndes Artefakt. Diese Transparenz hinsichtlich der eigenen medialen Wirklichkeit und des eigenen medialen Wirkens ist für das Publikum von LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON geradezu die Bedingung der Möglichkeit, sich mit dem Protagonisten als körperlichem
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Vgl. Bruce F. Kawin: Mindscreen: Bergman, Godard and first-person film, Princeton (N.J.) 1978.
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und seelischem Organismus zu identifizieren. Der Film macht Baubys und damit unsere existentielle physische Gebundenheit einerseits und unsere kognitiven Möglichkeiten andererseits sichtbar, indem er uns durch Unschärfen, Farbstiche, die stets auch auf die chemischen Bedingungen der Bilder verweisen, durch stolpernde und holpernde Kameraführung, durch ruckartige Schnitte und durch den direkten Blick in die Kamera die begrenzten Möglichkeiten und die vielfältigen Fähigkeiten des filmischen Mediums selbst vorführt und auf diese Weise in der Behauptung von Subjektivität durchaus überzeugt.
II. Mit Gilles Deleuzes Begriff des »kinematografischen Cogito«, den er ausgehend von Pier Pasolinis Gedanken zur Poetik des Autorenfilms entwickelt hat, soll hier ein weiteres Film-Ich ins Spiel gebracht und anhand der Verflechtung von Filmemacher und Protagonist in Michelangelo Antonionis Film BLOW-UP (GB 1966) erläutert werden.10 Im Gegensatz zum vorangegangenen Beispiel geht es dabei nicht mehr um die Frage, auf welche Weise die Subjektivität einer fiktiven Figur innerhalb der filmischen Diegese behauptet werden und zum Ausdruck kommen kann, sondern die Subjektivität ist eine gewissermaßen eingestandene sie bezieht sich auf ein Autoren-Ich, das sich und seine filmischen Möglichkeiten im Austausch und im Wechselspiel mit seiner Figur erprobt und reflektiert. Durch die Augen des Filmemachers gucken wir dem Fotografen bei seiner Arbeit zu und mit der filmischen Erzählung verfolgen wir sein Tun und Blicken auf Schritt und Tritt. Die Erzählung des Films entfaltet sich – ganz im Gegensatz zu klassischen Krimistrukturen im näheren Gesichtskreis der visuell orientierten Hauptfigur und in den meisten Fällen sind wir an diesen Blick auf die Figur gebunden, ganz im Sinne jenes Behaviorismus, den Christian Metz als besonders filmspezifisch angeführt hat. Psychologische Motivationen, Emotionen und Hinweise auf ein Leben außerhalb der gezeigten Bildausschnitte werden uns aktiv vorenthalten.
10 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, Frankfurt/M. 2005, S.194 ff., sowie Pier Paolo Pasolini: das »Kino der Poesie« in: Hans-Klaus Jungheinrich (u.a.): Pier Paolo Pasolini, München 1979. (Reihe Film; 12.) S. 49-77.
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»Range« und »depth of knowledge« Begriffe, die David Bordwell in seiner filmischen Narrationstheorie anführt sind sehr eingeschränkt11 und unser Wissen bleibt, analog zum Wissen des Fotografen, an die Oberfläche, an jene »rein optischen und akustischen Situationen« gebunden, in welche Pasolini und Deleuze die typisch modernen Protagonisten stellen.12 Sowohl auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene ergibt sich eine Analogisierung der Handlungen und Wahrnehmungen von Figur und Autor, wobei diese nicht ineinander aufgehen, sondern stets divergieren und sich in einer Art Paragone gegeneinander ausspielen. Durch die Inszenierung der Tätigkeiten des Fotografen reflektiert Antonioni auch seine eigene Arbeit als Filmemacher und der Ausschluss einer Innensicht in die Figur erfolgt zugunsten eines Einblicks in die fotografischen und filmischen Herstellungsprozesse. Der Regisseur zeigt seine Arbeitsweise unter anderem anhand der inszenierenden fotografischen Tätigkeit, die der Protagonist als Modefotograf praktiziert. Die Macht der Regie wird in BLOW-UP in verschiedenen Szenen zentral thematisiert und dies nicht nur am erklärten Set im Studio. Frauen werden zu Modellen, Dinge zu Requisiten und als solche in die Schranken eines Rahmens gewiesen und buchstäblich gemustert. In der dokumentarischen Tätigkeit des Fotografen, seinem planlosen und zugleich jägerartigen Herumstreunen, spiegelt sich eine Struktur, die für Antonionis persönliche Filmkonzeption paradigmatisch ist. Seine Erzählweise orientiert sich nicht an klassisch narrativen Strukturen, sondern entzündet sich in der Begegnung mit den kontingenten Erscheinungen der Welt und ihrer Dinge. Inwieweit die klassisch narrative Kausalkette von Ursache und Wirkung in und außer Kraft tritt, wird in der zentralen Laborszene besonders eindringlich vor Augen geführt. Mit den Montageprinzipien des Spielfilms versucht der Fotograf seine im Park aufgenommenen Bilder in eine Reihung zu bringen und eine mögliche Version der Geschichte zu konstruieren. Mittels Establishing-shot und Break-down, Eyeline-match und anderen klassischen Montageformen werden die einzelnen Bilder in ein kausales Verhältnis zueinander gebracht und mit dem hinzutretenden Geräusch des Windes in den Bäumen wird der Eindruck von tatsächlicher Präsenz erzeugt. Eine Version der Geschichte wird als Realität beschworen und dafür arbeiten sich
11 Vgl. David Bordwell: Narration in the fiction film, London 1997. 12 Deleuze 2005, S. 12 ff., 61, Pasolini 1979, S. 68 f.
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Fotograf und Filmemacher in die Hände. Doch der Versuch, aus der losen Bilderreihe der Sequenz, die aus der dokumentarischen Tätigkeit im Park hervorging eine gültige Konsequenz zu konstruieren, wirkt im weiteren Verlauf des Films zunehmend verzweifelt und der Akt der Beschwörung der vergangenen Realität scheitert. Sowohl die Fotografie wie auch der Film vermögen die referenzielle Wirklichkeit nicht wiederzubringen und was bleibt, ist die Barthesche Verzweiflung angesichts der Opazität und Stummheit der Bilder.13 Die Bildersuche, die Bildkomposition als Aktion, der Prozess der Bildentstehung werden in BLOW-UP ebenso thematisiert, wie deren Rezeption, der Versuch Bilder zu entschlüsseln, deren Sinn und Bedeutung zu verstehen. Das Konstruktive diese Einsicht in die Arbeitsprozesse, in die Laborarbeit beispielsweise, wo die Bilder buchstäblich entwickelt werden, ist gekoppelt mit dem Destruktiven, dieser auflösenden, nihilierenden Kraft, die sich gegen den Schluss hin verstärkt und ausbreitet. Schon im Filmtitel ist dieses Ambivalenz angelegt: blow up im wörtlichen Sinne von »aufblasen«, »vergrößern« ebenso wie »in die Luft sprengen« und »vernichten«. Das Motiv des Bildes verschwindet, die Bilder selbst kommen abhanden, die Frau aus dem Park löst sich im Nichts auf, die Krimistruktur wird gebrochen, indem sich die Fäden, die Spuren verlieren und es keine Lösung gibt bloß die Auflösung, von all dem, was soeben noch da war und die Diegese des Films, diese filmische Welt, an die wir geglaubt haben ausgemacht hat. Eine weitere Engführung von Fotografie und Film oder aber das Spiel zwischen deren jeweiligen Repräsentanten, macht sich bemerkbar, wenn der Film dem Fotografen während seines Shootings über die Schulter blickt und mittels ruckartigen, diskontinuierlichen Schnitten den fotografischen Akt nachahmt, jenen Einbruch im Fluss der Zeit mit filmischen Mitteln sichtbar macht. Eben weil der Jump Cut die filmische Kontinuität unterbricht, gilt er im klassischen Spielfilm als Störung, welche die filmische Illusion entlarvt und auf die Herstellung beziehungsweise den Akt des Takes und den Prozess der Montage verweist. Indem Antonioni sich der Arbeit und den Mitteln des Fotografen annähert, verweist er zugleich auf die
13 Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 2009.
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filmische Konstruktion und letztlich auf seine eigene spezifische Arbeit als Filmemacher. Gerade durch die wechselseitigen Versuche der Anverwandlung der beiden Tätigkeitsfelder, wird die Medienspezifik modernistisch bekräftigt. Fotograf und Filmemacher bleiben obwohl und gerade weil sich ihr Blick zeitweise gerade haarscharf nicht deckt getrennte Subjekte, wobei der Filmemacher die Oberhand behält. Der Fotograf – sehend, beobachtend wird gesehen und beobachtet, und dem Blick des Films kann die Figur nicht entweichen. Die Befangenheit des Protagonisten zeigt sich besonders deutlich in seinen narrativ nicht weiter eingelösten Blicken in Richtung der Filmkamera der Autor schleust sich latent in die Diegese ein oder aber die filmische Welt erhält undichte Stellen und öffnet sich in Hinsicht auf einen Raum der Rezeption. Pasolini und Deleuze, die sich in ihren Auseinandersetzungen auf die früheren Filme von Antonioni, LA NOTTE, L’ECLISSE und IL DESERTO ROSSO beziehen, sehen die Divergierung der Sichtweisen von Film und Figur in der neurotischen Anlage der Protagonisten motiviert. Im Falle von BLOW-UP scheint jedoch eine medienreflexive und epistemologische Interpretation näher zu liegen. Die Spaltung des Blicks verweist auf die Differenz zwischen Film und Fotografie und schält die jeweils spezifischen Mittel und Möglichkeiten der Welterkundung und Weltkonstruktion heraus. Der Filmemacher, der dem Fotografen über die Schultern guckt, ihm überallhin folgt, und zugleich der ist und sich als dieser zeigt, der diese Figur erfunden hat, ihn verführt, auf Fährten lockt. Auch wenn den beiden im Hinblick auf den Versuch einer Entschlüsselung der Welt dasselbe Schicksal beschieden ist, so behält die Oberhand der Film und dessen Autor, der sich als Cogito, als filmische Instanz zu erkennen gibt. Ich sehe, denke und zeige dich scheint er zu sagen, besonders explizit, wenn er seinen Protagonisten zum Schluss durch eine Ausblendung von der Bildfläche verschwinden lässt und ihn dadurch als seine Spielfigur entlarvt.
III. Ausgehend von diesen Überlegungen soll zum Schluss ein weiteres FilmIch ins Spiel gebracht werden, ein handelndes, denkendes und zugleich bilderzeugendes Ich, welches sich in einem dokumentarischen Essayfilm
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äußert. Dokumentierte Realität und dokumentierende Mittel und Instanzen kommen dabei gleichermaßen zur Anschauung, wodurch die gängigen Forderungen nach Objektivität im Dokumentarischen unterwandert werden. Die dokumentierte Realität zeigt sich nicht scheinbar an sich, sondern als eine der technischen und menschlichen Wahrnehmung unterworfene. Der Film BORDER (F/GB 2005) spielt in der Umgebung des französischen Küstenstädtchens Sangatte in den Feldern und auf den Strassen zwischen dem Eingangsbereich des Eurotunnels und einem Flüchtlingslager, dessen Insassen jede Nacht versuchen, die Grenzsicherungen zu überwinden, um im Zug oder an Bord eines Lastwagens unentdeckt unter dem Ärmelkanal hindurch ins gelobte England zu gelangen. Die Filmemacherin taucht mit ihrer kleinen Digitalkamera in den Feldern und Strassen zwischen dem Flüchtlingslager und dem Eurotunnel-Terminal unter und nimmt Teil und Anteil an den nächtlichen Routen und Routinen ihrer Protagonisten. Sie versteckt sich mit ihnen in den Feldern vor der Polizei und begleitet deren unermüdliche Versuche, sich als blinde Passagiere über die Grenze zu schmuggeln. Laura Waddington setzt sich den widrigen Umständen aus und nähert ihre physische Situation, ihre Sicht- und Seinsweise an diejenige ihrer Protagonisten an. Als Weggefährtin begleitet sie deren nächtlichen Feldzüge und wohnt ihrem kaum sichtbaren Dasein mit ihrer Kamera bei. Sie interessiert sich im wörtlichen Sinne ist dazwischen, ist dabei und transformiert das politische Ereignis in ein persönliches Erlebnis. Kein Establishing-Shot erklärt uns zu Beginn das Gelände oder stellt zwischen den Einstellungen einen Zusammenhang her, welcher uns eine Orientierung in den Feldern ermöglicht. Kein Feldherr überblickt die Lage. Mit der Filmemacherin und den Protagonisten bewegen wir uns mittendrin, meist in hohem Gras, zudem nachts unser Sehen kommt mit ihr und ihrer Videokamera an die Grenzen. Wenn es Licht gibt, dann jenes der vorbeifahrenden Autos, Scheinwerfer der Hubschrauber oder Taschenlampen der Polizisten, welche in den Feldern nach den Flüchtigen fahnden. Der Film BORDER ist durch und durch geprägt von der Präsenz der Filmemacherin selbst. Die Bilder sind sehr eng an ihren Blick und ihre Bewegungen gebunden und das Voice-Over zeugt durch die »Körnung der Stimme«14 von der Person, die hinter ihm steht. Der Kamerablick wird
14 Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme, in: der entgegenkommende und der stumpfe Sinn: kritische Essays III, Frankfurt/M. 2005, S. 269-278.
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weder anonymisiert, objektiviert, noch wird er mit dem Blick der Protagonisten identifiziert. Sosehr die Filmerin auch die Nähe zu ihren Protagonisten sucht und gewisserweise auch findet stets bleibt sie eine Andere, eine Außenstehende und als solche reflektiert sie sich in ihren Bildern. Waddington nimmt Teil an einem Leben, das nicht das ihre ist und sie existentiell und sozial nicht direkt betrifft. Der Grenzraum Sangatte, welcher für die Flüchtlinge als Raum des im Sinne Agambens »einschließenden Ausschlusses«15 fungiert, dient der Künstlerin als Refugium, in welchem sie aus Anlass ihres künstlerischen Projektes verweilt. Als freier Geist begleitet sie die unfreien Geister von Sangatte, welche unter dem »souveränen Bann« loopartig zu einem immer wieder neuen Versuch Anlauf nehmen. Für sie ist gleichsam Spiel, was für die Flüchtenden und Jagenden Ernst ist letztlich ein ästhetisches Spiel im Sinne eines Schau- und Versteckspiels, bei welchem ihr, trotz ihres physischen Engagements, die Rolle der Zuschauerin zukommt. Aufgrund ihrer differenten Seinsweisen kommen ihre Sichtweisen niemals zur Deckung und auf eine filmspezifische Art und Weise handelt BORDER von dieser Erfahrung der Differenz. Die Bilder zeugen vom ästhetisierenden, distanzierenden Blick der Filmerin und ihrer Kamera, welche beide zu sehen, zu erkennen und zu verstehen suchend an der Oberfläche des Sichtbaren gleichsam abstoßen und auf sich selbst zurückgeworfen werden. Der Film BORDER ist jedoch nicht nur das Dokument dieser persönlichen Aktion, sondern auch ein repräsentatives filmisches Bild eine Art sinnliches Sinnbild für den beunruhigenden Zustand, in welchem sich diese halbtransparenten, nachtaktiven Schattenwesen am Rande des kollektiven Bewusstseins befinden: ohne Papiere gleich ohne Identität, ohne Gesicht, abgetaucht, kaum sichtbar und ohne festen Boden unter den Füßen, rastlos an Ort und Stelle wandelnd. Laura Waddington schafft mit BORDER ein Bild für diese kaum sichtbare Gegenwart, ein filmisches Äquivalent für diesen paradoxen Zustand des schlaflosen Stillstandes am Ort des Transits. Den prekären Lichtverhältnissen und den Unebenheiten des Geländes unterworfen, agiert die Kamera an ihren technischen Grenzen und produziert an Ort Artefakte, Bildstörungen, welche den Durchblick zum Dargestellten verstellen. Diese technischen Reaktionen werden sichtbar in einem starken
15 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002, S. 27.
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Bildrauschen zum einen, in Verwischungen und Stauungen des Bewegungsflusses zum anderen, was mit der verlängerten Belichtungszeit der Einzelbilder zusammenhängt. Diese beiden Effekte prägen die Ästhetik des Videos und rücken den motivischen Gegenstand in eine ästhetische Distanz. Die einzelnen Einstellungen geben sich nicht aus als die objektiven Abbilder einer gegebenen Situation, vielmehr verweisen sie auf die Bemühungen eines technischen Apparates, welcher den Bedingungen des Ortes ausgeliefert in seinem Funktionieren beeinträchtigt ist und seinen Gegenstand vergeblich zu erfassen versucht. Die Gesichter der Protagonisten sind nicht zu identifizieren und ihre Silhouetten bleiben schemenhaft, zerfließen mit dem Hintergrund zu einem schwelenden Rauschen. Aufgrund dieser medienspezifischen Störungen ist die referentielle Realität nicht offen sichtlich, sondern sie kommt in den Bildern als eine verfremdete, eine verunklärt verklärte, als eine apparativ und subjektiv vermittelte zum Ausdruck. Die Reaktionen der Kamera am Ort des Geschehens verweisen zum einen auf die technische Verfasstheit und die Opazität der Bilder und gleichzeitig tragen sie bei zur Abstraktion des Konkreten, zur Auflösung des Bestimmten in einem Ungefähren, welches auch einer Art Irrealisierung des Realen gleichkommt. Es ist dies eine für einen Dokumentarfilm eher erstaunliche Wendung einer äußeren Realität in eine Innerlichkeit. Die filmischen Bilder zeugen von ihrem Gegenstand, ohne ihn zu zeigen. Beziehungsweise: in Waddingtons Video ist das Zeigen stets mit dem Verbergen verbunden und die Zeugenschaft der Filmerin deutet auf eine Unzugänglichkeit des Sichtbaren hin. Weder erkennen wir Konkretes oder augenfällige Details, noch werden wir in eine stringente Argumentation oder eine kohärente Narration hineingeflochten. Vielmehr werden wir konfrontiert mit sperrigem und bergendem Material mit viel Dunkel und nicht Erklärtem, das auf eine fragmentarische Art und Weise angeordnet wurde. Diese Herangehensweise mag zum einen von einer medien-ethischen Haltung zeugen: Laura Waddingtons Protagonisten verbergen sich im Rauschen des Bildes, sie schützt sie vor deren Entdeckung, vor ihrer visuellen Bloßstellung und zeigt sie vertraulich, als Geheimnisse. Zum andern erweckt diese Herangehensweise auch den Eindruck einer erkenntniskritischen Haltung. In Interviews spricht Laura Waddington von der Überforderung und dem Gefühl der Nicht-Kommunizierbarkeit dessen, was sie in Sangatte gesehen hat und vom steten Eindruck, dass alles viel komplizierter
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und komplexer sei als man und sie es verstehen kann: »I knew I could only leave a very small and incomplete trace.«16 Die Artefakte, welche die Kamera aufgrund der kritischen Lichtverhältnisse am Drehort produziert können so der Vorschlag als die Spuren eines Bewusstseins gelesen werden zunächst als die Spuren eines Kamerabewusstseins im Sinne des »kinematografischen Cogito«, das den gezeigten Gegenstand begleitet. Anhand der sichtbaren Eingeschränktheit des Videoblicks und der stets mitgezeigten Materialität erscheint die bildgenerierende Kamera sich selbst stets eingedenk und der gezeigte Gegenstand ist vom zeigenden Medium nicht zu trennen. Durch das später verfasste Voice-Over erhält dieses Kamerabewusstein die persönliche Stimme der Filmemacherin. Die indexikalischen Bilder werden durch die akustischen Erinnerungen an das Erlebnis in Sangatte in eine zeitliche Distanz gerückt und zu erinnerten oder im Traum wiederkehrenden, geistigen Bildern stilisiert. Den Bedingungen dieses Ortes unterworfen, werden filmische Bilder erzeugt, die man als Metaphern für mentale Bilder verstehen könnte, wobei die technischen Beeinträchtigungen die deformierenden Prozesse der Zeit Verwitterungen oder mentale Verarbeitungen versinnbildlichen. Als eine, die verinnerlicht und angeeignet wurde, äußert sich die vorfilmische Realität und die videografischen Äußerungen nehmen die Qualität von subjektiven Eindrücken an, von Traumbildern, von Bildern der Erinnerung. Zu dieser Wirkung trägt bei, dass Waddingtons filmische Gesten am Ort des Geschehens kaum erfassen, was sie zu sehen und zu verstehen versuchen. Dies zeigt sich daran, dass die Kamerabewegungen nicht im Sinne eines klassischen Following-Shots ihrem Gegenstand untergeordnet werden, sondern vielmehr als Gesten sichtbar bleiben, als Handlungen, die ihr Motiv nicht einzuholen vermögen. In Kombination mit den fast abstrakten, entwirklichten Bildern werden diese Gesten zu Bewegungen der Reflexion, sie erhalten die Qualität von Denkbewegungen und mit den insistierenden Kamerahandlungen an Ort nimmt Waddington die traumatische Erinnerung an diesen Ort vorweg. Sie reflektiert die subjektive Erfahrung ihre eigene und vor allem jene der Protagonisten in ihrer Nachhaltigkeit. Der Film wird zum Denkmal in zweierlei Hinsicht: zum Denkmal im Sinne eines appellativen »Denk-Mal-Nachs« und Denkmal im performativen Sinne ei-
16 Laura Waddington, in einem Interview: Interview Laura Waddington by Olaf Moeller, in: The 51st Persaro International Film Festival Catalogue (Juni 2005).
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nes Gedenkens: ein Film, dem das Denken als Struktur und Prozess inhärent ist.
L ITERATUR Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002. Roland Barthes: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 2009. Roland Barthes: »Die Rauheit der Stimme«, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn: kritische Essays III, Frankfurt/M. 2005, S. 269278. David Bordwell: Narration in the fiction film, London: Routledge, 1997. Edward Branigan: »The point-of-view shot«, in: ders.: Point of view in the cinema: a theory of narration and subjectivity in classical film, Berlin et al. 1984, S. 103-121. Christine Noll Brinckmann: »Ichfilm und Ichroman«, in: dies.: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Zürich 1998, S. 82-113. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, Frankfurt/M. 2005. Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam 1998. Bruce F. Kawin: Mindscreen: Bergman, Godard and first-person film, Princeton (N.J.) 1978. Christian Metz: Subjektive Bilder, subjektive Töne, »Point-of-view«, in: ders.: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster 1997, S. 96-115. Christian Metz: »Zum Realitätseindruck im Kino«, in: ders.: Semiologie des Films. München 1972, S. 20-35. Pier Paolo Pasolini: Das »Kino der Poesie« in: Hans-Klaus Jungheinrich (u.a.): Pier Paolo Pasolini, München 1979. (Reihe Film; 12), S. 49-77. Pier Paolo Pasolini: »Anmerkungen zur Einstellungssequenz«, in: HansKlaus Jungheinrich (u.a.): Pier Paolo Pasolini, München 1979. (Reihe Film; 12.) S. 77-84.
S UBJEKTIVITÄT
UND
S ELBSTREFLEXION
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Laura Waddington, in einem Interview: »Interview Laura Waddington by Olaf Moeller«, in: The 51st Persaro International Film Festival Catalogue (Juni 2005). Volker Wortmann: Authentisches Bild und authentisierende Form. Köln 2003.
F ILMOGRAPHIE BLOW-UP (GB 1966, R. Michelangelo Antonioni) BORDER (GB/F 2005, R. Laura Waddington) LADY IN THE LAKE (USA 1947, R. Robert Montgomery) LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON (F 2006, R. Julian Schnabel)
Stellvertreten
Die verstellte Stimme Zur Identität des Ventriloquisten S TEFAN R IEGER »Abb. 27 stellt also die erste Atemvolumaufnahme beim Bauchreden dar, indem die betreffende Vp. den Text ›Du flehst eratmend sie zu schauen, meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn! Mich neigt dein mächtig Erdenfleh’n‹ sprach. Der Atemvolumverbrauch für die Bauchrednerstimme ist bedeutend geringer als bei der gewöhnlichen Stimme.«1 »The sound track is a ventriloquist who, by moving his dummy (image) in time with the words he secretly speaks, creates the illusion that the words are produced by the dummy/image whereas in fact the dummy/image is actually created in order to disguise the source of the sound.«2
I. Im Ventriloquismus verfestigt sich die Erfahrung von Uneindeutigkeit, irritiert der Bauchredner doch die Identität sowohl der Wahrnehmung als auch die der Sprechinstanz. In der Ordnung des Wissens taugt er darum als Adresse für eine Vielzahl von Phänomenen, die dem Gebot der Eindeutigkeit entgehen und in ihm für genau diesen Aspekt eine Metapher finden. Weil er als Typus die geläufige Ordnung der Ortung unterläuft, ist er nachgerade
1
Giulio Panconcelli-Calzia, Quellenatlas zur Geschichte der Phonetik, Hamburg
2
Rick Altman, »Moving Lips: Cinema as Ventriloquism«, in: Yale French Stu-
1940, 20. dies, No. 60, Cinema / Sound 1980, 67-79, hier: 67.
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dazu prädestiniert, Phänomene sichtbar zu machen, die im Zusammenspiel unterschiedlicher Datenquellen und ihrer geplanten oder ungeplanten Verwirrung stattfinden. Als strukturelles Äquivalent zu optischen Unbestimmtheiten, wie sie bei Mimikry oder Camouflage vorliegen, stellt er im Akustischen die Ordnung der Identität auf vielfältige Weise zur Disposition. In dieser formalen Beschreibung taugt er zugleich dazu, ein sowohl technisches als auch wahrnehmungspsychologisches Phänomen sichtbar zu machen und damit zur Metapher eines neuen Mediums zu werden: das der Kinematographie, genauer noch jener Kinematographie, die sich am Übergang vom Stumm- zum Tonfilm mit dem Phänomen der Synchronisation von Sinnesleistungen konfrontiert sah, zu dessen Beschreibung die alte Kunst der Ventriloquisten bemüht und zu dessen reflexiver Profilierung sie eigens herangezogen wurde. Im Zuge dieser Logik macht der Bauchredner fortan und im Wortsinne als Effekt von sich reden. Ob im Wortsinn als ventriloquist effect, wie ihn etwa die Wahrnehmungspsychologen mit aller Finesse und Detailgenauigkeit nachbuchstabieren und dazu minutiös lokalisier- und vermessbare Laborverhältnisse als schallgeometrische Schematismen anschreiben.3 Oder aber als Effekt einer spezifischen Kinowahrnehmung, wo er selbst die ästhetischen Möglichkeiten crossmodaler Sinnesaffizierung auslotet und dabei das Kino auch theoretisch auf den Ventriloquismus verpflichtet. Aber das Bauchreden steht auch für theoretische Begründungsfiguren, die mit der Option auf eine regelrechte Umkehrung, ein reverse ventriloquism betreiben.4 Und nicht zuletzt prädestiniert
3
Vgl. für die Fülle entsprechender Untersuchungen zum gleichnamigen Effekt Arbeiten wie W. R. Thurlow, et. al., »Further study of existence regions for the ›ventriloquism effect‹, in: Journal of the American Audiology Society, 05/1976, Band 1, Ausgabe 6, p. 280. Vgl. Bernhard U. Seeber, Zum VentriloquismusEffekt in realer und virtueller Hörumgebung, (www.mmk.ei.tum.de/publ/pdf/ 02/02see3.pdf, zuletzt abgerufen am 01.02.2013). Neben einer exakt räumlichen Untersuchung des Einflusses der Schallherkunft oder -lokalisation auf den Höreindruck stehen dabei Detailfragen wie die nach der Rolle der Tonhöhen im verwendeten Material. Vgl. dazu I. Frissen, J. Vroomen, B. d. Gelder, & P. Bertelson, »The aftereffects of ventriloquism: Generalization across soundfrequencies«, in: Acta Psychologica. 118. Bd., 2005, 93-100.
4
Vgl. dazu etwa das Lemma Bauchrednereffekt im Lexikon der Filmbegriffe (http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5721, zu-
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ihn eine uneigentliche Verwendungsweise dazu, als Sprachrohr aller unterdrückten Sprechakte zu dienen und für Diskussionen über die Sprachfähigkeit des Stimmlosen anschlussfähig zu sein und so eine ganze Bandbreite feministischer, postkolonialer und sonstiger Bezugnahmen wie etwa die diversen Bevormundungen im Rahmen der Identitätsbildung bei Taubstummen zu durchlaufen.5 Im Namen des Ventriloquismus wird nicht nur jedweder Sprechunterdrückung eine Stimme zuteil, in seinem Namen werden damit auch, jedenfalls im Selbstverständnis der Akteure, die zugrundeliegenden Repressionsverhältnisse sicht- und kritisierbar.6 Als Metafigur ist er damit im Geschäft der Kulturwissenschaften allgegenwärtig.7 Neben solchen Verwendungen für die Sinnesphysiologie der Wahrnehmung, als Reflexions- oder Begründungsfigur für ein audiovisuelles Kinodispositiv und nicht zuletzt für die Beschreibung politischer Machteffekte steht eine weniger uneigentliche und weniger theoretisch verbrämte Karriere des Bauchredners als veritabler Medienstar – vor allem des Films, paradoxerweise aber auch und gerade des Radios. Über diese Karrieren hinaus, die eine konsequente Verlängerung von den Vaudevilles in die Unterhaltungsindustrie bedeutet, reüssieren der Bauchredner und sein alter ego zudem noch als Figuration des Schreckens – und begründen damit ein eigenes Genre, das von zahllosen Erzählungen und Filmen variiert wird.8 Der
letzt abgerufen am 01.02.2013). Vgl. für die Theorie den schon erwähnten Beitrag Rick Altmans sowie für die Rede von der Umkehrung Laura Nelson, »Reverse ventriloquism«, in: Nature news, (02.02.2004). 5
Im Anschluss an Spivak vgl. etwa Susan Ritchie, »Ventriloquist Folklore: Who Speaks for Representation?«, in: Western Folklore, Vol. 52, No. 2/4, Theorizing Folklore: Toward New Perspectives on the Politics of Culture (Apr. - Oct., 1993), 365-378. Vgl. ferner H-Dirksen L. Bauman,»›Voicing‹ Deaf Identity: Through the ›I’s‹ Ears of an Other«, in: Sidonie Smith/Julia Watson (Hg.), Getting a Life: Everyday Uses of Autobiography, Minneapolis 1996, 47-62.
6
Jackie Huggins, Kay Saunders, »Defying the Ethnographic Ventriloquists: Race, Gender and the Legacies of Colonialism«, in: Lilith, 8, Summer 1993, 60-70.
7
Zum kritischen Potential des Ventriloquismus vgl. C. Spence & J. Driver, »Reading the Ventriloquist’s Lips: The Performance Genre behind the Metaphor«, in: The Drama Review, Bd. 42/4, 1988, 133-156.
8
Entsprechendes Bildmaterial für die Puppen des Grauens stellt der Artikel »Creepy photos of ventriloquists’ dummies show the scary side of the vintage
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Bauchredner, der im Genre des Horrorfilms ein gängiges und gern genutztes Sujet darstellt, steht damit einerseits an der Wiege der technischen Möglichkeitsbedingung eines ganzen Mediums und leistet zudem unterschiedlichen Entfremdungserfahrungen der Psyche Vorschub. Weil die Puppe ein bestimmtes Wissen vom Menschen verkörpert, wird sie zu einer Instanz, die über alle intrinsischen Belange des Bauchredens hinaus Aspekte dieser Verwissenschaftlichung freisetzt, genauer noch, die selbst zum Platzhalter für solche historisch varianten Wissensversatzstücke wird. Sie wird zu einem epistemologischen Dummy, der unterschwellig die jeweilige Ordnung des Wissens souffliert. Anlässlich des Bauchredens und verkörpert in der Materialität der Puppe wird eine Psychologie des Unheimlichen verhandelt, die schließlich in der Angst vor belebt unbelebten Dingen kulminiert und als Automatonophobie Eingang in die Welt der medizinischen Taxonomie finden wird. Dieser Verschränkung von Kulturgeschichte, Sinnesphysiologie, Psychologie, Medientechnik, Sujetwerdung und Sujetverwendung mit der Repräsentation von kollektiver Macht und individueller Ohnmacht ist eine Phantasmengeschichte eingetragen, die entgegen aller erwartbaren Geradlinigkeit ihre eigenen Latenzen und Manifestationen schreibt, als Voraussetzung für eine eigene Geschichte der Faszination und des Unheimlichen, dem, was man vielleicht ihre Schizophonie nennen könnte.9
II. Die Kulturgeschichtsschreibung der Bauchrednerei selbst wird diesem nicht zuletzt epistemologischen Potential ihrerseits allerdings kaum gerecht, steht sie doch ganz im Zeichen einer markanten, weil disziplinär ihrerseits aufschlussreichen Selbstmarginalisierung. Hält man sich an die Beschreibungssprache ihrer Historiographen, so wird man zunächst durch ein
shows« der Daily Mail online zur Verfügung (www.dailymail.co.uk/news/ article-2187553/Creepy-photos-ventriloquists-dummies-scary-vintage-shows.html, zuletzt abgerufen am 01.02.2013). 9
In freier Verwendung dieses Begriffs, der die Spaltung eines originalen Klanges durch die elektroakustische Vervielfältigung bezeichnet. Vgl. dazu R. Murray Schafer, The New Soundscape: a handbook for the modern music teacher, Ontario 1969.
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Kabinett einschlägiger Adjektive geschleust: unterhaltsam, ergötzlich, kurios, amüsant und die Liste wäre um weitere Epitheta ebenso beliebig zu erweitern wie durch Einzelschicksale berühmter Bauchredner quer durch ihre lange Geschichte zu ergänzen.10 Der Rekurs auf das Bauchreden erfolgt zumeist in literarischer Ausschmückung und im gefälligen Narrativ der Anekdote.11 Häufig waren es Vertreter der Medizingeschichte oder selbst praktizierende Hals-, Nasen- Ohrenärzte, die als eine Art hobbyistisches Surplus in die an Exempla und Exemplaren reiche Historie abtauchten, um so allerlei Wunderlichkeiten ans Tageslicht zu befördern.12 In der Einlösung personaler Logiken wird aufgelistet, wann welche Typen mit welcher Zielsetzung ihre Kunst performiert und auf welche Weise sie eine kritische Öffentlichkeit düpiert oder in welcher Form einfach nur gut unterhalten haben. Damit geraten vor allem Anwendungsaspekte in den Blick, die in der Prognostik zukünftiger Ereignisse, in der Dämonie der Weissagung und nicht zuletzt in der Unterhaltung eines täuschungsanfälligen Publikums ihr historisch variierendes Betätigungsfeld finden. Zusammen mit der Frage, wie die Bauchrednerei denn überhaupt funktioniert, wie es gelingt, seine Stimme so zu gebrauchen, dass sich der Eindruck einzustellen vermag, sie käme von einem anderen Ort und damit schlussendlich mit der Frage nach dem Erwerb dieser Kulturtechnik ist das Feld der Narrationen abgesteckt und den zahlreichen Monographien ihr Erzählmuster vorgegeben, das sich mühelos von antiken Weissagungen über mittelalterlichen Hexenglauben
10 Vgl. etwa den Erfolgsroman von Henry Cockton, Valentine Vox: The Ventriloquist. His Life and Adventures, Philadelphia 1871. Vgl. ferner zu aktuellen Bezugnahmen, die sich im angenommenen Namen von Valentine Vox dezidiert der Pflege dieser Kunst verschrieben haben, das Buch des praktizierenden Bauchredners: I Can See Your Lips Moving. The History and Art of Ventriloquism. Zu den Details dieser Kulturpflege, die von der Sammlung historischer Puppen bis zu Kursen zu deren Selbstverfertigung reicht, vgl. http://ventriloquist centralblog.com/ventriloquist-valentine-vox-i-can-see-your-lips-moving/, zuletzt abgerufen am 01.02.2013). Zur Aufarbeitung des langen Zeitraums Stanley Burns, Other Voices: Ventriloquism from B.C. to T.V., 2001. 11 Vgl. etwa George Smith, Memoirs and Anecdotes of Mr Love, the Polyphonist. 12 Stellvertretend H. Röhrich, »Zur Geschichte der Bauchrednerkunst«, in: Münchner medizinische Wochenschrift, 116 (1974), Nr. 41, 1769-1772.
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zu den großangelegten Varietéveranstaltungen des 19. und schließlich der Kino-, Radio- und Fernsehunterhaltung des 20. und 21. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Weil die Virtuosität des Ventriloquisten in ausgeklügelten Strategien von Täuschung und Verdacht gründete, sind Aufklärungsund Enthüllungsgeschichten die Folge, die naive Ratgebungen, kuriose Begebenheiten, strafrechtlich relevante Einsätze und diverse Korrekturinterventionen moralischer Art umfassen. Vorrang hatte für die Tradition der Weissagung die Herkunft von einem anderen Ort und von einer nicht ausgewiesenen Sprechinstanz, auf deren schalltechnischer Verunklarung und optischer Dissimulation das Funktionieren ruhte.13 Eine Facette aus dieser Geschichtsschreibung liefert etwa der stimmsachverständige Giulio Panconcelli-Calzia, der mit der von ihm erwähnten Literarisierung zugleich den Stellenwert dieser Kunst in der kulturellen Wahrnehmung unterstreicht. »Im 18. Jh. waren sogen. Prognostikationen und Nativitätsstellung sehr beliebt. Ausbeuter bedienten sich dabei von [sic!] Puppen, sog. Androiden. Der neugierig Fragenden stand vor der Puppe. Der Vermittler wiederholte die Frage, aber mit verabredeten Worten. Der zweite, hinter der Puppe versteckte Vermittler beantwortete die Fragen. Unter diesen schwindelhaften Unternehmungen ist das um die Wende des 18. Jhs. ›unsichtbare Mädchen‹ besonders dadurch berühmt, weil Kotzebue es zur Hauptperson in einem seiner Lustspiele machte.«14
13 Die Stimmverdächtigung hat viele Einsatzgebiete wie etwa das der Zaubersprachen oder der Glossolalie. Vgl. dazu stellvertretend R. M. Meyer, »Künstliche Sprachen«, in: Zeitschrift für indogermanische Sprach- und Altertumskunde, 12. Bd. 1901 sowie Oskar Pfister, Die psychologische Enträtselung der religiösen Glossolalie und automatischen Kryptographie, Leipzig 1912. 14 Giulio Panconcelli-Calzia, 3000 Jahre Stimmforschung. Die Wiederkehr des Gleichen, Marburg 1961, 78. Zu einer Abbildung des In-Szene-Setzens der Stimme vgl. S. 137. Zum Spektakel unsichtbarer Mädchen vgl. Sigrid Weigel, »Echo und Phantom – die Stimme als Figur des Nachlebens«, in: Brigitte Felderer (Hg.), Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin 2004, 57-70. Vgl. auch Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001.
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Abbildung 1: aus Giulio Panconcelli-Calzia, 3000 Jahre Stimmforschung
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Das Schwinden aller Evidenz des Sprechens wird zum Ausgangspunkt unterschiedlicher Besetzungen. Neben dem erwähnten Drama Das unsichtbare Mädchen von Kotzebue und der Verdächtigung in der Literatur etwa durch Ludwig Tiecks Gestiefelten Kater hat der Schriftsteller Leopold Schefer, ein guter Meister zweiten Ranges, wie ihn Arno Schmidt einmal genannt hat, eine umfängliche Novelle mit dem Titel Der Bauchredner vorgelegt, die das diabolische Potential der Stimmvervielfältigung rsp. der Sprecherpotenzierung zumindest erahnen lässt, jenes schizophonische Potential, das in filmischen Adaptionen des Sujets wie THE GREAT GABBO (USA 1929, R. James Cruze), DEAD OF NIGHT (GB 1945, R. Basil Dearden u.a.) oder MAGIC (USA 1978, R. Richard Attenborough) mit ihrer unheimlichen Verlebendigung der Dummies vollends zutage tritt.15 Die Verwendung von Puppen als Plausibilisierung jener anderen Stimme ist dabei ein neueres Phänomen, das gemeinhin auf den auch literarisch tätigen Bauchredner Baron von Mengen datiert wird, der in einem Brief vom 20. März 1770 an den in der Historiographie des Ventriloquismus beschlagenen Abbé de la Chapelle die Verwendung einer hölzernen Bauchrednerpuppe ausführlich beschreibt.16 Solche Unterhaltungsanwendungen haben bereits im 19. Jahrhundert nachgerade kulturindustrielle Züge angenommen: So wird berichtet, dass im Europa der Jahre 1810 bis zur Jahrhundertmitte der renommierte und vielerorts auftretende Bauchredner Alexander dramatische Szenen aufzuführen wusste, bei denen er in Personalunion bis zu sechs Personen darzustellen hatte (was ihm erheblichen Ruhm bei Autoren wie Walter Scott und Adalbert Chamisso einbrachte). Der ebenfalls im Verwandlungsrollenfach tätige Frederic Maccabe soll gar in der Lage gewesen sein, bis zu zehn Personen mitsamt einer Vielzahl von Requisiten be-
15 Vgl. dazu Leopold Schefer, »Der Bauchredner«, in: ders., Neue Novellen, 2. Bd., Leipzig 1831. Andere Bezugnahmen gelten dem uneigentlichen Gebrauch – so etwa bei Klaus Manns gleichnamigem Erzählband Der Bauchredner und Pauline Melville Romans The Ventriloquist’s Tale. 16 Heinrich Marcus Brunner, Ausführliche Beschreibung der Sprachmaschinen oder sprechenden Figuren: mit unterhaltenden Erzählungen und Geschichten, Nürnberg 1798.
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herrscht und darüber hinaus auch noch einen gemischten Chor unterschiedlicher Tierstimmen virtuos zur Aufführung gebracht zu haben.17 Die wissenschaftliche Aufarbeitung ergibt, wie man aus einer Fügung einschlägiger Titel unschwer ablesen kann, ein Bild mit einer ausgesprochen topischen Ausgestaltung und hoher Redundanz. So verspricht Josef Duschnée Wissenschaftliche Aufklärung über das Wesen der Bauchrednerund Bauchsängerkunst nebst mehreren Anekdoten aus dem Leben des Verfassers und einiger Fingerzeigen für die Ausübung dieser Kunst, deren erste von mindestens 5. Auflagen aus dem Jahr 1830 stammt oder D. I. Mayer handelt von der Ventrilogistik oder Kunst des sogenannten Bauchredens. Ihr Wesen und ihre Geschichte kurz erörtert, mit einer auf physiologischer Untersuchung beruhenden Anweisung, dieselbe mit Erfolg zu über: nebst biographischen Skizzen verschiedener Bauchredner von 16.-19. Jahrhunderts von 1860.18 Wie beide Titel stellvertretend zeigen, werden derlei Aufarbeitungen die Konzentration auf die Bauchrednerbiographien nicht oder nur schwer quitt, geraten die Agenten solcher Kunst doch zunehmend in den Ruch eines virtuosen Improvisationsvermögens, heroischer Exorbitanz in der Formulierungsfähigkeit und einer nahezu tricksterhaften Schlagfertigkeit, die im Rahmen moralischer oder sonstiger Begebenheiten anzuwenden und pointenreich zu erzählen sind. Typisch dafür sind Anekdoten
17 Maccabe war auch literarisch tätig. Vgl. ders., The Art of Ventriloquism, London, New York 1875. Vgl. ferner Maccabe’s Art of Ventriloquism and Vocal Illusions, With Full Directions to Learners How to Acquire Pleasing Vocalization; Showing How to Begin and Practice Marvellous Illustrations of Ventriloquism. With Amusing Dialoges for Beginners, including the ›Repertoire‹ of the English Railway Porter, as Performed by Frederic Maccabe in his Celberated Mimical, Musical and Ventriloquial Entertainment, ›Begone Dull Care‹, New York 1875. 18 Josef Duschnée, Wissenschaftliche Aufklärung über das Wesen der Bauchredner- und Bauchsängerkunst nebst mehreren Anekdoten aus dem Leben des Verfassers und einiger Fingerzeigen für die Ausübung dieser Kunst, Mainz o.J. (5. Auflage), sowie D. I. Mayer, Die Ventrilogistik oder Kunst der sogenannten Bauchredens. Ihr Wesen und ihre Geschichte kurz erörtert, mit einer auf physiologischer Untersuchung beruhenden Anweisung, dieselbe mit Erfolg zu üben: nebst biographischen Skizzen verschiedener Bauchredner von 16.-19. Jahrhundert, Stuttgart 1860.
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wie die vom Geizhals, dem mittels Bauchrednerei die Wahrheit über seinen Geiz zugetragen wird, die Entlarvung des Frischegrades eines sprechenden Fisches, der entgegen der Versicherung seiner Verkäuferin, nur einen Tag alt zu sein, sich zu Worte meldet und feststellt, schon eine ganze Woche mehr kein Wasser unter den Kiemen gehabt zu haben, oder die Burleske vom sprechenden Hund eines Ventriloquisten, der mit dem Verkauf zwar den Eigentümer wechselte, fortan aber nicht mehr sprechen sollte – sehr zum Leidwesen seines neuen Besitzers, der sich so um ein lukratives Geschäft geprellt sah.19 Von solchen Anwendungen wendet sich im Zuge gesteigerter Verwissenschaftlichung der Blick zur Physiologie der Stimme, die das Phänomen trägt. So erscheint 1891 eine kurze Theorie des Bauchredens des Psychiaters Eugen Bleuler, und die beiden Laryngologen und Phoniater Theodor Simon Flatau und Hermann Gutzmann veröffentlichen im Jahr 1894 Die Bauchrednerkunst. Geschichtliche und experimentelle Untersuchungen.20 In einem fast hundertseitigen ersten Teil versammeln sie dort den Sachstand dessen, was über das Phänomen bibliographisch zu erfassen ist, belegen mit langen Zitaten eine Form der Einzelfallanalyse, die mit allem erdenklich Möglichen aufwartet und die, so jedenfalls versprechen es die Autoren, zugleich eine Verdopplung der allgemeinen Kulturgeschichte folgt, der ihrerseits zu folgen das Bestreben beider Autoren ist. Die OtoRhyno-Laryngologen beschreiten den Weg der allgemeinen Aufklärung und dieser hat, unbeschadet der Randständigkeit des Anlasses, eine doch eindeutige Zielrichtung.
19 Zu einer Fallgeschichte Arno Schmidt, Julia, oder die Gemälde. Scenen aus dem Novecento, Zürich 1983, 23. Zur Selbstverortung im Zeichen des Kuriosen vgl. William Frederick Pinchbeck, The Expositor; Or Many Mysteries Unravelled. Delineated in a Series of Letters, between a Friend and his Correspondent. Comprising The Learned Pig, – Invisible Lady and Acoustic Temple, – Philosophical Swan, – Penetrating Spy Glasses, Optical and Magnetic, and various other Curiosities on similar Principles: Also, a few of the most wonderful Feats as performed by the Art of Legerdemain: with some Reflexions on Ventriloquism, Boston 1803. 20 Dazu Eugen Bleuler, »Zur Theorie des Bauchredens«, in: Münchner Medizinische Wochenschrift, 38. Jg., Nr. 21, 1891, 369-370.
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»So giebt die Geschichte der Bauchrednerkunst eine deutliche Parallele zur allgemeinen Kulturgeschichte der Menschheit und es ist in mehr als einer Hinsicht belehrend, ihren Gang aus dem Aberglauben des Altertums, der Dämonologie der apostolischen Väter, den Hexenverbrennungen des Mittelalters bis zur objektiven, vorurteilslosen Forschung des ›naturwissenschaftlichen Zeitalters‹ zu verfolgen.«21
Der aufwendigen Rekonstruktion der beiden Stimm- und Gehörsachverständigen folgt ein zweiter Teil, der die Autoren auf ihrem eigenen Feld verortet und Aufschluss über das Zustandekommen des Phänomens verspricht – das in grauer Vorzeit sogar in dem Verdacht stand, es wären die unreinen Teile, die pudenda, aus denen die Stimmen hervortönten. In guter Tradition der Stimmuntersuchung durch technische Gerätschaften und im Anschluss an entsprechende Literatur gerät der Bauchredner auf den Prüfstand und so werden etwa die Bewegungen der Stimmlippen mit dem Kehlkopfspiegel untersucht.22 Um das Phänomen und sein lange Zeit unklareres operationales Prinzip schließt sich ein Dispositiv, das zu seiner Aufklärung nicht zuletzt auf zahlreiche Neuerungen sowohl in der Medientechnik als auch in der Drogierung setzt. »Lange Zeit hielt man an der Auffassung fest, daß die Bauchrednerstimme nur beim Einatmen zustande komme. Umfassendere funktionelle Untersuchungen auf dem Gebiet der Stimmbildung, im 18. Jahrhundert, die Erfindung und Konstruktion von Apparaten und Geräten, der Kehlkopfspiegel, die Anwendung des Kokains, der Röntgendurchleuchtung etc., brachten weitere Erkenntnisse.«23
21 Theodor Simon Flatau, Hermann Gutzmann, Die Bauchrednerkunst. Geschichtliche und experimentelle Untersuchungen, Leipzig 1894, 3. 22 Carl Ludwig Merkel, Anatomie und Physiologie des menschlichen Stimm- und Sprachorgans (Anthropophonik). Nach eigenen Beobachtungen und Versuchen wissenschaftlich begründet und für Studirende und ausübende Ärzte, Physiologen, Akustiker, Sänger, Gesanglehrer, Tonsetzer, öffentliche Redner, Pädagogen und Sprachforscher, Leipzig 1857. 23 Röhrich, »Zur Geschichte der Bauchrednerkunst«, a.a.O., 1772.
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Abbildung 2: aus Theodor Simon Flatau, Hermann Gutzmann, Die Bauchrednerkunst
Im Zuge einen experimentellen und immer weiter ausdifferenzierten Sprachforschung werden dabei Sonderaspekte wie etwa die Ökonomie der Atemmenge untersucht rsp. gemessen. Was erfolgt, ist die optische Annäherung an die Bauchrednerstimme durch bildgebende Verfahren wie Kehlkopfspiegelung und Röntgenkinematographie sowie ökonomische Näherungen wie etwa dem Einsatz Königscher Flammen, ein Verfahren, das die Stärke der Atembewegung beim Sprechen sichtbar macht, oder die Pneumographie mittels eines Spirometers.24 Die Historiographie Panconcelli-Calzias weiß Genaueres: »1887 schreibt Gad die Atemmenge bei Ventriloquie mit seinem bereits 1879 hergestellten, mit einem Blasebalg versehenen Spirometer (den er Pneumograph nannte) auf. Gad blieb unbeachtet und wurde erst 1894 von Flatau – Gutzmann bekannt.«25
24 Vgl. dazu Stefan Rieger, Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve, Frankfurt/M. 2009. 25 Giulio Panconcelli-Calzia, 3000 Jahre Stimmforschung. Die Wiederkehr des Gleichen, Marburg 1961, 37.
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Abbildungen 3 & 4: aus Theodor Simon Flatau, Hermann Gutzmann, Die Bauchrednerkunst
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Was bei diesen Näherungen zu Tage tritt, ist der Befund, dass die vermeintliche Bauchstimme nicht, wie lange geglaubt und angenommen, unter erhöhtem Einsatz von Energie von statten geht, sondern eine Art Sparvariante des regulären Stimmgebrauchs darstellt, die zudem, was schon länger als geklärt galt, nichts mit der Herkunft aus dem Bauch oder gar aus den unreinen Teilen des Körpers zu tun hatte, sondern mit der geschickten Kaschierung vor allem der Lippenbewegungen. Der ökonomischen Bewertung ist anlässlich eines Textes Über phonographische Stimmprüfung eine moralische anzuschließen, die von der Flexibilität des Gaumenzäpfchens (Uvula) handelt und diese in ihrer kaufmännischen Verwertung abstraft: »Je grösser die Variabilität der Uvula, je grösser ihre Fähigkeit, in der Form mit grosser Schnelligkeit zu wechseln, um so metallischer und schmelzreicher wird der Klang der Stimme sein. Keine Uvula, kein Metall, kein Schmelz! Es dürfte darauf hinzuweisen sein, dass die Bedeutung der Uvula im direkten negativen Sinne schon einem Beruf erkannt und kaufmännisch verwerthet wird, nämlich bei den Bauchrednern.«26
Die Bauchrednerstimme findet sich sowohl in moralischer als auch unterhaltungsökonomischer Bedrängnis, und so nimmt es nicht Wunder, dass ihr Abwärtsstrudel schlussendlich die Niederungen der Sprachpathologie erreicht. Über diese Beschäftigungen findet sie Eingang in Abhandlungen über Sprachpathologie wie etwa bei Ernst Barth in seiner Einführung in die Physiologie, Pathologie und Hygiene der menschlichen Stimme von 1911, die der Bauchrednerstimme eigens einen eigenen Abschnitt widmet. Aus einer virtuosen Befähigung, die ihren Performern den Lebensunterhalt sichern konnte, ist dort schlicht eine Sprachstörung geworden, die es zu observieren und nach Möglichkeiten zu therapieren (oder gar auszutreiben) gilt.27 Trotz dieser Diskreditierung im Rahmen der Stimmphysiologie bleibt
26 Max Breitung, »Über phonographische Stimmprüfung«, in: Monatsschrift für Ohrenheilkunde sowie für Kehlkopf-, Nasen-, Rachen-Krankheiten, 33 (1899), 537-548, hier: 542. 27 Ernst Barth, Einführung in die Physiologie, Pathologie und Hygiene der menschlichen Stimme, Leipzig 1911, 289-293. Dort auch der Hinweis auf Johannes Müller, den großen Experimentator natürlicher und künstlicher Kehlköpfe, »welcher selbst die Bauchrednerkunst verstand« (290).
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die Bauchrednerei aber in Geltung, findet Eingang in Radio- und Fernsehshows und auch an ihrem angestammten Ort, den Unterhaltungsbühnen, erfreut sie sich ungebrochener Beliebtheit. Mit Ventriloquisten wie dem Amerikaner David Strassman überlebt sie selbst den Sprung in die Postmoderne. Strassmann jedenfalls betreibt eine Form des High-TechVentriloquismus, zu dessen Behufe er auch die Puppen mit Hilfe seiner Firma Puppetronix technisch auf Vordermann bringt.28 Damit ist die alte Kunst des Bauchredens auf dem Sachstand des 21. Jahrhunderts angekommen. »Strassman has brought his puppet characters into the present by bringing them to life not only with amazing depth of character but also with high-tech robotics, taking ventriloquism out of the cabaret club and into proscenium theatres. His shows are hilariously funny and razor sharp while performing in full stage productions complete with dazzling sets and state-of-the-art theatrical effects.«29
Und in einem YouTube-Eintrag darf der High-Tech-Ventriloquist schließlich als »innovator and ›master‹ of post-modern ventriloquism« gefeiert werden.30 Glanz und Glorie eines virtuosen Berufsstandes sind auf dem Stand der Technik – und wer heute nach dem Thema googelt, wird nicht nur fündig in der Nähe von Hüpfburgenverleihern und Einmannunterhaltern zur Ausrichtung von Kindergeburtstagen und Betriebsfeiern, sondern eben auch an den großangelegten Schauplätzen der Unterhaltung, etwas im umtriebigen Showbetrieb von Las Vegas.31 Diese Rückeroberung der Bühnen wird flankiert durch eine zunehmende Arbeit am kulturellen Gedächtnis der alten Kunst, die von ihren oft selbst als Bauchredner tätigen Anhängern betrieben wird. Diese geht oft mit Strategien der Musealisierung und im Gestus nostalgischer Verbrämung einher – als vintage ventriloquism, wie er Gegenstand entsprechender Internetplattformen ist. Die derart betriebene Historiographie schwelgt in erwartbaren Details: Wer wann und an wel-
28 Dazu siehe www.puppetronics.com, zuletzt abgerufen am 07.02.2013. 29 www.ventriloquist-david-strassman.com, zuletzt abgerufen am 07.02.2013. 30 www.youtube.com/user/TwistedPuppetChuck, zuletzt abgerufen am 07.02.2013. 31 Ein eindrucksvolles Bild liefert eine Dokumentation über die Ventriloquist Convention in Las Vegas von 2000/2001. Vgl. dazu Asta Gröting, The Inner Voice, Frankfurt/M. 2004.
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chem Ort mit welchem Dummy auftrat, wer als erste Bauchrednerin von sich reden machte, wer der erste schwarze Ventriloquist war, wie welcher Bauchredner zu seinen Puppen kam und welche Geschichten sich um den Verlust und das Wiederauffinden derselben ranken und nicht zuletzt welches Schriftgut die Karriere der Bauchrednerei begleitete.32 Auch vom Zusammenleben mit Puppen gibt es Einschlägiges zu berichten und nicht selten betrifft es deren prekären Agentenstatus: So hat ein Bauchredner seinen Dummy in seinem Testament bedacht und damit als Rechtssubjekt nobilitiert; und in einer anderen Geschichte wird von der Frau eines Ventriloquisten die allzu intime Beziehung ihres Gatten zu seiner Puppe gar als Argument in einem Scheidungsprozess herangezogen.33
III. Wie aber steht es um diese andere Stimme, die da spricht? Wie werden vor dem Hintergrund der technischen Fertigkeit Konzepte von Identität verhandelt? Mit wem spricht der Bauchredner, wenn er denn spricht? Welche Form eines Selbstverhältnisses wird im Moment der Selbstbezugnahme geschaltet und was stellt es mit dem Bauchredner selbst an? Und in letzter Konsequenz: Was passiert, wenn sich das im Dummy aktualisierte Selbstverhältnis seinerseits verselbständigt? Im Zeichen des Effektes dient der Bauchredner als Argument der technischen Synchronisation und personifiziert die Eigenheiten crossmodaler Wahrnehmung.34 Der nach ihm benannte Effekt, der in der Diskussion um das Kino fest verankert ist, eröffnet eine Vielzahl von ästhetisch-technischen Verhaltensweisen – nicht zuletzt solche, die im gezielten Außerkraftsetzen, also auf strategisch eingesetzter Desynchronisation fu-
32 Zu
dieser
historiographischen
Rückversicherung
vgl.
stellvertretend
www.ventriloquistcentral.com/ventriloquism-tribute/tribute-to-ventriloquism/ index.htm, zuletzt abgerufen am 01.02.2013. 33 Zu den Details vgl. Valentine Vox, Die Geschichte der Bauchrednerkunst, Degersheim 1985. 34 Vgl. dazu W. Stephen Bush, »Human Voice as a Factor in the Moving Picture Show«, in: MPW, 23. January 1906. De Foe, »Theatre«, in: New York Morning World, 4. April 1908.
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ßen.35 Für dieses Auseinandertreten von Bild und Ton gibt es zahlreiche Beispiele, die Kinogeschichte schrieben, etwa die Verwirrung der Sprechinstanz von Mann und Frau in SINGIN’ IN THE RAIN (USA 1952) oder die Unterlegung des Geräusches von Tennisbällen mit den Bewegungen von Schritten in LES VACANCES DE M. HULOT (F 1951). Aber unbeschadet solcher Vorführeffekte an der Schnittstelle zwischen zwei Datenquellen, die im Zuge der zunehmend gelingenden Synchronisation kaschiert oder als ästhetisch gewollte Desynchronisation explizit ausgestellt ist, wird dem Bauchredner eine andere Karriere zuteil, mit der er wiederum an die eigene Tradition anschließt. Er tritt nicht mehr nur als Effekt des Kinos, sondern auch als Sujet im Kino auf. Der schleichende Verlust der Selbstbestimmung und das zunehmende Beherrschtwerden durch die Puppe, das in den konventionellen Spielszenen der Ventriloquisten implizit immer bereits mit angelegt ist, taugen als narrative Vorlage unterschiedlicher Realisierungen, deren Höhepunkt im vollständigen Selbstverlusts des Bauchredners und der Kapitulation vor der Puppe gipfelt.36 In der literarischen Variante spielt Leopold Schefer durch, was es heißt, wenn der andere – bei ihm personifiziert als Jonas – gelegentlich in die Kommunikation eingreift, als Sprechinstanz von sich auf eine Weise reden macht, die der Sprecheridentität allerlei Unbill beschert, wo das Ich besser geschwiegen hätte. Wer oder was aber spricht, wenn sich solche Interventionen verselbständigen, wenn sie gar als Sprechinstanz mit eigenständigem Willen und eigner Identität konzeptualisiert werden? Einen Hinweis in Richtung einer Epistemologie des Ventriloquismus gibt Rick Altman, indem er auf die Textsorte der Manuale, also auf das breit gefächerte Schrifttum jener Anleitungen verweist, die erläutern, wie die Kunst zu erwerben ist.37 In diesem Fall zieht er Darryl Huttons Ventriloquism aus dem Jahr 1974 zu Rate. Mithin adressiert er
35 Stellvertretend für die Psychologie der Wahrnehmung Paul Bertelson, Monique Radeau, »Cross-modal bias and perceptual fusion with audotory-visual spatial disordance«, in: Perception and Psychology, 29(6), 1981, 578-584 sowie kanonische Arbeiten wie Ernst Mach, »Bemerkungen über den Raumsinn des Ohres«, in: Annalen der Physik und Chemie, 5. Reihe, 6. Bd., 1865, 331-333. 36 Zu diesem Sujetwerden vgl. ausführlich Steven Connor, Dumbstruck. A Cultural History of Ventriloquism, Oxford 2000. 37 Rick Altman, »Moving Lips: Cinema as Ventriloquism«, in: Yale French Studies, No. 60, Cinema / Sound 1980, 67-79.
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einen Zeitpunkt, an dem die Schlachten um die Synchronisation unterschiedliche Datenquellen längst als geschlagen gelten durften und mithin eine Zeit, in der der Erwerb der zum Bauchreden nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten noch nicht auf YouTube verhandelt wurde. »First of all, it is most important to analyze your own character carefully so that when you create the dummy’s character there is a good contrast. According to Freud, all of us have hidden desires that we suppress. The most successful ventriloquists have let these desires be expressed in the personality of their dummies.«38
Indem er zum Sujet gerät, wird dem Bauchredner wieder jene Phantasmatik zu teil, von der die Kulturgeschichte immer schon handelte und die von den technischen Synchronisationsfragen lediglich verstellt wird. Am Ende und nach dem Gelingen der Synchronisation steht das schiere Grauen – dann, wenn die Virtuosität der Beherrschung einer anderen Stimme einem Beherrschtwerden durch diese andere Stimme weicht, wenn der Bauchredner der Perfektion einer Selbstumgangstechnik erliegt und mit dem Unbewussten einer der Instanzen seiner Verwissenschaftlichung wie im Fall der von Altman angesprochenen Psychoanalyse eine Stimme verleiht. Das gibt Raum für vielfältige Besetzungen in den Rollenspielen der Puppen. Dass diese unterschiedlichen Besetzungen historisch nachzeichenbar sind und den Weg zu einer allgemeinen Kulturgeschichte der aufgeklärten Menschheit weisen, diese teleologische Option hatten schon die beiden Historiographen Flatau und Gutzmann als Marschrichtung gewählt. Nur ihr anvisiertes Endziel, die objektive, vorurteilslose Forschung des ›naturwissenschaftlichen Zeitalters‹, erweist sich allerdings denn doch als problematisch. Die durch all die menschheitsgeschichtliche Reinigungsarbeit immer wieder freiwerdenden Leerstellen werden jeweils anders neu besetzt, bleiben aber dessen ungeachtet in Geltung. Ob Hexen oder Teufel, ob Kinder oder Kolonisierte, oder ob es die Kategorien der Psychoanalyse selbst sind, die als das Unbewusste von sich reden machen – sie alle stehen für Sprechinstanzen, deren Redeeffekte nicht dem Prinzip personaler Identität unterstehen, sondern die auf Momente der Spaltung setzen, die ihrerseits von
38 Darryl Hutton, Ventriloquism, nach Altman, »Moving Lips: Cinema as Ventriloquism«, a.a.O., 77.
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den Dummies in Szene gesetzt werden.39 Mit Blick auf die Filme, die konsequent die Schizophonie in die Register des Horrors eintragen, treten entsprechende Bedrohungsszenarien auf den Plan und damit zugleich die Frage, wie es zum Verlust des eigenes Rederecht und der Preisgabe eigener Redesouveränität kommt. Was sind die jeweiligen Begründungsfiguren, die hinter der Preisgabe der eigenen Stimme stehen und diese jeweils motivieren? Das führt – folgt man den Vorgaben einer allgemeinen Menschheitsgeschichte – zu historisch variablen Formen der Stimmentmächtigung. Der Goethezeitpsychiater Dietrich Georg Kieser liefert dazu einen Beitrag, der auf das erste Drittel des 19. Jahrhunderts datiert, allerdings erst 1853 unter dem Titel Melancholia daemonomaniaca occulta, in einem Selbstbekenntnis des Kranken geschildert veröffentlicht wird. Darin bietet er eine Selbstbeschreibung, die den Betroffenen als von einer veritablen Rotte umstellt erscheinen lässt, die mit ihm eine Art Bauchrednerei betreibt und ihn dabei in den Zustand einer bloßen Maschine versetzt. »So bin ich nun Tag und Nacht von wahrhaft dämonischem Spuk und Unfug umringt. Jene Lautiererscheinungen werden auf eine satanische Weise hervorgebracht, und mein Körper befindet sich in fortwährender unruhiger Agitation, die sehr häufig mit den fühlbarsten Schmerzen verbunden ist. Jene Rotte treibt mit mir, wie mit einer Maschine, eine Art Bauchrednerei!!!«40
Die Puppe ist nicht Accessoire, nicht Werkzeug, nicht Maschine, sondern Ermöglichungsgrund eines Selbstumgangs, vielleicht gar einer Selbsttechnik im Sinne Foucaults. Dass das Einnehmen unterschiedlicher Bedenkund Sprechorte Techniken der Rhetorik, der Argumentation, der Meditation, der Psychologie oder welche kulturellen Schaltorte auch immer voraussetzt, mag als Indiz für seine epistemologische Relevanz gelten: als Indiz dafür, dass und wie sehr die Schizophonie einer kultureller Matrix folgt, die
39 So bemüht Eelco Huizinga eigens das Enfant terrible. Vgl. ders., »Über Bauchreden«, in: Archiv für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfheilkunde, 127. Bd., 1930, 77-92, hier: 88. 40 Dietrich Georg Kieser, »Melancholia daemonomaniaca occulta, in einem Selbstbekenntnis des Kranken geschildert«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin, 10. Bd., 3. Heft, 1853, 423-457, hier: 440.
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im Moment ihrer Unkontrollierbarkeit, ihres Selbstlaufes als historisch jeweilige Natur des Wahnsinns rekonstruiert wird. Der Film MAGIC (USA 1978), der den Weg eines erfolgreichen Unterhaltungsventriloquisten in Wahnsinn und Mord nachzeichnet, zeigt den Helden nicht mehr im Umgang mit anderen Personen, die wie Mütter und Väter psychoanalyserelevant heißen, sondern im Umgang mit sich und seinen eigenen Instanzen, deren eine ihn schlussendlich bis in den Tod treibt. Längst figuriert in der anderen Stimme nicht mehr nur die Instanz eines durch Aufklärung mundtot gemachten Irrationalen – wie es in der Parallelaktion einer allgemeinen Menschheitsgeschichte bei Flatau und Gutzmann heißt – vielmehr bringen sich die neueren Theoriebildungen dieser Menschheit mit ihrer jeweiligen Abgründen selbst in ihr zur Geltung. In die Fußstapfen von Hexen und Dämonen sind Sprechinstanzen getreten, die wie im Fall des Unbewussten der Verwissenschaftlichung des Menschen geschuldet sind.41 Die postmoderne Variante des Ventriloquismus greift dieses Potential unterschwellig auf, indem sie es als Hintergrundgeschehen direkt mitverhandelt: David Strassman etwa, der die Puppen auf den technischen Stand der Dinge bringt, bemüht zugleich eine derart psychiatrische Rahmung – indem er das Geschehen einer seiner Shows kurzerhand in die Räumlichkeiten eines Seelenarztes verlagert. Der Kurzschluss von Psychiatrie und Ventriloquismus hat Methode und ist mehr als nur eine gefällige Reminiszenz an Strassmans eigene Familiengeschichte. Der biographische Hinweis, dass Strassmans Vater, der Psychiater und Psychoanalytiker Harvey D. Strassman, einschlägig für die Etablierung des posttraumatischen Stresssyndroms amerikanischer kriegsgefangener Soldaten war, tritt hinter die eingangs erwähnte Platzhalterfunktion des Ventriloquismus zurück. Wissenschaften wie die Psychiatrie kultivieren immer weitere Parzellen des Unzugänglichen, das sich im Setting des Bauchredens immer und immer wieder neu Gehör verschafft.42 Aber es hat mit einer solchen ironisch
41 Vgl. dazu die Abbildung von Asta Gröting at the Freud Museum in: dies., The Inner Voice, a.a.O., 95. Der dort mit einem Telefonapparat abgebildete Ventriloquist beherrschte vor allem die Simulation unterschiedlicher Stimmen in einer Fernsprechsituation. 42 Vgl. dazu Harvey D. Strassman/Margaret B. Thaler/Edgar H. Schein, »A Prisoner of War Syndrome: Apathy as a Reaction of Severe Stress«, in: American Journal of Psychiatry, 122. Bd., Nr. 12, 1956, 998-1003.
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angespielten Figur eines epistemischen Selbstläufers noch nicht sein Bewenden. Sie verdoppelt sich noch einmal und das ganz unironisch, wenn es um die Verwissenschaftlichung entsprechender Phobien geht. Die einschlägige Angst vor der Puppe im Allgemeinen wird von den entsprechenden Taxonomien als Automatonophobie konzeptualisiert und selbstredend wird sie auch ins Bild gesetzt: Dass Wikipedia diese Form der Phobie unbeschadet all ihrer naturwissenschaftlichen Erklärung ausgerechnet mit dem Bild eines berühmten Bauchredners mit seiner Puppe (Paul Winchell mit Jerry Mahoney) visualisieren kann, zeigt, wie der Ventriloquismus als Effekt des Wissens auch heute noch von sich reden macht.43
Abbildung 5: Paul Winchell mit Jerry Mahoney
Das Bauchreden als stabiler Ort jeweiliger Wissensstände hat sich in der kulturellen Wahrnehmung verselbständigt – so sehr, dass sie sogar in einem Umfeld funktioniert, in dem sie gar nicht funktionieren dürfte. Das belegt nicht zuletzt die sonderbare Karriere des Bauchredens im Radio und damit
43 Inzwischen müsste man sagen – konnte, da dieses Bild vor kurzer Zeit herausgenommen wurde. Siehe http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Automatono phobia&oldid=527403363, zuletzt abgerufen am 10.12.2012.
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in einer Wahrnehmungssituationen, in der von den unterschiedlichen Datenquellen überhaupt nicht die Rede sein kann, die dem Phänomen zugrunde liegt: Es mag zunächst verwirren, dass unter den Scharen der in Film und Fernsehen vertretenen Unterhaltungsventriloquisten aller Couleur einer ihrer erfolgreichsten, Edgar Bergen, seine Karriere ausgerechnet im Radio breitenwirksam machte. Nach Erfolgen auf den Varietébühnen startete er zusammen mit seinem Dummy Charley McCarthy eine eigene Radioshow, mit der er immerhin von 1937 bis 1956 ausgesprochen erfolgreich auf Sendung war. Dieser irritierende Befund sollte kein Einzelfall bleiben, wie die Radiokarriere des englischen Bauchredners Peter Brough belegt, der mit seinem Sidekick Archie Andrews ebenfalls ein äußerst erfolgreiches Radioprogramm mit dem Titel Educating Archie unterhielt. Der Fall Broughs wurde einmal mit der spöttischen Bemerkung kommentiert, im Radio sei leicht bauchreden und es bedürfe dazu keiner besonderen Fähigkeit, so dass es schließlich jeder ausüben könne – dem Effekt und der Akzeptanz dieses Unternehmens tat diese Beobachtung jedoch offensichtlich keinerlei Abbruch. Was mit technischer Virtuosität begann, die Simulation schizophonischer Effekte, ist selbstverständlicher Teil unserer Wissens- und Wahrnehmungsordnung. Oder anders gesagt: Spaltung und Uneindeutigkeit gelten so sehr als Normalfall des Menschen, dass deren virtuose Simulation gar nicht mehr vonnöten ist. Der Verlust der technischen Beherrschung der Stimmverstellung macht sich dann erst wieder bei einem nächsten Medienwechsel bemerkbar. Als der Radioventriloquist Brough seine weitere Karriere unter den crossmodalen Bedingungen des Fernsehens antrat, hieß es in einem kritischen Kommentar, dass die Zeit als Radiobauchredner seiner Befähigung in dieser Kulturtechnik nicht unbedingt zuträglich war.
L ITERATUR Altman, Rick, »Moving Lips: Cinema as Ventriloquism«, in: Yale French Studies, No. 60, Cinema/Sound 1980, 67-79. Barth, Ernst, Einführung in die Physiologie, Pathologie und Hygiene der menschlichen Stimme, Leipzig 1911, 289-293.
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ABBILDUNGEN Abb. 1: Giulio Panconcelli-Calzia, 3000 Jahre Stimmforschung. Die Wiederkehr des Gleichen, Marburg 1961, S. 137. Abb. 2-4: Theodor Simon Flatau, Hermann Gutzmann, Die Bauchrednerkunst. Geschichtliche und experimentelle Untersuchungen, Leipzig 1894. Abb. 5: http://en.wikipedia.org/wiki/Paul_Winchell, zuletzt abgerufen am 01.02.2013 (dieses Bild war vormalig auf dem Wiki-Eintrag automatophobia zu sehen).
»This thing walks and talks and acts like me« Der Synthespian und die Identitätskrise des Filmschauspielers J ULIA E CKEL
Das digitale Kino präsentiert in den letzten Jahren eine neue Spezies menschlicher Figuren, welche die Frage nach der Irritation und Unbestimmbarkeit von Identität auf einer sehr konkreten Ebene thematisierbar machen: Synthespians. Diese digitalen oder digitalisierten Schauspieler1 treten inzwischen nicht mehr nur im klassischen Animationsfilm oder in Special-EffectsBlockbustern (wie z.B. TOY STORY [USA 1995, R. John Lasseter] oder SPIDER-MAN [USA 2002, R. Sam Raimi]) auf, sondern ebenso in weniger action-ambitionierten Produktionen (wie z.B. THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON [USA 2008, R. David Fincher]). Die Uneindeutigkeit der digitalen Haupt- und Nebenfiguren resultiert dabei aus ihrer hybriden Gestaltungsweise, denn was genau an diesen Figuren einer Aufzeichnung menschlicher Oberflächen, Formen oder Bewegungen entspringt und was erst im Computer generiert wird, ist nachträglich kaum zu erkennen. Die Übergänge zwischen anthropomorpher Grafik und fotografischem Menschen-Abbild, zwischen synthetischem und indexikalischem Ursprung der Filmfigur sind fließend und erschweren die Grenzzie-
1
Begriffe wie »Schauspieler«, »Darsteller« etc. und die zugehörigen Pronomen sollen im Folgenden stets als geschlechtsneutral aufgefasst werden, es sei denn, eine genderspezifische Einordnung wird im Text explizit vorgenommen.
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hung, denn selbst wenn die digitale Figur in ihrer Äußerlichkeit nicht auf der fotografischen Vorlage eines Menschen beruht,2 so sind etwa ihre Bewegungsabläufe, Mimik und Stimme in den meisten Fällen aus Aufzeichnungen von Schauspielern generiert und somit menschlichen Ursprungs. Das Oszillieren zwischen Artifizialität und Authentizität, zwischen Technizität und Natürlichkeit lässt den Synthespian damit als unbestimmte Figur erscheinen, deren Status als mensch(enähn)liches Wesen in der Rezeption zwischen Glaubhaftigkeit und Zweifel schwankt. Die Hybridität und Ambiguität dieser Figuren (ihre über die photographische Reproduktion hinausgehende Herstellung) wird häufig innerhalb der Filmnarrationen mit aufgegriffen.3 Dies trifft vor allem auf das Science Fiction- und Fantasy-Kino zu, dessen Fokussierung unbestimmbarer Mischwesen (in Form von Androiden, Robotern, Cyborgs und Mutanten, oder auch Zentauren, Sphinxen und Meerjungfrauen) ohnehin zu den zentralen Kennzeichen dieser Genres zählt.4 Die Irritation, die diese Figuren somit auch auf
2
Zum Beispiel im Falle der Monster in MONSTERS, INC. (USA 2001, R. Peter Docter/David Silverman/Lee Unkrich).
3
In den Anfangstagen der digitalen Figuren-Animation (in den 1980er/90er Jahren) passierte dies noch häufiger, weil die visuellen Unterschiede zwischen künstlichen und realen Figuren so deutlich sichtbar waren, dass die Artifizialität der Figur einer Legitimation durch den Kontext der erzählten Geschichte bedurfte. Laut Barbara Flückiger resultiert genau daraus erst ihre Spektakelhaftigkeit. Über die digitalen Figuren in Filmen wie TERMINATOR 2 (USA 1991, R. James Cameron) oder THE LAWNMOWER MAN (USA 1992, R. Brett Leonard) schreibt sie: »Schon von der Konzeption her versuchen diese Figuren überhaupt nicht, einem natürlichen Menschenbild zu entsprechen, sondern sie betonen die Differenz, das Fremdartige der digitalen Kreatur. Gerade in dieser Differenz jedoch wird das Moment des Spektakels gesehen, denn würden sie vollkommen organisch und natürlich wirken, würde man sie nicht weiter beachten; sie würden sozusagen in die Narration sinken und von ihr naturalisiert werden.« (Barbara Flückiger: Visual Effects – Filmbilder aus dem Computer, Marburg: Schüren 2008, S. 427).
4
Thomas Koebner nimmt die Thematisierung artifizieller Menschen oder undefinierbarer Lebensformen daher auch in seine Auflistung der sechs zentralen Motive der »Science-Fiction-Phantasie« auf. Darunter nennt er: »[...] Zweitens: die Begegnung mit außerirdischem Leben, das aus dem Weltraum zu uns dringt, feindlich oder wohlgesonnen, von unglaublicher Gestalt oder assimiliert an unse-
»T HIS
THING WALKS AND TALKS AND ACTS LIKE ME «
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narrativer Ebene erzeugen, liegt dabei in der Instabilität etablierter Grenzziehungen begründet, die diese überschreiten oder durchlässig werden lassen. Während ›der Mensch als solcher‹ normalerweise in seiner Abweichung vom Tierischen, Technischen oder Toten definierbar wird, regen die hybriden Figuren dazu an, diese Grenzen neu zu verhandeln. Das Motiv der unbestimmten Figur im Film ist in diesem Sinne natürlich nicht neu bzw. lässt es sich weit zurückverfolgen.5 Was aber die aktuellen Synthespians in dieser Hinsicht auszeichnet ist, dass sie die Überschreitung menschlicher Definitions-Grenzen nicht mehr allein inhaltlich im Rahmen ihrer Narrationen verhandelbar werden lassen, sondern dass sie scheinbar selbst als halb technisches, halb menschliches Bild-Konstrukt auf die Leinwand gelangen. Während z.B. frühere Erzählungen oder Filme über Frankensteins Monster die Verschmelzung von Menschenteilen zu einer unnatürlichen Kunstfigur auf einer rein inhaltlichen Ebene thematisierten, die im Film über die Maskerade eines realen Schauspielers seine Umsetzung fand, scheint die besondere Qualität und Glaubwürdigkeit der aktuellen audiovisuellen Mischwesen dazu zu führen, dass diese die Grenze zwischen Mensch und Technik nicht mehr ausschließlich auf der Ebene der Narration und vorfilmischen Realität, sondern auch und vor allem durch ihre produktionstech-
re Körper. Drittens: die künstlichen Menschen, die sich deutlich vom Prometheus-Komplex und seiner modernen Variante, dem Frankenstein-Komplex, ableiten lassen: unzweideutige Roboter, die als brave oder aufsässige Knechte den ›Herrenmenschen‹ dienen, oder Duplikate, Ebenbilder, Humanoide, bei denen man kaum mehr bestimmen kann, worin sie sich von echten Menschen unterscheiden« (Thomas Koebner: Vorbemerkung, in: ders.: Filmgenres: Science Fiction. Stuttgart: Reclam 2003, S. 9). Auch Georg Seeßlen bezeichnet die Science Fiction als »the most prominent genre for the cinematic construction of the parallel being« (Georg Seeßlen: Dream Replicants of Cinema – Passage through Old and New Moving Images, in: Rolf Aurich/Wolfgang Jacobsen/Gabriele Jatho (Hg.) Artificial Humans – Manic Machines, Controlled Bodies, Berlin: Jovis 2000, S. 10). 5
Die Schaffung von Hybridwesen ist bereits innerhalb frühsteinzeitlicher Kulturen dokumentiert (z.B. in Form von ›Löwenmenschen‹; vgl. Gerhard Bosinski: Das Bild in der Altsteinzeit, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.) Bildtheorien – Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 31-73).
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nische und bildliche Umsetzung irritieren. Die Herstellung künstlicher Wesen, die bisher lediglich ein Anliegen und Problem der menschlichen Protagonisten auf der Leinwand war, wird so parallel als ein Problem etabliert, das ebenso die Menschen im Zuschauerraum und die Akteure vor der Kamera erreicht. Versteht man Identität6 als die Vorstellung von der Gleichheit und »Dieselbigkeit«7 von Dingen und Wesen, die sich dadurch über raumzeitliche Zusammenhänge und Veränderungen hinweg als körperliche und/oder geistige Einheiten konzipieren lassen, so scheint der Synthespian sich diesen Zuschreibungen auf bildlicher Ebene zu widersetzen. Während der analoge, fotografische Film über die Ähnlichkeit seiner Motive ein Versprechen auf naturgetreue Wiedergabe identifizierbarer Menschen und Objekte gab, wird im Falle der ›Computer Generated Images‹ die Identifikation der Akteure erschwert. Der Synthespian ruft darum ständig die Frage auf: Was an mir ist »echt« im Sinne einer Realreferenz und was an mir ist »künstlich« als Ergebnis digitaler Bildbearbeitungsprozesse? Die Vereindeutigung und damit Identifikation wird so zu einer ständig gefährdeten Illusion, die besonders
6
Etwas ausführlicher lässt Identität sich definieren als die Vorstellung von der Gleichheit und Vergleichbarkeit bzw. Konsistenz und Konstanz von Dingen über Zeit und Raum hinweg – sei dies bezogen auf ihre Materie, ihr Wesen oder ihre mentale/geistige Beschaffenheit. Im Hinblick auf den Menschen ist Identität demnach die Vorstellung von einem Seinskern, der über raumzeitliche, körperliche und mentale (Veränderungs-)Prozesse hinweg stabil bleibt. Es ist etwas, das der Mensch sich selbst zuschreibt, das andere ihm Zuschreiben und das sich – so z.B. die These (post-)moderner Soziologien (vgl. z.B. Abels [2006, 25ff.]) – in der aufgeklärten und modernen Gesellschaft zunehmend ausdifferenziert und behauptet werden muss. Diese Form der Identität wird dem Menschen generell als Bedingung seines Menschseins zugeschrieben und wird damit zu einem ihm übergeordneten Merkmal: Die Eindeutigkeit des Einzelnen ist damit wiederum eine Eigenschaft, die die Menschheit als Gruppe vereindeutigt. Genau diese Vereindeutigungen (und damit Identitätszuschreibungen) jedoch sind es, die die synthetische Figur in Frage zu stellen scheint, da sie die Einordnung bzw. Identifikation identitätsbestimmender Merkmale (z.B. des menschlichen Gesichts, der menschlichen Körperstatur, menschlicher Bewegung etc.) irritiert.
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o.A.: Identität. In: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2, Leipzig 1838, S. 437.
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deutlich hervortritt, wenn der reale Schauspieler als Vergleichspunkt hinzugezogen wird. Interessant ist aber, dass der Synthespian damit dem fragilen Konzept von Identität an sich ein adäquates Äußeres verleiht. Denn laut Georg Seeßlen liegt die Suche nach und Verunsicherung von definitorischen Unterscheidungen, die sich besonders anschaulich in hybriden Medien-Figuren äußert, in der grundsätzlichen Beschaffenheit des Konzepts menschlicher Identität begründet. In Bezug auf das Auftreten und die narrative Verhandlung künstlich geschaffener Menschen im Film schreibt er: »Man is no being that is one. The individual, undivided, is his dream, not his reality. He sees himself as split, continuously divided, and removed from himself. Here, he breaks up into body, soul, and spirit, there, into gaze and image; […] he is the being that needs image, mask, and mirror. All his reverie, his storytelling, his creating have only two points of departure, the miracle of unity and the horror of never-ending division. This is why his world is populated by heroes, demons, and gods, by shadows and doppelgängers; this is why he is constantly searching for his counterpart – only in order to find himself.«8
Das menschliche Abbild bzw. das Motiv des Mensch(lich)en innerhalb von audiovisuellen Medien wird somit zum Sinnbild menschlicher Identität, weil es nach den gleichen Maßstäben gemessen wird wie Menschen in realweltlichen Umgebungen: Sie müssen bzw. sollen in ihrer Art und Seinsweise bestimmbar sein und über raumzeitliche Veränderungen hinweg in dieser Seinsweise stabil und mit sich selbst vergleichbar (d.h. identisch) bleiben – auch wenn diese Einheit potentiell gefährdet bzw. illusorisch ist. Inwieweit die Synthetik der filmischen Figur allgemein dabei immer schon, und nicht erst in Zeiten ihrer digitalen Hybridisierung, Vorstellungen von Identität bestärkt oder in Frage stellt, dem soll im Laufe dieses Artikels nachgegangen werden. Dabei werden weniger die Geschichten im Vordergrund stehen, in deren Kontext der Synthespian zum Einsatz kommt, sondern jene Diskurse, die sich jenseits seiner narrativen Einbindung um ihn ranken. Auf welchen Ebenen irritiert der computeranimierte Schauspieler Vorstellungen von Identität? Und ist dieses Potential nicht möglicherweise dem Filmischen an sich inhärent? Dabei wird zu klären sein, inwieweit der
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Seeßlen 2000, S. 9 (Hervorh. i. Orig.).
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Synthespian als diskursive DenkFigur in bestehende Überlegungen zum Film einzubetten ist und in welchen Belangen er tatsächlich neue Fragen aufwirft.
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Betrachtet man das Konzept des Synthespians genauer, so fällt auf, dass es sich in mehrfacher Hinsicht genauen Definitionen entzieht. Zum Einen liegt das in der Variabilität an Phänomenen begründet, die mit dem Begriff des digitalisierten oder auch virtuellen Schauspielers bezeichnet werden können. Steht auf der einen Seite des Spektrums die vollständig digitale Figur, deren Aussehen und Bewegungen ausschließlich (z.B. per Keyframe Animation) am Computer generiert sind, findet sich auf der anderen Seite der lediglich digital retuschierte Schauspieler, der nur ausschnittweise und in Nuancen eine computergesteuerte Nachbearbeitung erfährt. Ab wann innerhalb dieses Kontinuums genau von einem Synthespian zu sprechen ist und wann (noch) nicht, ist nicht präzise definiert. In einem zweiten Schritt weist der Begriff des Synthespians selbst eine definitorische Schwierigkeit auf. Im Jahre 1988 von den ComputerAnimationskünstlern Jeff Kleiser und Diana Walczak entwickelt, setzt er sich aus den Bestandteilen »synthetic« und »thespian« zusammen – abgeleitet von Thespis von Icaria, dem vermutlich ersten Schauspieler des antiken Theaters.9 Damit bezeichnet der Synthespian aber etwas als Schauspieler, das kein Schauspieler ist, weil es nicht schauspielt – zumindest wenn man einer Definition von Knut Hickethier folgt: »Mit dem Begriff des Schauspielens wird innerhalb fiktionaler Produktionen das Verkörpern einer Figur durch einen Menschen bezeichnet, der nicht mit dieser Figur identisch ist.«10
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Vgl. Dan North: Performing Illusions. Cinema, Special Effects and the Virtual Actor, London/New York: Wallflower 2008, 149f.
10 Knut Hickethier: Schauspielen in Film und Fernsehen, in: Thomas Koebner (Hg.) Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart: Reclam 2002, S.527 (Hervorh. J.E.).
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Die Frage des Schauspiels ist gemäß dieser Definition somit an sich eng mit der Frage nach dem Identitären verknüpft,11 da im Moment des Spiels zweierlei Vorstellungen von Identität miteinander konkurrieren: Auf der einen Seite findet sich der Schauspieler als realweltlich gedachtes Individuum, auf der anderen die von ihm verkörperte Figur mit ihrer fiktionalen, aber ebenso individuell denkbaren Persönlichkeit. In Bezug auf den Synthespian ist diese identitäre Spaltung jedoch nicht gegeben, denn der synthetische Akteur ist oberflächlich gesehen zunächst allein mit sich selbst identisch und damit ganz Rolle und nicht Schauspieler. Gleichzeitig ist er jedoch in den meisten Fällen ein Konglomerat aus verschiedensten Aufzeichnungen menschlicher Formen, Texturen und Bewegungen und damit nur in Teilen deckungsgleich mit den Schauspielern, die ihm dadurch sein Aussehen, seine Gestik, Mimik oder Stimme verleihen. Wenn überhaupt ist der Synthespian also das Ergebnis vielfältiger Schauspiel- und Schaffensprozesse und demnach im engeren Sinne kein Schauspieler. Dass er trotzdem als solcher bezeichnet wird ist daher signifikant, denn allein durch den Begriff des Synthespians wird so ein Konkurrenzverhältnis geschaffen, in dem die computergenerierte Figur rivalisierend gegen den herkömmlichen Schauspieler antritt. Dieses implizite Konkurrenzdenken schreibt sich auch in die weiterführenden Diskurse ein, die sich immer wieder um die Präsentation neuer, digitaler Figuren entfalten und z.B. in der Presse und in Form von Making-Ofs und DVD-Kommentaren zur Sprache kommen. So finden sich seit Etablierung des Synthespians regelmäßig Artikel, die sich der Frage nach der Ersetzbarkeit des echten Schauspielers durch den Synthespian annehmen: Telepolis z.B. veröffentlichte schon im April 1997 einen Artikel mit dem Titel Der Star, das virtuelle Wesen und stellte die Frage: »Die Stars werden zu teuer. Werden sie durch Software ersetzt?«12 Zwei Jahre später formuliert IMDB es im Studio Briefing vom April 1999 in Anlehnung an eine APPressemeldung quasi analog: »Will Computers One Day Replace Actors?« wird dort als Frage in den Raum gestellt, und zur Untermauerung der Rele-
11 Vgl. auch Hans J. Wullf: Attribution, Konistenz, Charakter – Probleme der Wahrnehmung abgebildeter Personen, in: montage a/v 15/2/06, S. 45-62. 12 Gundolf S. Freyermuth: Der Star, das virtuelle Wesen, in: Telepolis, 24.04.1997 (online
unter:
15.08.2012).
http://www.heise.de/tp/artikel/6/6125/1.html;
aufgerufen
am
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vanz wird ergänzend der besorgte spokesman der Screen Actors Guild, Rafe Greenlee, zitiert: »it’s ›definitely something we’re very interested and concerned about‹.«13 Auch wenn die Los Angeles Times die Besorgnis der Actors-Guild-Mitglieder nur vier Monate später abmildert, indem man einen Kommentar von SAG-President Richard Masur zitiert (»union members aren’t worried that they will be replaced by digital replicas.«14), so klingt es 2001 in der New York Times schon wieder anders: Movie Stars Fear Inroads By Upstart Digital Actors – so wird getitelt und zusätzlich Tom Hanks zitiert, der die Entwicklungen auf dem digitalen Schauspieler-Sektor folgendermaßen einschätzt: »I am very troubled by it. […] It’s coming down man. It’s going to happen. And I’m not sure what actors can do about it.«15 Die Berichterstattung folgt in allen diesen Fällen stets dem gleichen Muster: Die Frage nach der Ersetzbarkeit des (schauspielenden) Menschen durch eine synthetische Version wird dominant gestellt, jedoch nur um sie im gleichen Atemzug beruhigend zu verneinen oder das Ersetzungs-Szenario zumindest in die ferne Zukunft zu verschieben. Interessant ist aber, dass in diesen Kontexten der Synthespian zu einem Vehikel für technophobe Tendenzen wird, in dessen Angesicht sich der Schauspieler, in seiner Identität als einzig und allein zur schauspielerischen Darstellung fähiges Subjekt, bedroht zu fühlen scheint – so wird es jedenfalls suggeriert. Zur Angst vor der Ersetzung kommt zusätzlich die Angst eines Identitätsverlusts hinzu, nämlich dann, wenn die digitalisierte Version des Schauspielers in ungewollten Kontexten (Filmen) zum Einsatz kommt und sich damit quasi verselbständigt, oder wenn die eigene schauspielerische Leistung nicht mehr offiziell (z.B. durch
13 IMDB Studio Briefing, 14.03.1999 (online unter: http://www.imdb.com /news/sb/1999-03-04; aufgerufen am 15.08.2012). 14 Karen Kaplan: Old Actors Never Die; They Just Get Digitized, in: Los Angeles Times (latimes.com), 09.08.1999 (online unter: http://articles.latimes.com /1999/aug/09/business/fi-64043; aufgerufen am 15.08.2012). 15 Rick Lyman: Movie Stars Fear Inroads By Upstart Digital Actors, in: New York Times (nytimes.com), 08.07.2001 (online unter: http://www.nytimes.com/2001/ 07/08/us/movie-stars-fear-inroads-by-upstart-digital-actors.html; aufgerufen am 15.08.2012).
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Auszeichnungen wie den Oscar) honoriert wird, weil sie am digital bearbeiteten Charakter im Nachhinein nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist.16 Das Auftreten des Synthespians wird so als eine ›Identitätskrise‹ des Filmschauspielers inszeniert, wobei dieser Begriff nicht sinngemäß sondern wortwörtlich zu verstehen ist: Nicht die konkrete, subjektive, psychopathologische Krise des Schauspielers ist gemeint, sondern vielmehr geht es um die Verhandlung einer Krise von Identität als Konzept. Die Vorstellung von Identität (des Schauspielers) wird anhand der Abspaltung des digitalen Bildes von seiner realweltlichen Vorlage sichtbar – es wird quasi zu einer Versinnbildlichung dessen, was Identität als Vorstellung kreieren soll: eine Einheit trotz Zweiheit17 – wie sie auch Seeßlen beschreibt, wie sie aber eben durch den Synthespian als gefährdet diagnostiziert wird. Die ›Identitätskrise‹ des Schauspielers erscheint so als Diskurseffekt, um besonders anschaulich und im Abgleich zwischen gleichermaßen digital-synthetischer Figur und digital-fotorealistischem Schauspieler eine Krise der Eindeutigkeit zu suggerieren bzw. sich durch öffentliche Verhandlung dieser Krise seiner selbst rückzuversichern. In der jüngeren Vergangenheit ist es vor allen Dingen der Film AVATAR (USA 2009, James Cameron),18 der in Bezug auf die Kreation digitaler
16 Siehe hierzu etwa Philip Auslanders Ausführungen zum »Gollum Problem«, das sich u. a. mit der Diskussion um die mögliche Oscar-Nominierung von Andy Serkis für seine Rolle als Gollum in den LORD OF THE RINGS-Verfilmungen (USA/NZ 2001-2003, Peter Jackson) auseinandersetzt (Philip Auslander: The Gollum problem, in: ders.: Liveness: Performance in a Mediatized Culture, 2nd edition, Oxon: Routledge (2008 [1999]), 170ff. [Danke an Lukas R. A. Wilde für diesen Hinweis.]) 17 Vgl. Aristoteles: »Identisch heißt das, dessen Materie, sei es der Art, sei es der Zahl nach eine ist, und auch das, dessen Wesen eines ist. Identität bedeutet mithin offenbar eine Art von Einheit, eine Einheit des Seins für eine Vielheit, oder auch so, daß ein Gegenstand als eine Mehrheit genommen wird, wie wenn man sagt, etwas sei mit sich selbst identisch, wo man es also als zwei nimmt.« (Aristoteles: Identität, Unterschied, Gegensatz, in: ders.: Metaphysik [Zweite Abteilung: Die angefügten Stücke, VI Zur Terminologie], Jena 1907, S. 299). 18 Laut Box Office Erhebungen noch immer der erfolgreichste Film aller Zeiten (vgl. http://boxofficemojo.com/alltime/, aufgerufen am 15.08.2012).
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Figuren (mal wieder) neue Maßstäbe setzt19. Besonders das Making-Of CAPTURING AVATAR (USA 2010, Laurent Bouzereau), das auf der KaufDVD des Films enthalten ist und in Auszügen auch zur Vermarktung der Produktion eingesetzt wurde, ist dabei für die hier verfolgte Argumentation eine weitere, äußerst interessante Quelle. Denn das über 90-minütige Bonusmaterial macht nicht nur die technische Grundlage der Erschaffung des Synthespians sichtbar; gleichzeitig etabliert es ihn als eine Faszination und Gefahr, die in enger Verbindung zum ›echten Menschen‹ steht und diesen auf technischem Wege transzendiert, ihn anders bzw. neu erfahrbar macht. Entlang von Beispielen und Zitaten aus diesem Material lässt sich die diskursive Verhandlung des Synthespians und seines identitätsirritierenden Potentials daher anschaulich nachzeichnen. Während der Spielfilm AVATAR selbst die fantastischen Landschaften des Planeten Pandora und seine blauen Bewohner (die Na’vi) in ihrem Kampf um Natur und Bodenschätze präsentiert, zeigt das Making-Of den Entstehungsprozess des Films, dessen blaue, menschlich-katzenhafte Protagonisten weitestgehend am Computer generiert wurden. Mit Hilfe eines Performance Capture genannten Verfahrens wird dabei die Form, Gestik und Mimik einzelner Schauspieler digital aufgezeichnet und modelliert, sodass die synthetischen Figuren der Na’vi am Ende – trotz veränderter Proportionen und Anthropozoomorphisierung – weitestgehend menschenähnlich und ›authentisch‹ erscheinen. Mit dem Blick hinter die spärlichen Kulissen (denn auch die Landschaften von Pandora existieren selbstverständlich nur auf dem Computerbildschirm) (re-)inszeniert das Making-Of die beschriebene Spaltung von Schauspieler und Filmcharakter, indem nachträglich der menschliche Anteil der künstlichen Figuren offengelegt wird. Vor allem in der Inszenierung dieser Gegenüberstellung, die immer wieder den Schauspieler bei seiner Arbeit in Kontrast zur final gerenderten Figur im Film zeigt (siehe Abb. 1 und 2), äußert sich dabei ein ambivalenter
19 Auch im Kontext von AVATAR finden sich erneut die oben geschilderten Ersetzungsszenarien. So titelt der online Film-Blog des Guardian kurz nach Erscheinen des Films: »Will Avatar put actors out of work?« (Ben Child: Will Avatar put actors out of work?, in: The Guardian Film Blog, 28.12.2009, online: http://www.guardian.co.uk/film/filmblog/2009/dec/28/avatar-james-cameron, aufgerufen am 15.08.2012).
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Gestus, der die Identitätsgrenzen von Schauspieler und Figur gleichzeitig zu behaupten und zu überschreiten versucht.
Abbildungen 1 & 2: Die Identitätskrise des Filmschauspielers äußert sich im Making-Of in der visuellen Spaltung zwischen reell und virtuell generiertem Bildmaterial.
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Ähnliche Irritationen äußern sich auch in den Kommentaren von Hauptdarsteller Sam Worthington. Dieser verkörpert in AVATAR die Rolle des Jake Sully, eines kriegsversehrten Soldaten, der in Gestalt eines Avatars Zugang zum Naturvolk der Na’vi erhält20. Das ›Spiel‹ seines digitalen Na’viDoubles im Film setzt Worthington im Interview mit sich selbst ins Verhältnis: »It is my performance. This thing walks and talks and acts like me. […] It’s my interpretation. Even though I’m big, nine foot tall, and blue, it has got my personality, it has got my soul.« (Sam Worthington, in: CAPTURING AVATAR, Part 3, 22:47)
Worthington beschreibt damit den seltsamen Effekt sich auf der Leinwand wiederzuerkennen, aber dennoch etwas oder jemand anderes zu sein. Für ihn wie für den Zuschauer ist dabei uneindeutig was von dieser Figur noch sein Anteil ist bzw. fällt es ihm schwer diesen Anteil präzise zu benennen. Ist es Seele, Personalität, Performance oder die Interpretation der Rolle? Die Uneindeutigkeit der Begrifflichkeiten und die Schwierigkeit zuzuordnen, was hier technischen und was menschlichen Ursprungs ist, bilden ein Faszinosum dieser Figuren und spiegeln die Irritation von Identität die ihnen in ihrer Virtualität innewohnt. Darüber hinaus schürt auch das Making-Of mit Vorliebe die Diskussionen um eine Ersetzung des Schauspielers, wobei dieselben Argumentationsmuster aufgerufen werden, die auch die Presse mit Vorliebe nutzt. James Cameron jedenfalls versucht seine Akteure zu beruhigen, indem er den Einsatz seiner Synthespians über die produktionstechnische Seite legitimiert:
20 Die Geschichte von AVATAR bietet mit ihrer Thematisierung von natürlichen und künstlichen Körpern, von Wechseln zwischen menschlicher Hülle und künstlichorganischem Avatar (d.h. Übertragungen von Geist auf fremde/technobiologische Materie) auch inhaltlich ein enormes Maß an Anknüpfungspunkten für die hier geführte Diskussion. Da für eine solche, ausführlichere Analyse an dieser Stelle nicht ausreichend Raum ist, muss der vorliegende Artikel diese narrative Dimension allerdings ausblenden.
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»Actors have said to me – you know, sort of half jokingly, but a little nervously –: ›Is it that you’re trying to replace actors?‹ And, of course, the answer is ›No!‹ We love actors. This whole thing is about acting. It’s about creating these phantasy characters through the process of acting. What we are replacing is five hours at the make-up chair, having rubber glued all over your face. So I think the actors found it very collaborative, empowering, freeing.« (James Cameron, in: CAPTURING AVATAR, Part 2, 19:47)
Der befreiende Charakter, den die Übertragung der eigenen Performance auf einen CG-character verspricht, äußert sich im Anschluss in einem Statement von Sigourney Weaver, die sich zu den Erfahrungen mit ihrem Synthespian und dem Einfluss der digitalen Reproduktionstechnik auf sie als Schauspielerin äußert. In ihrer Einschätzung der aktuellen Situation greift sie dabei Ideen einer Überhöhung des Menschen durch die Technik auf und verweist (in Anspielung auf ihre Rolle als Ripley in ALIEN (USA/UK 1979, R. Ridley Scott)) auf die inzwischen mögliche ›Verkehrung der Rollen‹, die den Menschen selbst (wie in AVATAR) zu einem Alien (auf Pandora) werden lässt: »There has been a lot of discussion about performance capture, what it means for actors and the impact it will have. To me it completely expands what we are capable of doing. And I think digital prosthetics is an interesting way of looking at it. [...] Ultimately, I felt that it totally expanded what the actor could do. I feel like I could play any age character, any species, anything. I could play an Alien now. I think it actually kind of gives us wings.« (Sigourney Weaver, in: CAPTURING AVATAR, Part 2, 20:14)
Die McLuhan’sche These21 von der gleichzeitigen Erweiterung und Amputation des Menschen durch Medien erfährt hier über die Signalbegriffe der digitalen Prothetik und der Beflügelung des Menschen eine aktuelle Anwendung, die sich im Synthespian anschaulich und konkret manifestiert – zumindest suggeriert dies die Art und Weise in der er sich diskursiv konstituiert. Die Verunsicherung des Schauspielers äußert sich in einer Auseinandersetzung mit der eigenen Leistung innerhalb eines Felds digitaler Möglichkeiten und in der Behauptung der Steigerbarkeit dieser eigenen Leistung.
21 Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media – The Extensions of Man, London/New York: Routledge 2001.
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Die Identitätskrise wird abgewendet, indem man sich stetig (im (An)Gesicht des digitalen Doubles) seiner Selbst versichert und gleichzeitig die Herausforderung durch die neuen Gegebenheiten durch eine optimale Anpassung und Selbstoptimierung zu beherrschen versucht. Der Synthespian erweist sich in diesem Zusammenhang als Projektionsfläche für techno-phobe Utopien, aber auch als Beweis dafür, dass der Mensch/Darsteller doch (bzw. noch) nicht so einfach zu reproduzieren ist. Doch diese Irritationen des Schauspielers, die sich in Medientexten wie dem genannten Making-Of äußern und konstituieren, sind nur ein Aspekt der den virtual actor für die Frage nach unbestimmten Figuren bzw. der Irritation von Identität interessant erscheinen lässt; denn zu dieser vermeintlichen Identitätskrise des Filmschauspielers gesellt sich im Falle des Synthespians zusätzlich eine Identitätskrise der Filmfigur selbst. Diesbezüglich sei erneut James Cameron aus dem Making-Of zitiert: »I know that we’re able to take from the actors their beautiful, amazing performance and preserve them in their computer generated characters« (James Cameron, in: CAPTURING AVATAR, Part 4, 16:28).
Laut Cameron geht es also darum, die Performance vom Schauspieler abzulösen und einer digitalen Kreatur einzuverleiben. Dieser Übertragungsprozess wirft aber mehrere Probleme auf, denn die Zusammensetzung von künstlich geschaffener Figur und aufgezeichneten, humanen Bewegungsdaten (bzw. umgekehrt) erzeugt in vielen Fällen keine einheitliche sondern eine unheimliche Figur, in der Verhalten und Aussehen seltsam auseinanderfallen. Dieser Effekt wurde im Kontext der Robotik bereits in den 1970er Jahren beschrieben und erhielt von Masahiro Mori die Bezeichnung »Uncanny Valley«22. In Anlehnung an Mori definiert Barbara Flückiger das Uncanny Valley folgendermaßen: »Je anthropomorpher eine künstliche Figur wie beispielsweise ein Roboter aussieht, desto vertrauter wirkt er und desto mehr Emotionen wird er auslösen. Erscheint er aber fast vollständig menschlich, setzt im Gegenteil ein distanzierender Effekt ein,
22 Masahiro Mori: The Uncanny Valley (transl. by Karl F. MacDorman and Takashi Minato), in: Energy 7(4) 1970, S. 33-35.
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den Mori Uncanny Valley nennt. Erst wenn die Figur vollständig menschlich wirkt, nimmt die positive Wirkung wieder überhand und erreicht einen maximalen Wert.«23
Dass das Uncanny Valley in Bezug auf digitale Figuren nur so schwer überwunden werden kann, liegt laut Flückiger dabei zum Teil in der arbeitsteiligen Produktion der virtuellen Charaktere begründet; denn Form, Oberfläche und Bewegungsanimation der computergenerierten Figur werden in unterschiedlichen Arbeitsschritten erstellt und modifiziert, was dazu führen kann, dass die Figur auseinanderfällt.24 Flückiger beschreibt dies als ein Identitätsproblem: »Wenn aber die Merkmale des Erscheinungsbilds und des Verhaltens in ihre Komponenten zerfallen, sodass sich zwischen ihnen keine schlüssigen Verbindungen einstellen, wird es nicht gelingen, eine ganzheitlich wirkende Figur mit individualisierten Eigenschaften zu entwerfen. Damit wird es schwierig, die emotionale Partizipation der Zuschauer zu gewinnen, denn der Aufbau einer Beziehung zur dargestellten Person ist wesentlich an eine wahrgenommene Identität gebunden. Gemorphte Figuren – der T1000 in TERMINATOR 2, die Agenten in THE MATRIX, Mystique in X-MEN – sind deshalb so verstörend, weil sie diesen Identitätsbegriff aufmischen.«25
Auch in Bezug auf die Filmfigur gerät somit durch den Synthespian ein Identitätsbegriff ins Wanken, nämlich einer der von der fiktionalen aber trotzdem angenommenen Stabilität und ›Dieselbigkeit‹ von Figuren ausgeht. Zusammengefasst erweist sich der virtuelle Schauspieler gemäß der bisherigen Beobachtungen damit in zweierlei Hinsicht als Identitätsirritation:
23 Flückiger 2008, S. 456 (Hervorh. i. Orig.). 24 Flückiger nimmt diese Beobachtungen als Grundlage, um ein eigenes Modell zu entwickeln mit dessen Hilfe solche Zerfalls-Momente minimiert werden können. Die Faustregel lautet dabei: Je artifizieller ein Charakter äußerlich beschaffen ist, desto artifizieller kann auch sein Verhalten gestaltet sein. Eine äußerlich präzismenschliche Figur hingegen bedarf eines entsprechenden authentischen Verhaltens, um als einheitlich aufgefasst zu werden. Auch Flückigers Modell ist damit ein Hinweis auf die enge Kopplung, die sich zwischen dem Auftreten von Synthespians und der Frage nach Identitätskonzepten herstellen lässt. 25 Flückiger 2008, 434f (Hervorh. J.E.).
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Einerseits irritiert er die Identität des Schauspielers, der seine Leistung plötzlich an einem fremden Körper verorten muss und der stets unterschwellig seine Ersetzung durch das synthetische Material fürchtet; andererseits irritiert er die Identität der Filmfigur, da die Einheit zwischen ihrer Körperlichkeit und ihrem Verhalten (wie Flückiger es beschreibt) nur schwer herzustellen ist und immer wieder im Uncanny Valley auseinanderzufallen droht. Doch sind diese Identitätsirritationen im Bereich des Filmischen tatsächlich an das Auftreten des Synthespians gekoppelt? Welchen Unterschied macht die digitale Modellierung von Charakteren gegenüber ihrer analogen Aufzeichnung? Und stellt das Leinwandbild des Menschen nicht immer schon die Frage nach der Grenze von virtuellen Identitäten? Ein kurzer, schlaglichtartiger Rückblick in die Filmtheorie des frühen Kinos bringt hier interessante Parallelen zum Vorschein.
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FILMISCHER
F IGUREN
Ein Blick in frühe Schriften zum Film offenbart, dass die Äußerungen und theoretischen Reflektionen, die im Zuge der Etablierung des neuen Bewegtbild-Mediums getätigt wurden, bereits einen bemerkenswerten Teil der Aspekte aufgreifen, die heute im Kontext der Emergenz des filmischen Synthespians erneut verhandelt werden. So ist etwa die Angst des Schauspielers vor dem Obsoletwerden schon 1913 protokolliert, als Felix Salten für das Berliner Tageblatt einen Bericht über eine Vorführung des neuerfundenen Kinetophon schreibt und die Reaktionen nach dem ersten Kontakt mit diesem (zu dieser Zeit noch weit von einer Etablierung entfernten) Sprechfilm schildert. »Hansi Niese, die neben mir sitzt, sagt auf einmal: ›So…jetzt können wir Schauspieler einpacken … jetzt braucht ma uns gar nimmer…‹. Ganz ängstlich und melancholisch ist sie geworden, während sie das sagt. Und am Ausgang, wie wir uns draußen in der Sonne wieder finden, ruft mir ein Freund lachend entgegen: ›Jetzt werden die Autoren ganz überflüssig!‹ Aber ich glaube, es stimmt nicht. Weder die ängstliche Melancholie, noch der Scherz. Im Gegenteil. Das Leben wird ins Hundertfache
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gesteigert durch diese Erfindung, wird gleichsam lebendiger durch sie, und der Tod kann es jetzt nicht mehr so vernichten, wie einst.«26
Auch hier wird also eine neue Technik zur Gefahr für die Daseinsberechtigung des Schauspielers im Film angesehen (und analog zu Camerons Bericht »half jokingly but a little nervously« geäußert); und auch hier zeichnet sich das immer noch aktuelle Argumentationsmuster ab: Die Gefahr der Ersetzung wird heraufbeschworen, nur um sie gleich wieder zu entschärfen. In den Schriften Dziga Vertovs aus dem Jahre 1924 ist ebenso Sigourney Weavers so zeitgemäß erscheinende These von der Überhöhung des Menschen im digitalen Filmbild vorweggenommen. In seiner Konzeption des Films als Erschaffungsmechanik für optimierte Menschenbilder, stellt Vertov vor allem den fragmentierenden Gestus heraus, mit dem der Film den Menschen behandelt – eine Beschreibung, die die technische Schaffung des Synthespians quasi als genuin filmisches Vermögen definiert: »Ich bin Kinoglaz, ich schaffe einen Menschen, der vollkommener ist als Adam, ich schaffe Tausende verschiedener Menschen nach verschiedenen, vorher entworfenen Plänen und Schemata. […] Von einem nehme ich die geschicktesten Hände, von einem anderen die schlankesten Beine, von einem dritten den schönsten und ausdrucks27
vollsten Kopf und schaffe durch Montage einen neuen, vollkommenen Menschen.«
Auch wenn dieser fragmentierende Gestus im Falle des Synthespians nicht mehr nur die Handhabung des Film-/Menschenbildes in der Montage, sondern bereits seine grundsätzliche Generierung durchzieht: Die Techniken des Films scheinen schon prinzipiell eine Überflügelung des ›normalen Menschen‹ zu ermöglichen und seine Optimierung zumindest auf der Leinwand durchzuspielen. Filmschaffen wird hier zu einem göttlichen Schöpfungsakt. Sigourney Weavers Traum von der Überwindung von Alter und Spezies und der Pathos mit dem Filme wie Avatar ihre virtuelle Kreation neuer Welten inszenieren, passen hier hervorragend ›ins Bild‹.
26 Felix Salten: Die sprechenden Bilder – Vorführung des neuerfundenen Kinetophon, in: Jörg Schweinitz (Hg.) Prolog vor dem Film – Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig: Reclam 1992 [1913], S. 50. 27 Dziga Vertov: »Kinoglaz«, in: Franz-Josef Albersmaier (Hg.) Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam 2001 [1924], S. 33.
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Eine weitere, bemerkenswerte Parallele zu den aktuell von Cameron und seinen Darstellern aufgerufenen Debatten ist ergänzend in Hugo Münsterbergs The Photoplay zu finden. Seine Einschätzung zum Filmischen als psychologisch relevantem Erfahrungsraum klingt dabei fast wie eine Cameron’sche Beschwörung des digitalen Filmzeitalters. »The real human persons and the real landscapes must be left behind and, as we saw, must be transformed into pictorial suggestions only. We must be strongly conscious of their pictorial unreality in order that that wonderful play of our inner experiences may be realized on the screen.«28
Auch in diesem Kontext kommt dabei der synthetischen Figur des Films die entscheidende Rolle zu: »We must not take the people to be real, but we must link with them all the feelings and associations which we would connect with real men. This is possible only if in their flat, colorless, pictorial setting they share the real features of men.«29
Münsterbergs »features of men« erscheinen dabei ebenso ungreifbar wie die von Worthington verwendeten Begriffe (soul, personality, interpretation) oder das, was Cameron in Form seiner performance und (e)motion capture Verfahren zu generieren meint. Gemeinsam ist diesen Annäherungsversuchen an die Figur jedoch ihr nahezu normativer Gestus und die Einsicht, dass eine Filmfigur in ihrer Flächigkeit oder auch Vergrößerung ohnehin nie an die Erfahrung einer realen Person heranreicht.30 Der ihr inhärente Verfremdungsmechanismus verleiht ihr aber gerade darum eine besondere Kraft und Qualität. Auch wenn die Filmbilder in denen der Synthespian sich heute bewegt inzwischen farbig sind und im Kontext der Etablierung von 3D sogar
28 Hugo Münsterberg: The Photoplay – A Psychological Study, New York/London: D. Appleton and Company 1970 [1916], S. 209. 29 Ebd., S. 210. 30 Auch wenn das im Falle Camerons natürlich eines der erklärten Ziele ist. Allerdings ist genau aus diesem Grunde die stetige Offenlegung der Künstlichkeit dieser Figuren (z.B. im Making-Of) entscheidend, da die Figuren bei zu hoher Realitätstreue (wie es Flückiger schreibt) »in die Narration sinken« und daher nicht mehr als Besonderheit oder Kunstwerk erkennbar sind.
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ihre Flächigkeit verlieren, bleibt die artifizielle Rahmung des Mediums bestehen. Die menschliche und gleichzeitig synthetische Figur wird in beiden Fällen und zu beiden Zeiten instrumentalisiert, um die Kunstfertigkeit des Mediums zu bestimmen und es damit als eine Kunst zu legitimieren, die das, was der Mensch ist, tatsächlich zu verhandeln vermag. Diese Argumentationslinie schreibt sich bei Rudolf Arnheim fort, der ebenfalls das filmische Vermögen herausstellt den Menschen nicht so zu zeigen, wie er ist, sondern ihn zu stilisieren. Erst das verhelfe dem Film zu seinem Status als Kunst – nicht sein realer, sondern sein künstlicher Charakter. Arnheim schreibt 1932: »Wem einmal aufgefallen ist, wie unwirklich die meisten Filmgesichter aussehen, wie überirdisch, wie schön … wie sie oft nicht den Eindruck eines Naturprodukts sondern einer künstlerischen Schöpfung machen – wozu natürlich Maskenkunst und Schminke viel beitragen – dem wird ein gutes Filmgesicht ähnliche Freuden bereiten wie ein gelungenes graphisches Blatt. Übrigens weiß jeder, der Filmpremieren zu besuchen pflegt, wie krankhaft rosa die lebendigen Gesichter der Filmschauspieler wirken, wenn diese sich nach der Vorführung des Films auf der Bühne verbeugen. Die stilisierten, ausdrucksvollen Riesenmasken auf der Leinwand passen nicht zu Menschen von Fleisch und Blut, sie sind Kunststoff, optisches Material.«31
Und er fügt an anderer Stelle hinzu: »Wenn sich die Menschen auf der Leinwand nur menschlich benehmen und Menschliches erleben, so ist nicht noch nötig, dass wir sie rund und mit roten Wangen als lebendige Wesen vor uns sehen, dass sie in einem realen Raum leben – sie sind auch so lebendig genug. Und so lässt sich denn das schöne und für die Möglichkeit einer Filmkunst ausschlaggebende Schauspiel bewerkstelligen, dass wir Gegenstände und Vorgänge auf der Leinwand zugleich als lebendig und tot, als Wirklichkeit und als bloße Färbungen der Projektionsfläche empfinden können.«32
Mit dem Aspekt der gleichzeitigen Lebhaftigkeit und Leblosigkeit spricht Arnheim dabei eine Eigenschaft filmischer Figuren an, die sich nahtlos an Flückigers Überlegungen zum Uncanny Valley anschließen lässt. Dabei ist
31 Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002 [1932], S. 79f. 32 Ebd., S. 41.
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es interessant zu sehen, dass bezüglich der frühen, analogen wie auch bezüglich der aktuellen, computergenerierten Figuren die Metapher des Todes eine große Rolle spielt, was (ergänzend zum schöpferisch Göttlichen) den Gestus einer (jenseitigen) Grenzüberschreitung betont, die der Synthespian verkörpert.33 Doch was ist es dann, das die veränderte Körperlichkeit des Synthespians von der des herkömmlichen Schauspielers und herkömmlicher Figuren abzuheben scheint? Walter Benjamins Überlegungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschreiben den Modus der Welterfassung, den der Film als neues Medium praktiziert, mit Hilfe einer teils medizinischen und damit körperlichen Metapher: »Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein. Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetz zusammen finden. So ist die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen darum die unvergleichlich bedeutungsvollere, weil sie den apparativen Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade auf Grund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.« 34
Gerade bezüglich der künstlich geschaffenen Kreaturen und Körper, die der digitale Film anbietet, stellt sich anknüpfend jedoch die Frage, inwieweit der Animations-Künstler in diese Metaphorik einzubetten ist. Ist er eher Maler oder Chirurg? Barbara Flückiger findet darauf eine eindeutige Antwort:
33 Nicht umsonst finden diese Diskussionen in Bazins Filmschriften eine Fortsetzung, wenn dieser den Film (nun aber wieder im Sinne eines Reproduktionsmechanismus’ der Realität) als »Mumie der Veränderung« bezeichnet (vgl. André Bazin: Ontologie des photographischen Bildes, in: ders.: Was ist Film? Berlin: Alexander Verlag 2009, S. 39. 34 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Claus Pias et. al. (Hg.) Kursbuch Medienkultur – Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, München: DVA 2008, S. 25.
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»[…] mit der digitalen Kultur des Quantifizierens, des Zergliederns und neu Zusammensetzens dringen die Modifikationen und Konstruktionen des Körpers in völlig neue Dimensionen vor […]. Waren es bisher mit den traditionellen Techniken immer Extensionen des Körpers – Latexanzüge, Prosthetik, aufgeklebte Wunden –, welche die Transformationen der Darsteller in fremdartige oder versehrte Wesen unterstützen, dringen die digitalen Verfahren tief in die fleischliche Materie ein, legen Schicht um Schicht bloß, wie in THE MUMMY (USA 1999, Stephen Sommers) oder HOLLOW MAN (USA 2000, Paul Verhoeven), oder pulverisieren sie mit einem weit ausladenden Arsenal an grotesken Todesarten mittels Partikel-Animation. Schon jeder Konstruktion und mehr noch jeder Auflösung eines digitalen Körpers muss eine Analyse bis in den letzten Winkel vorausgehen; jedes noch so unscheinbare Merkmal muss isoliert und registriert werden, damit es sich in den Datenraum der digitalen Repräsentation einfügen lässt. Der Computergrafiker ist – um Benjamins Metapher aufzunehmen – der noch gnadenlosere Chirurg.«35
Doch ist diese Zuschreibung des Chirurgen-Status bezüglich der Animations-Designer tatsächlich so eindeutig zu treffen? Denn auch wenn sie für die Produktion ihrer Menschen-Kreaturen Tiefenanalysen vornehmen und sie über Capture-Verfahren in Einzelkomponenten auflösen, ähnelt das, was sie im digitalen Raum erschaffen möglicherweise doch eher einem malerischen Herantasten an das, was menschlich sein oder zumindest wirken könnte. Die Verfahren des Aufzeichnens und Zergliederns, Nachbau und Konstruktion, sind allesamt selbst ausschließlich im Bilde zugänglich und darauf ausgelegt im Bilde Menschliches zu Erzeugen. Während medizinische und technische Reproduktionstechniken also an einer tatsächlichen, artifiziellen Kopie des Menschen arbeiten mögen, ist es doch gerade der Film, der dieses Ersetzungs-Szenario in Form des Synthespians auf einer rein visuellen Ebene durchspielt. Die daraus entstehenden Bilder mögen den Synthespian dabei einer gnadenlosen Chirurgie unterziehen; als figürliche Illusion allerdings bleibt das synthetische Menschenbild in seiner teils unvollkommenen, teils übervollkommenen, teils authentischen Erscheinung ein magisches Wesen. Im Fall des Synthespians macht also gerade die Mischung das Besondere aus: Auf der einen Seite suggeriert er die chirurgische Durchdringung, Speicherung und (Re)Konstruktion der realen Welt, auf der anderen scheint die
35 Flückiger 2008, S. 419f.
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Digitalität des Filmbildes gerade dafür zu sorgen, dass es in seiner Zweifelhaftigkeit bzw. Freiheit zur Gestaltung besonders glaubhafter Illusionen das Jetzt übersteigende Magie freisetzt. James Cameron scheint sich im Falle von AVATAR jedenfalls gern selbst als Magier und Chirurg zu inszenieren (siehe Abb. 3): Sein Kunstwerk ist der reproduzierte Mensch, der aber eben nicht nur aus der authentischen Kopie von Körperlichkeit, Gestik und Mimik bestehen darf, sondern der gleichzeitig die Gegenüberstellung mit dem ihm zugrunde liegenden ›Menschenmaterial‹ erfordert, um einerseits die Kunstfertigkeit zu belegen und andererseits die Nicht-Identität zu behaupten – möglicherweise um die Identität des Menschen (als nicht hybridisiertes Vorbild) unangetastet zu lassen. Dass dabei gleichermaßen Bilder zum Einsatz kommen, die (ob digital oder analog anmutend) genuin künstlich sind, ist hier besonders faszinierend: Beide behaupten Realität zu kopieren, beide sind Illusion und beide sind dadurch in der Lage Irritationen und Rückversicherungen des Identitären gleichermaßen zu inszenieren.
Abbildung 3: Magie oder Chirurgie? Im digitalen Filmbild und der Figur des Synthespians lösen sich malerische und analytische Elemente in Unbestimmbarkeit auf.
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D IGITALE D ENK F IGUREN Die Parallelen zwischen den aktuellen und historischen Diskursen haben gezeigt, dass das identitätsirritierende Potential, das dem Synthespian zugeschrieben wird, dem filmischen (wie jedem medialen) Menschenbild immer schon zu eigen ist. Das Ebenbild auf der Leinwand wird zum Sinnbild des Menschlichen an sich, das durch seine Medialisierung handhabbar, verhandelbar und modifizierbar wird. Im Bild wird der Mensch hinterfragt – das haben Synthespian und live-footage Filmfigur gemeinsam. Was den Synthespian allerdings von seinem (so paradox es klingt) ›realfilmischen‹ Pendant unterscheidet ist, dass er eben nicht (mehr) ausschließlich im Modus der Aufzeichnung entsteht, sondern innerhalb dieses Prozesses fragmentiert und durch digitale Modifikationen synthetisiert wird. Der Synthespian ist eben nicht mehr nur Aufzeichnung (wie im Realfilm) oder nur Zeichnung (wie im ursprünglichen Trickfilm), sondern beides gleichermaßen und dadurch selbst hybrid und nicht-identifizierbar. Gerade dieses Moment der Unbestimmbarkeit scheint dabei seine aktuelle Relevanz zu befördern, denn mit dieser hybriden Beschaffenheit bietet sich der Synthespian für generelle Überlegungen zum Status des Menschseins in einem technologisierten Zeitalter an. Dan North beschreibt die Rolle des Synthespians in diesem Kontext folgendermaßen: »[…] I would argue that the synthespian represents a contemporary manifestation of the Frankenstein myth, embodying our own fear of replication and obsolescence, our replacement by digital constructs capable of outstripping our every capability and nuance.«36
In einem ähnlichen Gestus bezeichnet Rolf Giesen den »synthetischen, im Computer erzeugten Menschen« in einem Lexikon-Artikel über Animation als »›künstlerisches‹ Pendant zur Gentechnik«.37 Als manipulierbares Körperbild wird der Synthespian somit zu einer Reflektorfigur, auf die sich zeitgenössische Diskurse einer Entkörperlichung und Ersetzung des Menschen erfolgreich übertragen lassen. Die realistische Abbildung des Menschen, die das herkömmliche Filmbild kennzeichnet,
36 North 2008, S. 155. 37 Rolf Giesen: Animation, in: Koebner 2002, S. 25.
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wurde in der frühen Filmtheorie bereits in ihrer Künstlichkeit entlarvt und gerade deshalb zur Legitimation des Mediums einsetzbar. Die Digitalität als ›neues Medium‹ wird nun anhand der gleichen Menschenmotive verhandelt. Dabei ist es einerseits der Synthespian selbst, der in seiner Produktion, seiner Beschaffenheit und seinem Auftreten stets die Frage danach stellt, was vom Menschen kopiert werden muss, um etwas Nicht-Menschliches/Technisches als menschlich erscheinen zu lassen. Als Maßstab dafür wird aber immer wieder der ›reelle Schauspieler‹ bzw. sein realfilmisches Abbild als Substitut des ›reellen Menschen‹ hinzugezogen, das eben nicht nur seine Bewegungsdaten für die Produktion hergibt, sondern stets im Making-Of selbst mit auftreten muss. Die Identitätskrise des Schauspielers wird so zu einem elementaren Teil der Diskussion um die Unbestimmbarkeit des Synthespians. Gemeinsam erzählen sie eine Geschichte, die von der Ersetzung des Menschen und der Unbestimmbarkeit von Identitäten handelt. In diesem Sinne werden Synthespian und Schauspieler in ihrer Uneindeutigkeit gleichermaßen und wortwörtlich zu (unbestimmten) DenkFiguren, die in ihrer technischen wie ästhetischen Beschaffenheit im symbolischen Raum des Films die stetig wankende Identitäts-Grenze des Menschen mitverhandeln.
L ITERATUR Abels, Heinz: Identität, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. Arnheim, Rudolf: Film als Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002 [1932]. Aristoteles: Identität, Unterschied, Gegensatz. In: ders.: Metaphysik (Zweite Abteilung: Die angefügten Stücke, VI Zur Terminologie), Jena 1907, S. 298-300. Auslander, Philip: The Gollum problem. In: ders.: Liveness: Performance in a Mediatized Culture, 2nd edition, Oxon: Routledge (2008 [1999]), 168176. Bazin, André: Ontologie des photographischen Bildes, in: ders.: Was ist Film? Berlin: Alexander Verlag 2009, S. 33-42. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Claus Pias et. al. (Hg.) Kursbuch Medienkultur – Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, München: DVA 2008, S. 18-33.
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Bosinski, Gerhard: Das Bild in der Altsteinzeit, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.) Bildtheorien – Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 31-73 Flückiger, Barbara: Visual Effects – Filmbilder aus dem Computer, Marburg: Schüren 2008 Giesen, Rolf: Animation, in: Koebner 2002, S. 23-25. Hickethier, Knut: Schauspielen in Film und Fernsehen, in: Koebner 2002, S. 527-530. Koebner, Thomas (Hg.) Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart: Reclam 2002. Koebner, Thomas: Vorbemerkung, in: ders.: Filmgenres: Science Fiction. Stuttgart: Reclam 2003, S. 9-14. McLuhan, Marshall: Understanding Media – The Extensions of Man, London/New York: Routledge 2001. Mori, Masahiro: The Uncanny Valley (transl. by Karl F. MacDorman and Takashi Minato), in: Energy 7(4) 1970, S. 33-35. Münsterberg, Hugo: The Photoplay – A Psychological Study, New York/London: D. Appleton and Company 1970 [1916]. North, Dan: Performing Illusions. Cinema, Special Effects and the Virtual Actor, London/New York: Wallflower 2008. Salten, Felix: Die sprechenden Bilder – Vorführung des neuerfundenen Kinetophon, in: Jörg Schweinitz (Hg.) Prolog vor dem Film – Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig: Reclam 1992 [1913], S. 4651. Seeßlen, Georg: Dream Replicants of Cinema – Passage through Old and New Moving Images, in: Rolf Aurich/Wolfgang Jacobsen/Gabriele Jatho (Hg.) Artificial Humans – Manic Machines, Controlled Bodies, Berlin: Jovis 2000, S. 9-42. Vertov, Dziga: Kinoki – Umsturz, in: Franz-Josef Albersmaier (Hg.) Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam 2001 [1924], S. 36-50. Wullf, Hans J.: Attribution, Konistenz, Charakter – Probleme der Wahrnehmung abgebildeter Personen, in: montage a/v 15/2/06, S. 45-62. o.A.: Identität. In: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2, Leipzig 1838, S. 437.
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I NTERNETQUELLEN Freyermuth, Gundolf S.: Der Star, das virtuelle Wesen, in: Telepolis, 24.04.1997 (online unter: http://www.heise.de/tp/artikel/6/6125/1.html; aufgerufen am 15.08.2012). Kaplan, Karen: Old Actors Never Die; They Just Get Digitized, in: Los Angeles Times, 09.08.1999 (online unter: http://articles.latimes.com/ 1999/aug/09/business/fi-64043; aufgerufen am 15.08.2012). Lyman, Rick: Movie Stars Fear Inroads By Upstart Digital Actors, in: New York Times, 08.07.2001 (online unter: http://www.nytimes.com/ 2001/07/08/us/movie-stars-fear-inroads-by-upstart-digital-actors.html aufgerufen am 15.08.2012). Box Office Mojo: All time Box Office: http://boxofficemojo.com/alltime/, aufgerufen am 15.08.2012. Child, Ben: Will Avatar put actors out of work?, in: The Guardian Film Blog, 28.12.2009 (online unter: http://www.guardian.co.uk/film/film blog/2009/dec/28/avatar-james-cameron, aufgerufen am 15.08.2012). IMDB Studio Briefing, 14.03.1999 (online unter: http://www.imdb.com/ news/sb/1999-03-04; aufgerufen am 15.08.2012).
F ILMOGRAPHIE AVATAR (USA 2009, James Cameron) CAPTURING AVATAR (USA 2010, Laurent Bouzereau) MONSTERS, INC. (USA 2001, Peter Docter/David Silverman/Lee Unkrich) SPIDER-MAN (USA 2002, Sam Raimi) TERMINATOR 2 (USA 1991, James Cameron) THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON (USA 2008, David Fincher) THE LAWNMOWER MAN (USA 1992, Brett Leonard) THE LORD OF THE RINGS (USA/NZ 2001-2003, Peter Jackson) TOY STORY (USA 1995, John Lasseter)
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A BBILDUNGEN Abb. 1-3: Screenshots aus CAPTURING AVATAR (USA 2010, Laurent Bouzereau).
Wissen
Gesichter im Sand Schwärme zwischen Nicht-Identität und Pattern Recognition S EBASTIAN V EHLKEN
T ECHNISCH U NBEWUSSTES Die Rede von Schwärmen und ihrer Schwarmintelligenz ist seit einigen Jahren zu einem fixen Bestandteil soziopolitischer und soziökonomischer Debatten geworden, die sich mit jüngsten Transformationen moderner Systemgedanken befassen. Von klandestinen Terrornetzwerken über graswurzelbewegte Antiglobalisierungsaktivisten, von Flash Mobs bis zu Militärdoktrinen, oder von Social Media-Plattformen bis hin zur Zukunft des Managements wurden seither die unterschiedlichsten Phänomene mit einem mehr oder weniger metaphorischen Bezug auf Schwärme zu charakterisieren versucht. Ein Bezug, der sich in erster Linie über die Attraktivität distribuierter Entscheidungsprozesse für die Lösung komplizierter Problemlagen und unvorhersehbarer Entwicklungen erschließt. Unterstützt durch mobile medientechnische Infrastrukturen können etwa Verkehrssysteme allein auf Basis lokaler, verteilter Entscheidungen optimiert werden. Sie funktionieren dabei vom Prinzip her ganz ähnlich wie Fisch- oder Vogelschwärme. Dies macht sie viel effizienter bei der Organisation einer großen Anzahl von Bestandteilen – oder, technisch gesprochen: Agenten –, als zentral gesteuerte Systeme. Derartige vorteilhafte Selbstorganisations-Effekte werden sich auch für andere komplexe Entscheidungs- und Regelungsprozesse erhofft, nicht zuletzt in der Ökonomie. Untersuchungen in dieser Richtung
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berühren nicht zuletzt einen allgemeinen gesellschaftlichen Wandel, den Joseph Vogl eine »Verbetrieblichung der Lebensführung« nennt: »Organisationsstrukturen werden verflüssigt, Arbeitsverhältnisse nach dem Modell einer any time / any place economy remodelliert […]. Lebenslanges Lernen, Flexibilität, Mobilitätsbereitschaft und die Herrschaft des Kurzfristigen verlangen die Auflösung stabiler Identitäten und reservieren die Zukunft für ein wolkiges, wandelbares Ich. […] Der ältere Auftrag, Lebensläufe als Selbstwerdungsprozesse zu verwirklichen, weicht der Aufgabe, sich mit einer Kunst des Anderswerdens zu arrangieren. Der Identitätszwang ist der Empfehlung zum Nicht-Identischen gewichen.«1
Eine solche Transposition auf individueller Ebene initiiert zugleich neue Modelle kollektiver Interaktion und Kollaboration. Sie können derartige Wandelbarkeiten in flexiblen Netzwerk-Strukturen regeln, ausrichten und produktivieren. Schwärme werden als prototypische Beispiele für »verflüssigte Organisationsstrukturen« nur zu gern herangezogen, denn sie entsprechen dieser Empfehlung zum Nicht-Identischen auf perfekte Weise. Sie visualisieren eine Ästhetik des Kollektiven, die jegliche Versuche der Identifikation und der Feststellung einzelner Schwarm-Individuen im Bewegungsrauschen des Schwarms auflöst. So naheliegend die Diffusion von Schwarmbegriffen in soziomedialen Postmodernisierungsdiskursen auch sein mag und so nahe dabei – ob unbewusst oder nicht – auch neoliberale Fallstricke liegen,2 so diffus bleibt dabei zumeist die Reflexion ihrer medientechnikgeschichtlichen Genealogie. Die teils sehr euphorischen gesellschaftspolitisch-ökonomischen Schwärmereien flottierten über einem medientechnischen Unbewussten, das sich aus den Überschneidungen einer durch biologische Prinzipien inspirierten Computer Science und Computer Graphic Imagery (CGI) auf der einen Seite und einer sich computertechnisch aufrüstenden biologischen
1
Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, Berlin/ Zürich 2010, S. 137-138.
2
Vgl. den Trendtag 2005 des Trendbüros Hamburg: »Schwarm-Intelligenz. Die Macht der smarten Mehrheit«. Dokumentation unter URL: www.trendtag.de/ trendtag-archiv/10-deutscher-trendtag-2005/ (zuletzt abgerufen am 02.11.2012).
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Schwarmforschung auf der anderen Seite generiert.3 Erst als Zootechnologien werden Schwärme ab den 1990er Jahren als ›intelligente‹ Kollektive beschreibbar und als technisch applizierbare (Selbst-) Organisationsform etabliert. Im Sinne dieser Mediengeschichte der Schwarmforschung4 soll im Folgenden die Rolle von Schwärmen für eine Diskussion von (Nicht-) Identität weniger im Rahmen neuer soziopolitischer Kollektiv-Entwürfe diskutiert werden. Der Beitrag fragt vielmehr einerseits anhand jüngerer filmischer Schwarm-Animationsszenen nach den darstellungsbezogenen Registern, in denen Schwarmdynamiken in fiktiven und narrativen Kontexten auf Prozesse der Herstellung und Löschung von Identität bezogen werden. Das dabei eingesetzte Strukturwissen zur Organisation dynamischer Kollektive und die Prozesslogiken der medientechnischen Verfahren können jedoch andererseits auch als Techniken des Pattern Recognition eingesetzt werden. Diese führen umgekehrt als realweltliche Applikationen gerade zur Identifikation von Individuen und dienen damit der Zuschreibung von Identität. Mit dieser verschränkten Perspektive können Schwärme als Agentensysteme beschrieben werden, die sich eben keinesfalls in einem Netz der Eindeutigkeiten verfangen.
R OCK ’ N ’ R OLL In SPIDER-MAN 3 (USA 2007, R. Sam Raimi) wird man Zeuge eines Aktes der Selbstschöpfung – oder, vielleicht etwas profaner – der Selbstorganisation: Zunächst sieht man in einem Close-Up eigenartig abgerundete Felsbrocken, die langsam ins Rollen geraten. Während sich ihr Kugeln mehr und mehr beschleunigt, zoomt die Kamera aus dieser Einstellung heraus und beginnt, den immer kleiner werdenden Steinen in einer Parallelfahrt zu folgen. Mit genügendem Abstand verschwimmen die Bewegungen der einzelnen Steinchen zu einem Fließen; die anfängliche Felslandschaft entpuppt sich als eine Sandfläche, und die rollenden Felsbrocken werfen sich als eine
3
Vgl. Sebastian Vehlken: »Fish & Chips. Schwärme, Simulation, Selbstoptimierung«, in: Lucas Gisi, Eva Horn (Hg.), Schwärme. Kollektive ohne Zentrum, Bielefeld 2009, S. 125-162.
4
Vgl. Sebastian Vehlken: Zootechnologien. Eine Mediengeschichte der Schwarmforschung, Berlin/Zürich 2012.
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Art organisierter Treibsand zunehmend zu erkennbaren Formen und Figuren auf. Zunächst brechen diese wieder zu Sandhaufen zusammen, bilden sich neu und zerstreuen sich wieder. Doch immer deutlicher formt sich letztlich ein Körper, der menschliche Konturen trägt.
Abbildung 1: Screenshot aus SPIDER-MAN 3
Immer detaillierter werden seine Züge, bis sich endlich ein muskelbepackter Kerl aus dem Sand erhebt, kurz unsicher und taumelnd, dann entschlossen das markante Kinn reckend: Der Sandman ist gekommen und wird Peter Parker (un-)ordentlich auf Trab halten. Auch andere kinematografische Sandstürme bringen Gesichter hervor: So versuchen – um nur ein weiteres Beispiel zu nennen – die Aficionados antiker Grabbeigaben in einer Sequenz von THE MUMMY (USA 1999, R. Stephen Sommers) mit einem Propellerflugzeug vor einem Sandsturm zu entkommen, dessen Front sich in das ins Groteske gewachsene Antlitz des von ihnen entfesselten altägyptischen Bösewichts verwandelt und sie zu verschlingen trachtet. Derartige SFX-Sequenzen, in denen sich die Individualbewegungen unüberschaubar vieler Einzelteilchen zu kollektiven Dynamiken und Mustern fügen, erfreuen sich großer Beliebtheit. Dies macht allein schon die Vielzahl jüngerer Filmproduktionen deutlich, an die sich dieser Beitrag anlehnen wird. Sie stellen dabei zunächst einmal die technischen Möglichkeiten aktueller Computer Graphic Imagery zur Schau. Visuell wird hierbei ein nahtloser Übergang von verstreuten, amorphen und undefinierten Bestandteilen zu stabilen, definierten und erkennbaren Gestalten generiert. Aus dem Ungrund von Sandkörnern oder anderen Kleinteilen entsteht die
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identifizierbare Form eines Körpers oder Gesichts. Eine Form, die jedoch jederzeit wieder aufgelöst werden und im Modus des Amorphen weiterwehen oder weitertreiben kann. Die Funktionsweise der dahinterstehenden CGI orientiert sich jedoch nicht an der Physikalität realer Treibsande und Sandstürme. Ihre Animationen stehen in der Tradition agentenbasierter Simulationsverfahren, die von innovativen Grafikdesignern wie William T. Reeves oder Craig W. Reynolds bereits in den 1980er Jahren angeregt wurden.5 Reynolds etwa entwickelte Schwarmsimulationen, deren Clou in einer Delegation von Programmierkontrolle in nicht einmal eine Handvoll simpler Verhaltensalgorithmen (und nicht zu vergessen: deren adäquate Randbedingungen) liegt, auf deren Basis seine ›vogelähnlichen Objekte‹ dann eigenständig ganz typische Schwarmbewegungen vollführten. Anstatt sich nach klassischem Programmierprinzip darum zu bemühen, die Bewegungen jedes einzelnen seiner ›Boids‹ zu jedem Zeitpunkt der Animation vorschreiben zu wollen (und diese einzelnen Bewegungspfade dann noch miteinander in Einklang zu bringen), oder Bewegungspfade zu klonen (und damit wenig realistisch aussehende Kollektivbewegungen zu erhalten), experimentierte Reynolds mit hypothetischen Regeln der Selbststeuerung biologischer Schwärme. Dies machte seine Programme umgekehrt attraktiv für Verhaltensbiologen. Besonders aufgrund der dynamischen Visualisierung der in die Schwarmsimulationsmodelle eingehenden Daten und Parameterkombinationen konnten Wissenschaftler mit angepassten Modellen ›virtuelle‹ Beobachtungen machen und Experimente durchführen, die ihnen am ›natürlichen‹ Forschungsobjekt Vogel- oder Fischschwarm nicht möglich waren. Was auch heute noch im CGI-Sandman steckt, ist mithin ein Wissen um die Selbstorganisationsfähigkeiten von Schwärmen, das aus einer gleichzeitigen und wechselseitigen Biologisierung informatischer Prinzipien und der Computerisierung biologischer Forschungen erwächst. Schwärme sind eine Form von Zootechnologie, die das zoé, das unbeseelte tierische Leben im Schwarm, mit der experimentellen Epistemologie der Computersimulation kombiniert hat. Schwarmlogik insistiert mithin überall dort, wo in Film-
5
Vgl. William T. Reeves: »Particle Systems – A Technique for Modeling a Class of Fuzzy Objects«, in: ACM Transactions on Graphics 2/2 (1983), S. 91-108. Vgl. Craig W. Reynolds: »Flocks, Herds, and Schools: A Distributed Behavioral Model«, in: Computer Graphics 21/4, (1987), S. 25-34.
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animationen makroskopische Formen und Muster aus einer Masse mikroskopischer Teilchen entstehen. Damit ist es ganz gleich, ob diese – wie in den hier und im Folgenden versammelten Beispielen – als Sand, Wolken, Roboter oder metallfressende Insektoide visualisiert werden. Der nahtlose Übergang vom Amorphen zu Gestalten und Formen und wieder zurück wird in der CGI medientechnisch geregelt von Schwarm-Simulationen.
R ELATIONALES S EIN In derartigen SFX-Sequenzen steckt aber noch mehr als ein bio-mediales Selbstorganisationswissen. Schwarm-Figuren wie der Sandman lassen als Formwandler zwischen identifizierbarer Gestalt (man) und amorpher ›Teilchenmenge‹ (sand) nach möglichen Modi von Identität und Nicht-Identität fragen. Sie bewegen sich in einem Diskurs, der Schwärme seit jeher als – zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten aus je ganz unterschiedlichen Gründen – problematische Wissensobjekte beschreibt. Sie wurden stets ausgeschlossen als das Andere des identifizierbaren (und kontrollierbaren) Individuums.
Abbildung 2: Screenshot aus THE BIRDS
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Dies wird auch in ihrer filmischen Repräsentation evident, wo sie – mit Hitchcocks THE BIRDS (USA 1963) als Paradebeispiel – als Übertragungsereignisse die Übertragung von Ereignissen stören. In ihrer Oszillation zwischen einer intransparenten, distribuierten Organisationsstruktur und einem scheinbar chaotischen Schwärmen deuten sie hin auf die Grenzen von Datenerhebungsverfahren, erzeugen »Ereignisse ohne Ort und Ortung«, sind pures Datengestöber.6 Dieses Störpotential steht jedoch ebenso lang in einem ambivalenten Verhältnis zu einer Faszinationsgeschichte von Schwärmen. Ihre Fähigkeit zu kollektiver Koordination, zur Bildung dynamischer Formationen und zu zielgerichtetem Globalverhalten ließ im Laufe der Zeit verschiedenste Theorien darüber erblühen, wie, wo und als was denn ein ›Geist des Schwarms‹ zu identifizieren wäre.7 Im Zuge ihrer zootechnischen Erforschung bringt dabei aktuell vielleicht der Begriff der Schwarmintelligenz dieses Faszinosum auf den Punkt. Was Schwärme paradoxerweise als Schwärme bestimmbar macht, liegt nicht in irgendeiner Art von Wesen oder in den Prädispositionen der den Schwarm bildenden Elemente begründet. Es ist ihre Relationalität, die generiert wird durch die nichtlinearen, lokalen Kopplungen ständig miteinander interagierender Schwarm-Individuen. Schwärme verunsichern eine Zuschreibung von Identität also dadurch, dass sie ihre Bestimmung erst als nicht festgestellte, dynamische Kollektive in actu hervorbringen. Diese signifikante Dezentrierungsbewegung evoziert zugleich eine komparatistische Perspektive, die in Schwarm-Filmen durchgespielt wird: Wie verhalten sich Konzepte eines identifizierbaren, eindeutigen, durch einen relativ unveränderlichen Körper definierten Individuums im Vergleich zu diesen ephemeren Vielheiten? Jenseits der Demonstration animationstechnischer Machbarkeit sind Schwarm-SFX-Sequenzen daher in erster Linie Hinweise und Bestandteil einer realiter um sich greifenden Medienkultur der Intransparenz.
6
Joseph Vogl: »Gefieder, Gewölk«, in: Christian Filk/Michael Lommel/Mike Sandbothe (Hg.), Media Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln 2004, S. 140-149.
7
Vgl. z.B. Maurice Maeterlink: La Vie des Abeilles, Paris: Gallimard 1903 [1901]. C. Bingham Newland: What is Instinct? Thoughts on Telepathy and Subconsciousness in Animals, New York 1916.
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Die hier versuchte Systematisierung des Verhältnisses von Schwärmen und Nicht-Identität sollte somit vielleicht vier Ebenen beschreiben: Erstens fordern Schwärme als ›posthumane‹ oder ›enthumanisierte‹ Gegner klassische Subjektpositionen heraus, indem sie in mindestens zweifacher Weise Prozesse der Auflösung evozieren: Zum einen beruht Schwarm-Horror auf der Desintegration einheitlicher Körper, die unter den Attacken unzähliger Schnabelhiebe oder Bisse zerlegt werden. Zum anderen – und oft mit dem ersten Aspekt gekoppelt – fußt ihr Schrecken in einer Auflösung von Räumen: In einer Desorientierung fixer Standpunkte und Geometrien durch das allgegenwärtige Schwirren und Flirren vieler Schwarm-Individuen, die eine Trennung von Formen und Grund, von Subjekten, Objekten und Umwelt verunmöglicht. Oder gar in der Zersetzung von Raumstrukturen und geometrischen Objekten, die nichts zurücklässt als Leere. Zweitens instantiieren Schwärme als ›Systemtiere‹ die vermeintlich überlegene Adaptivität und dynamische Organisationsfähigkeit einer bio-technischen Kollektivoder Schwarintelligenz. Sie haben sich von einem anthropozentrischen Blick emanzipiert, der im Filmbild in der typischen Oszillation zwischen Einheit und Vielheit inszeniert wird. Schwärme können fallweise die Form von Körpern annehmen, diese aber jederzeit wieder auflösen und sich daher flexibel an Umweltbedingungen anpassen, z.B. um Angriffen zu entgehen oder eigentlich unmögliche Fluchtwege zu nutzen. Zugleich ist – vor allem in jüngeren Beispielen – jedoch eine Art Zwang zur Gestalt zu beobachten: Denn um in Erzählungen und Filmplots als Gegner oder Kommunikationspartner funktionieren zu können, müssen sich Schwärme ›personalisieren‹, müssen eine – zumeist menschliche – Form annehmen, müssen sich ›identifizieren‹. Sonst bleiben sie jene pure Negation von Kommunikation wie im Fall von THE BIRDS. Nur durch Prozesse des Facings,8 als Selbstkonstitution zu einem auf den Menschen abgestimmten Gegenüber, und mehr noch: durch ihre Zentralisierung werden Schwärme überhaupt adressierbar. Damit kommt drittens ihre medientechnische Ebene ins Spiel. SchwarmAnimationssequenzen beruhen im Produktionslevel auf effizienten, distribuiert angelegten, agentenbasierten Computermodellen, die sich an der Funktionsweise biologischer Schwarmkollektive orientieren. Werden diese nun dazu herangezogen, auf dem Plotlevel stets wieder eine Zentrierung
8
Vgl. Gilles Deleuze, Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin 1997, S. 160f.
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und Identifizierbarmachung von Schwarmkollektiven ins Bild zu setzen, so fällt die Weise, wie Schwärme erzählt werden, wesentlich hinter das Verständnis von Schwärmen zurück. Etwas überspitzt gesagt bekommt man es hier in Anlehnung an Michel Foucaults Ausdruck des anthropologischen Schlafs9 mit einem ›zootechnischen Schlaf‹ zu tun, der jedoch gerade durch das Erscheinen von Gesichtern im Sand angezeigt wird. Zugleich nutzen viertens – und dies wird abschließend untersucht – zootechnische Applikationen im Bereich der Swarm Intelligence-Forschung (SI) längst Algorithmen wie die Particle Swarm Optimization (PSO) für Verfahren des Pattern Recognition innerhalb großer Datenmengen – und damit nicht zuletzt auch für die automatisierte Erkennung menschlicher Gesichter und die Identifikation von Individuen.
AMBIVALENTE U NGESTALTEN Das Schreckensmotiv der Desintegration von Körpern durch Schwärme wird nicht ohne Grund in Schwarm(horror)filmen eingesetzt, kommt es dabei doch zu einer Überlagerung identifizierbarer Personen und Körper mit dem unsteten Wimmeln unidentifizierbarer Schwarmkollektive. In der eher wissenschaftsaffinen Variante, etwa in PHASE IV (USA 1974, R. Saul Bass), lassen kollektivintelligente Killerameisen menschliche Körper in der Wüste verschwinden. Währenddessen pflegen eher ironische Genrevariationen wie PIRANHAS (USA 1978, R. Joe Dante) im Fahrwasser von Steven Spielbergs JAWS (USA 1974) einen stets augenzwinkernden UnterwasserSplatter, in dem sich die Unsichtbarkeit allseitiger Angriffe eines PiranhaSchwarms auf ahnungslose Badegäste sowohl aus deren panischem Geplansche als auch aus der Vielzahl der Fische im trüben Wasser ergibt. Dieselbe Unsichtbarkeit ist aber auch filmtechnisch hochwillkommen, kaschiert sie doch zumindest teilweise die simple und mit heutigem Blick hochkomische Tricktechnik, mit der hier Schwarmattacken inszeniert werden. Das prophetische Filmzitat »They are here – and we don’t know how to stop them!« korrelliert noch mit dem fehlenden Know-How, Schwärme in überzeugender Weise filmisch zu animieren. Es wäre schön, wenn sie
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Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 2006, S. 462.
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dort wären, damit sie nicht gestoppt werden könnten – doch bis auf Weiteres bleibt der Piranha-Schwarm unsichtbar. Erst nach besagtem medientechnischen Datum einer zunehmenden Implementierung biologisch inspirierter ›Schwarm-Algorithmen‹ in CGI, die abhängig ist von einer enormen Steigerung von Computer-Rechenkapazitäten für das Rendering derartiger Sequenzen, werden solche Tricks obsolet. Im Vergleich zu den ›analogen Schwärmen‹ von Piranhas, Ameisen oder Möwen (in THE BIRDS) bringen digital animierte Sequenzen ab Mitte der 1990er Jahre nicht nur eine rapide Zerlegung (HELLBOY II – THE GOLDEN ARMY, USA 2008, R. Guillermo del Toro), sondern auch ein Eindringen und ›innerliches Überschwemmen‹ von Körpern durch eine Vielzahl kleiner Schwarm-Bestandteile ins Bild – wie es z. B. in den Skarabäus-Attacken in THE MUMMY oder in einer Sequenz mit ausschwärmenden Feuerameisen in INDIANA JONES AND THE KINGDOM OF THE CRYSTAL SKULL (USA 2008, R. Steven Spielberg) visualisiert wird. Schwärme machen Individuen anfällig für Angriffe von allen Seiten, für eine Form multipler Penetration durch kleine, wimmelnde SchwarmBestandteile. Diese zersetzen die Integrität eines Körpers und mithin die Einheit eines identifizierbaren Individuums. Zur Desintegration tritt als zweites Moment die Desorientierung von Individuen. Schwärme erzeugen eine Verzerrung im Visuellen. Die individuellen Bewegungen der Elemente des Schwarms verwirren die Fixierungsversuche eines analytisch-geometrisierenden Blicks. Seine ephemere Globalstruktur markiert, ähnlich wie die Wolken bei Hubert Damisch, die Grenze des perspektivischen Codes.10 Als Gegner ist ein Schwarm kaum zu bekämpfen – er gibt kein Ziel ab, ist zugleich Konzentration und Verstreuung, und bleibt als dynamische Gesamtheit durchlässig. Schwärme weisen keine ausgewiesenen Schwachstellen oder kritischen Punkte auf, an denen zu Abwehrzwecken anzusetzen wäre, sondern zeichnen sich in ihrer distribuierten Organisationsweise gerade durch hohe Redundanzen und Robustheit aus. Umschwärmt ein Schwarm seine Gegner oder Opfer, so hüllt er sie ein in eine problematische Mischung aus unbestimmter, relationaler Wesenheit und plötzlichem Umwelt-Werden. Der geometrische Raum wird dabei von einem Bewegungsraum okkupiert, durch eine ›nervöse Geo-
10 Hubert Damisch: »Die Geschichte und die Geometrie«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Wolken. Archiv für Mediengeschichte Bd. 5, 2005, S. 11-25.
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metrie‹ des Wimmelns.11 Mit Christoph Asendorf lässt sich dieses Wahrnehmungsprogramm wie folgt beschreiben: »Die Wahrnehmung orientiert sich nicht mehr an den von einem Punkt ausgehenden Blickachsen, fixiert kein frontales Gegenüber, sondern ist nach dem physikalischen Modell des Feldes organisiert: jedem Punkt in einem räumlichen Bereich sind variable Erregungsgrößen zugeordnet, die von allen Seiten auf die verschiedenen Sinne einwirken.«12
In ganz ähnlicher Weise hat Gilles Deleuze das Bildfeld des Kinos systematisiert, wenn er zwischen einem geometrischen und einem physikalischen Arrangement der Bildelemente, der »Daten«, wie er schreibt, unterscheidet: »Im ersten Fall ist das Bildfeld von strengen geometrischen Unterteilungen nicht zu trennen. […] Pyramiden- und Dreiecksfiguren, in denen sich Leiber, Massen, Stätten zusammendrängen, Massen aufeinanderstoßen, eine regelrechte Pflasterung des Bildfeldes […]. Durch eine solche Schachtelung der Bildfelder sondern sich die Teile des Ensembles oder geschlossenen Systems, aber durch sie halten sie auch zusammen und vereinigen sich wieder. Auf der anderen Seite führt die physikalische oder dynamische Gestaltung von Bildfeldern zu verschwimmenden Ensembles, die nur noch in Zonen oder Schichten zerfallen. Das Bildfeld ist nicht mehr Gegenstand geometrischer Unterteilungen, sondern physikalischer Abstufungen. Die Teile des Ensembles entsprechen jetzt Intensitätsbereichen, und das Ensemble selber ist eine alle Teile […] durchdringende Melange. […] Das Ensemble teilt sich nicht, ohne jedesmal seine Beschaffenheit zu ändern: in diesem Sinne stellt es weder etwas Teilbares noch Unteilbares, sondern ›Dividuelles‹.«13
Neuere Schwarmsequenzen visualisieren diese intensive Dividualität. In THE MATRIX REVOLUTIONS (USA 2003, R. Lana und Andy Wachowski) oder in HELLBOY II flottieren Schwarm-Individuen durch den gesamten Bildraum und nehmen ihn in Besitz, indem sie ihn vollkommen ausfüllen.
11 Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989, S. 119. 12 Ebd., S. 120. 13 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1997, S. 29-30.
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Dieser Prozess der Verstreuung changiert mit stetigen Konzentrationsbewegungen, etwa wenn sich die Schwarm-Individuen an bestimmten Stellen – meist um potenzielle Opfer herum – besonders verdichten. Diese ständige Oszillation zwischen Verstreuung und Verdichtung dynamisiert den Raum, indem sie ihn der geometrischen Bestimmbarkeit entzieht und für optische Wahrnehmungsprogramme unscharf macht. An der epistemologischen Grenze des perspektivischen Codes treten mit Schwärmen Formen und Ereignisse auf, die sich einer Geometrisierung widersetzen. Sie markieren in einem Chaos von Daten die »Unfähigkeit zu Gegenständen überhaupt, die Unfähigkeit zu empirisch erfahrbaren Objekten.«14
Abbildung 3: Screenshot aus THE DAY THE EARTH STOOD STILL
Wenn ein Schwarm seine Opfer umschwärmt, hüllt er sie ein in eine Mischung aus ephemerer, relationaler Wesenheit und plötzlichem UmweltWerden. Er ersetzt so den geometrischen Raum durch einen BewegungsRaum, der Fixpunkte und Orientierungen in Bewegungsunschärfen auflöst. Was von Weitem noch als Schwarmfigur identifizierbar ist, wird von Nahem, wenn es sich als Bedrohung realisiert, konstitutiv unsichtbar – oder besser gesagt: über-sichtbar – und verliert seine identifikatorischen Merkmale. Schwärme sind hier eines Wesenhaften entkleidet, ohne wie Piranhas in trübe Gewässer abtauchen zu müssen. Ihre ›Figur‹ mischt sich im Zuge eines derartigen Umwelt-Werdens mit dem Grund des Bildfeldes und annihiliert dessen »geometrische Unterteilungen« – etwa wenn sich in THE DAY THE EARTH STOOD STILL ein gewaltiger Schwarm sirrender Insektoide nicht
14 Vogl 2004, S. 145.
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nur durch auf dem Highway fahrende Trucks hindurchfrisst, sondern ganze Stadtlandschaften in nichts als neue Schwarm-Partikel atomisiert. Die zweifache Fragmentarisierung durch Desintegration und Desorientierung verhindert eine Synthese von Schwärmen zu objektifizierten Entitäten. Sie bleiben diffuse, graduelle physikalische Reaktanden, die geometrische Räume in topologische Schwarm-Räume transformieren.
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VON
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Doch wird in solchen Sequenzen auch wieder eine zweite Rahmung, eine zweite visuelle Ordnung eingeführt. Diese ordnet Schwärme dem individuellen, identifizierenden Blick menschlicher Subjekte unter. Denn immer wieder nehmen die Vielteilchensysteme im Bildfeld Gestalten an, bilden Such- oder Ausschwärmmuster (STARSHIP TROOPERS, THE MUMMY, SPIDER-MAN 3), versammeln sich wie eine Faust zum militärischen Gegenschlag (THE MATRIX REVOLUTIONS), oder generieren gar scheinbar kohärente Körper wie im Fall des Sandman. Der identifizierbare menschliche Körper, durch die ›systemtierische‹ Organisationsweise der dargestellten dynamischen Kollektive eigentlich verabschiedet, hört nicht auf, zu erscheinen – Gesichter in Sandstürmen allerorten. Dies mag zusammenhängen mit einem Adressierungsproblem, das in der Konfrontation mit Schwärmen auftritt: Wie tritt man ihnen als Gegner gegenüber? Wie kommuniziert man mit einer Kollektivintelligenz? Neben dem epistemischen Horror vor dem, was (eigentlich) nicht Gestalt werden kann, wird auf dem Plotlevel besagter Filme die Frage verhandelt, wie eine immer in Bewegung und Transformation befindliche Vielheit ›angesprochen‹ werden kann – sei es durch Worte oder durch Feuerwaffen diverser Kaliber. Wollen menschliche Akteure der distribuierten Intelligenz von Schwarmkollektiven über jene Ebene des visuellen Rauschens hinaus begegnen, dann fällt deren filmische Darstellung allzumeist zurück auf bestimmte Figurationen, die das Relationale Sein von Schwärmen konterkarieren und ihnen eine identifizierbare Gestalt geben. Denn eine Begegnung mit einem Kollektiv, ein facing, scheint nur möglich durch dessen im Regelfall sogar anthropomorphe Selbstfiguration. Um ein Interface zwischen sich und einem menschlichen Subjekt herzustellen, so scheint es, müssen Schwärme eine bestimmbare Gestalt und einen erkennbaren Körper
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annehmen. Interessanterweise findet solch ein facing meist erst nach ausgedehnten, ›anarchischen‹ Schwarmsequenzen statt. Zunächst werden die überwältigenden Organisationsfähigkeiten von Schwarmkollektiven ausgestellt, welche die menschlichen Organisationsweisen desintegrieren und herausfordern. In der Folge generieren sie dann jedoch ein Interface, um den menschlichen Akteuren eine Kommunikation mit einer Art ›Essenz‹ des Schwarms zu ermöglichen. Und auch im Falle von militärischem Widerstand gegen Schwarmkollektive müssen adressierbare Orte ausgebildet werden – nur so kann sich z.B. bei THE MATRIX REVOLUTIONS das Abwehrfeuer auf den Gegner konzentrieren. Andernfalls resultiert der Kampf gegen Schwärme in einer gleichzeitigen Zerstörung von Schwarm und Raum – etwa durch umfassende Explosionen – die zugleich immer auch eine Gefährdung der in denselben Räumen befindlichen menschlichen Akteure bedeutet. Alexander Galloway und Eugene Thacker weisen auf einige konzeptuelle Auswirkungen derartig asymmetrischer Formen von Gegnerschaft hin, indem sie diese auf die Unterscheidung zwischen Freund und Feind bei Carl Schmitt beziehen. Schmitts Unterscheidung, so notieren sie, sei nicht nur zu verstehen als politische Unterscheidung und Identifikation eines Feindes, sondern eher als eine topologische oder diagrammatische Differenzierung, »meaning that one must also get a firm handle on the architectonic shape of conflict in order to know where one stands. […] What one may glean, then, from our notion of politico-military topologies is that there is a kind of materialism running through enmity, a kind of physics of enmity, an attempt to exercise a control of distributions (of people, of vehicles, of fire, of supplies). Are you friend or foe? Everything depends on how one ›faces‹ the situation; everything depends on where one is standing. Enmity is always a face because enmity is always ›faced‹ or constituted by a confrontation. […] Friends only ›face‹ each other insofar as they stand opposite and ›face‹ their common foe (their enmity-in-common). Enmity is an interface.«15
15 Alexander R. Galloway, Eugene Thacker: The Exploit. A Theory of Networks, Minneapolis, London 2007, S. 63-65 [Hervorheb. im Orig.]. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Eva Horn/Stefan Kaufmann/Ulrich Bröckling (Hg.): Grenzverletzer. Zur politischen Subversion territorialer Ordnung, Berlin 2002; Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt/M.
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Doch was, wenn dieser Versuch der Selbstlokalisierung nach hinten losgeht, wenn man einem diffusen und amorphen Gegner gegenübertritt – oder eben gerade nicht gegenübertreten kann? Was, wenn ein Gegenübertreten, jene Vorbedingung für die Kontrolle einer konfrontativen Situation, in ephemerem Schwärmen desintegriert wird? Oder mit Galloway und Thacker: »If there is no foe to face, how does one face a foe?«16 Den beiden Autoren zufolge muss facing als ein Prozess angesehen werden, nicht als eine festgefügte Unterscheidungsrelation. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf Deleuzes und Guattaris Begriff der Gesichtshaftigkeit (visagéité im frz., faciality im engl.) in Tausend Plateaus. Dort heißt es: »Die Sprache wird nicht nur von gewissen Gesichtsausdrücken begleitet, sondern das Gesicht kristallisiert sämtliche Redundanzen; durch das Gesicht werden signifikante Zeichen gesendet und wieder eingefangen. Es selber ist ein ganzer Körper; es ist so etwas wie der Körper des Zentrums der Signifikanz, auf dem sich alle deterritorialisierten Zeichen festsetzen, und es bezeichnet die Grenze ihrer Deterritorialisierung.«17
Über eine derartige Kennzeichnung einer Affekte arrangierenden Qualität hinaus, so Galloway und Thacker, impliziere faciality nachgerade einen Prozess der Mustererkennung, sie sei »[…] one’s recognition of other human faces, and thus one’s habit of facing, encountering, meeting others all the time. But for Deleuze and Guattari, the fundamental process of faciality also leads to a deterritorialization of the familiar face, and to the proliferation of faces, in the snow, on the wall, in the clouds, and in other places (where faces shouldn’t be)… Places where faces shouldn’t be – can this be what swarming is?«18
2007; Eva Horn: »Der Feind als Netzwerk und Schwarm: Eine Epistemologie der Abwehr«, in: Claus Pias (Hg.), Abwehr. Modelle – Strategien – Medien. Bielefeld 2009, S. 39-52. 16 Galloway, Thacker 2007, S. 68. 17 Deleuze, Guattari 1997, S. 160. 18 Galloway, Thacker 2007 S. 68-69 [Hervorheb. im Orig.].
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Ist es also vorstellbar, Schwärme mit einem derartigen Konzept der Gesichtshaftigkeit zusammenzudenken, das sich mit der Diffusion oder Deterritorialisierung von Gesichtern in einer Vielzahl von Orten bzw. Elementen auseinandersetzt? Eine Auseinandersetzung also mit einem topologischen System, dem sich ein menschliches Subjekt eben nicht gegenüberstellen kann, aber dem es sich dennoch stellen kann? Ist es mithin möglich, die Weigerung von Schwarmkollektiven, Gestalt anzunehmen, durch geeignete Verfahren des Trackings und der Mustererkennung zu kontern? Könnte somit ein andersartiges Interface die Oberfläche (surface) eines Gesichts (face) im Prozess der faciality ersetzen? Die Art und Weise, wie Schwärme in zeitgenössischen Filmproduktionen auf der Ebene von Filmbildern und Plots dargestellt werden, weisen in eine andere Richtung. Man mag etwa an das ›techno-intelligente‹ BorgKollektiv aus STAR TREK: THE NEXT GENERATION (USA 1987-1994) denken. Dessen cyborghafte Mensch-Maschine-Hybride erinnern in ihrer Bewegungsdynamik zwar eher an Zombies als an Schwärme, doch zugleich sind diese ent-individualisierten und assimilierten ›Borg-Drohnen‹ zusammengeschlossen zu einem ›Wir‹, dass sich in der Serie als gemeinsame Stimme äußert und sich erst im Kinofilm STAR TREK: FIRST CONTACT (USA 1996, R. Jonathan Frakes) in der Borg-Queen personalisiert. Deren zentraler Satz »I am the one who is many« artikuliert die Ambiguität innerhalb einer narrativen Fassung von verteilter Intelligenz. Doch die Gesichtshaftigkeit der Borg-Queen verkörpert zugleich die Macht des BorgKollektivs und markiert damit einen Ort – nämlich eben jenen Ort, an dem Strategien des Austricksens und Bekämpfens des gesamten Kollektivs ansetzen können. Ein solcher Modus der Personalisierung von Kollektiven findet sich auch an anderer Stelle. So werden die arachnophilen Massaker in STARSHIP TROOPERS erst beendet, als die menschlichen Truppen einen – nomen est omen – gehirnförmigen Brain Bug gefangen nehmen und durch ›Tierversuche‹ am offenen Organ der Funktionsweise des Insektenkollektivs auf die Schliche kommen. ›Schwarmintelligenz‹ manifestiert sich in einem monströsen Gehirn-Modul, in einer nachgerade ikonischen Repräsentation von Denken. Auf diese Weise bleiben auch hier Verkörperung und Verortung intakt. Ganz ähnlich verfährt I, ROBOT (USA 2004, R. Alex Proyas), wenn beim Showdown der Zentralrechner V.I.K.I. in einem ständig bewegten, hologrammähnlichen Pixelsalat dargestellt wird, aber damit ebenfalls einem Ort zugeschrieben wird. Auch hier wird in bewährter
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Manier auf eine sternförmige Vernetzungstopologie zurückgegriffen, was das Beherrschen und Ausschalten des Roboterkollektivs schließlich recht einfach macht. THE MATRIX REVOLUTIONS schließlich kommt zwar ohne derartige Personalisierungen aus, doch hier werden die Möglichkeiten avancierter CGI eingesetzt, damit der Protagonist Neo der Maschinenintelligenz gegenübertreten kann. Eine – wenigstens tricktechnisch – dramatische Sequenz konfrontiert Neo mit einem fliegenden Schwarm kleiner, sich unablässig bewegender Maschinen, die als dynamische Partikel nach und nach ein (menschliches) Gesicht formen und Mimesis an menschlicher Mimik üben.
Abbildung 4: Screenshot aus THE MATRIX REVOLUTIONS
In diesem wörtlich zu nehmenden face-place, diesem Gesichts-Ort, bezeichnet und illustriert sich der Schwarm als Gegner, während er gleichzeitig ein Interface zur Kommunikation ausbildet. So kann Neo respektive kann ›die Menschheit‹ mit der Maschinenintelligenz verhandeln und versuchen, diese verteilte Intelligenz zu verstehen, die so verschieden ist vom human(istisch)en Konzept der Identität und Individualität. Oder, wie Galloway und Thacker schreiben: »[T]he contemporary science fiction film, blessed with an abundant graphics technology able to animate complex swarming behavior down to the last detail, still must put a ›face‹ on the foe, for in the very instant the swarm reaches the pinnacle of its power, its status as a defaced enemy is reversed and the swarm is undone. […] Again the point is not that faciality – or cohesion, or integrity, or singularity, or what have you – is the sole prerequisite for affective control or organization, for indeed the swarm has significant power even before it facializes, but that faciality is a
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particular instance of organisation, one that the swarm may or may not coalesce around. […] In a sense, […] swarming is simply a reminder of the defacement that runs through all instances of ›facing‹ the other.«19
Ungeachtet der avancierten CGI in THE MATRIX REVOLUTIONS, welche die Gesichtshaftigkeit, die andauernde Bewegung und Oszillation zwischen Kohärenz und Diffusion technisch zu integrieren vermag, scheint es unausweichlich zu sein, dass der Schwarm eine eindeutig lokalisierte und geometrisierte Oberfläche ausbildet, wenn ein Interface hergestellt werden soll zwischen menschlichem Subjekt und distribuierter Intelligenz. Denn konzeptuelle Kontrolle über Schwärme zu gewinnen, bedeutet sie an einem definierten Ort als kohärentes Objekt festzulegen.
P ATTERN R ECOGNITION Das zootechnische Wissen um die dynamischen Interaktionspotenziale von Schwärmen wird in Filmerzählungen mithin eingesetzt, mittels Schwarmintelligenz anthropomorphe Gesichts-Organisationen zu generieren. Diese konterkarieren zugleich jene dynamischen Muster, die Schwärme als diffuse biologische Vielheiten hervorbringen und die eben nicht feststellbar bleiben. Eine Form von alltagspraktischen Anwendungen hingegen bringt Schwärme und Gesichter in einen Zusammenhang, ohne solch zootechnischem Schlummer zu verfallen. Innerhalb der seit 1999 so genannten Swarm Intelligence-Forschung20 entwickelten die Mathematiker James Kennedy und Russel Eberhart ein stochastisches Optimierungsverfahren names Particle Swarm Optimization (PSO), das einerseits inspiriert ist durch die überzeugenden Visualisierungen der Grafik-Animationen von
19 Ebd., S. 69-70. 20 Verbreitung erlangt der Begriff durch die Forschungen zur Simulation des Verhaltens sozialer Insekten in Eric Bonabeau et al.: Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems, New York: Oxford University Press 1999. Sie verallgemeinern damit dessen Problemspektrum: Ursprünglich wurde der Begriff in der Robotik geprägt von Gerardo Beni, Jing Wang: »Swarm Intelligence in Cellular Robotic Systems«, in: Proceedings of the Seventh Annual Meeting of the Robotics Society of Japan, Tokio 1989, S. 425-428.
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Reeves und Reynolds – der Name PSO etwa rekurriert direkt auf das Grafik-Tool von Reeves. Zum zweiten beziehen sich die Autoren auf Frank Heppners Forschungen zum Verhalten von Vogelschwärmen, der auf ähnliche Parameter wie Reynolds zurückgreift und diese Vogelschwärme mithilfe zellulärer Automaten simuliert.21 Die Idee der PSO basiert auf der Frage, wie ein Vogelschwarm verstreut in einem Suchraum liegende Futterstellen findet und lehnt sich an den von Heppner implementierten »cornfield vector« an – ein Suchziel, das die Bewegung des simulierten Schwarms motiviert. PSO erforscht den Raum der möglichen Zustandskombinationen ›schwarmhaft‹. Dazu werden Partikel zunächst zufällig im Suchraum verteilt. Die Partikel besitzen in diesem Modell nurmehr eine Position und eine Geschwindigkeit. Sie stehen mit einer definierten Menge von Nachbar-Partikeln in Kontakt. Die jeweilige Position ist gleichzeitig ein Lösungsvorschlag für die Zielfunktion. Iterativ werden nun einerseits die personalBest-Positionen (deren Optimum wird als eine Art lokales ›Gedächtnis‹ erinnert) und die neighborhoodBestPositionen einer festgelegten Anzahl an nächsten Nachbarn bestimmt. Diese werden miteinander abgeglichen, und aus den bestimmten Abständen ergeben sich in Kombination mit der Größe der Geschwindigkeit die neue ›Flugrichtung‹ und Geschwindigkeit für jeden einzelnen Partikel. Ähnlich dem Umschwirren und der schließlichen Versammlung von Vögeln um die Futterstelle verdichtet sich der Partikelschwarm nach und nach in einem bestimmten Bereich. Wichtig ist dabei das Schwärmen der Partikel – eine zu schnelle Konzentration an einem Punkt (aka Lösungswert) birgt ansonsten die Gefahr, nur ein lokales Maximum aufzuspüren. Dabei spielt die Größe der berücksichtigten Nachbarschaft eine entscheidende Rolle: Ist sie zu groß, tendiert das System zu einer zu frühen Konvergenz, ist sie zu klein, verlängert sich die Berechnungszeit unnötigerweise. Die Art und Weise der
21 Vgl. James Kennedy, Russell C. Eberhart: »Particle Swarm Optimization«, in: Proceedings of the IEEE International Conference on Neural Networks, Piscataway 1995, S. 1942-1948. Frank Heppner, Ulf Grenander: »A stochastic nonlinear model for coordinated bird flocks«, in: Saul Krasner (Hg.), The Ubiquity of Chaos, Washington 1990, S. 233-238. Zur Relevanz von PSO vgl. Andries P. Engelbrecht: Fundamentals of Computational Swarm Intelligence, Chichester 2005, S. 85-359 und siehe das in 2008 erschienene Sonderheft Particle Swarm Optimization des Springer-Journals Swarm Intelligence.
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Formation des Partikelschwarms, die Bewegungs- und Abstandsbeziehungen der einzelnen Partikel im Suchraum indizieren schlussendlich eine nahezu optimale Lösung, ohne wie andere Verfahren den gesamten Suchraum Punkt für Punkt absuchen zu müssen: Information entsteht durch Formation. Aufgrund dieser Kriterien wird PSO jüngst auch als BildanalyseAlgorithmus erprobt. Ein wichtiger Bereich automatischer Bilderkennung ist dabei die Identifikation von Gesichtern auf Fotos und in Videosequenzen, spielen hier doch nicht nur Themen wie die Mensch-MaschineInterfacegestaltung oder Bilddatenbank-Suchverfahren hinein, sondern – viel gravierender – biometrische Verfahren technischer Überwachung und Kontrolle. PSO kann bei der Face Detection und Face Recognition helfen, also bei der Lokalisierung und Identifikation von Gesichtern in einem Bild. Face Detection wird erschwert durch Faktoren wie die Größe, die Position, die Orientierung oder die Stärke und Richtung der Beleuchtung eines Gesichts, die je nach Bild stark variieren können. Ein Suchalgorithmus, der dennoch aus einer gegebenen Menge an Bildern jene herausfiltern soll, auf denen die Frontale eines menschlichen Gesichts abgebildet ist, muss mit diesen Variationen umgehen können. Jeder PSO-Partikel kann mit einer gut abgestimmten Pattern Classifier-Technik verknüpft werden. Diese ordnet im Rückgriff auf eine interne Bilddatenbank einen Bildbestandteil mit einer möglichst hohen Wahrscheinlichkeit als ›Gesichtsteil‹ oder ›NichtGesichtsteil‹ ein. Mit PSO als schwärmender, auf Nachbarschaftskommunikation beruhender Suchmethode werden so Face Detections möglich, bei denen nur fünf Prozent des Bildraums durchsucht wurden – eine enorme Zeit- und Rechenersparnis.22 Für die Face Recognition, also die genaue Zuordnung eines zu erkennenden Bildes zu einem übereinstimmenden Gesicht in einer Datenbank, ist es zudem entscheidend, nicht möglichst viele oder gar alle, sondern jene Gesichtselemente mit einem hohen Unterscheidungswert zu kennzeichnen und einem der inzwischen weit entwickelten Verfahren geometrischer oder
22 Vgl. Ermioni Marami, Anastasios Tefas: »Face Detection Using Particle Swarm Optimization and Support Vector Machines«, in: Stasinos Konstantopoulos et. al. (Hg.), Artificial Intelligence: Theories, Models and Applications. 6th Hellenic Conference on AI, SETN 2010 Athens, Greece, May 4-7, 2010, Proceedings. Berlin, Heidelberg, New York 2010, S. 369-374.
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statistischer Feature Extraction zuzuführen.23 Hier kann PSO als ein vorgeschobener Datenreduktionsfilter eingesetzt werden: »Feature extraction methods commonly represent the face image with a large set of features in which features do not contribute equally to the face recognition task. Feature selection (FS) in pattern recognition involves the derivation of the feature subset from the raw input data to reduce the amount of data used for classification and simultaneously provide enhanced discriminatory power. […] For many pattern classification problems, a higher number of features used do not necessarily translate into higher recognition rate. […] Therefore, feature selection can serve as a preprocessing tool of great importance […].«24
Weitere Anwendungen implementieren PSO gar in umgekehrter Weise als Suchverfahren für Klassifikationsregeln, z. B. für die Zuordnung zu einem Set emotionaler Gesichtsausdrücke (wie Wut, Angst, Ekel, Freude, Trauer, Überraschung).25 Dabei werden mit Feature Extraction-Algorithmen eine Anzahl von sogenannten Discriminatory Points eines 3D-Gesichtsgittermodells festgelegt, die relativen Positionen dieser Punkte mit Hilfe von PSO bei verschiedenen Gesichtsausdrücken evaluiert, und daraus jeweilige Klassen der Positionskombinationen erstellt, die jenen bestimmter emotionaler Ausdrücke entsprechen sollen.
23 Vgl. hierzu Mark Williams: »Better Face-Recognition Software. Computers outperform humans at recognizing faces in recent tests«, in: Technology Review (30. Mai 2007), http://www.technologyreview.com/news/407976/ (zuletzt abgerufen am 18.08.2011). Vgl. zu früheren Entwicklungen W. Zhao et. al.: »Face Recognition: A Literature Survey«, in: ACM Computing Surveys 35/4 (2003), S. 399-458. 24 Rabab H. Ramadan, Rehab F. Abdel-Kader: »Face Recognition Using Particle Swarm Optimization-Based Selection Features«, in: International Journal of Signal Processing, Image Processing and Pattern Recognition 2/2 (2009), S. 5166: 52. 25 Vgl. Iordanis Mpiperis et. al.: »3D Facial Expression Recognition Using Swarm Intelligence«, IEEE International Conference on Acoustics, Speech and Signal Processing, Las Vegas 2008, S. 2133-2136.
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Im Rahmen solcher medientechnischer Verfahren der Pattern Recognition wirken Partikel-Kollektive nicht länger identitätsverzerrend oder -auflösend, wie es ihre dynamische und nichtlineare Organisationsweise ermöglicht und ihr Changieren zwischen Einheit und Vielheit nahelegt. Sie werden auch nicht als Kollektive inszeniert, die sich als Körper und mehr noch als Gesicht zentrieren und identifizieren müssen, um ihre Kollektivintelligenz präsentieren zu können. In nachgerade paradoxaler Weise sehen sich Schwärme als das traditionell Andere von Ort und Ortung hier unter den entsprechenden Randbedingungen aktiviert als Modus der Zuschreibung von Identität, und mehr noch als Optimierungsverfahren für die Suche nach Identifikationsmerkmalen. Die Oszillation zwischen Vielheit und Einheit im Schwarm korrespondiert mit einer zweiten, medientechnisch bestimmten Oszillation zwischen Nicht-Identität und Identifizierung. Schwärme wirken somit als unbestimmte Gestalten, welche die Mehrdeutigkeiten sich ständig wechselnder Formen und die Eindeutigkeit von Identifizierungsverfahren in sich vereinen.
L ITERATUR Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989. Beni, Gerardo/Wang, Jing: »Swarm Intelligence in Cellular Robotic Systems«, in: Proceedings of the Seventh Annual Meeting of the Robotics Society of Japan, Tokio 1989, S. 425-428. Bonabeau, Eric/Dorigo, Marco/Theraulaz, Guy: Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems, New York 1999. Damisch, Hubert: »Die Geschichte und die Geometrie«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Wolken. Archiv für Mediengeschichte Bd. 5, 2005, S. 11-25. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1997. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin 1997. Engelbrecht, Andries P.: Fundamentals of Computational Swarm Intelligence, Chichester 2005. Galloway, Alexander R./Thacker, Eugene: The Exploit. A Theory of Networks, Minneapolis/London 2007.
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ABBILDUNGEN Abb. 1: Screenshot aus SPIDER-MAN 3 (USA 2007, R. Sam Raimi) Abb. 2: Screenshot aus THE BIRDS (USA 1963, R. Alfred Hitchcock) Abb. 3: Screenshot aus THE DAY THE EARTH STOOD STILL (USA 2008, R. Scott Derrickson) Abb. 4: Screenshot aus THE MATRIX REVOLUTIONS (USA 2003, R. Lana und Andy Wachowski)
Die Identität der Amöben P ETER B ERZ
Der Name Amoeba proteus wurde 1766 von Simon Pallas eingeführt. Er ist, wie oft in der biologischen Nomenklatur, dem griechischen Mythos entnommen, entstammt also einer geschichtlichen Zeit, in der Fragen nach der Identität nicht an Subjekte gestellt wurden. Im vierten Gesang der Odyssee findet sich Odysseus auf die Insel Pharos verschlagen, die vor Ägypten liegt, vor dem späteren Alexandria. Auf deren Ostspitze wird dereinst im dritten Jahrhundert vor Christus zur Orientierung der Schiffer der Leuchtturm aller Leuchttürme oder phares stehen. Odysseus und die Gefährten auf der Insel wissen nicht aus noch ein. Auf einem der einsamen Fischzüge rund um die Insel tritt eine Göttin auf Odysseus zu. Sie trägt den Namen selbst von Wesen, Anblick, eîdos: Eidothea. Odysseus befragt sie nach Wesen und Identität seines Schicksals. Welchen Gott hat er beleidigt, welcher hält ihn auf der Insel fest, welcher verhindert die Heimkehr? Eidothea verweist ihn, als sei’s ein Fremder, an ihren Vater: »Proteus, der Ägypter, der die Tiefen des ganzen Meeres kennt, ein Untertan des Poseidon.«1 Der Meeresalte wüsste um Odysseus’ Schicksal und die Identität seiner Götter. Nur ist dieser Proteus selbst schwer dingfest zu machen. Er liebt es, sich zu entziehen, indem er sich in alles andere verwandelt: in »Kriechendes auf der Erde«, in Löwe, Schlange, Panther, großes Wildschwein, hochbelaubten Baum, aber auch in die Elemente selbst, in feuchtes Wasser und Feuer.
1
Odyssee į 384 f.; Homer: Die Odyssee. Deutsch von Wolfgang Schadewald (1958), Hamburg: rororo 2004, S. 68.
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Eidothea verrät Odysseus, wie der Alte vom Meer festzuhalten und zur Rede zu stellen sei. Er und drei Gefährten sollen im hohen Mittag, in der Geisterstunde des Südens, wenn der Alte mit einer Schar von Robben an Land kommt und sich in einer Höhle schlafen legt, in bestialisch stinkende Robbenfelle schlüpfen. Unter der Identität von Robben sollen sie warten, bis der Alte eingeschlafen ist, dann ihn überfallen und mit aller Gewalt und durch alle Verwandlungen hindurch festhalten. »Doch wenn er dich dann selbst mit Worten anspricht, in der Gestalt, in der ihr ihn gesehen habt, als er sich hingebettet«2 – dann soll Odysseus seinerseits das Wort an ihn richten und ihn nach der Identität seines Schicksals fragen. Der Plan gelingt, Odysseus und die Gefährten halten den Meeresalten in seiner ersten Gestalt fest und bringen ihn zum Sprechen. Ausführlich erzählt er, was aus den anderen Griechen vor Troja geworden ist, was Odysseus bevorsteht, welche Götter welcher Identität über sein Schicksal walten. Trotz der Fremdheit des Gottes und seines archaischen ElementWerdens, Baum-Werdens, Tier-Werdens: sein Wesen als Gott scheint uns, so Heidegger, näher als die Pflanzen und die Tiere selbst, näher »als das Befremdende der Lebe-Wesen« und unsere »kaum auszudenkende leibliche Verwandtschaft mit dem Tier«.3 Die homerischen Götter teilen mit den Sterblichen, wie Proteus mit Odysseus, Sprache, sie teilen die Liebe und das »Spiel des Austauschs und der Gegengaben«.4 Das Folgende ist ein Versuch, die Frage nach der Identität an Proteus als Lebewesen zu richten. In der Biologie, seit sie sich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts so zu nennen beliebt, gibt es eigentlich gar keine Lebewesen und keine Tiere. Es gibt Organismen: tierische Organismen und pflanzliche. Daneben stehen – um von den Pilzen zu schweigen – die Einzeller, also Bakterien und Protozoa. Sie als Organismen anzusprechen, als mit sich identische Lebewesen, jedes »als dieses eine in seiner Einheit«,5 ist nicht leicht. Denn die
2 3
Odyssee į 420 f.; Schadewald 1958/2004, S. 69. Martin Heidegger: Über den Humanismus (Brief an Jean Beaufret Herbst 1946), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1949, S. 15.
4
Friedrich Kittler: Musik und Mathematik. Band II: Roma aeterna. Römer und
5
Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit –
Christen (unveröffentlicht). Einsamkeit (Vorlesung 1929/1930), Reihe KlostermannSeminar 6, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2004, S. 311.
D IE I DENTITÄT
DER
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Einzeller stellen die fundamentalsten Dimensionen des Organismus in Frage. Die Bakterien, diese metabolischen Genies (Lynn Margulis), treiben sowohl das organismische Dispositiv des Stoffwechsels an seine Grenzen als auch das der Einzelheit des Organismus, seine Individualität.6 Die Protozoa oder Protoctista7 stellen die Identität des Organismus von den Organen her in Frage. Die Seinsweisen der Protozoa hängen an Identität und Nicht-Identität von Organen. Sie geben damit umgekehrt die Frage nach dem Sein der Organe zu denken. »[...] die Amöben und Infusorien, sie, die scheinbar keine Organe haben, sind philosophisch gesehen am geeignetsten, uns einen Einblick in das Wesen des Organs zu verschaffen.«8 Im Folgenden soll die Frage nach Organen der Identität und der Identität von Organen vor allem an zwei Organe gestellt werden: an Mund und Füße der Amöben.
O RGANE
DER I DENTITÄT .
D ER M UND
Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan legte seinen Seminarteilnehmern einmal eine Frage vor, die Astronomen eher selten stellen: »Warum sprechen die Planeten nicht?«9 Schweigen im Seminar. Großes Rätselraten. Dabei könnte man so viel sagen. Etwa: Sie sprechen nicht, weil sie nichts zu sagen haben. Oder weil sie keine Zeit dazu haben. Oder weil man sie zum Schweigen gebracht hat. Aber das Seminar ist verwirrt. Eines Tages legt Lacan die Frage dem französischen Wissenschaftsphilosophen Alexandre Koyré vor, der seit den 30er Jahren – zunächst wie Heidegger im Umkreis Husserls – seine Epoche machenden Studien über Gravitation und Planetenbewegung bei Galilei und Newton veröffentlichte. Er müsste doch
6
Michel Foucault: »Wachsen und Vermehren (Le Monde November 1970)«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, Band II, S. 123-128.
7
Von ktísis, griechisch: die Stadtgründung, neutestamentarisch-paulinisch: die
8
Heidegger 1929/2004: 327.
Schöpfung des Schöpfergotts. 9
Jacques Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Psychoanalyse (1954/55). Das Seminar Buch II (übersetzt von Hans-Joachim Metzger), Weinheim: Quadriga 1991, S. 298 und 299-306.
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etwas zu sagen haben über die Frage, warum die Planeten nicht sprechen. Koyré überlegt nicht lange: »Sie sprechen nicht, weil sie keinen Mund haben!« Der Psychoanalytiker, der auch einmal Psychiater war, findet diese Antwort überhaupt nicht komisch. In den geschlossenen Abteilungen der Psychiatrie sei er schon oft alten Damen begegnet, die behaupteten: »Ich habe keinen Mund.« Und sagten, dass sie keinen Magen hätten. Und außerdem unsterblich seien. Kurzum, so schließt Lacan scharf, diese Damen »haben eine starke Beziehung zur Welt der Planeten.«10 Aber man muss gar nicht an den Himmel schauen oder ins Irrenhaus gehen, um beunruhigende Fragen nach dem Mund auftauchen zu sehen. Es reicht schon, im Sommer eine Handvoll Heu irgendwo aufzulesen und sie in eine Schüssel Wasser zu legen und dann ungefähr zehn Tage zu warten. Dann legt man ein paar Tropfen davon unters Mikroskop, Vergrößerung etwa 1000-fach. Was sieht man? Viele kleine Bläschen, rund oder länglich, mit kleinen Härchen oder ohne Härchen, mit konstanter oder sich ständig verändernder Struktur, die in dem Wassertropfen herumzittern, -flitzen, -drängeln, -wuzeln, Autoskooter spielen, sich gegenseitig verschlucken. Man sieht Protozoa: Wechseltierchen, Wimperntierchen, Augentierchen, usw. Nur einige von ihnen haben einen Mund, andere nicht, und einige fressen sogar im eigentlichen Sinn, das ist hegelianisch: sie wachsen durch Imbibition statt, wie die Kristalle, durch Addition. Bei den zu einer ersten Form von Negativität befähigten höheren Tieren nimmt das Fressen bekanntlich die intermittierende Form von Schluck und Bissen an.11 Viele Einzeller heißen zwar »Tierchen«, aber sie leben eigentlich wie Pflanzen. Sie ernähren sich also von anorganischen Stoffen, von Mineralien oder Metallen und von der Energie der Sonne.12 Sie leben autotroph, selbsternährend, und sind, wie Pflanzen, grün. Denn auch in ihrem Protoplasma befinden sich Chromatophoren, Farbträger, die grünes Chlorophyll
10 Ebd., S. 302. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 1830. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie (mit den mündlichen Zusätzen), in: ders., Werke, Band 9, Frankfurt/M: Suhrkamp 1996, S. 431 f. und 343. 12 Vgl. Peter Berz: »Das Augentierchen«, in: Christian Kassung, Jasmin Mersmann, Olaf B. Rader (Hg.), Zoologicon. Ein kulturhistorisches Wörterbuch der Tiere, München: Fink 2012, S. 26-32.
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enthalten. Manche Arten haben zusätzlich Hämatochrom und nehmen auch rote Färbung an. Massenhaft tummeln sie sich in den sogenannten Blutseen. »Euglena sanguinea in den Blutseen der Alpen ergrünt allmählich gegen den Herbst, da im Hochsommer die Verunreinigung des Wassers durch den Kot des weidenden Viehs und die hohe Wassertemperatur für eine starke Anreicherung organischer Stoffe in den Almtümpeln gesorgt haben.«13 E. sanguinea stellt im Herbst von organischer, heterotropher, auf autotrophe Ernährung um. Eine andere Variante, von Licht und Mineral zu leben, ist Genossenschaft: intrazelluläre Symbiose mit Photosynthese betreibenden Algen.14 Die Algen oder Zoochlorellen in den Einzellern haben die besondere »Fähigkeit, im Protoplasma eines anderen Organismus zu leben und der dort allen anderen Organismen drohenden Verdauung zu entgehen«.15 Im Umkehrschluss sind viele dieser Algen auch ohne Wirts-Einzeller lebensfähig. Ihre »Rückkehr zur freien Lebensweise« ist nachgewiesen.16 Immer steht dabei im Hintergrund die Frage nach dem Mund. »Bei Mesodinium rubrum fand Lohmann, daß dieses eine wohlausgebildete Mundöffnung besitzt, solange es keine Symbionten enthält. Sobald es aber mit diesen behaftet ist, wird die Mundöffnung rückgebildet, so daß die Aufnahme fester Nahrungskörper gar nicht mehr möglich ist.«17 Erst diese Anordnung also, dieses agencement oder dispositif, induziert den Mund: weder Chloroplasten und Photosynthese, noch photosynthetisierende Endosymbionten, sondern, wie der Jargon sagt, »geformte oder
13 Franz Doflein/Eduard Reichenow: Lehrbuch der Protozoenkunde. I. Teil: Allgemeine Naturgeschichte der Protozoen, II. Teil: Spezielle Naturgeschichte der Protozoen, 6. Auflage, Jena: VEB Gustav Fischer 1953 (2. Aufl. 1909), S. 104. – Mangel an den beiden, auch als mineralische Düngemittel verwendeten Elementen Stickstoff und Phosphor lässt sie erröten. 14 Etwa bei Paramecium bursaria, Stentor polymorphus, Amoeba viridis, Difluigia lobostoma. 15 Doflein/Reichenow 1953, S. 110. – Mit Endo-Symbiose statt Verdauung beginnt die bekannte, von der amerikanischen Bakteriologin und Biophilosophin Lynn Margulis aufgestellte Endosymbionten-Theorie der Evolution der eukaryotischen Zelle. 16 Doflein/Reichenow 1953, S. 110. 17 Ebd., S. 113.
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ungeformte Nahrung«, also gelöste organische Stoffe oder geformte organische Stoffe, etwa Algen, bakterielle Einzeller, protozoische Einzeller, mitunter auch solche der eigenen Art und Gattung. Die ihre Form Wechselnden, die Wechseltierchen, griechisch Amoebae,18 fressen Geformtes. In der zoologischen Systematik gehören die Amoebae zur zweiten Klasse des Reichs der Protozoen: zu den Rhizopoda, den Wurzelfüßern. Sie stehen – wie wechselhaft die Systematik der Einzeller im Einzelnen auch ist – irgendwo zwischen den Flagellata, den Geißeltierchen, und den Ciliata, den Wimperntierchen (unter Auslassung der Sporozoa).19 Die Geißeltierchen haben ein festes Fortbewegungsorgan, eine spiralförmig rotierende Geißel als Wappen; die Wimperntierchen einen Kranz von Wimpern zur Fortbewegung. Die Wimperntierchen sind auch die ersten Einzeller mit einem »lokalisierten Mund«.20 Manchmal ist es ein »einfacher Spaltmund«, mit Versteifung der Ränder, einem Mundwulst als erster Organbildung.21 Bei einigen Gattungen liegt der Mund oberflächlich und frei, bei anderen eingesenkt zu einer Mulde oder Höhle. Das ist etwa bei den »Strudlern« der Fall: Der Mund besteht aus einer trichterförmigen Höhle, dem Peristom, und dem Vestibulum, um das herum Wimpern sitzen. Sie strudeln gelöste Nahrung und Nahrungsteilchen nach komplizierten Strömungsgesetzen in den Mund (vgl. Abbildung 1). Paramecium etwa, das bekannte Pantoffeltierchen, besitzt einen »doppelt versenkten Mund«.22
18 Griechisch hƝ amoibƝ ist die Erwiderung, im Sinne von Vergeltung und Ersatz oder von Antwort, im Sinne von Wechsel oder Eingetauschtem; amoibaîos heißt: zum Wechseln bestimmt, abwechselnd, hin und her, etwa Briefe und Antwortbriefe; amoîbos ist der Stellvertreter oder der Krieger zum Ablösen auf der Reservebank. Die Gestaltänderung selbst, heißt das, ist im griechischen Wort kaum präsent. 19 Sleighs moderneres Standardwerk über die Protozoa behandelt unter Amoeboid protists die beiden Phyla der Rhizopoda und Actinopoda (vgl. Michael A. Sleigh: Protozoa and other protists, London, etc.: Edward Arnold 1989, S. 157 ff.). 20 Vgl. bei Doflein die Kapitel: »a) Nahrungsaufnahme bei amoeboiden Protozoen, b)
Nahrungsaufnahme
bei
Protozoen
(Doflein/Reichenow 1953, S 117-131). 21 Ebd., S. 125. 22 Ebd., S. 127.
mit
lokalisierter
Mundöffnung«
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D’Arcy Thompsons Betrachtung der Einzeller und ihrer Formen leitet ihn aus einer mathematischen Kurve ab: dem Nodoid.23 Erst bei den Wimperntierchen kann man vom Vorhandensein eines Mundes sprechen – seiner topographischen Identität im Strudelfeld und seiner topologischen Identität in Faltung, Mulde, Trichter.
Abbildung 1: Strudelnde Bewegung von Tuschepartikeln in den Mund von Paramecium putrinum.
Die prinzipielle Frage dabei ist, ob der Einzeller »nur an einer oder einigen besonders differenzierten Mundstellen Nahrung aufnehmen kann; solche Differenzierungen sind im allgemeinen als Mundöffnungen vorhanden«. Oder ob »jede Stelle des Ektoplasmas (also der Außenschicht des Einzellers) zur Nahrungsaufnahme geeignet ist«.24 Bei den Amöben, den ersten Einzellern, die geformte Teilchen aufnehmen und verdauen, ist von einem
23 Die Kurve, die der Brennpunkt einer abrollenden Hyperbel beschreibt (vgl. D’Arcy Wentworth Thompson: Über Wachstum und Form (aus dem Englischen von Ella M. Fountain und Magdalena Neff), Frankfurt/M.: Eichborn 2006 (dt. Erstausgabe 1973), S. 113 und 146). 24 Doflein/Reichenow 1953, S.116. Hervorhebungen im Original.
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Mund als Identitätsorgan nichts zu sehen. Sie nehmen Nahrung »durch die ganze Körperoberfläche auf«.25 Der ganze Körper ist Mund. Die Amöben gehören zu den sogenannten nackten oder unbeschalten Rhizopoda, die »weder Membranen noch Hüllen oder Gehäuse« haben, wie etwa Haeckels Rhizopoden-Familie der Radiolaria mit ihren durch alle Symmetriegruppen hochstrukturierten Kieselschalen.26 Für Helmuth Plessner beginnt das »lebendige Ding« überhaupt mit seinem Rand, der Haut und »dem ›hauthaften‹ Verhältnis der Masse eines Dinges zu seiner Form, der Materie zur Gestalt, der ›Ausfüllung‹ zu ihren ›Rändern‹«.27 Doch auch dieses, Subjekten so vertraute Organ der Identität28 ist bei den Amöben prekär. Amoeba proteus wird von einer unter dem Mikroskop durchsichtigen Struktur aus zwei Schichten umgeben, dem Plasmalemma, das für Wasser und kleine Moleküle halb durchlässig ist; und eben vom Ektoplasma, einer dünneren oder dickeren Schicht. Und schließlich besteht sie aus dem Endoplasma, einer Flüssigkeit voll granularer Elemente, die sich bald im dickflüssigen Gel-Zustand, bald im dünnflüssigen Sol-Zustand befindet. Das ist der Rand, die Haut der Amöbe. Aus ihr und in ihr und durch sie als Medium bilden sich ihre äußeren Organe: die sogenannten Pseudopodien oder Scheinfüßchen. Bei den beschalten Rhizopoda treten sie periodisch durch die Löcher und Öffnungen der Kieselsäurekapseln und ziehen sich wieder zurück. Bei den Amöben sind die Pseudopodien die einzige äußere Struktur überhaupt. Sie bringen als nicht identische und nicht konstante Organe Form und morphƝ der Amöbe überhaupt ins Wanken. »Die Form des bewegten Amöbenkörpers kann linsenförmig, abgeplattet, eiförmig, bandförmig, breit gelappt, fein gelappt, hirschgeweihförmig, sternförmig, baumförmig und ganz unregelmäßig zerschlissen erscheinen.«29 (vgl. Abbildungen 2 und 3). Die Pseudopodien sind das Grund- und
25 Ebd., S. 122. 26 Doflein/Reichenow 1953, S. 679. 27 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 3. Aufl., Berlin, New York: De Gruyter 1975, S. 123. 28 Vgl. etwa Didier Anzieu: Das Haut-Ich (übersetzt von Meihard Korte und Marie-Hélène Lebourdais-Weiss), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996 (frz. Le Moipeau, 1985). 29 Doflein/Reichenow 1953, S. 680.
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Hauptorgan, das die Amöbe »in ihre Umgebung verspannt«.30 Uexküll: »Nur das Ektoplasma bestimmt, was als Umwelt der Amöbe bezeichnet werden kann.«31 Alles, was die Amöbe tut, ist in diesen Scheinorganen versammelt: essen, sich bewegen, wahrnehmen. »Die Bewegungen der Rhizopoden werden im allgemeinen durch das Fließen von Pseudopodien vermittelt; diese dienen auch der Nahrungsaufnahme, indem ihre weiche Substanz das Nahrungsstück allseitig umfließt und so in das Körperplasma aufnimmt.«32 Statt die lokalisierte Topologie eines Mundes auszubilden ist der Körper der Amöbe als Ganzer sowohl Fuß als auch Mund.
Abbildung 2: Amoeba proteus, das Wechseltierchen. Aufsicht. A: Ausscheidungsvakuole, K: Zellkern, N: Nahrungsvakuole, Sch: Scheinfüßchen, Pseudopodien.
30 Heidegger 1946/1949, S. 16. 31 Jacob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, 2. Aufl., Berlin: Springer 1921 (1. Aufl. 1909), S. 30. 32 Doflein/Reichenow 1953, S. 678.
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Abbildung 3: Amöben der Gattung Polychaos: a – h: Polychaos fasciculatum, i: Polychaos dubium.
D IE B EWEGUNG
DES
N ICHTIDENTISCHEN . D ER F USS
Unter dem Mikroskop bewegt sich Amoeba proteus fließend fort.33 Es bilden sich lappenartige Ausbuchtungen, das Plasma strömt in den Fortsatz, verzweigt sich, bringt wurzel- und fingerähnliche Formen hervor. Die Scheinfüßchen können sich an jeder Stelle des Zell-Leibs bilden, da sich die Außenschicht von der Innenschicht nur durch höhere Zähigkeit, also Fließgeschwindigkeit unterscheidet. Die Fortbewegung kann frei im Wasser stattfinden oder auf einer Unterlage. Trifft die Amöbe irgendwo auf einen Anhalt, heftet sie sich an, verkürzt die Scheinfüßchen und zieht den
33 Doflein unterteilt die Bewegung der Protozoen in: »1. Fließende Bewegung, 2. Bewegung durch schwingende Organellen, 3. Bewegung durch Körperkontraktion, 4. Gleitende Bewegung, 5. Passive Bewegung« (Doflein/Reichenow 1953, S. 72-103).
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Rest des Zelleibs nach. »Dadurch kommt eine langsame, fließendschreitende Fortbewegung zustande, welche nackte Einzeller von der Art der Amöbe kennzeichnet. Sie ist mit einem ständigen Wechsel der Gestalt verbunden.«34 Die schnellsten legen, bei einer Größe von 220 bis 760 Tausendstel Millimeter, fünf Millimeter pro Stunde zurück. Die genauen Mechanismen amöboider Dromologie waren und sind Gegenstand langer Kontroversen.35 Eine indische Encyclopaedia of Protozoa listet acht verschiedene Theorien der amöboiden Bewegung auf. Physikalische Theorien etwa sagen, dass sich die Scheinfüßchen durch Adhäsion an einer äußeren Oberfläche, einer anderen Zelle oder eines sonstigen Substrats, bilden. Die berühmt gewordenen Versuche Otto Bütschlis und Ludwig Rhumblers um die Jahrhundertwende 1900, die fließende Bewegung der Amöben künstlich nachzuahmen, durch Chloroformtropfen, die sich auf Schellack fortbewegen, setzen auf Theorien der Oberflächenspannung, auf Seifenblasen, Waben im Schaum und ihre Verschiebung. (Auf Physik und Mathematik der Seifenblasen nach Joseph Plateau wird auch D’Arcy Thompson wichtige Teile seiner morphogenetischen Theorien bauen.) Bei hoch auflösender Betrachtung unter dem Mikroskop dagegen zeigt sich schnell: die Füßchen müssen »endogenen« Ursprungs sein,36 sie bilden sich nicht an Oberflächen, sondern müssen Ausstülpungen von innen sein. Die Amöbe ist aktiv, wenn sie sich fortbewegt. Berühmt, weil drastisch ist Dellingers »Schreit-Theorie« (1906): er beobachtete Amoeba proteus von der Seite und sah, wie sie die Scheinfüßchen über Hindernisse hebt (vgl. Abbildung 4).
34 Hermann Linder: Biologie. Lehrbuch für die Oberklassen der höheren Schulen, 15. Aufl., Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1966, S. 1. 35 Vgl. etwa Sleigh 1989, S. 158 f. 36 Vgl. Frederick C. Page/Ferry J. Siemensma: Nackte Rhizopoda und Heliozoa, Stuttgart, New York: Fischer 1991, S. 9.
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Abbildung 4: Fortbewegung von Amoeba proteus: Schreittheorie nach Oris P. Dellinger (Locomotion of amoebae and allied formes, 1906).
Noch bessere Mikroskope geben zu sehen, dass während der Fortbewegung im Inneren der Amöbe etwas strömt. Es findet eine granuläre Fließbewegung statt, deren Ansicht heute jedem Internetnutzer auch ohne Blick durchs Mikroskop im Film zugänglich ist.37 Für die einen Theoretiker strömt das Ekto-plasma in Richtung eines Fußes, für die anderen das Endoplasma. Nach der »Fontänentheorie« zieht sich das Ektoplasma zurück und eine Fontäne von Endoplasma schießt aus der Amöbe: der Fuß. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts schließlich entstehen jene Theorien der
37 Die auf einem 3-D-Laserscan-Mikroskop hergestellten Filme des auch im Hobby mikroskopierenden Arztes Dr. Ralf Wagner sind unter Youtube zu sehen und verlinkt auf: http://www.dr-ralf-wagner.de. Wagners schöne Filme zeigen die Sache auf dem technischen Stand der Dinge und zugleich den Abstand zu den historischen Bildern des Beitrags hier.
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Kontraktion38, auf die noch heute die Forschung baut. Danach drückt das Ektoplasma das Endoplamsa in bestimmte Richtungen. Die Frage ist nur, ob allgemein von hinten nach vorne oder direkt in eine Fußstelle (vgl. Abbildung 5)? Die molekulare Biologie unserer Tage sieht Polymerisation und Depolymerisation von Actin- und Myosingittern, actin und myosin filaments, Fortbewegung durch Auf- und Abbau von Netzstrukturen wie beim Muskel, wodurch der Wechsel des geleeartigen Zustands, Gel, und des flüssigen Zustands, Sol, erzeugt wird.39
Abbildung 5: Drei Theorien der Bildung von Pseudopodien (hier:
monopodial,
Amoeba
proteus:
polypodial):
a Kontraktionen (Actin-Myosin-Gitter) im Hinterteil pressen das Endoplasma nach vorn, Richtung h; b fountain zone theory: ein Kern von Endoplasma im Gel-Zustand wird einem Rohr von Ektoplasma nach vorn gepresst; c vorderes Ende kontrahiert isometrisch und hält das Endoplasma in Spannung Richtung h.
38 Vgl. etwa S.O. Mast, Mechanics of locomotion in amoeba von 1923. 39 Sleigh 1989, S. 159 f.
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Durch ihre Bewegung verändert sich jedoch nicht nur die Amöbe unaufhörlich, sondern auch der Raum um sie herum. Die, nach Hegel, »zufällige Selbstbewegung« des Lebewesens, die – dialektisch gesehen – den einen Ort negiert, den anderen »nach innerem Zufall aus sich selbst zum Orte bestimmt«40 und so eine erste Form von Subjektivität darstellt, positiviert sich Ende des 19. Jahrhunderts zur Identität eines Verhaltens.41 Selbstbewegung wird Verhalten, weil und insofern sie experimentierbar ist. Man berühre mit einem Glasstäbchen das vordere Ende der Amöbe. Die Bewegung hört an dieser Stelle auf, »das Plasma strömt weg, und an einer anderen Stelle bildet sich ein neues Scheinfüßchen und gibt der Bewegung eine andere Richtung. Auf diese Weise wird ein Hindernis umgangen.«42 Bei gröberer Berührung findet eine völlige Umkehr der Bewegungsrichtung statt. Was für Hindernisse gilt, gilt auch für feste Nahrungsteilchen: Die Amöbe kriecht aktiv fließendschreitend darauf zu. »Sie erkennt die Nahrung wohl an einem chemischen Reiz.«43 Die einen Bestandteile der Umgebung veranlassen also zum Wegkriechen, die anderen zum Hinkriechen. Auch Licht- und Temperaturwechsel sind Anlass der Bewegungsänderung: »Sie flieht helles Licht und sucht bestimmte Temperaturbereiche auf«.44 Bei Erschütterung oder plötzlicher greller Beleuchtung, bei hohen und niedersten Temperaturen rundet sie sich zur Kugel, um eine möglichst kleine Oberfläche herzustellen.
40 Hegel 1830/2006, S. 431. Hervorhebungen im Original. 41 Eine historische Ableitung dieses Übergangs aus der Geschichte der Psychophysiologie des 19. und 20. Jahrhunderts und der Einzeller in ihr liefert die großartige Arbeit von Judy Johns Schloegel und Henning Schmidgen: »General Physiology, Experimental Psychology, and Evolutionism. Unicellular Organisms as Objects of Psychophysiological Research, 1877 – 1918«, in: ISIS, December 2002, vol. 93, no. 4, S. 614-645. – Für die moderne Biologie der Ciliata arbeitet der Italiener Nicola Ricci seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts an einer »Ethology of Ciliates«. 42 Linder 1966, S. 3. 43 Ebd. 44 Ebd.
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Abbildung 6: Amoeba proteus: Reaktion auf verschiedene Stimuli.
»Reizaufnahme, Reizleitung, Reizbeantwortung sind Grundfähigkeiten des Plasmas« (vgl. Abbildung 6).45 Linder spricht sie ohne Weiteres als Verhalten an. Auch wenn die Lernfähigkeit der Amöben, die einige moderne Biologen konstatieren, prekär bleibt: die Bewegung der Amöben ist von einem, mit Heidegger gesprochen, elementaren Hin–zu und Von–weg getragen;
45 Ebd., S. 4.
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biologisch gesprochen: von Tropismen.46 Freilich bleibt »die Frage, ob die Amöbe die Veränderungen ihrer Umwelt bewußt empfindet und beantwortet«47 schwer zu entscheiden. Für Sigmund Freud wird die Amöbe 1914 zum Bild der unbewußten Libido. Auch wenn aus der »ursprünglichen Libidobesetzung des Ich« im Verlauf der menschlichen Ontogenese die Libidobesetzungen von Objekten werden, verbleibe, so Freud, die Libido eigentlich im Ich und verhalte sich zu den Objektbesetzungen »wie der Körper eines Protoplasmatierchens zu den von ihm ausgeschickten Pseudopodien«.48
I NGESTION . D IGESTION An den Scheinfüßchen der Amöbe hängt in der Organisation der amöboiden Identität schließlich auch die Organisation des, psychoanalytisch, oralen Stadiums,49 biologisch: des Munds als Organ der Ingestion. Pseudopodisch fließen die Amöben auf ein Nahrungsteilchen zu, »umfließen es« und nehmen es »an beliebigen Stellen der Körperoberfläche ins Plasma auf«.50 Rhumbler klassifiziert einige grundsätzlich mögliche Anordnungen (vgl. Abbildung 7): 51 Schlichtes Umfließen eines bewegungs-
46 Heidegger stützt 1929 seine Erörterungen über die Hingenommenheit des Nachtfalters vom Licht auf Emil Rádls – des tschechischen Darwin – »Untersuchungen über den Phototropismus der Tiere (1903)«. 47 Linder 1966, S. 4. 48 Sigmund Freud: »Zur Einführung des Narzißmus (1914)«, in: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, 12. Aufl., Frankfurt /M.: Fischer TB 2007, S. 49-78, S. 53. Vgl. auch Schloegel/Schmidgen 2002, S. 644 f. 49 Im Wolfsmann spekuliert Freud, dass die Stadien der prägenitalen Organisation des Menschenkinds vielleicht »Reste von Einrichtungen sind, die in manchen Tierklassen dauernd festgehalten werden«. Die ungarische Psychoanalyse Ferenczis und Balints wird diesen Gedanken, aus reichem biologischem Material schöpfend, systematisch ausbauen. 50 Linder 1966, S. 2. Und: Doflein/Reichenow 1953, S. 680. 51 Nach Arvind N. Shukla/Rajiv Tyagi: Encyclopaedia of Protozoa, New Dehli: Anmol Publications Ovt. Ltd. 2002, Vol. 2: Life of Protozoa, Chapter 1: Amoeba proteus, S. 11 f. Vgl. auch Linder 1966, S. 2.
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losen Nahrungsteilchens, etwa eines Bakteriums (A); oder Umzingelung, wenn das Opfer beweglich und aktiv ist: die Pseudopodien bilden einen Becher, food-cup, dann schließen sich die Becherränder und zusammen mit einem Wassertropfen wird das Teilchen in den Körper der Amöbe integriert (C); oder das Teilchen wird durch Invagination aufgenommen: das Nahrungsteilchen haftet an der Oberfläche und bildet sich einen Kanal (D–H). Fadenförmige Algen werden als ganze in die Amöbe gezogen, verknäuelt und verdaut (vgl. Abbildung 8). Rhumbler konnte diesen Prozess mit einem Schellackfaden, der von selbst in einen Tropfen Chloroform gezogen und verknäuelt wird, nachahmen.52 Um das in die Amöbe aufgenommene Teilchen bildet sich nach der Ingestion zunächst eine pulsierende Nahrungs-Vakuole (vgl. Abbildung 2: N). Die dort nicht verdauten Teile werden dann in eine sich bildende Ausscheidungsvakuole A aufgenommen. Sie wandert an den Rand der Zelle, heftet sich ans Plasmalemma, öffnet es kurz, entlässt seinen Inhalt und löst sich dann wieder auf: Das ist das ganze System der amöboiden Verdauung und ihrer Organe.53 Uexküll beschreibt es als Organfolge in der Zeit: »[U]m jeden Bissen herum bildet das Protoplasma eine Blase, die erst Mund, dann Magen, dann Darm und schließlich After wird«.54 Aus vorübergehenden Organen: Verdauungsorganen im Innern der Amöbe, Scheinfüßchen und Scheinmündern im Äußeren, Organen also, die bei Bedarf »ad hoc aus dem ganz formlosen Protoplasma erzeugt werden müssen«,55 werden Uexküll und ihm folgend Heidegger neue Fragen nach dem Organismus überhaupt gewinnen.
52 Vgl. Doflein/Reichenow 1953, S. 121. 53 Ähnliche Organe finden sich auch in anderen Einzellergruppen und -gattungen, etwa beim Pantoffeltierchen, Paramecium. 54 Jacob von Uexküll: Theoretische Biologie, 2. gänzlich neu bearbeitete Auflage, Berlin: Springer 1928 (1. Aufl. 1920), S. 98; vgl. auch Heidegger 1929/2004, S. 327. 55 Jacob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, 2. Aufl., Berlin: Springer 1921 (1. Aufl. 1909), S. 18.
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Abbildung 7: Nahrungsaufnahme, ingestion, durch A: Umfließen, B: Import, C: Umzingelung, D-H: Invagination.
Abbildung 8: Verzehr einer Blaualge der Gattung Oscillatoria (Ordnung Schwingfadenartige) durch Amoeba verrucosa EHRENBERG.
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»K ANN
ES FLÜSSIGE
M ASCHINEN
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GEBEN ?«
Organe, die ad hoc entstehen, kurz: »Augenblicksorgane«56, verlagern die Frage nach der Identität der Amöben von der Gestaltbildung in Wesen und Identität des Organismus. Sie werfen Fragen auf, die in der langen, abendländischen Geschichte des Dreiecks Tiere Maschinen Menschen, wie Thomas Macho sie in gegenseitiger Inklusion und Exklusion der drei Terme beschreibt, womöglich neu sind.57 Der Blick ins Mikroskop auf die Einzeller verändert die Relationen des Dreiecks: Nach dem Jahrhundert Des Menschen (Foucault) beginnen sich Tiere und Maschinen ganz ohne den Menschen zu verständigen. Jakob von Uexkülls Werk über »Die Umwelt und Innenwelt der Tiere«, erste Auflage 1909, zweite 1921, das Anfang des vorigen Jahrhunderts in so viele Diskurse eindringt, von der deutschen Philosophie bis in die französische Psychoanalyse, beginnt seine allgemeine Biologie nicht mit der anthropologischen Frage nach Tier und Mensch, sondern mit der nach Tier und Maschine, das ist: dem Unterschied von tierischem Organismus und Maschine. Als wäre es eine Konsequenz der von Macho beschriebenen Entwicklung vom Sklaventum bis zur Industrialisierung der Tiere, dass im Zeichen des Organismus die Frage nach dem Tier auch theoretisch auf die Maschine bezogen wird statt auf den Menschen. Eben das wird Anfang des 21. Jahrhunderts der state of the art alles Biologischen geworden sein. Gegen ihn scheinen die Selbstverständigungsversuche des Menschen durch und über das Tier, gleichgültig ob in Ethologie, Paläanthropologie, Neuro- oder Soziobiologie, nahezu sekundär. Organismen und Maschinen unterscheiden sich in Uexkülls prinzipiellem Blick zunächst dadurch, dass der Bauplan der Maschinen – sprich: Patent, Konstruktionszeichnung, Schaltplan (von Uexküll erst gar nicht als solche benannt) – keine Maschinen liefert, sondern nur die »übersichtliche Beschreibung der Vorgänge« in einer Maschine.58 Die Entstehung – sprich: Produktion oder Fabrikation – der Maschine und auch des Bauplans selbst ist im Bauplan nicht enthalten. Das Tier dagegen ist seine eigene
56 Uexküll 1921, S. 21. 57 Vgl. Thomas Macho: »Tiere Menschen Maschinen. Für einen inklusiven Humanismus«, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.), Tiere. Der Mensch und seine Natur (Philosophicum Lech 16). Wien: Zsolnay 2013, S.153-173. 58 Uexküll 1921, S. 10.
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»Bildungsregel«. Auch dann, wenn bei den Mehrzellern »Entstehen und Funktionieren der Organe […] zeitlich getrennt voneinander auftreten«.59 Ganz nach Aristoteles’ Unterscheidung von téchne und phýsis in Physik B 1 setzt Uexküll den ersten Unterschied von gemachten Maschinen und wachsenden Lebewesen, das ist: von Pflanzen und Tieren alias Organismen, ins Wachstum: in Formbildung, auch Regeneration. Sie werden von ihm als »übermaschinelle Fähigkeiten«60 des Organismus oder »übermaschinelle Regulation«61 angesprochen. Übermaschinell ist alles, was nicht mit der Funktion, sondern mit der »Bildung des Bauplans« zu tun hat. Wachstum durchkreuzt das technische Schema der Trennung von Funktion und Herstellung. Die Augenblicksorgane durchkreuzen es auf noch fundamentalere Weise. Zwar kann es keine »flüssigen Maschinen« geben, also maschinelle Funktionen ohne maschinelle Teile, die eine stabile Struktur haben und mit sich identisch sind. Auch die Funktionen der Einzeller werden »alle durch Organe ausgeübt«: Scheinfüßchen, Nahrungsbläschen, Ausscheidungsbläschen. Aber diese maschinellen Teile entstehen und vergehen wieder und zwar ad hoc. »Es ist im Moment des maschinellen Handelns auch stets eine passende Maschine vorhanden, die sehr differenziert sein kann.«62 Das stürzt Philosophen in ontologische Abgründe. Als Martin Heidegger im Freiburger Wintersemester 1929/30 vom Alltag als Horizont der Daseinsanalyse zur Wissenschaft übergeht und am Leitfaden des Begriffs Organismus die Frage nach Zeug und Werkzeug auf die Maschine erweitert, da bezieht er sich nicht auf die philosophische Anthropologie der soeben erschienenen »Stufen des Organischen und der Mensch«.63 Ausgangspunkt ist vielmehr Jakob von Uexkülls Maschinentheorie der Amöbe, dem 1928 letzten Stand biologischer Grundlagenforschung.64 Aus der komplexen, sowohl von biologischen Sachen als auch
59 Ebd., S. 19. 60 Ebd., S. 21 und 19. 61 Ebd., S. 21. 62 Ebd., S. 18. 63 Auf die Biologie Schelers, einem diskursiven Hintergrund von Heideggers Vorlesung, bezieht sich Heidegger ein einziges Mal, der Name Plessner taucht gar nicht auf (vgl. Heidegger 1929/2004, S. 283). 64 1928 erscheint die zweite Auflage von Uexkülls »Theoretischer Biologie«.
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ihren Worten geleiteten Erörterung über Organ und Organismus65 seien hier nur oberflächlich vier Punkte herausgegriffen. 1. Mit Dichotomien und neuen Worten wirbt der Philosoph bei den Biologen um Gehör. Leitend ist die Entgegensetzung von Organ versus Zeug. Das Zuhandene, Zeug oder Werkzeug aus »Sein und Zeit«, bekommt eine einfache, zeitliche Bestimmung: die, fertig zu sein. Die Fertigkeit zu etwas, wie die des Federhalters zum Schreiben, charakterisiert das Werkzeug. Darauf hin ist es gemacht und fertig und als solches mitunter bloß vorhanden. Das Organ dagegen, das nur vom Wort her auf órganon alias Werkzeug führt, müsse fundamental davon unterschieden werden. Es ist nicht fertig, sondern fähig zu etwas, es steht in einer Fähigkeit. Aber nicht das Organ hat diese Fähigkeit, sondern der Organismus. »Das Tier hat Augen, weil es sehen kann.«66 Es ist der ganze Organismus, das Tier, das sehen und hören, verdauen und laufen kann, nicht das Organ. »Die Organe sind nicht dazu [also etwa zum Sehen, und als solche (PB)] in die Fähigkeit nachträglich eingebaut, sondern sie entwachsen ihr und gehen in ihr auf, verbleiben in ihr und gehen in ihr unter.« Radikal gesprochen: »Das Fähigsein verschafft sich Organe […].«67 2. Weil sie im Organismus fähig sind und nicht fertig, darum sind die Organe als solche weder konstant noch mit sich identisch. Und doch sind sie in den Organismus einbehalten. Das Scheinfüßchen, das sich zurückzieht, bleibt in die Fähigkeit der Amöbe einbehalten, sich vorzustrecken, um dann wieder in den Zellleib »zurückgenommen und vernichtet zu werden«.68 Die Amöbe ist durch Fortbewegung, Nahrungsaufnahme, Verdauung hindurch fähig, Schein- und Augenblicksorgane zu bilden und wieder in sich zurück zu nehmen. Eben das gibt die Möglichkeit, von der Amöbe her gesehen überhaupt von einem Eigenen, Eigentümlichen, Sich-zu-eigenSein der Tiere zu sprechen und zwar ohne ein Ich, ein Selbst, ein Subjekt, eine Seele, wie in Schelers Biopsychismus.69
65 Im Wesentlichen die Paragraphen 52 bis 56. – Programmatisch zur Sachhaltigkeit vgl. Heidegger 1929/2004, S. 326. 66 Ebd., S. 319. 67 Ebd., S. 324. Hervorhebungen hier wie im Folgenden im Original. 68 Ebd., S. 329. 69 Vgl. ebd., S. 339 f.
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3. In der Fähigkeit bekommt auch Uexkülls schlichter Gedanke über die zeitliche Trennung von Entstehen und Funktionieren ein ungeahntes Echo: in einer seltsamen Umwendung der Daseinsanalytik von »Sein und Zeit« auf die Zeitstruktur der Amöben und ihre Seinsweise. Den Organen der Amöbe ist ihr Sein in der Zeit, wie dem in den Tod vorlaufenden Dasein, nicht äußerlich. Wo bei den höheren Tieren die festliegenden Organe in ihrer Dauer an die Lebensdauer des Tieres gebunden sind,70 da sind die Organe der Amöbe »in und für die Dauer« als Fähigkeit: zu laufen, zu fressen, zu verdauen. Vielleicht sind sie »früher als die jeweiligen Organe«.71 Aber was heißt früher? 4. Der Hammer als Zeug ist zuhanden, fertig, dienlich und mitunter bloß vorhanden. Aber das fertige »Hammersein ist nicht ein Drängen zum Hämmern«.72 Das Organ dagegen in seiner Fähigkeit drängt: es ist ein »sich auf sich selbst, in das eigene Wozu Verlegen und Vorverlegen«.73 Die Pseudopodien der Amöben sind ein Sichvortreiben, Vorgetriebensein74 in ihre vorübergehende Gestalt und Funktion. Das ist schließlich der grundsätzlichste Coup der Heiderggerschen Amöbe: sie ist triebhaft. Die ganze Struktur der Fähigkeit nämlich, in der die Augenblicksorgane stehen, ist Teil einer Triebstruktur. »Fähigkeit ist immer nur da, wo Trieb ist.«75 Darum kann am Ende das Tier mit seinen Organen überhaupt kein Organismus mehr sein: weil »der Organismuscharakter in eine ursprünglichere Struktur der Tierheit zurückweist« und das ist der Trieb.76 Eine Philosophie, die nicht Begriffe denkt, sondern Worte, macht, wie im Nachdenken über die Technik die indogermanische Wurzel *stell-, so hier das gemeingermanische Wort treiben zum Knotenpunkt reicher Verzweigungen
70 Vgl. ebd., S. 328. 71 Ebd., S. 327 72 Ebd., S. 331. 73 Ebd., S. 331, kursiv im Original. 74 Ebd., S. 334. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 341. – An dieser Stelle auch nur andeutungsweise Heideggers Erörterung in die langen Diskursgeschichte des Triebbegriffs und seiner Schicksale zu stellen, ist ganz unmöglich.
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des Gedankens.77 Heidegger versucht damit durch alle Klippen metaphysischer Begriffe der theoretischen Biologie zu steuern: Entelechie (Driesch), Naturfaktor (Uexküll), biospsychisch (Scheler), übermaschinell (Uexküll), Subjekt, Seele, Ich. Das Auge ist kein Werkzeug, weil das Sehen als Grundtrieb durch alle Fähigkeiten des Organs zum Sehen »hindurch treibt und antreibt«.78 Aber erst die Amöben machen es möglich, die Triebstruktur vom Benehmen des Tiers, des »weltarmen Tiers«, also vom Sehen, Jagen, Greifen und dem, was Biene und Nachtfalter tun, auf den Organismus und seine Organe auszudehnen. Die Amöbe lehrt: auch das Organ selbst steht im Treiben. Es ist »triebhaftes Sichvorgetriebenhalten in das Wozu«.79 Die differentielle und mediale Basis dieses – stilistisch der Sprache von Sein und Zeit geschuldeten – Wortungetüms, entstanden im Ringen um einen nichtmaschinellen Begriff des Tieres jenseits des Organismus, ist einfach: Das Zeug, auch als Maschine, steht unter einer Vorschrift, einer schriftlichen Anweisung für seinen Gebrauch. Sie ist abgeleitet ist aus dem Plan, Bauplan oder Schaltplan, seiner Konstruktion. Der tierische Organismus dagegen bringt seine Gebrauchsregel selbst mit, er regelt und treibt sich selbst,80 nicht als Vorschrift, sondern als – Heidegger unterlässt die Substantivierung – Vortrieb.81 Er ist nicht weniger organisiert als die Beziehung von Bauplan und Vorschrift. Er ist kein Bündel von Trieben, sondern eine Sequenz von Amöbenorganen, ein »Sichgliedern-Können in Fähigkeiten«.82 Uexküll hört, in langer Tradition von den mélea, den Gliedern, Homers, aus denen griechisch mélos wird, bis zur Biologie Karl Ernst von Baers, eine »Melodie«.83 In seinen Organen durchmisst das
77 Wie später etwa das ganze Wortfeld von Sich Benehmen und Benommen Sein an die Stelle des Begriffs »Verhalten« tritt. 78 Ebd., S. 334. 79 Ebd. 80 Vgl. ebd., S. 333 f. 81 Und weil die Triebstruktur »grundsätzlich nicht mathematisierbar ist«, seien es auch – allen Morphogenesen nach Thompson, Gurvic, Turing zum Trotz – ihre Organe nicht (ebd., S. 335). 82 Ebd., S. 342. 83 Uexküll 1920/1928, S. 98. Zur Geschichte von Gliederung, Rhythmus, Melodie in der Geschichte der Entwicklungsbiologie seit dem ausgehenden 18. Jahrhun-
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Tier nicht nur wie die hingenommene, treibend getriebene Biene im Flug den topographischen Raum, sondern in der Bildung der Organe auch den topologischen Raum des Organismus. Würde eine künftige Zoontologie84 aus der prekären Identität der Amöben Tiere jenseits von Mensch und Maschine auftauchen sehen, jenseits ihres MacherTechnikerSchöpfergotts? »Der Mensch ist krank, weil er ist schlecht konstruiert. Man muß sich entschließen, ihn nackt auszuziehen, um ihm diesen Einzeller, cet animalcule, abzukratzen, der ihn tödlich juckt, Gott, und mit Gott seine Organe. Fesseln Sie mich, wenn Sie wollen, aber es gibt nichts Sinnloseres als ein Organ. Wenn Sie dem Menschen einen Körper ohne Organe gemacht haben, dann werden Sie ihn von all seinen Automatismen befreit und ihm seine wirkliche Freiheit zurückerstattet haben. Dann werden Sie ihm wieder beibringen, wie im Delirium Musetten verkehrt herum zu tanzen und dieses Verkehrt Herum, cet envers, wird sein wirklicher Ort sein.«85
dert vgl. vor allem das große Buch von Janina Wellmann: Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie 1760-1830, Göttingen: Wallstein 2010. 84 Im Geiste etwa von Vilém Flussers und Louis Becs: Vampyrotheutis infernalis. Eine Abhandlung samt Befund des Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste, 3. Aufl., Göttingen: European Photography 2002. 85 Antonin Artaud: »Schluß mit dem Gottesgericht (Radiosendung 1948)«, in: ders., Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater (aus dem Französischen von Elena Kapralik), München: Matthes & Seitz 1993, S. 29 (Übersetzung an einigen Stellen verändert, PB).
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Und wenn, mehr als Artaud/Deleuze/Guattari es ahnten,86 dieser Ort schon bewohnt wäre: von Einzellern, Gott abgekratzt und von ihm abgefallen in die phýsis?
L ITERATUR Anzieu, Didier: Das Haut-Ich (übersetzt von Meihard Korte und MarieHélène Lebourdais-Weiss), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996 (frz. Le Moipeau, 1985). Artaud, Antonin: »Schluß mit dem Gottesgericht (Radiosendung 1948)«, in: ders., Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater (aus dem Französischen von Elena Kapralik), München: Matthes & Seitz 1993, S. 29. Berz, Peter: »Das Augentierchen«, in: Christian Kassung, Jasmin Mersmann, Olaf B. Rader (Hg.), Zoologicon. Ein kulturhistorisches Wörterbuch der Tiere, München: Fink 2012, S. 26-32. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (übersetzt von Bernd Schwibs), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: »28. November 1947. Wie schafft man sich einen organlosen Körper?«, in: dies. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II (übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié), Berlin: Merve 1992, S. 205-227. Doflein, Franz/Reichenow, Eduard: Lehrbuch der Protozoenkunde. I. Teil: Allgemeine Naturgeschichte der Protozoen, II. Teil: Spezielle Naturgeschichte der Protozoen, 6. Auflage, Jena: VEB Gustav Fischer 1953 (2. Aufl. 1909).
86 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (übersetzt von Bernd Schwibs), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 7-15; dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II (übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié), Berlin: Merve 1992, S. 205-227, Kapitel 6: »28. November 1947. Wie schafft man sich einen organlosen Körper?«. – Von 22. November bis 29. November 1947 wurde Artauds Radiosendung »Schluss mit dem Gottesgericht« geprobt und auf Magnetophon aufgezeichnet. Die Sendung wurde einen Tag vor dem Sendetermin vom Leiter der Rundfunkanstalt abgesetzt.
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Flusser, Vilém/Becs, Louis: Vampyrotheutis infernalis. Eine Abhandlung samt Befund des Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste, 3. Aufl., Göttingen: European Photography 2002. Foucault, Michel: »Wachsen und Vermehren (Le Monde November 1970)«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, Band II, S. 123-128. Freud, Sigmund: »Zur Einführung des Narzißmus (1914)«, in ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, 12. Aufl., Frankfurt/M.: Fischer TB 2007, S. 49-78. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 1830. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie (mit den mündlichen Zusätzen), in: ders., Werke, Band 9, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Vorlesung 1929/1930), Reihe KlostermannSeminar 6, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2004. Heidegger, Martin: Über den Humanismus (Brief an Jean Beaufret Herbst 1946), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1949. Homer: Die Odyssee. Deutsch von Wolfgang Schadewald (1958), Hamburg: rororo 2004. Kittler, Friedrich: Musik und Mathematik. Band II: Roma aeterna. Römer und Christen (unveröffentlicht). Linder, Hermann: Biologie. Lehrbuch für die Oberklassen der höheren Schulen, 15. Aufl., Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1966. Lacan, Jacques: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Psychoanalyse (1954/55). Das Seminar Buch II (übersetzt von Hans-Joachim Metzger), Weinheim: Quadriga 1991. Macho, Thomas: »Tiere Menschen Maschinen. Für einen inklusiven Humanismus«, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.), Tiere. Der Mensch und seine Natur (Philosophicum Lech 16). Wien: Zsolnay 2013, S.153-173. Page, Frederick C./Siemensma, Ferry J.: Nackte Rhizopoda und Heliozoa, Stuttgart, New York: Fischer 1991. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 3. Aufl., Berlin, New York: De Gruyter 1975. Schloegel, Judy Johns/Schmidgen, Henning: »General Physiology, Experimental Psychology, and Evolutionism. Unicellular Organisms as
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Objects of Psychophysiological Research, 1877 – 1918«, in: ISIS, December 2002, vol. 93, no. 4, S. 614-645. Sleigh, Michael A.: Protozoa and other protists, London, et al.: Edward Arnold 1989. Thompson, D’Arcy Wentworth: Über Wachstum und Form (aus dem Englischen von Ella M. Fountain und Magdalena Neff), Frankfurt/M.: Eichborn 2006 (dt. Erstausgabe 1973). Shukla, Arvind N./Tyagi, Rajiv: Encyclopaedia of Protozoa, New Dehli: Anmol Publications Ovt. Ltd. 2002, Vol. 2: Life of Protozoa. Uexküll, Jacob von: Umwelt und Innenwelt der Tiere, 2. Aufl., Berlin: Springer 1921 (1. Aufl. 1909). Uexküll, Jacob von: Theoretische Biologie, 2. gänzlich neu bearbeitete Auflage, Berlin: Springer 1928 (1. Aufl. 1920). Wellmann, Janina: Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie 1760-1830, Göttingen: Wallstein 2010.
ABBILDUNGEN Abb. 1: Franz Doflein, Eduard Reichenow: Lehrbuch der Protzoenkunde. I. Teil: Allgemeine Naturgeschichte der Protozoen, II. Teil: Spezielle Naturgeschichte der Protozoen, 6. Auflage, Jena: VEB Gustav Fischer 1953 (2. Aufl. 1909), S. 126. Abb. 2: Hermann Linder: Biologie. Lehrbuch für die Oberklassen der höheren Schulen, 15. Aufl., Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1966, S. 2. Abb. 3: Frederick C. Page, Ferry J. Siemensma: Nackte Rhizopoda und Heliozoa, Stuttgart, New York: Fischer 1991, S. 57. Abb. 4: Doflein/Reichenow 1953, S. 80. Abb. 5: Michael A. Sleigh: Protozoa and other protists, London, etc.: Edward Arnold 1989, S. 159. Abb. 6: Arvind N. Shukla, Rajiv Tyagi 2002: Encyclopaedia of Protozoa, New Dehli: Anmol Publications Ovt. Ltd. 2002, vol. 2: Life of Protozoa, Chapter 1: Amoeba Proteus, S. 17. Abb. 7: Shukla/Tyagi 2002, S. 11. Abb. 8: Doflein/Reichenow 1953, S. 120.
Widersprechen
Dichtung und Wahrheit über Identität und Nichtidentität R OBERT P FALLER
Im Folgenden möchte ich versuchen, einige Überlegungen zu entwickeln, welche die Philosophie zu den Fragen der Identität und ihrer aktuellen Verwicklungen beitragen kann – insbesondere im Hinblick auf die Entdeckungen der Wissenschaften sowie auch der alltagskulturellen Praktiken – etwa der Beziehungen der Geschlechter – und ihrer Institutionalisierungen. Was die Philosophie hier leisten kann, ist allerdings, wie meistens, lediglich etwas Negatives bzw. Kritisches: Sie kann erstens versuchen, verschiedene Gedanken voneinander zu unterscheiden; und sie kann zweitens versuchen, verschiedene Funktionen von Gedanken zu unterscheiden. Ein Beispiel für die erste Unterscheidung, die Unterscheidung zwischen Gedanken, betrifft die Fragestellung dieses Bandes. Wenn man sich für Objekte interessiert, die aus bestimmten Perspektiven nicht eindeutig klassifiziert werden können, so macht es einen entscheidenden Unterschied, ob eine Wissenschaft dies als ihr Problem in bezug auf ihren Gegenstand bemerkt, oder aber ob jemand selbst seine Nichtklassifizierbarkeit bemerkt, behauptet oder herbeiwünscht. Das erste ist, wie im Fall der Quantenphysik, eine epistemologische oder ontologische Frage; das zweite dagegen eine Frage der Ethik oder der Ideologietheorie. Wenn diese beiden Fragen nicht unterschieden werden, dann neigt man dazu, die Probleme, die man selbst mit einer bestimmten Ordnung hat, für Probleme zu halten, welche die Ordnung mit einem hat. Man verwechselt das psychische Problem der
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Identifizierung (mit einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle) mit dem wissenschaftlichen Problem der adäquaten Klassifikation von Individuen oder mit dem politischen Problem ihrer Verwaltung. Und man singt ein eigenes, unbeabsichtiges Problem eitel zu einem beabsichtigen Akt des Widerstandes, ja sogar zu einem Versuch einer gesellschaftlichen Lösung, hoch. Der zweite Aspekt, das Unterscheiden zwischen verschiedenen Funktionen von Gedanken, bedeutet, im Sinn Freuds zwischen Erkenntnissen und Rationalisierungen zu unterscheiden. Jeder noch so wahre Gedanke kann nämlich eine sehr unwahre Funktion übernehmen und dadurch ideologisch werden – dies ist es, was Sigmund Freud eine »Rationalisierung« nannte. Man kann sich auch mit Wahrheiten selbst in die Tasche lügen; man kann sie zum Beispiel dazu verwenden, um von ganz anderen, unbequemeren Wahrheiten abzulenken, und in diesem Fall dienen sie nicht mehr der nüchternen Erkenntnis eines Gegenstandes, sondern vielmehr der berauschenden Verschönerung des eigenen Selbstbildes. In diesem Sinn ist es zu verstehen, wenn der Philosoph Louis Althusser als wichtigstes Prinzip des Materialismus die Devise ausgab, »sich keine Geschichten zu erzählen«.1 Meinen folgenden Beitrag sehe ich vor allem dadurch definiert: als Versuch, zu vermeiden, dass uns unsere Erkenntnisse über die Welt unvermutet zu verkennenden Geschichten über uns selbst geraten.
1. V OM A BERGLAUBEN ZUM B EKENNTNIS : J E MEHR MAN AN ETWAS GLAUBT , DESTO WIRD DIESES E TWAS ZU N ICHTS
MEHR
Eine der zentralen Geschichten, die die postmoderne Ideologie sich gerne über sich selbst erzählt, ist die, dass sie die Epoche wäre, die an keine großen Erzählungen mehr glaube. Dieser Erzählung müssen wir mit dem größten Mißtrauen begegnen. Denn es mag zwar vielleicht vorkommen, dass die
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»ne pas se raconter d'histoire«, Louis Althusser: Écrits philosophiques et politiques, Tome I, Paris: Stock/IMEC 1994, S. 247.
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Menschheit klüger wird, aber sie wird es sicherlich nicht immer dann, wenn sie selbst es glaubt. Der Psychoanalytiker Octave Mannoni hat dazu eine außerordentlich erhellende Theorie vorgelegt. In seinem Aufsatz »Ich weiß zwar, dennoch aber…« erörtert er das Beispiel eines afrikanischen Maskenkultes, dessen Ausübende den Ethnologen die Auskunft geben, sie selbst wüßten auch nicht mehr, was dieser Kult bedeute, denn der Glaube daran sei verlorengegangen.2 Früher, so die Informanten, habe man an die Masken geglaubt. Anstatt der Hypothese einer zerstörten Kultur nachzugehen, schlägt Mannoni vor, diesen Zustand, diese seltsame Diskrepanz zwischen Nichtglauben und Doch-Tun, als den Normalzustand dieses Maskenkultes zu betrachten. Auch in unserer Kultur gibt es ja viele Situationen, in denen eine Illusion aufrechterhalten wird, ohne dass man angeben könnte, wer an sie glaubt: beim Zaubertrick im Variété zum Beispiel wissen wir genau, dass nichts Übernatürliches vor sich geht, und freuen uns doch, wenn der Trick perfekt gelingt. Mannoni bezeichnet diesen Typus von Einbildung, zu der es keine Träger gibt, als »croyance« (ein Terminus, den man im Deutschen am ehesten mit dem Wort »Aberglaube« wiedergeben kann), und er unterscheidet die »croyance« von der »foi«, dem »Bekenntnis«, zu dem wir immer stolze Träger finden, die erklären, dass sie an etwas Großes glauben beziehungsweise an etwas, das sie dafür halten – etwa an Gott, an den Fortschritt der Menschheit oder an die Selbstregulierung der Finanzmärkte. Die »croyance« zeichnet sich, Mannoni zufolge, dadurch aus, dass die Leute sie meist mit einer typischen, distanzierenden Formel begleiten. Sie sagen zum Beispiel, »ich weiß, dass es ganz blöd ist, aber ich muß jetzt unbedingt nachsehen, wie das gestrige Fußballmatch ausgegangen ist«. Beim Bekenntnis finden wir diese Distanzierung niemals. Kein Bekenner würde sagen, »Ich weiß, es ist ganz blöd, aber ich muß jetzt in die Kirche«, oder »Ich weiß, es ist ganz dumm, aber ich glaube an die Selbstregulierung der Finanzmärkte«. Das bedeutet: das Bekenntnis (die »foi«) beruht immer auf dem Prinzip der Identifizierung mit der Illusion. Die Formen des Aberglaubens, die »croyances«, machen zwar Spaß, aber sie erlauben keine Identifizierung. Das
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Octave Mannoni: Clefs pour l'Imaginaire ou l'Autre Scène. Paris: Seuil 1985, S. 9ff.
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Bekenntnis erzeugt Selbstachtung. Der Aberglaube dagegen Lust. Oder, nochmals psychoanalytisch formuliert: das Bekenntnis operiert auf der Ebene der Ichlibido; der Aberglaube auf der Ebene der Objektlibido.3 Aus Mannonis Erörterung lassen sich nun weitreichende Konsequenzen ableiten. Die erste Einsicht lautet, dass die Einbildungen umso bunter und materieller – etwa als aufwändiger Maskenkult - existieren, je mehr sie in der Form der »croyances« auftreten und mithin an einen unbestimmt bleibenden Träger adressiert sind. Sobald man hingegen anfängt, selbst an die Einbildungen zu glauben, werden sie blasser, abstrakter und verlieren an Materialität. Das kann man zum Beispiel an der Geschichte der Religionen beobachten: im antiken Polytheismus sind die Göttinnen und Götter konkret: sie sind verschieden, durchaus mitunter sichtbar, haben ein Geschlecht, Begierden etc. Aber die Menschen glauben nicht an sie; sie erzählen sich stattdessen amüsante Mythen über sie. Erst als die Menschen beginnen, selbst zu glauben, verlieren die Götter ihre Verschiedenheit, ihre Bestimmtheit und Sichtbarkeit. In den späteren, sogenannten »Sekundärreligionen« gibt es nur noch einen einzigen, unsichtbaren, asexuellen Gott.4 Genau in diesem Sinn sollten wir unsere postmodernen identitätspolitischen Präferenzen begreifen: Da wir genau so intensiv an unsere Identität glauben wollen wie die Sekundärreligionen an ihren Gott, ist unsere bevorzugte Identität heute genauso blass, unbestimmt und asexuell wie dieser. Darin liegt die zweite bedeutende Konsequenz von Mannonis Theorie: die Form des Aberglaubens ist in allen Kulturen zu finden. Das Bekenntnis hingegen ist eine spätere, nur in manchen Kulturen anzutreffende Errungenschaft. Nicht alle Kulturen haben den Ehrgeiz entwickelt, auch selbst an die von ihnen gepflegten Einbildungen zu glauben.
3
Vgl. dazu Robert Pfaller: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt/M.: 2002.
4
Zur Unterscheidung zwischen »Primär-« und »Sekundärreligionen« vgl. Theo Sundermeier: Was ist Religion? Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Gütersloh 1999; vgl. dazu Jan Assman: Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München 2003, S. 11.
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Und dies bedeutet, drittens: in früheren Epochen hat man darum nicht stärker geglaubt, sondern weniger stark, lockerer. Mannoni widerspricht damit dem weit verbreiteten Mythos vom Aufklärungsprozess, demzufolge die Menschen im Mittelalter in einem glücklichen, naiven Glauben an den lieben Gott geborgen gewesen wären, während wir seit der Neuzeit in »transzendentaler Obdachlosigkeit« durch die Welt irrten. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt: früher haben die Menschen Illusionen lediglich zur Darstellung gebracht (und sich darüber vielleicht mit der heiteren Auskunft verständigt, dass frühere Menschen wohl daran geglaubt hätten); erst später haben sie begonnen, das Darstellen zu unterlassen, weil sie immer heftiger selbst an diese Einbildungen glauben wollten.5 Mannonis Einsichten decken sich an diesem Punkt mit dem Befund Max Webers über die sogenannte »Entzauberung der Welt«.6 Auch Weber macht für diesen Prozess, der die Welt um allen charmanten Glamour materialisierter Illusionen bringt, nicht etwa Wissenschaft oder materialistische Philosophie verantwortlich, sondern vielmehr eine auf dem Prinzip verstärkter Identifizierung beruhende Religion – das protestantische Christentum. Das, was sich selbst gerne als Aufklärungsprozess begreift, ist somit alles andere als ein Zugewinn an Vernunft und ein Abschütteln von gläubigen Identifizierungen; es ist vielmehr Vorgang verstärkter Identifizierung – ein Verinnerlichungsprozess, der keinen Spaß mehr duldet, weil er so ernsthaft glauben will; und der deshalb kaum mehr an irgendetwas glauben kann, eben weil er so ernsthaft daran glauben möchte. Je stärker die Identifizierung mit der Einbildung wird, desto bildloser wird die Einbildung. Genau das ist der Zusammenhang, in dem man die postmoderne Erzählung vom Ende der großen Erzählungen begreifen muss. Dieses Gefühl ist real, aber es ist trügerisch, da es nicht das Ende aller Illusionen bedeutet, sondern vielmehr eine neue Stufe verstärkter Identifizierung. Wir beobachten einen Prozess, in dessen Verlauf die Individuen in immer verstärkterem Maß dazu angeleitet werden, sich mit ihren Einbildungen zu identifizieren.
5 6
Vgl. dazu Pfaller 2002, S. 85ff. Vgl. Max Weber [1905]: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: id., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen: Mohr, 1988, S. 1-206, hier: S. 94.
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Bei verstärkter Identifizierung geht allerdings zunehmend das Objekt der Einbildung verloren. Die Ichlibido geht auf Kosten des Objekts. Darum bilden die hochgradig Identifizierten sich ein, sie glaubten an gar nichts oder zweifelten an allem. Wie wir aber von Descartes wissen, bringt der Zweifel an allem Möglichen auf seiner Kehrseite immer die Selbstgewißheit eines zweifelnden Ich mit sich. Und diese Selbstgewißheit ist nicht allein eine kognitive Qualität; sie ist vor allem auch eine libidinöse Besetzung. Ihr entsprechen starke Affekte: wir können – LEIDER – an gar nichts glauben, weil wir – HURRA – so sehr an uns selbst glauben und uns dies durch unser Zweifeln immer neu bestätigen müssen. Freilich ist diese forcierte ichlibidinöse Lust nicht in derselben Weise als lustvoll erfahrbar wie die objektlibidinöse Erheiterung an Masken, Zaubertricks oder dummen Göttergeschichten. Vielmehr dominiert hier jene bereits von Freud erkannte manifeste Unlust, die dennoch nicht aufgegeben werden kann – jene »neurotische Unlust«, der Jacques Lacan den zwiespältigen Namen »jouissance« (Genießen) gegeben hat.7 Der Zweifler, der an nichts glauben und bei keiner lustigen Dummheit (z. B. einem gesellschaftlichen Rollenspiel) mitmachen kann, weil er immer so vernünftig sein muss, steht unter dem Diktat eines tyrannischen Über-Ich, das ihn mit dem grausamen Befehl »Genieße!« drangsaliert.
7
S. dazu Sigmund Freud: [1920g] Jenseits des Lustprinzips, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt/M.: Fischer, 1989, S. 213-272, hier: S. 220; Jacques Lacan [1959-60] Das Seminar Buch VII - Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin: Quadriga, 1996, S. 231.
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2. D ER S UBJEKT -E FFEKT : J E MEHR MAN AN SICH SELBST
GLAUBEN MÖCHTE , DESTO WENIGER ERTRÄGT MAN ES , ETWAS B ESTIMMTES ZU SEIN
Unter diesem Aspekt müssen die typisch postmodernen Vorlieben für flottierende Subjekte, für gebrochene, queere, gekreuzte, werdende und andere unbestimmte Identitäten begriffen werden: es sind, mit der Ideologietheorie Althussers gesprochen, Formen verstärkter Subjektivierung, das heißt verstärkter ideologischer Rekrutierung und Unterwerfung von Individuen. Diese Unbestimmtheiten sind intensivierte »Subjekt-Effekte« (»effets d’assujettissement«).8 Der Subjekt-Effekt stellt sich, Althusser zufolge, nicht schon dann ein, wenn ein Individuum ein symbolisches Mandat übernimmt – nach dem Motto, »Ja, es ist wahr! Hier bin ich: Arbeiter, Unternehmer, Soldat!«9 (man kann die Aufzählung weiterführen: ethnische, sexuelle, religiöse Identität, oder auch Unbestimmtheit etc.). Er ist vielmehr erst dann vorhanden, wenn eine imaginäre Umkehrung auftritt: Wenn die Individuen meinen, sich selbst konstruiert zu haben; mithin wenn sie glauben, schon vor ihrer Subjektwerdung und Rollenübernahme, bereits als Rollengestalter »immer schon Subjekt gewesen zu sein«. Der Subjekt-Effekt ist genau dieser trügerische Eindruck der Vorgängigkeit eigenen Entscheidens und Gestaltens vor dem Ergebnis der Subjektwerdung. Gerade die von Judith Butler als Befreiungsperspektive konzipierte Verlagerung vom Konzept der »Kultur als Text« hin zu einer »Kultur als Performance« muss unter dieser Perspektive skeptisch betrachtet werden.10 Denn die von Butler herbeigesehnte Möglichkeit »subversiv-performativer Umgestaltung« einer symbolischen Rolle führt nicht aus dem SubjektEffekt (der ideologischen Unterwerfung der Individuen) heraus, sondern
8
Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Ham-
9
Vgl. ebd., S. 143.
burg/Westberlin: VSA, 1977, S. 103. 10 S. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 190ff. Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 36ff.
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vielmehr direkt in sie hinein. Genau dann, wenn die Individuen das Gefühl haben, die gesellschaftlichen Anrufungen zu verweigern und stattdessen ihre Rolle selbst zu gestalten oder umzugestalten, sind sie Subjekte geworden. Die vermeintlichen »Subversionen« sind genau die Überschüsse an Identifizierung und subjektiver Anteilnahme, die jede Ideologie nötig hat, um ihre Individuen als Subjekte zu rekrutieren. Althussers Ideologietheorie folgt in diesem Punkt strikt der Lehre Spinozas über das trügerische, imaginäre Gefühl der Freiwilligkeit. Spinoza schrieb: »Ja, wenn [die Menschen] nicht die Erfahrung gemacht hätten, daß wir vieles tun, was wir nachher bereuen, und daß wir oft, wenn entgegengesetzte Affekte uns bedrängen, das Bessere sehen und dem Schlechteren folgen, dann würde sie nichts abhalten, sogar zu glauben, wir täten alles freiwillig. So glaubt das Kind, es erstrebe freiwillig die Milch; ebenso der zornige Knabe, er wolle freiwillig Rache, und der ängstliche, er wolle freiwillig die Flucht. Imgleichen glaubt der Trunkene, er rede infolge eines freien Beschlusses seiner Seele, was er nachher in nüchternem Zustand lieber verschwiegen haben wollte«.11
Dasselbe kann man unter postmodernen Verhältnissen sagen: so glaubt die gebrochene Identität, sie wäre freiwillig gebrochen, und das unbestimmte Geschlecht, es wäre freiwillig unbestimmt. Und das Gefühl der Freiwilligkeit verstärkt sich, je diffuser und unbestimmter sein Gegenstand erscheint. Denn man kann mit größerem Freiwilligkeitsgefühl etwas wenig Bestimmtes oder Unbestimmtes sein als etwas Bestimmtes. Auch hier frisst die forcierte Ichlibido sozusagen die Materialität ihres Objekts auf. Dies ist es, was der Soziologe Richard Sennett als »Tyrannei der Intimität« bezeichnet hat.12 Und das verleiht seiner Theorie gerade unter Verhältnissen neoliberaler Ökonomie und entsprechender postmoderner Ideologie deren besondere Aktualität.
11 Benedict de Spinoza, Die Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg: Meiner, 1976, S. 115. 12 Vgl. Richard Sennett: [1974] Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, 12. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 2001.
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3. D IE T YRANNEI DER I NTIMITÄT – UND DER T RIUMPH DER I DIOTIE Die Tatsache, dass es in westlichen Gesellschaften etwa seit Anfang der 90er Jahre gelungen ist, beträchtliche Teile der Bevölkerungen mit der Frage nach ihrer Identität zu beschäftigen, muss als ein zentraler Erfolg neoliberaler Ideologie betrachtet werden.. Solange alle nur darüber nachsinnen, was sie sein wollen, kommen sie nicht mehr dazu zu überlegen, was sie haben wollen. Und das ist nützlich, wenn man dabei ist, ihnen Dinge zu entziehen, die sie in Zukunft nicht mehr werden haben können – wie z. B. Zugang zu Bildung, Infrastruktur, sozialer Sicherheit, Altersvorsorge oder gar Würde und Eleganz. Diese neoliberale Ideologie der Identitätsversessenheit dient aber nicht allein dazu, von anderen, entscheidenden Fragen abzulenken. Sie bildet auch selbst einen Teil jener Zerstörung und Privatisierung des öffentlichen Raumes, die für neoliberale Verhältnisse charakteristisch ist. Meine These lautet: Die Frage nach der Identität tritt immer dort auf, wo die frühere Unterscheidung zwischen öffentlicher Rolle und privater Person, zwischen öffentlichem Raum und privatem Raum, liquidiert worden ist (sowie überall dort, wo man die letzten bestehenden Reste dieser Unterscheidung durch das Stellen der Frage selbst »performativ« liquidieren kann). Richard Sennett hat gezeigt, dass der öffentliche Raum, wie er in westlichen Gesellschaften etwa seit der Renaissance existierte, ein theatralischer Raum war: dort hatte man eine Rolle zu spielen – und dieses Spiel hatte die Funktion, anderen die Begegnung mit der privaten Person zu ersparen. Darin bestand, Sennett zufolge, die für den öffentlichen Raum charakteristische Tugend der Zivilisiertheit. »Unzivilisiert« hingegen ist es, nach Sennett, »andere mit dem eigenen Selbst zu belasten.«13 Der für die postmoderne Ideologie charakteristische sogenannte »performative turn« hingegen besteht darin, dass nun, wie in der Gattung der Performance generell, die theatralische Trennung zwischen Person und Rolle aufgehoben wird. Von allen Rollen wird nun zwar ständig erklärt, dass sie »nur Rollen« seien; aber zugleich werden sie peinlich genau darauf hin geprüft, ob sie sich zu hochgradiger Identifizierung eignen. Nun will jeder sich selbst spielen – und ja nichts sonst – man will zum Beispiel
13 Ebd., S. 336.
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(außer in den queeren Parodien, die allerdings ihr Nichternstgemeintsein meist aufdringlich vor sich hertragen) auf keinen Fall männlicher oder weiblicher auftreten, als man sich selbst fühlt. Und jede fühlt sich dann frei, wenn sie ganz sie selbst sein kann. Oder, genauer, ideologietheoretisch formuliert: Alle werden durch Anrufung ermutigt, nichts als sich selbst zu spielen, jede Rolle abzulehnen, die nicht unmittelbar mit dem imaginären Selbstbild oder den momentanen, vermeintlich »authentischen« Gefühlen übereinstimmt; und sich frei zu fühlen, wenn sie nichts als sie selbst zu sein brauchen. Sennett bezeichnet diese ichlibidinöse Präferenz, psychoanalytisch korrekt, mit dem Begriff des »Narzissmus«. Am Beispiel des Privatfernsehens kann man gut erkennen, was das bedeutet: nun können, anders als früher, alle Leute tatsächlich ins Fernsehen kommen – auch die schlecht Gekleideten, Inkompetenten, Unbedeutenden etc. Aber eben nur unter der Bedingung, dass sie dort nichts als ihre privaten Marotten preisgeben, und nicht etwa in ihrer allgemeinen Fähigkeit, etwas von gesellschaftlicher Relevanz zu sagen. Hier kann man sehen, dass Sennetts Unterscheidung von privater Person und öffentlicher Rolle zusammenfällt mit der aus der französischen Revolution stammenden Unterscheidung zwischen bourgeois und citoyen. Und so sieht man, was verlorengeht, wenn Fernsehen keine öffentliche Dimension mehr besitzt und Leute darin nicht mehr in öffentlichen Rollen auftreten dürfen. Sie werden dann ausschließlich als bourgeois behandelt – oder, wie es die griechische Antike formulierte: als Idioten, das heißt: als diejenigen, die sich um nichts anderes kümmern als um ihren eigenen Kram. (Unter den Voraussetzungen des sogenannten »reality-TV« muss auch Michel Foucaults Theorie der Sexualität in einem neuen Licht betrachtet werden: es ist nicht allein die Theorie einer zum Sprechen und Bekennen von Identität ermunternden, anstelle einer bloß repressiven Macht; es ist vielmehr vor allem auch eine Theorie einer zunehmenden Subjektivierung der Individuen, die dazu dient, sie der Möglichkeit einer öffentlichen Rolle zu berauben.) Diese Beschränkung und Homogenisierung14 des Anderen zum bloßen Idioten ist es, was in der postmodernen Ideologie als »Toleranz« missverstanden wird. Die von dem Komiker Sacha Baron Cohen entwickelten Figuren des »Ali G« sowie des »Borat« haben die Effekte dieser sogenannten
14 Zum Begriff der Homogenisierung des Anderen siehe Robert Pfaller: Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere, Frankfurt/M.: Fischer, 2012, S. 88.
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Toleranz deutlich gezeigt: wenn man den Anderen so behandelt, als ob er nichts anderes wäre als seine idiotische Identität; wenn man ihm nicht die Fähigkeit zugesteht, diese Identität zu zugunsten einer Rolle zu überschreiten und sich in der Öffentlichkeit zivilisiert zu benehmen, dann ist man eigentlich im buchstäblichen Sinn rassistisch. Der postmoderne Rassismus besteht darin, den Anderen auf dessen bloße Identität zu beschränken, mithin nicht das Geringste von ihm zu erwarten und ihn zum Idioten zu homogenisieren – zum kulturfernen Kasachen, zum unendlich dummen Rapper, oder zum pornographischen Unterschichtler, zum bildungsfernen Studierenden, zum religiös, ethnisch, sexuell etc. Empfindsamen und Verletzbaren etc.15 In der postmodernen »Toleranz« wird jedem Individuum das uneingeschränkte Recht zugestanden, ein völliger Idiot zu sein. (Daher der boom von freilich ironischer Ratgeberliteratur wie »A complete idiot's guide to Understanding Ethics«, oder »Derrida for Dummies«). Dem muss man heute als Gegenprinzip einen abgewandelten Satz von Hannah Arendt entgegenhalten: Niemand hat das Recht, ein kompletter Idiot zu sein. Und niemand hat das Recht, jemand anderen als solchen zu behandeln und nichts von ihm zu erwarten.
15 Zu dieser »multikulturellen« Variante des Rassismus in der Postmoderne vgl. Etienne Balibar: Gibt es einen »Neo-Rassismus«?, in: ders./Wallerstein, Immanuel: Rasse – Klasse – Nation: ambivalente Identitäten, 2. Aufl. Hamburg: Argument, 1992, S. 23.
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4. »S PIELE
DEINE
R OLLE
GUT « »Bedenke: Du bist Darsteller eines Stücks, dessen Charakter der Autor bestimmt. (…) Deine Aufgabe ist es nur, die dir zugeteilte Rolle gut zu spielen; sie auszuwählen, steht einem andern zu.« (Epiktet)16
Etwas anderes als bloß man selbst zu sein, würde bedeuten, eine Rolle zu spielen. Wie jedes Spiel bringt auch dieses Schauspiel der öffentlichen Rolle zumindest zwei Dimensionen mit sich, die unter den von Sennett präzise benannten und analysierten, narzisstischen Bedingungen postmoderner Ideologie als problematisch erscheinen können. Erstens bedeutet Spielen immer, dass man versuchen muss, gut zu spielen. Wer die Fiktion des Spiels – dessen Aberglauben, dass das Gelingen des Spiels von entscheidender Wichtigkeit wäre – nicht mitaufrechterhalten hilft, ist ein Spielverderber. Das bedeutet, dass jedes Spiel ein Ideal und mithin eine Idealforderung an die Spieler bereithält. Gerade dies bedeutet aber auch, dass man die Sache besser oder schlechter machen kann. Eine Geschlechterrolle zum Beispiel ist durch günstige biologische Voraussetzungen oder sorgfältige Konstruktion alleine noch keineswegs gut ausgefüllt. Man muss sie auch kunstvoll beherrschen, und dazu muss man sie üben. Unter narzisstischen Voraussetzungen wird diese Idealforderung als kränkend empfunden. Dass man nicht allein schon durch das, was man ist, sondern erst durch das, was man kann, Erfüllung und Glück empfinden soll, wird als unnötiger, umständlicher theatralischer Umweg, wenn nicht gleich als Zumutung und Heteronomie aufgefasst. Bevor man eine schwierige Rolle übt, konstruiert man sich lieber eine neue. Narzissten wünschen sich immer eine gute Rolle, anstatt dem Hinweis des Stoikers Epiktet zu folgen, wonach es vielmehr darauf ankommt, sie gut zu spielen. Das ist der Grund, weshalb viele postmoderne Narzissten derzeit – der unabschließbaren und gnadenlosen Tyrannei ihres Über-Ich entsprechend – permanent und zwanghaft mit der Neukonstruktion ihrer Rolle beschäftigt sind und
16 Epiktet: Handbüchlein der Moral. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hgg. v. Kurt Steinmann, Stuttgart: Reclam 2004, S. 25.
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dadurch niemals zu dem objektlibidinösen Glück gelangen, ihrem Ideal durch geschicktes Spiel wenigstens punktuell und momentan nahegekommen zu sein. (Dieses Ziel wäre durchaus erreichbar; nur der »Kampf« um die wunschgerechte Rolle verschiebt es ständig ins Unendliche). Denn gerade in dieser punktuellen Nähe bestünde das Glück, das man diesbezüglich erfahren kann. So bemerkt Sigmund Freud: »Es kommt immer zu einer Empfindung von Triumph, wenn etwas im Ich mit dem Ichideal zusammenfällt.«17
Wenn aber das Ideal aufgrund seiner als kränkend empfundenen Distanz gegenüber dem Ich abgewehrt werden muss, dann versagt man sich damit diese Glücksmöglichkeit – und verschafft nur dem tyrannischen Über-Ich einen bösen Triumph. Wenn es keine Geschlechterrollen gibt, die man besser oder schlechter spielen kann; wenn es vielmehr, wie manche Queers gerne sagen »soviele Geschlechter gibt wie Menschen« und mithin jeder, jede und jedes nur noch seine oder ihre ganz eigene, unvergleichliche Schneeflocke ist, dann kann auch niemand jemals irgendetwas gut spielen.. Dann sind nicht alle schlußendlich glücklich, sondern vielmehr unrettbar unglücklich. Dies bestätigt die Einsicht Sennetts, der bemerkt, der Narzißmus besitze, »die doppelte Eigenschaft, die Versenkung in die Bedürfnisse 18 des Selbst zu verstärken und zugleich ihre Erfüllung zu blockieren.« Das ist der Grund, weshalb keine Identität jemals ganz die eigene ist. Solche idyllische, ganz eigene Identität gibt es nur zum Schein. Wer selbst mit der eigenen Rolle unzufrieden ist, neigt dazu, sich einzubilden, die anderen wären mit ihren Rollen völlig zufrieden und gingen ohne jeden subjektiven Rest in ihnen auf. Diese Illusion entspricht der »Homogenisierung des Anderen«. Dabei haben z. B. auch heterosexuelle Männer und Frauen durchaus Probleme, sich mit den entsprechenden Rollenbildern zu identifizieren; sie haben Zweifel, ob es ihnen gelingt, den Erwartungen an die Rolle zu entsprechen; ob sie es fertigbringen, sie adäquat zu spielen etc. Das ist auch kein historisierbares Problem, das nur unserer angeblich skeptischen
17 Sigmund Freud: [1921c] Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M.: Fischer, 1993, S. 61-134; hier: S. 122. 18 Sennett [1974], S. 22.
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Gegenwart eigen wäre oder durch Veränderung der gesellschaftlichen Rollenbilder gelöst werden könnte; es hängt vielmehr an der Rolle als solcher.19 Umgekehrt neigen unterdrückte oder marginalisierte Gruppen zur »Selbsthomogenisierung«: sie verfallen oft der Einbildung, ihre Subkultur wäre ein problemlos aneigenbares Paradies, ein sozusagen auf den Leib geschneidertes, völlig wunschgerechtes Rollenangebot – sofern sie nur gesellschaftlich anerkannt wäre. Dieser Eindruck kann aber nur aufrechterhalten werden, solange diese Kultur eben durch Unterdrückung oder Marginalisierung daran gehindert wird, sich zu realisieren. Sobald sie hingegen realisierbar ist, also öffentlich zur Darstellung gebracht werden kann, hat sie schon wieder ihre eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht den Wünschen des Ich mehr beugen, und ihre Darstellung muss darum gekonnt werden; sie erfordert dann wieder Übung und erscheint darum unweigerlich als Entfremdung. Nur solange die eigene Identität unterdrückt oder marginalisiert ist, kann man sich darüber hinwegtäuschen. Dann wird der andere zum verhassten »Dieb des Genießens«20; er hilft uns, das idyllische Bild unserer unterdrückten Identität aufrechtzuerhalten. Nur dank ihm können wir uns vorstellen, dass wir ohne ihn völlig problemlos und glücklich – und ohne jede Anforderung von Können und Übung – mit unserer Identität zurechtkämen. Dass es in jeder Gesellschaft Rollen gibt, die erlernt werden müssen; dass es nicht nur verschiedene Geschlechter, sondern auch verschiedene Generationen, verschiedene Grade von Expertise (und in den meisten der uns bekannten historischen Gesellschaften auch verschiedene Grade von Macht, Reichtum, Ansehen etc.) gibt; und dass man gegenüber keiner dieser Ordnungen neutral bleiben kann, sondern in jeder von ihnen einen Platz
19 In diesem Sinn kann auch die Bemerkung von Jacques Lacan verstanden werden, dass der Verrückte nicht allein der Bürger oder Bettler sei, der sich für einen König hält, sondern mindestens ebensosehr der König, der glaubt, dass er ein König ist (s. Jacques Lacan [1946] Vortrag über die psychische Kausalität, in: ders.: Schriften, Bd. III, 2. Aufl. Weinheim, Berlin: Quadriga, 1986, S. 123171; hier: S. 147). 20 Slavoj Zizek: Tarrying with the Negative. Durham: Duke Univ. Press 1993, S. 203.
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zugewiesen bekommt, den man sich nicht ausgesucht hat, gehört zu jenen kränkenden Erfahrungen des Lebens, die sich dem narzisstischen Wunsch entgegenstellen, wie die Psychoanalytiker Bela Grunberger und Pierre Dessuant in ihrer grundlegenden Studie über Narzissmus, Christentum und Antisemitismus festgestellt haben. Gender- und Queer-Theorie nehmen dem gegenüber meist eine merkwürdige Position ein: So sehr sie betonen, wie wichtig die Bereitschaft sei, »sich selbst zu dezentrieren«,21 betreiben sie in ihren theoretischen Operationen doch meist das Gegenteil. Das Dezentrierende der Sexualität zum Beispiel versuchen sie zu verleugnen durch die beschwichtigende Erklärung, dass Geschlecht ein Kontinuum sei (was orthographisch zum Gebrauch des underscore »_« und zur Ablehnung des trennenden slash »/«führt) und dass eben jeder, jede und jedes sein eigenes Geschlecht habe. Dann aber ist jeder/jede/jedes wieder das Zentrum seines oder ihres eigenen, ganz persönlichen Geschlechts (und alle haben dementsprechend seltsamerweise nun auch immer nur eines). Prompt sind alle wieder zentriert. Das historisch Auffällige an solchen immer beliebteren Manövern ist, dass Dezentrierung von immer mehr Leuten in der westlichen Welt immer schlechter ertragen wird. Den Überlegungen von Grunberger/Dessuant und Weber folgend, erscheint es denkbar, dass dieser immer heftigere narzisstische Wunsch nach Zentrierung die Folge einer auf zunehmende Verinnerlichung drängenden und sich selbst (eben darum) meist nicht mehr als christlich erkennenden protestantischen Kulturentwicklung ist. Bewegungen, die sich durch zentrierendes Wunschdenken und entsprechende politische Praxis an dieser Entwicklung beteiligen, leisten darum keinen Beitrag zu irgendeiner Befreiung, sondern lediglich einen zur vorherrschenden Ideologie sowie zur aktuellen, neoliberalen Entzauberung der Welt.22 Der Wunsch nach Zentrierung und Neutralität gegenüber allen dezentrierenden Ordnungen ist auch der Grund, weshalb unter narzisstischen
21 Diese Formulierung Judith Butlers zitiert Shane Phelan in: Queering citizenship, in: Shane Phelan (Hg.): Sexual Strangers, Gays, Lesbians, and Dilemmas of Citizenship. Philadelphia. 2001, S. 139-161 (hier: S. 143). 22 Zum Zusammenhang von Neoliberalismus und Entzauberung der Welt siehe z.B. »Her mit dem besseren Leben!« Manifest des Heidentums, http:// www.heidnischersalon.at/manifest.htm (zuletzt abgerufen am 02.01.2013).
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Kulturbedingungen gerade negative Identitäten so hohe Beliebtheit gewinnen: denn, wie Grunberger und Dessuant festgestellt haben: alles, was materiell ist und mithin Regeln und Gesetze hat, ist dem Narzissmus unerträglich.23 Darum eignen sich nur Inhalte, die keine positiven Regeln und Bedingungen des Könnens auferlegen, zur totalen, narzisstischen Identifizierung: So kommt es, dass die aktuellen Heroinnen und Heroen des talkshowFernsehens und der Populärkultur das Wertvollste und Intimste, das sie bekennen können, in ihrer ungeklärten sexuellen Identität, ihrer Metrosexualität, in ihrem Low Desire Syndrome, in ihrer Postsexualität oder auch in ihrer scheinbar totalen Ohnmacht als Opfer erblicken. Freilich sind auch das Rollen, und klarerweise sind sie gesellschaftliche und von den Medien geprägte Klischees; aber sie eignen sich wegen der geringen normativen Anforderungen, die sie mit sich bringen, sehr viel besser zur totalen Identifizierung. Und sie lassen sich sehr leicht und glaubhaft spielen – so glaubhaft, dass sogar die Spieler selbst ihrer Illusion erliegen. Denn, wie der Philosoph Alain bemerkte: »Noch der gewöhnlichste Mensch wird zum Künstler, wenn er sein Unglück mimt.«24
5. Ȇ BERSCHREITE
DEINE
P RINZIPIEN !«
Die zweite Dimension des Spiels, die unter den narzisstischen Bedingungen postmoderner Ideologie als problematisch bzw. unerträglich erscheint, besteht darin, dass das Spiel der öffentlichen Rolle immer einen bestimmten Befehl mit sich bringt. Es befiehlt eine bestimmte Überschreitung der privaten Scham- und Moralgrenzen; Spiele sind, wie Freud einmal hellsichtig bemerkt, »vom Gesetz gebotene Exzesse«.25 In Ermangelung solcher Exzess-Gebote können zum Beispiel die sexuell befreiten und informellen Nach-68er, die einander zwar zwanglos und distanzlos duzen, in der Disco doch fast immer nur einzeln tanzen, während andererseits die äußerst strikten Höflichkeitsregeln unterworfenen Konservativen eben dank dieser
23 S. Béla Grunberger,/Pierre Dessuant: Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung, Stuttgart: Klett-Cotta, 2000, S. 107, 120f., 203. 24 Alain: Die Pflicht, glücklich zu sein. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982, S. 45. 25 Freud [1921c], S. 122.
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Regeln in der Lage sind, beim Opernball engumschlungen mit fremden Personen über das Parkett zu schweben. Die Regeln der Kultur sind keine Verbote; sie verbieten den Individuen nichts, sondern gebieten ihnen vielmehr das, was diese sich selbst von sich aus niemals erlauben würden. Genau dazu benötigen wir die Gebote der Kultur – als Ermöglichungsbedingungen von Lust, als Lustressourcen; denn – wie Freud in seiner Theorie der vielfältigen und konfliktuellen Sexualtriebe erkannte – gehemmt sind wir selber.26 In einer neoliberalen Gesellschaft, in der alles, wofür es sich zu leben lohnt, zum Objekt aggressiver Aneignungsversuche durch exklusive Minderheiten wird, sind naheliegenderweise auch diese kollektiven Genussressourcen Objekte solcher asozialer Begierde. Es wäre aber wohl unmöglich, sie der breiten Mehrheit einfach gewaltsam zu entziehen. Wie die meisten übrigen Beraubungen muss auch diese listig bewerkstelligt werden – das heißt: so, dass die Beraubten ihre Beraubung nicht als solche, sondern vielmehr sogar als ihre Befreiung wahrnehmen. Dann sind sie nicht nur bereit, sie hinzunehmen, sondern setzen sich sogar noch aktiv für sie ein und kämpfen selbst, wie Spinoza formulierte, für ihre Knechtschaft, als wäre sie ein Glück. Eine Form der List besteht nun darin, die Gebote des Feierns nicht als Lustressourcen, sondern vielmehr als heteronome Zumutungen, als »Normierungen«, zu charakterisieren. Die Individuen würden sich, wenn sie sich solchen Imperativen anvertrauen, doch nur von ihrem Eigensten entfernen. Sie rezipierten dann zum Beispiel nicht die Kunst ihrer identitären Gemeinschaft, sondern eine fremdere, gesellschaftlich anerkannte. Sie wären in solchen Momenten nicht authentisch, sondern spielten eine nicht von ihnen selbst gewählte Rolle, zur Freude und zum Nutzen für jemand anderen. Sie folgten dann nicht ihren eigenen, spontanen Impulsen, sondern einem fremden Befehl zu angepasstem Benehmen. Mit dem postmodernen HipHop-Refrain »Be Yourself« bringt die neoliberale Interessenslage die zu beraubenden Individuen dazu, alles Ichfremde an sich selbst abzulehnen und ihre Lustressourcen abzustoßen. Wer immer ihnen das Lustprinzip in der Kultur nahebringt und sie damit zu geteilter Lust einlädt, wird von ihnen nun in der Vorstellung homo-
26 S. Sigmund Freud: [1905d] Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: ders. Studienausgabe, Bd. V, Frankfurt am Main: Fischer, 1989: 37-146, hier: S. 78.
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genisiert und mithin fälschlich als despotischer »Urvater« wahrgenommen, der völlig eigennützig und auf ihre Kosten genieße. Jeder Universitätslehrer, der ihnen von Weltliteratur erzählt, wird als Agent einer überkommenen eurozentrischen, weißen, heterosexuellen Matrix perhorresziert. Jede Raucherin, die ihnen durch elegantes Benehmen angenehm und, indem sie ihnen vielleicht eine Zigarette anbietet, großzügig sein möchte, erscheint ihnen als gewalttätige Imperialistin eines obszönen Genießens, die ihre private Obsession in der Öffentlichkeit ausbreitet und damit nicht allein die Gesundheit der anderen bedroht, sondern auch deren seelische Reinheit und Lust-Autonomie, das heißt: deren narzisstische Integrität. Mit anderen Worten – sie scheint diejenige zu sein, die nun phallisch und urvaterhaft ihnen ihr (ansonsten als problemlos möglich imaginiertes) Genießen unterbindet. Der gesellige Altruismus mutet als rücksichtsloser Egoismus an; die weltläufige Überwindung von Initimität als Vergewaltigung durch fremde Intimität. Gerade das Angebot von Zivilisiertheit erscheint als ultimative, brutale Barbarei. Aus psychoanalytischer Sicht besteht diese Fehlwahrnehmung darin, dass der Aberglaube des anderen als dessen Bekenntnis aufgefasst wird: die »croyance« des anderen, seine Orientierung am Schauspiel und an der Illusion für einen unbestimmt bleibenden Träger, erscheint als dessen eigene Illusion (»foi«); als selbstbezogene narzisstische Passion, als volles Aufgehen in purer eigener Einbildung. Gerade das, was die Aufgabe von Narzissmus repräsentiert, wird somit als dessen Inbegriff wahrgenommen – und als Vereitelung von jeglicher Möglichkeit seiner Aufgabe: »symbolische Kastration« erscheint als »imaginäre«. Politisch handelt es sich bei dieser Struktur gesellschaftlicher Affektorganisation um negative Hegemonie: Es verhält sich genau umgekehrt zu der traditionellen Hegemonie, worin eine herrschende Klasse ihre Partikularinteressen den übrigen Klassen als das allgemeine gesellschaftliche Interesse verkauft. Heute hingegen ist es den Profiteuren der aktuellen Umverteilungen gelungen, die allgemeinen Interessen der Gesellschaft als bloße Partikularinteressen der herrschenden Klassen darzustellen. Dadurch haben sie alle übrigen Klassen dazu gebracht, von sich aus, spontan, und mit dem Gefühl der Befreiung von Heteronomie, davon Abstand zu nehmen und auf die Beute der gesellschaftlichen Kämpfe zu verzichten. Ohne jede Ermutigung durch die Gesellschaft hätten die Leute sich wohl geschämt, so etwas zu tun. Erst seit die postmoderne Kultur ihnen
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suggeriert, dass sie genau dadurch authentisch, mithin frei von Fremdbestimmung und liebenswert wären, treten scharenweise Personen auf, die bereit sind, sich dazu enthemmen zu lassen. Auch hier war somit eine gesellschaftliche Lustbedingung notwendig, damit die Individuen zu dieser Lust gelangen konnten. Allerdings ist es eben eine paradoxe, soziale Ermunterung zum Asozialen: ein gesellschaftlicher Aufruf zum individuellen Narzissmus.
6. S CHLUSSFOLGERUNGEN Vor diesem Hintergrund, meine ich, muss man die aktuellen Mode-Themen beurteilen, von denen die diversen cultural studies heimgesucht und in immer diversifiziertere Subdisziplinen gespalten werden. Zwei Gefahren der Verkennung die mir dabei besonders akut erscheinen, möchte ich zum Abschluss kurz benennen. (1) »Ach, ich Armes!« Erstens ist die Vorliebe für unbestimmte Identitäten ein typisches Phänomen bürgerlicher Mittelschichten – also von Leuten, die im Weltmaßstab das sind, was Bertolt Brecht wohl als »tiefsinnige Parasiten im Hemd« bezeichnet hätte. Ihrem narzisstischen, von Grunberger/Dessuant benannten Grundprizip entsprechend, erscheint der Schwache immer als der Gute. Darum sind sie immer heftig bemüht, einen Aspekt der eigenen Nichtprivilegiertheit zu finden und ihn in den Vordergrund zu stellen gegenüber den vielen Aspekten, unter denen sie sich selbst als privilegiert betrachten müssten. Hier wird eine mögliche Wahrheit ideologisch, indem sie zur Verdeckung vieler anderer, als peinlich empfundener Wahrheiten benutzt wird. Die eigene gesellschaftliche Dezentrierung als privilegiertes Individuum wird narzisstisch durch die Selbst-Imagination als Opfer zu rezentrieren versucht. (2) »Erfindet Euch anders!« Zweitens versucht der Narzissmus in der Theorie, Probleme nicht zu lösen, sondern ihnen aus dem Weg zu gehen. Dies führt zu dem scheinbar wohlwollenden, in Wahrheit allerdings auch immer missbräuchlichen und eigennützigen Interesse an minoritären oder benachteiligten Gruppen:
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Diejenigen, die das jeweilige Problem (wie z. B. das der hierarchischen Geschlechterverhältnisse oder auch das der problematisch gewordenen Sexualität) nicht haben, werden dann zum Bild der Lösung für diejenigen, die es haben - zum Beispiel die Homosexuellen für die Heterosexuellen; die Lesben für die Heten; oder die Postsexuellen für die Sexuellen; die Unbestimmten für die Bestimmten etc. Die gesamte theoretische Verlagerung von »Sex« zu »Gender« trägt diesen Charakter einer Ausflucht: ›Fragen wir nicht, wie wir die Unterdrückung von Frauen beenden können; fragen wir uns lieber, ob es überhaupt Frauen gibt.‹ Ständig sucht man das Problem dort, wo man es haben möchte; und nicht dort, wo man es hat. Anstatt also Regeln zu ersinnen, wie z. B. Heterosexuelle unter freieren Verhältnissen gut und lustvoll miteinander auskommen könnten, schwärmt man einfach nur von der Konstruiertheit der Geschlechtsidentität bzw. der sexuellen Orientierung und signalisiert damit den unter den unfreien Verhältnissen Leidenden stillschweigend: »Wer heute keine Lesbe oder kein Schwuler ist, ist eben selber schuld.« Dem gegenüber muss in Erinnerung gerufen werden, dass Geschlechterverhältnisse nicht allein durch Identitäten und Orientierungen bestimmt sind. Eine entscheidende Determinante bildet auch der Institutionenwunsch – also z. B. ob man monogam zusammenleben will oder polygam; ob in langer oder nur serieller Monogamie; ob man zusammen Kinder haben will oder nicht; ob man die Familie der anderen Person kennenlernen will oder nicht; etc.27 Durch die irreführende Fokussierung auf die Fragen von Identität und Orientierung wurde das politische Problem der sexuellen Institutionenbildung weitgehend vernachlässigt und völlig dem konservativen Gegner überlassen. Indem man gegen »Heteronormativität«, »Zwangsheterosexualität« und gegen eine vermeintliche »heterosexuelle Matrix« polemisierte, deklarierte man die Annahme von zwei Geschlechtern sowie die Forderung nach heterosexueller Orientierung zum Hauptfeind. Dabei übersah man aber das entscheidende ökonomisch-politische Moment der Geschlechterordnung: nämlich die Ordnung der Familie als Apparat zur transgenerationellen Über-
27 S. dazu Madam, I'm Adam. The Organization of Private Life, hg. v. Piet Zwart Institute u. Kunstuniversität Linz, Bereich Experimentelle Gestaltung, Rotterdam/Linz, 2003.
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tragung von Eigentum sowie zur Besitz- und Kapitalakkumulation.28 So fühlen sich viele, die in Sachen Geschlechtsidentität oder Orientierung nicht ganz ins alte Klischee zu passen meinen, bereits »subversiv« oder widerständig und übersehen, dass sie längst bestens zu einem neoliberalen Konsens passen, dem die Identitäten und Orientierungen erstaunlich egal sind und der nur an der familialen Eigentumsordnung festhält29 – meist verknüpft mit einer verschärften Forderung nach Monogamie. Die »normative« Spaltung der Gesellschaft trennt darum längst nicht mehr Heteros von Homos und Queers; sie verläuft vielmehr quer zu den Identitäten und spaltet jede von ihnen: Schon gibt es die »guten Homosexuellen«, die in festen Paarbeziehungen leben und Kinder adoptieren, und die »bösen«, die angeblich beziehungsunfähig sind und in den darkrooms verweilen. Aber auch die Heteros sind nicht allesamt fein raus: Das Alleineleben einer heterosexuellen Frau, die keine Kinder hat, gilt heute oft schon als erklärungsbedürftig – weit mehr als noch vor 20 oder 30 Jahren. Durch das nostalgische Festhalten an dem irreführenden Begriff der »Heteronormativität« übersieht man, dass in den letzten Jahrzehnten die nach 1968 bereits erkämpften Terrains freierer Liebe und der ihr entsprechenden sozialen Zusammenschlüsse zunehmend verlorengingen, so dass die monogame Zweierbeziehung heute wie seit langem nicht mehr als »the only game in town« herrscht (sogar oft unter Homosexuellen und Queers) und als tyrannische »monogame Matrix« alle anderen Liebesverhältnisse zum Undenkbaren und Unaussprechlichen, wenn nicht zum Verbrechen, stempelt.30 Anstatt sich an der eigenen Unbestimmtheit zu berauschen, sollte man sich lieber wieder den harten, überaus bestimmten, wenn auch nicht unveränderbaren sozialen Verhältnissen widmen, welche der Liebe im 21. Jahrhundert ihre Formate aufzwingen.
28 Einer der klassischen Texte zum Problem der sexuellen Institutionenbildung ist: Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 11. Aufl. Berlin: Dietz, 1973. 29 Vgl. Dazu Antke Engel: Gefeierte Vielfalt. Umstrittene Heterogenität. Befriedete Provokation, in: Bartel et al. (Hg.) 2008: S. 43-63. 30 Vgl. dazu Robert Pfaller: Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere, Frankfurt/M.: Fischer, 2012.
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Damit schließe ich diesen Versuch, dem Nachdenken über unbestimmte Identitäten ein Instrumentarium zur kritischen Selbstreflexion und einige Warnungen von konkreten Verkennungen zu liefern, ab. Um diese Überlegungen auf den Punkt ethischer beziehungsweise politischer Maximen zu bringen, möchte ich die folgenden Anhaltspunkte vorschlagen: Kämpfen Sie überall, wo Ihnen oder anderen gleiche Rechte vorenthalten werden. Befreien Sie sich, wo Sie müssen, und insbesondere dort, wo Sie sich selbst nicht befreien können, ohne zugleich alle anderen zu befreien. Aber halten Sie sich nicht für marginaler, als Sie sind. Und halten Sie Ihr eigenes Modell nicht für verallgemeinerbarer, als es ist. Mit anderen Worten: Erzählen Sie sich keine Geschichten.
L ITERATURVERZEICHNIS Alain: Die Pflicht, glücklich zu sein. Frankfurt/M.: Suhrkamp.1982. Althusser, Louis 1977: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg/ Westberlin: VSA 1994 Écrits philosophiques et politiques, Tome I, Paris: Stock/ IMEC, 1977. Assman, Jan: Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München 2003. Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel: Rasse – Klasse – Nation: ambivalente Identitäten, 2. Aufl. Hamburg: Argument, 1992. Bartel, Rainer et al. (Hg.): Heteronormativität und Homosexualitäten, Innsbruck et al.: Studien Verlag, 2008. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991. Butler, Judith: Conscience Doth Make Subjects of Us All, in: Althusser, Balibar, Macherey and the Labor of Reading. Yale French Studies, No. 88, 1995: 6-26 Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 11. Aufl. Berlin: Dietz,1973. Epiktet: Handbüchlein der Moral. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hgg. v. Kurt Steinmann, Stuttgart: Reclam, 2004.
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Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004. Freud, Sigmund [1905d]: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: ders. Studienausgabe, Bd. V, Frankfurt am Main: Fischer, 1989; S. 37-146. Freud, Sigmund [1920g]: Jenseits des Lustprinzips, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt/M.: Fischer, 1989, S. 213-272. Freud, Sigmund [1921c] Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M.: Fischer, 1993, S. 61-134. Grunberger, Béla/ Dessuant, Pierre: Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung, Stuttgart: Klett-Cotta, 2000. Lacan, Jacques [1946]: Vortrag über die psychische Kausalität, in: ders.: Schriften, Bd. III, 2. Aufl. Weinheim, Berlin: Quadriga, 1986: 123-171. Mannoni, Octave: Clefs pour l'Imaginaire ou l'Autre Scène. Paris: Seuil, 1985. Pfaller, Robert: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002. Pfaller, Robert: Identität, Ideale, Rollen und Geschicklichkeit, in: ders., Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt/M.: Fischer, 2011, S. 160-166. Pfaller, Robert: Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere, Frankfurt/M.: Fischer, 2012. Sennett, Richard [1974] Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, 12. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 2001. Spinoza, Benedict de: Die Ethik. Nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg: Meiner, 1976. Sundermeier, Theo: Was ist Religion? Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Gütersloh, 1999. Weber, Max [1905]: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: id., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen: Mohr, 1988, S. 1-206. Zizek, Slavoj: Tarrying with the Negative. Durham: Duke Univ. Press, 1993.
»I’ll be grotesque before your eyes« Zwei Gedanken zu Michael Jackson M ICHAEL A NDREAS | N ATASCHA F RANKENBERG »Am I amusing you / Or just confusing you / Am I the beast / You visualized / And if you wanna see / Eccentrialities / I’ll be grotesque / Before your eyes«1 »The Michael Jackson cacophony is fascinating in that it is not about Jackson at all. […] All that noise is about America, as the dishonest custodian of black life and wealth; the blacks, especially males, in America; and the burning, buried American guilt; and sex and sexual roles and sexual panic; money, success and despair […].«2
Wie kaum ein anderer Popstar hat Michael Jackson die Theoretiker_innen des Postrukturalismus in den 1980er und 1990er Jahren noch zu seinen Lebzeiten zum Theoretisieren gebracht: Donna Haraway überprüfte an Michael Jackson die Rolle von biotechnologischen Visualisierungen für USamerikanische Diskurse um race,3 Slavoj Žižek leitete mit Überlegungen
1
Michael Jackson, Is It Scary (Blood On The Dance Floor – HIStory In The Mix, Epic 1997, EK 68000).
2
James Baldwin, »Here Be Dragons«, in: ders., The Price of the Ticket. Collected
3
Vgl. Donna Haraway, »Universal Donors in a Vampire Culture: It’s All in the
Non-Fiction 1948-1985, New York 1985, S. 677-690, hier: S. 689. Family. Biological Kinship Categories in the Twentieth Century«, in: dies., Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan©_Meets_OncoMouse™, New York 1996, S. 213-266.
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zum Skandal um den möglichen Kindesmissbrauch durch Michael Jackson ein Buch über das Unbewusste medialer Inszenierungen ein4 und Jean Baudrillard nannte ihn kurz vor dem Erscheinen von Bad 1986 einen »solitary mutant, a precursor of a hybridization that is perfect because it is universal – the race to end all races.«5 Michael Jackson ist eine Figur, an die, wie an kaum eine andere, zeitgenössische Fragen nach Identität gestellt worden sind. Hatte ihm sein Erfolg als bereits Siebenjähriger dahingehend geschadet, dass er zeit seines Lebens die verlorene Kindheit nachholen musste, war er also ein Kind im Körper eines Erwachsenen? Unterlief Jackson seine afroamerikanische Identität, indem er seine Haut bleichte? Näherte er sich mit chirurgischen Eingriffen einem Schönheitsideal, das ihn zu einem Ebenbild seines Vorbilds Dianna Ross oder seiner Schwester Janet formte? War er Mann oder Frau, homosexuell, heterosexuell oder asexuell? Es ist ein unmögliches Unterfangen, alle Details aus Jacksons Leben, seinen Liedern, seinen Musikvideos und seinem mitunter öffentlich geführten Leben aufzurufen, die Fragen nach Identität betreffen, so umfangreich sind seine Verweise an die US-amerikanische Pop-Kultur, die einen Blick hinter die mediale Oberfläche der Figur unmöglich machen und vielmehr den Blick lenken auf eine Wissensgeschichte: seine nach der Romanfigur Peter Pan benannte Neverland-Ranch sowie sein Bekenntnis, wie Peter Pan niemals erwachsen werden zu wollen, seine Hochzeit mit Lisa-Marie Presley, der Tochter des weißen King. Die Selbststilisierungen Michael Jacksons, das hat David Yuan noch zu Lebzeiten Jacksons gezeigt, haben einen ganzen Diskurs hervorgerufen, der Jacksons Performanz von Identität unterläuft und stattdessen nach Jacksons »wahrer« Identität fragt und damit Jacksons Performanz von schwarzen und weißen Körpern, Männlichkeit und Weiblichkeit, Kindlichkeit und Reife auf binäre Essentialismen reduziert.6 Jacksons aufgeführte, spektakuläre Hybridität gerät in dieser Lesart in den Verdacht eines Verrats: der Schwarze, der sich unwohl in seiner eigenen Haut fühlt,
4
Slavoj Žižek, The Plague of Fantasies. London 1997, S. 3.
5
Vgl. Jean Baudrillard, »Transsexuality«, in: ders., The Transparency of Evil. Es-
6
Vgl. David Yuan, »The Celebrity Freak: Michael Jackson’s ›Grotesque Glory‹«,
says on Extreme Phenomena. New York, London 1993, S. 20-25, hier: S. 21. in: Rosemarie Garland Thomson (Hg.), Freakery: Cultural Spectacles of the Extraordinary Body, New York 1996, S.368-384.
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der asexuelle und effeminierte Mann, der seiner Schwester Janet immer ähnlicher wird, der Erwachsene, der sich im Vergnügungspark seines Neverland zurückzieht und der der Figur des Kinds (und anderen Kindern bis hin zum Vorwurf des sexuellen Missbrauchs) zu nah kam. Wir wollen uns im Folgenden diesen Diskursen nicht anschließen und uns auch nicht auf die Suche begeben nach dem Wahrheitsgehalt der Aussagen über Michael Jacksons Kindheit, Michael Jacksons Körper oder seine sexuelle Orientierung. Stattdessen wollen wir das Augenmerk richten auf zwei Details, welche die Aushandlung von rassifizierter und geschlechtlicher Identität besonders deutlich machen. An diesen Details zeigt sich, wieso sich die Figur Michael Jackson als jener Gegenstand eignet, anhand dessen sich die Kulturwissenschaften mit dem Begriff der Identität auseinandergesetzt haben, und auf welche Wissensgeschichte Jackson rekurrierte, um auf die ethnischen Differenzen der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie der 1980er und 1990er zu reagieren. Erstens: Die Technologie des Morphings, die in den 1980ern entwickelt wurde und sich in den 1990ern als Stilmittel im Spielfilm und Musikvideo etablierte, bindet den Film medienhistorisch an Jahrmarktstraditionen der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Mit der Technologie Morphing wird ausgangs des letzten Jahrhunderts zudem eine Frage nach Identität virulent, da die Technologie die Illusion manipulierbarer, übergangsloser Körper ausstellt: »If the nineteenth century dreamed of cinema, then the twentieth century has been dreaming of morphing. As with the trope of virtual reality, morphing articulates and condenses an array of philosophical positions and some specific desirers and anxieties. Its place within the public and critical imagination tells us plenty about fantasies of disengagement and reengagement with historical as well as technological realities […]. Morphing […] brought that level of imaginary mutability to the body and the self.«7
7
Scott Bukatman, »Taking Shape. Morphing and the Performance of the Self«, in: Vivianne Sobchack (Hg.), Meta-Morphing. Visual Transformation and the Culture of Quick-Change, Minneapolis 2000, S. 225-249, hier: S. 225.
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Die Technologie des Morphings ist somit auch gesellschaftlich tief in jener Zeit verhaftet, in der sie entsteht und wurde von vornherein zur Visualisierung des Phantasmas eines »multikulturellen Amerika« herangezogen.8 In diesem Verständnis lässt sich auch, und damit zweitens, der (zumeist weiße) Handschuh Jacksons verorten, den Jackson mit dem Beginn seiner Solokarriere als Bühnenoutfit zu tragen begann und der, so hieß es kurz nach seinem Tode, den Beginn von Jacksons Weißwerdens markierte. Jackson, so hieß es, habe an Vitiligo gelitten und der Handschuh habe lediglich die weißen Male an seiner ansonsten schwarzen Hand verdeckt. Aus dieser Vermutung spricht ein Verständnis von ethnischer Identität, welches von essentiellen, fixierten Hautfarben ausgeht, Abweichungen davon als Krankheiten pathologisiert und in psychologisierten Konflikten des Subjekts münden lässt. Diese Konstruiertheit einer absoluten Alterität, das haben die Postcolonial- und die Gender- und Queer Studies gezeigt, wird gerade eben durch die Analyse von Praktiken der Verkleidung, des Verdeckens und Ähnlich-Werdens im Kontext von Normalisierungsstrategien sichtbar.9 Michael Jackson nutzte den Handschuh wie die Technologie des Morphings, um auf vielfältige Weise mit den Versatzstücken einer USamerikanischen Kultur zu spielen und jegliche Binarismen zu unterlaufen. Es wird, soviel sollte klar sein, im Folgenden gar nicht um Michael Jackson gehen, sondern um die Figur, vielmehr: ihre medialen Oberflächen, an denen Identität verhandelt wird.
8
1993 zierte ein mittels Morphing erzeugtes »Durchschnittsgesicht« das Cover des Magazins Time. Das Gesicht sollte stellvertretend stehen für eine zukünftige USA, in dem keine ethnischen Differenzen mehr vorzufinden seien, weil sich unterschiedlichen »Ethnien« zu the world’s first multicultural society »durchmischt« hätten. Diese durchaus progressiv-liberal gemeinte »Durchmischung« folgte dennoch den Wissensformen einer Annahme von ethnischen Differenzen. Vgl. Haraway 1996.
9
Vgl. exemplarisch Judith Butler, »Gender is Burning: Fragen der Aneignung und Subversion«, in: dies., Körper von Gewicht, Berlin 1995, S. 163-188; bell hooks, »Is Paris Burning?«, in: dies., Black Looks. Race and Representation, Boston 1992, S. 145-156 sowie Michael Taussig, Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne, Hamburg 1997.
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Abbi1dung 1: Screenshots aus dem Musikvideo zu Black or White
Identität ist eine Frage der Fiktionen. In der Aushandlung der Figur Jackson werden Identitätsdiskurse weitergeführt, die bereits lange zuvor virulent sind und einen essentiellen Kern eines Konzepts von Identität ablehnen. Diese Identitätsdiskurse werden anhand eines sich verändernden medialen Umfelds angepasst und gleichzeitig zeigt sich, wie umkämpft das Feld der gesellschaftspolitischen Setzungen von Binarismen nach etwa männlich/weiblich, schwarz/weiß, kindlich/erwachsen, hetero-/homosexuell ist. Signifikant ist, dass die Figur Jackson gleichzeitig in einem wachsend heterogenen Feld medialer Produkte auftaucht, von Musik (inklusive Booklets und Cover) zum Musikvideo, in Berichterstattungen unterschiedlichster Formate, (Auto-)Biographien, Konzertauftritten, Gerichtsverhandlungen, Dokumentarfilmen und Fanfiktion. Ein auf der Internetplattform Youtube kursierendes Video morpht chronologisch sortierte Portraitaufnahmen Michael Jacksons vor schwarzem Hintergrund und endet mit der Schrifttafel: »If that's what's going on outside, what's going on inside?«.10 Allein die Schrifttafel und die unterlegte,
10 Youtube-User Slinktaz9, »Morphing Michael Jackson«, www.youtube.com/ watch?v=BDW1TVH78BU (zuletzt abgerufen am 01.03.2013). Das hier ausgewiesene Video steht stellvertretend für eine beachtliche Vielzahl von YoutubeClips, die die Technik des Morphing mit einer Auseinandersetzung mit der
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bassdominiert-düstere Musik lassen erahnen, dass es sich bei dem kurzen Clip für die Autorin oder den Autor um eine Inszenierung des Schreckens handelt. Und der Clip kondensiert auf simple wie brutale Weise ein Interesse an Michael Jackson, das sich an den Fragen aufhält: Was über die Identität der Person Michael Jackson ist ablesbar am Aussehen Michael Jacksons? Wer ist Michael Jackson wirklich? Der Clip fragt also nach seiner Identität auf einer persönlich/privaten Ebene. Er zieht einen Zusammenhang zwischen dem Aussehen, einer zeitlichen Veränderung und dem, was er »inside« nennt, dem Kern, einer Essenz der Person Michael Jackson. Er greift dabei mit der Technik des Morphings auf eine Technik zurück, die Jackson selbst 1991 im Musikvideo zu Black or White verwendet hatte und schließt an eine Welle von Pathologisierungen an, die Jacksons physische Veränderung zur Grundlage nehmen: »Jackson’s physical transformation has been analyzed from a medical perspective, as cultural spectators sought to map the surgeries needed to morph his features. His ever shifting skin color, hair styles, and physique have been analyzed from a psychological perspective, as the physical evidence of Jackson’s inner pathology. Both of these perspectives focus their attention on Jackson’s identity, seeking to answer questions through diagnosing his body.«11
Fragen nach Identität anhand der medialen Figur Michael Jacksons sind also an seine Erscheinung gebunden, an eine Veränderung, die eine oberflächliche wie visuelle Veränderung ist und die gekoppelt wird an eine Essenz, eine Identität. In medienwissenschaftlichen Analysen ist die Frage nach Identität und die Figur Jackson auch an Auseinandersetzungen mit eben der Technik, der sich dieser Clip bedient, gebunden; an das Morphing.
Figur Michael Jackson verknüpfen. So finden sich Videos von Menschen, die sich selbst visuell/digital mit dem Bild Jacksons verschmelzen; in anderen Videos wird Jackson mit vor allem weiblichen Popstars wie Madonna oder Lady Gaga zusammengeführt; aber auch seine Kinder, seine Schwester werden mit ihm digital verbunden. 11 Julie Ann Scott: »Cultural Anxiety Surrounding a Plastic Prodigy: A Perfomance Analysis of Michael Jackson as an Embodiment of Post-Identity Politics«, in: Christoper R. Smit (Hg.), Michael Jackson. Grasping the Spectacle, Farnham 2012, S. 167-180, hier: S. 168.
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Gegenstand ist hier vor allem ein Musikvideo, genauer: die MorphingSequenzen im Musikvideo zu Black or White. Diese sind als eine Metapher für Gleichheit umstritten. In den Analysen zentrieren sich Fragen an die mediale Figur, an Technik und, auf der diskursiven Ebene, an Differenz und die Effekte ihrer Aufhebung medialen Text. Im Folgenden sollen nun beispielhaft zunächst Lesarten des Videos zu Black or White und speziell den beiden Morphing-Sequenzen zusammengeführt werden, um anschließend herauszustellen, welche Perspektiven von Identität für die Figur Jacksons so zentral sind und in welchem Verhältnis die Frage nach Identität und Oberfläche zur Medialität stehen könnte. Black or White gilt schon auf der Ebene des Songtextes als eine Reaktion auf die Kritik, hinsichtlich eines zunehmend veränderten Aussehens der Figur Michael Jacksons im Hinblick auf Schönheitsoperationen, einem zunehmenden visuellen Weiß- und zugleich Frau-Werdens. Hier wird bereits deutlich, dass sich die mediale Figur Jackson auch in Abhängigkeit zur öffentlichen Diskussion um seine Person aktualisiert. Zum Ende des zweiten Drittels des Videoclips, in dem Michael Jackson vor unterschiedlichen filmischen Kulissen umringt von verschiedenen Gruppen, unter anderem visuell stark stereotypisierten Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Kontinente, zu sehen ist, steht ein Close Up mehrerer Personen, die über die Technik des Morphing zu einer sich wandelnden Gestalt werden und mit der Stimme Michael Jacksons in gleicher rhythmischer Bewegung mit in die Kamera gewendetem, also adressierendem Blick, den Text skandieren: »It’s black it’s white / it’s tough for you to get by.« Während Michael Jackson zuvor als Person im Bild war und visuell selbst Autor des Lied-Textes wird, ist es seine Stimme, die die hier auftauchenden Personen verbunden mit der Technik des Morphing zu einer einzigen Person, zu einer pluralen, vielgeschlechtlichen, vielethnischen Michael Jackson-Figur werden lässt, die in den Dialog mit den Rezipient_innen tritt. Es finden sich verschiedene Lesarten, die anhand des Videos und zentral auch an der kurzen ersten Morphing- Sequenz Identität, Differenz und Medialität zueinander positionieren. Diese Analysen bringen zwei Positionen zueinander, auf der einen Seite den Aspekt der Uneindeutigkeit der Aufführung der Figur Jackson, auf der anderen Seite die Frage nach der Lesbarkeit und der Bedeutung dieser Inszenierung. Die Uneindeutigkeit und die daraus resultierende Pluralität der Lesarten der medialen Figur Michael Jackson zeigen eine zeitgenössische Instabilität des Konzepts von
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Identität an, die medial einhergeht mit einem vor allem im Musikvideo sich verändernden Spiel der Zeichen.12 Ron Alcalay liest so die Technik des Morphing in direktem Zusammenhang zur Frage nach Identität und lässt das mediale Verfahren zu einer Metapher werden: »Our transforming selves emerge most smilingly when we feel a fluidity between our usually intractable selves and the others we might become. Ideologies telling us who or what we must be (and who or what others are) remain in place only so long as we adhere to their contours. But ›becoming‹ has its dangers […]. Seen this way, we might consider morphing as an analogy for the ways we identify with others – both in its utopian capacity for showing empathic being and in its more deceptive performances.«13
Die erste Morphingsequenz der miteinander verschmelzenden Gesichter wird sofort im Anschluss mittels einer Kamerafahrt gebrochen, die diegetisch das Set der eben beschriebenen Szene sichtbar macht, einen Regisseur ins Bild bringt. So erweitert sich der Rahmen der noch zu bestimmenden medialen Metapher von Gleichheit und, wie Ulrike Bergermann herausstellt, neben der Verhandlung von Identität und Gleichheit werden digitales und analoges Material im Video zueinander positioniert: »Wenn am Ende des Clips eine schwarze Frau vor der Kamera gezeigt wird, die der Regisseur fragt: How did you do that?, dann wird damit einerseits die Vielfalt des
12 »Es ist eben nicht so, wie dem Video oft allzu eilfertig nachgesagt wird, daß es die Songs nun auch noch mit einer visuellen Interpretation überzieht, die deren Wahrnehmungsweise endgültig standardisiert und selbst den letzten Spielraum für individuelle Assoziationen auslöscht. Was hier stattfindet, ist ein Recycling von Medienbildern, eine Synthese von Symbolen, verbalen, musikalischen und visuellen Stereotypen, Bruchstücken vorangegangener Medienerfahrung, die im freien Spiel der Phantasie aufeinander bezogen werden können, gerade weil ihre Verknüpfung lediglich formalen Gesetzen folgt.« Peter Wicke, »Video Killed the Radio Star. Glanz und Elend des Musikvideos«, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik (18), 1994, S. 7-14, hier: S. 12. 13 Ron Alcalay: »Morphing Out of Identity Politics: Black or White and Terminator 2«, in: Bad Subjects 19 (1995), http://bad.eserver.org/issues/1995/19/ alcalay.html (zuletzt abgerufen am 29.03.2013).
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Lebens in einer Figur zusammengezurrt, andererseits auch der alten Filmtechnik gegenüber den Special Effects aus den Computern das letzte Wort gegeben.«14
In diesem, hier als real markiertem Set, am ersten Ort der Produktion filmischer Illusion, schleicht nun ein schwarzer Panther ins Bild. In einer zweiten Morphing-Sequenz verwandelt sich dieses Tier in die Gestalt Michael Jacksons. Der Prozess der persönlichen Veränderung wird somit auf einer Ebene der Interpretation dahingehend ausgespielt, dass, über Michael Jackson als Produkt, die Pluralität/Vielfältigkeit im Rahmen der Möglichkeiten des Mediums, dargestellt werden. Identität wird als medial wandelbar abhängig von der zeitgenössischen Technik dekliniert. Auch die Panther-Sequenz ist Gegenstand von Analysen geworden. Das Tier, das fauchend aus dem Set heraus, eine Treppe herunter, auf eine einsame dunkle Straße schleicht, wandelt sich durch einen Morph in Michael Jackson. Der nun folgende Teil des Videos, der, worauf Elizabeth Chin15 hinweist, kurz nach der Veröffentlichung verändert worden ist, eine anti/rassistische Markierung bekommen hat,16 und später in der Ausstrahlung wegen seiner angeblich unmotivierten Gewaltdarstellung zumeist ganz entfällt, zeigt Michael Jackson allein auf dieser Straße. Er tanzt, allerdings ist die Musik längst verstummt. Zu hören sind lediglich artifizielle Geräusche, ein überdeutlicher diegetischer Klang von etwa Schritten, Atem, Berührungen und Wind. Die Gewalt, die der Sequenz Kritik einbrachte, ist der Höhepunkt des Tanzes Jacksons, der Auto- und Fensterscheiben einschlägt.
14 Ulrike Bergermann, »Morphing. Profile des Digitalen«, in: dies., medien//wissenschaft. Texte zu Geräten, Geschlecht, Geld. 3. Band der Schriftenreihe labor:theorie, Bremen 2006, S. 197-226, hier: S. 213. 15 Elizabeth Chin, »Michael Jackson’s Panther Dance: Double Consciousness and the Uncanny Business of Performing While Black«, in: Journal of Popular Music Studies, 23/2, 2011, S. 58-74, hier: S. 66. 16 Insgesamt existieren drei Versionen des Videos. Die ursprüngliche Version enthält keine Graffitis auf den Scheiben, die durch Jackson zerbrochen werden. Eine zweite Version beinhaltet eben diese rasstischen digitalen Graffitis, die zur Legitimation von Jacksons Zerschlagen der Scheiben, für seine Wut, eingesetzt wurden. Letztendlich allerdings kursierte vor allem eine kürzere Version des Videos, in der die Panther-Sequenz ganz entnommen wurde. Vgl. dazu: ebd., S. 70-72.
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Großaufnahmen seiner Hand in masturbativer Geste werden gezeigt, er fällt zu Boden, reißt das T-Shirt auf und seine Stimme vermischt sich mit dem Fauchen des Panthers, bevor er sich in diesen zurückverwandelt, die Straße hinunter schleicht. Der Panther/Jackson schleicht nicht einfach aus dem Bild: das Bild wird zum Fernsehbild der Fernsehfamilie The Simpsons, Michael Jackson zum Gegenstand der Unterhaltung für Bart Simpson. Wie die Morphingsequenz der verschiedenen Gesichter vom anschließenden Filmset gerahmt wurde, so erhält nun auch die zweite Morphingsequenz ihren medialen Rahmen. Auch dieser, sich selbst als medial benennende, Abschnitt wird als Aushandlung eines Identitätskonzepts gelesen: »This Michael dances a far more provocative solo routine, spatially below the rosy multiculturalism performed as a jingle. Apart from the single’s marketed lyrics, this other Michael’s body monologue reveals what lies underneath, literally and figuratively, a technologically enhanced representative equality: fear and rage.«17
Seth Clark Silberman setzt die Panther-Sequenz zum einen in direkten Kontrast zur ersten Morphing-Sequenz, teilt darin Jackson verschiedene Rollen zu und konstatiert zum anderen, dass hier etwas sichtbar oder erfahrbar wird, was, wie es das oben beschriebene Youtube-Video in Einzelbildern sucht, unter der Oberfläche liegt. Hier allerdings ist diese Wahrheit unter der Oberfläche eine politische Wahrheit, eine Wut und eine Angst, die verortet ist in der gesellschaftlichen Erfahrung schwarzer Subjekte, eine Identität liegt also zugrunde, die auf kollektiver Erfahrung beruht und sich nicht mit Fragen einer individuellen Verfasstheit oder Wahrheit beschäftigt. Diesen Aspekt führt auch Elizabeth Chin in ihrer Analyse weiter aus. Sie stellt heraus, dass es nicht willkürlich zu lesen ist, dass Jackson am Ende des Clips ausgerechnet aus dem Bild eines Panthers heraus, dem Symbol der widerständigen Black Panther Party, in seine Gestalt zurückfindet. Auch für Chin liegt in diesem Moment eine Wahrheit zugrunde, die sich abgrenzt vom übrigen »it doesn’ t matter if you’re black or white«-Teil des Videos, was konsequent nur zu lesen ist als vehementes Statement – it does matter!
17 Seth Clark Silberman: »Presenting Michael JacksonTM«, in: Social Semiotics 17/4 (2007), S. 417-440, hier: S. 430 (Hervorheb. i. Orig.).
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»The appearance of the panther comes just when the idea that we are all getting along is exposed as a production number, and the morphing is revealed to be mere technological tricks. Color blindness, too, is being called out as a technology used by society to achieve ›equality‹ or ›democracy‹. The whole message is that this ›I don’t see color‹ notion is a sham – and the real world is out there, outside that door that leads into the street. And out there on the street is all that real stuff that we simply cannot or will not talk about.«18
In Bezug auf identitätspolitische Bewegungen, für die auch die Black Panther stehen, lässt sich hier also, mit der Lesart Chins, eine Umkehrung herauslesen. Sie stellt in der gefällig affirmativen Rezeption der Gleichheit ein kollektives Moment des Vergessens und der Farbenblindheit19 heraus und lässt dadurch die Oberfläche zu einer gesellschaftlichen wie medialen Oberfläche werden, die eben nicht zur Frage nach der einen Wahrheit der Person Jacksons führt. Stattdessen wird sie zu einer Frage nach den Möglichkeiten zu sehen und zu sprechen innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses, der sich an der Aushandlung, der Figur Jackson, manifestiert, der sich vor allem in einem Unbehagen gegenüber der Uneindeutigkeit dieser Figur zeigt, die eben dadurch konstituiert ist, keine festen Rollen einzunehmen, aber auf der Position einer schwarzen Subjektivität zu beharren. Die Fragen nach Identität und Oberfläche lassen sich somit von einem außermedialen, »wahren« Michael Jackson wegbringen, hin zu der Frage nach kollektiven Aushandlungen von Identität. Im Umkehrschluss wird deutlich, dass eine Pathologisierung der Identität Jacksons, gleichzeitig weitere Auseinandersetzungen zu verhindern sucht: »Jackson’s pale smooth skin, delicate nose and mouth, wide eyes, tattooed make-up, broad cleft chin, frail form, long wig, and high voice successfully blurred identity categories. The ambiguity surrounding his performance of race, gender, and age left cultural members fixated in his motives, speculating if he was trying to become white, a woman, or regress black to childhood, refusing to allow his body to enter an ambiguous space that defied fundamental categories upon which we understand and
18 Chin 2001, S. 66. 19 Vgl. zum Konzept der Farbenblindheit die Beiträge von Anja Michaelsen und Maja Figge in diesem Band.
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interpret human beings. As we strive to prove racism is behind us, that we entered a space where color does not define our worth, that we are socially color-blind, we aggressively resist a body that erases its color and in turn, perceivably its racial identity. […] Our fixation on his form allows us to avoid confronting the vulnerability of the social categories deeply embedded in our collective histories, written into our shared cultural narratives, and reiterated across our daily performances.«20
In der prominenten Form der Auseinandersetzung mit der Figur Jacksons, in der Identität zu einer persönlichen wie privaten Eigenschaft wird, wird diese Figur enthistorisiert. Der Ruf nach einer Wahrheit, die Suche nach der Essenz eines Michael Jackson verstellt so den Blick auf eine amerikanische (Medien-) Geschichte, in der Michael Jackson zu verorten ist. Die Medialität als fortlaufendes Spiel der Zeichen und der Selbstreferentialität ist im Falle Jacksons gebunden an die Verhandlung von Identität. Schon die Analyse der beiden Morphing-Sequenzen hat diese als medial gerahmt und ausgestellt ausgewiesen. Zum Abschluss dieses Abschnittes sollen schlaglichtartig weitere Anhaltspunkte zur Verbindung der Analyse von Identität und Medialiät bei Michael Jackson stark gemacht werden. Jackson greift 1995 Black or White im Album HIStory im Song They don’t care about us erneut auf, in der Form einer Adressierung: »Don’t you black or white me!«. Es erscheinen gleich zwei Musikvideos zum Song.21 Die Prison-Version unter der Regie von Spike Lee beginnt ohne Ton mit der Großaufnahme eines Schwarzen Mädchens vor einem Gitterzaun. Sie hält die Hände vor die Augen, ein Mädchenchor skandiert hinter dem Zaun den Refrain des Liedes, die Kamera fährt außerhalb des Zauns an ihnen vorbei. Das Bild explodiert in Helligkeit mit dem Beginn des Liedes, für einen kurzen Augenblick ist ein weißer Cowboy unscharf zu erkennen, gleich darauf birst das Bild in einer Explosion hin zu Ausschnitten des Videos, das für den Prozess um den Fall Rodney Kings bekannt werden
20 Scott 2012, S. 177ff. 21 Unter der Regie von Spike Lee erscheinen gleich zwei Musikvideos zum Song They don’t care about us. Dieser Text bezieht sich auf die sogenannte PrisonVersion. Die zweite Version spielt vor allem in Straßen Brasiliens, in denen sich Michael Jackson auch in der letzten Einstellung der Prison-Version wiederfindet.
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sollte. Das Video belegt die brutale Gewalt dreier weißer Polizisten gegen den Afroamerikaner Rodney King und löste eine Welle von Unruhen gegen rassistische Gewalt aus. Weitere ikonographische Bilder von Polizeigewalt, Armut, Krieg folgen. Kurz sehen wir eine Gefängniszelle, mit Beginn des Gesangs kehrt das Video dorthin zurück, es ist Michael Jackson in der Zelle, deren Wände wie Einschlaglöcher von Monitoren gesäumt sind, auf denen die (Nachrichten-)Bilder fortgesetzt werden. Hier wird erneut deutlich, wie sehr sich die Figur Jackson in Abhängigkeit zu einer Mediengeschichte konstituiert. Er ist inszeniert als ein Einzelgänger, der gefangen und isoliert ist in einer Zelle, deren Wände einen historischen Bilderkanon der Ungerechtigkeiten bilden. Der Chor, der nun einsetzt, ist ein in blauer Häftlingskleidung uniformierter Männerchor in einem Essensraum, den Rhythmus mit Fäusten und Besteck auf die Tische schlagend. Die Nachrichtenbilder, der rhythmische Chor mit und ohne Jackson und Jackson selbst vereinzelt – mit und ohne Handschellen – in der Zelle, im Essensraum, im Schlafraum, bilden den visuellen Raum des Videos. Zum Höhepunkt des Liedes wird ein Monitor eingeschlagen, Jackson bewegt sich nun auch innerhalb der Nachrichtenbilder, die zuvor als Referenzrahmen nur außerhalb der Diegese präsent waren. Die Nachrichtenbilder vermischen sich mit den Bildern des Gefängnisses, sie finden sich als Projektionen auf den Wänden wieder. Die visuell wie narrativ getrennten Räume werden somit zerbrochen. Jackson selbst wird zum Taktgeber, wie auch zur visuell abgetrennten, weil isolierten, Figur unter den anderen Insassen. Der visuelle Konflikt der Bilder wird nicht aufgelöst, sie bleiben im Rhythmus und über die Stimme Jacksons verbunden. Jackson selbst wandert in der letzten Einstellung in das Set des zweiten Videos zum Song und entkommt, wie schon im Clip zu Black or White, auf eine Straße, die hier aber nicht nur ein Draußen markiert, sondern auch einen neuen medialen Text. Realität und Fiktion, diegetischer und nicht-diegetischer Raum werden hier, wie in anderen audiovisuellen Texten Jacksons, laufend irritiert. Eine Position für Jackson ist darin nicht fixierbar, er ist zeitlich wie örtlich fluide, und zeichnet sich durch die Möglichkeit aus, durch die Räume zu wandern, die Diegese zu zerbrechen und damit einen Zusammenhang zu schaffen. Wie die Frage nach der Identität Jacksons, so ist es auch die Ausstellung und Irritation der medialen Konstruktion, die die mediale Präsenz Jacksons im Musikvideo bestimmen.
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Als ein abschließendes nicht-digitales Beispiel zur Verhandlung von Medialität und Identität in den Texten Jacksons sei noch das zeitlich weit frühere Video zu Liberian Girl aus dem Jahr 1989 erwähnt, da auch hier die Frage nach der Medialität und nach der Produktion der Bilder mit der Frage nach der Identität Jacksons bereits verbunden ist. Das Musikvideo ist zunächst einmal eine Ansammlung von Gastauftritten von Wegbegleiter_innen Michael Jacksons, Musik- und Hollywoodstars der 80er. Die Attraktion liegt hier in der überbordenden Zusammenführung all dieser Stars in einem Video. Auf mehreren Ebenen kommentiert es jedoch auch die filmische Illusion des Musikvideos, einer Kulturindustrie im Ganzen, etwa wenn zu Beginn ein monochrom fotografierter, diegetischer Basar über eine Filmklappe in die bunte Diegese eines Filmsets überführt wird. Einer der Anwesenden fragt »Which Michael Jackson are we talking about?«, und daraus resultiert hier die Unsicherheit, die sogleich im visuellen Verweis auf zwei Figuren ausgeführt wird: ist es der weiße Jackson mit heller Haut oder ist es der Jackson, der eine Operation hinter sich hat? Wenn Whoopi Goldberg fragt, »Who is directing this?«, wird durch einen Gegenschnitt zunächst Steven Spielberg sichtbar, der scheinbare Regisseur des zu entstehenden Films. Der Plot des Videos ist die Probe zu einem Michael JacksonVideo. Erst gegen Ende wird aufgelöst, dass wir nicht die Person, sondern die Figur Steven Spielberg sehen, wie wir auch alle anderen Stars nicht als sie selbst sehen, sondern als Figuren einer von Michael Jackson inszenierten Wirklichkeit. Michael Jackson fährt hinter der Kamera auf einem Kamerakran nach unten mitten in das Set zum Video. Die Geschichte, die erzählt wird ist also eine Probe und damit wird gleichzeitig auf das Genre des Musicals verwiesen, auf die Tradition der Backstage-Erzählungen. Auch hier werden bereits die Ebenen von Fiktion und Realität irritiert und gleichzeitig wird die mediale Figur Jackson als das Zentrum der Produktion des Textes angegeben, nicht allerdings ohne zuvor auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, diesen Jackson als eine Figur festzulegen. Michael Jackson ist eine mediale Figur, die diese Medialität immer auch thematisiert. Die Selbstreferentialität der Medialität, die laufenden Verweise auf eine Mediengeschichte, sind ebenso wie die Frage nach Identität konstituierend für die audiovisuellen Produkte Jacksons. Identität ist dabei ein treibendes Moment, sie ist fortlaufend in Bewegung, ohne jemals stillzustehen. Genau dieses Spiel, das die Figur dadurch auszeichnet, keine
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festzulegende Essenz zu haben, nicht-identisch zu sein, treibt die anhaltende Beschäftigung in Texten auch außerhalb der eigenen Produkte an. In anderen Texten wird die Beschäftigung mit der Frage der Essenz, die eine Frage nach der Identität ist, weiter fortgeführt und schiebt so eine andauernde Präsenz an. Identität ist hier also nicht Substanz oder ein Essentialismus; Identität ist der diskursive Hintergrund, vor dem die Figur in ihrer Vieldeutigkeit funktioniert, festgelegt und umstritten wird.
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Abbildung 2: Giant Glove, Tim Knapen, 2007 (Video-Standbild)
Unter den verschiedenen Hinterlassenschaften Michael Jacksons wird einem Markenzeichen besondere Faszination entgegengebracht: dem Handschuh. Als Ikone führt Michael Jacksons Handschuh ein Eigenleben über
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den Tod des King of Pop hinaus: von dessen exzessiver Historisierung,22 über die ihm entgegengebrachte Verehrung als Devotionalie, bis hin zu medienkünstlerischen Auseinandersetzungen mit dem ikonischen Video seiner erstmaligen Verwendung: der Performance des Hits Billie Jean bei den Feierlichkeiten zu dem 25. Jubiläum des Plattenlabels Motown.23 Der erste Einsatz des weißen Überzugs 1983 hat spätestens mit Jacksons Tod Eingang in den Kanon der Popgeschichte gefunden: Die Performance von Billie Jean im Rahmen der Fernsehshow Motown 25 führte nicht nur den später ebenso ikonischen Moonwalk erstmalig vor, sondern auch einen weißflirrenden Handschuh an Jacksons rechter Hand, der der zeitgenössischen Popkritik dort, an der Hand eines schwarzen Popstars, der gerade erst dem Alter des Kinderstars entwachsen war, seltsam deplatziert erschien.24 Im Unterschied zu der Zeit bei den Jackson 5 hatte sich Michael Jackson, so stellte die Popkritik bereits in den 1980ern fest, sichtlich verändert – der prominente Auftritt im Anschluss an ein Jackson 5-Medley, das Michael im Kreise seiner Brüder Jackie, Marlon, Jermaine und Tito zeigte, sollte das unübersehbar machen: Der Afro, den Jackson noch auf dem Cover seines vorherigen Soloalbums Off the Wall getragen hatte, sei geglät-
22 Vgl. für das publizistische Interesse an Jacksons Handschuh exemplarisch John Kehe, »Michael Jackson’s famous glove: where it all started«, in: The Christian Science Monitor, Online-Ausgabe vom 26.06.2009, www.csmonitor.com/ USA/2009/0626/p02s19-usgn.html, sowie Gökalp Babayigit, »Der König mit dem Handschuh«, in: Süddeutsche Zeitung Online vom 17.05.2010, http://sz.de/1.601095 (beide zuletzt abgerufen am 11.02.2012). 23 Jacksons Brüder trugen bei den Trauerfeierlichkeiten nach dessen Tod einen Handschuh an einer Hand. Nach dem Tod Jacksons entwickelte sich darüber hinaus eine Symbolik, den Handschuh pars pro toto für seinen Träger zu setzen; so zierte ein Abdruck des Victory Tour-Pailettenhandschuhs eine namhafte Publikation innerhalb der Michael Jackson Studies, vgl. den Sammelband von Christopher R. Smit (Hg.), Michael Jackson. Grasping the Spectacle, Farnham 2012. 24 MOTOWN 25: YESTERDAY, TODAY, FOREVER (NBC 1983, R. Don Mischer, P. Suzanne de Passe).
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tetem Haar gewichen,25 die Nase durch kosmetische Manipulation verändert, seine Haut deutlich heller geworden. Für Jackson markierte diese Verwandlung eine Zäsur, die er jedoch als unproblematisch artikulierte. Die Live-Regie folgte dieser Einschätzung: ohne Umbaupause, ohne einen sichtbaren Schnitt, also in absoluter Kontinuität im Sinne der découpage classique geht der Auftritt der Jackson 5 über in die Performance des Solokünstlers Michael Jackson. Im Anschluss an den Abgang seiner Brüder von der Bühne – mit ihnen waren alle modischen und musikalischen Reminiszenzen an den bubblegum soul, den Motown in den 1970er prägte, verschwunden – sprach Jackson in das Mikrofon: »Those were the good old days. Those were magic moments with all my brothers […]. I like the old songs. But especially – I like – the new songs«. Ein Stichwort, auf das die ersten Takte von Billie Jean erklangen. Trotz dieser Inszenierung eines nahtlosen Übergangs – von den 1970ern in die 1980er, vom Kinderstar zum gereiften Künstler – beschrieb der Popkritiker Greil Marcus den Auftritt Jacksons im Rahmen von Motown 25 wenige Jahre später als Affront gegen die US-amerikanische Fernseh-Öffentlichkeit: »An Afro-American with surgically produced Caucasian features, androgynous, a changeling, communicating menace with the dip of a shoulder, comfort with a smile, singing a song from his new album, Thriller, stepping forward but somehow seeming to glide backward at the same time, walking the television stage not as if he owned it, not as if it was built for him, but as if his very presence had called it into being, he shocked the nation.«26
Der Auftritt im Rahmen von Motown 25 markiert also den Beginn einer Irritation von Identität, mit der die Grenzen zwischen »schwarzer« und »weißer« Popkultur verschwimmen: Billie Jean war die zweite Auskopplung des neuen Albums Albums Thriller, das wie das vorherige Off The Wall nicht beim »schwarzen« Label Motown erschienen war. Neben Billie Jean sollten auch die anderen sechs Single-Auskopplungen des neuen Albums
25 Zur kulturellen und politischen Signifikanz des Afro vgl. Silke Hackenesch, »African American Hairstyles – Zwischen politischem Widerstand und kultureller Ausdrucksform«, in: Testcard, Nr. 13 (2003), S. 26-31. 26 Greil Marcus, Lipstick Traces: A Secret History of the Twentieth Century, Cambridge, MA 1999, S. 96f.
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die Top Ten der Hot 100 erreichen und wurden so außerhalb der ethnisch markierten Hot Black Singles verkauft, mit denen das Branchenmagazin Billboard bis 1990 die Songs afroamerikanischer Künstler_innen zu einem Genre zusammenfasste. War Elvis Presley noch in den 1950ern für seine Interpretation sogenannter »race music« kritisiert worden,27 konnte Jackson dreißig Jahre später nur durch eine ebensolche Gratwanderung als dessen Thronfolger reüssieren. »[I]f Elvis is supposed to be King, what about me?«, soll Jackson seinem Biographen zufolge 1984 auf der Victory Tour seinen Protégé Don King gefragt haben. Dessen Antwort war pessimistisch: »You’re the biggest star ever, but the white man will never let you be bigger than Elvis.«28 Der erste Einsatz des weißen Handschuhs bei Motown 25 kann daher nicht nur aus Perspektive einer Popgeschichte als ikonisch gelten – denn das mit Pailletten besetzte Accessoire stand bereits Mitte der 1980er pars pro toto für das Narrativ eines kauzigen, so genannten Wacko Jacko: Diskurse um Jacksons überbordende Exzentrik, die die Figur später begleiten sollten, und die sich in anderen Inszenierungen und Selbstdarstellungen – Mundschutz, Sonnenschirm und die Sauerstoffkammer, in der er später geschlafen haben soll – schlugen sich in Verrätselungen seines Körpers und die Psychopathologisierung Jacksons als Hypochonder nieder. Wie Hendrix’ Gitarre, Elvis’ Locke oder Madonnas Korsage konnte Michael Jacksons Handschuh Höchstpreise auf einschlägigen Auktionen erzielen. Doch Michael Jacksons Handschuh übersteigt den bloßen Status einer Devotionalie innerhalb eines (zumeist weißen) Starkults, entwickelt ein diskursives Eigenleben, da er vor allem als Symbol für die Pathologie seines Trägers kennzeichnend ist. Bevor die verschiedenen Überzüge als Devotionalie gehandelt werden konnten, galt er als Kennzeichen eines
27 Vgl. dazu ausführlich Michael T. Bertrand, Race, Rock, and Elvis, Champaign 2000, vgl. für eine postmoderne Reflexion von Elvis Presleys Whiteness auch das Studioalbum Black Elvis/Lost in Space von Kool Keith, Ruffhouse/Columbia 1999, COL 4951061. 28 Zitiert nach J. Randy Taraborelli, Michael Jackson: The Magic and the Madness, New York 1992, S. 445.
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queeren Freaks, eines Soziopathen und »alabaster androgyne«,29 dessen Handschuh zugleich als Merkmal seiner Effemination wie seiner krankhaften Mysophobie gelesen wurde. Jacksons weißer Überzug ist somit mehr als das freiwillige trademark eines Stars, mehr als ein Verweis auf modernistische Eleganz. Weil der Handschuh im semantischen Feld des körperlichen Mangels zum Tragen kommt entwickelt er ein Eigenleben über den Status als Devotionalie hinaus – anders als die weißen Handschuhe Fred Astaires und mehr sogar als Buddy Hollys Brille. Spätestens seit dem Tod Jacksons im Jahr 2009 gilt der weiße Überzug als jenes Merkmal, welches den Beginn seines Weißwerdens markiert. Mit der Vermutung, Jackson habe mit dem Handschuh eine seltene Hautkrankheit kaschiert, wird Jacksons Handschuh zu einer Prothese an einem mangelhaften Körper, eine Lesart, die der pathologisierenden Lektüre von Jacksons Psyche so die eines von Krankheit gekennzeichneten Körpers hinzufügt: Jackson, so wird nach seinem Tod gewiss, habe an Vitiligo gelitten, einer als Krankheit ausgewiesenen physischen Erscheinung, die zum Pigmentverlust in der schwarzen Haut des Sängers geführt habe. Nachdem jahrelang Gerüchte um die immer hellere Komplexion Jacksons kursiert hatten – es hieß, er nutze hautaufhellende Cremes, er selbst verneinte diese Vermutung 1993 in einem Interview mit der Talkshow-Gastgeberin Oprah Winfrey – kommen diese Vermutungen mit Jacksons Tod zu einem Stillstand. Jacksons Weißwerden wird nun endgültig zu einer Pathologie, die letztlich zu seinem Tod geführt habe; Jacksons im Laufe der 1980er immer heller werdende Haut wird so diskursiv als ein Symptom der Vitiligo fixiert, sein Weißwerden zu einem pathologischen Effekt eines zum Identitätsverlust führenden Makels, welcher einen schwarzen Körper heimsucht: Jackson war am 25.06.2009 in seinem Anwesen leblos aufgefunden worden und wurde wenig später für tot erklärt. Bereits der Autopsiebericht vom selben Tag stellte nüchtern fest: »The decedent suffered from vitiligo.«30 Im Rahmen der Nachberichterstattung zu den Umständen von Jacksons Tod kommt auch Cicely Tyson zu Wort, eine Bekannte Jacksons. Sie vermutet
29 Richard Goldstein, »I Believe I Can Open My Fly«, in: The Village Voice, January 14-20, 2004, nach: www.villagevoice.com/2004-01-06/news/i-believei-can-open-my-fly (zuletzt abgerufen am 11.02.2012). 30 Autopsiebericht Michael Jacksons, County of Los Angeles, Department of Coroner Investigator’s Narrative, Case No. 04415, vom 25.06.2009.
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die Motivation für Jacksons Handschuh in dessen Weißfleckenkrankheit, einer körperlichen Verfasstheit, die die ›black heritage‹ auf die Michael Jackson so stolz gewesen sei, zeit seines Lebens bedroht habe: »Michael was beginning to develop the vitiligo and it started on his hand. The glove was to cover the vitiligo; that’s how that glove came into being.«31 Der Handschuh wird so zu einem Merkmal einer identitären Krise, die als körperliches Stigma ihren Anfang nimmt: Er steht nicht länger für Jacksons Sozio- und Mysophobien, sondern für den Beginn einer zu maskierenden Identitätskrise, eines physiologisch-pathologischen Weißwerdens, das von Jacksons Hautoberfläche auf sein Innenleben zurückgewirkt habe. Die Pathologisierung Jacksons wird so zu einer Rede von einer nichtidentischen Identität: War der Handschuh als trademark eines modernen Stars angelegt, und hätte sein Einsatz bei PR-Auftritten als überspitzter Spleen eines Soziophobikers gelten können, der keine Hände schütteln mag, wird der weiße Handschuh des Auftritts von Motown 25 nach Jacksons Tod zu einem Objekt taktischer Verschleierung, einer, welche die Grenze zwischen weißer und schwarzer Haut zugleich markiert und maskiert. Nach dem Tode Jacksons kommen dessen Zeichenspiele zu einem Stillstand, sein Infragestellen von Identität, sein Aufruf zu einer hybridisierenden Lesart seines Körpers: »I am not going to spend my life being a color«32 gerinnt zur Pathologie einer nichtidentischen Identität: das Weißwerden des schwarzen Körpers verhindert das Ausagieren einer vermeintlich »wahrhaftigen«, essentiellen schwarzen Identität. Mit diesen posthumen Vermutungen um Jacksons Vitiligo, wird der Handschuh zum Anlass eines Othering, welches die Haut des weißen Afroamerikaners doppelt stigmatisiert, indem die Haut als Merkmal rassifizierter Identität gekennzeichnet und deren Verlust als »Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist«33 pathologisiert ist. Charles Martin hat auf diese Rolle der weißen-schwarzen Haut für die Stabilität post-/kolonialer Gesellschaften hingewiesen: Die Kennzeichnung Jacksons als Freak steht laut Martin in direktem historischen Zusammen-
31 Cicely Tyson, zitiert nach Doug Gross, »Actress: Michael Jackson’s glove was to hide skin problem«, CNN-Online, edition.cnn.com/2009/SHOWBIZ/07/ 09/michael.jackson.glove/index.html (zuletzt abgerufen am 01.03.2013). 32 Michael Jackson, Black Or White (Dangerous, Epic 1991, EK-45400). 33 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 129.
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hang mit der Diskursgeschichte der Freakshows, etwa denen P.T. Barnums, der ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann, in seinem Kuriositätenkabinett uneindeutige Figuren wie »Siamesische Zwillinge« (zwei Menschen in einem Körper), zwischen Fischen und Menschen verortete »Meerjungfrauen« und eben »white Negroes« auszustellen.34 Die Faszination an der weißgewordenen, doch immer noch schwarzen Haut Michael Jacksons lässt sich damit als Phänomen einer post-/kolonialen Mimikry deuten, die das andere einverleibt, ohne es jedoch als gleich anzuerkennen: »[The] first sighting of white skin on a black body sets in motion a scene of narcissistic colonialist desire for whiteness that will repeat and reproduce: the hybrid figure of the ›white Negro‹, the translated body as colonial insignia, colonized by whiteness, transforming yet never transformed.«35
Michael Jacksons Handschuh ist Kreuzungspunkt einer durch Hautfarbe markierten, rassifizierten Identität und einer »ethnicity without race«,36 welche den Einsatz (zumeist weißer) Handschuhe innerhalb einer Kulturgeschichte der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie kennzeichnet: einerseits verweist der Handschuh Jacksons auf andere Träger_innen und damit auf eine Kulturgeschichte US-amerikanischen Entertainments – von den Stars früherer blackface-Interpretationen etwa eines Bert Williams oder George Walker, über die Stereotypen früher Cartoons37 bis hin zu Mickey Mouse.38 In dieser Kulturgeschichte sind weiße Handschuhe Kennzeichen
34 Vgl. Charles D. Martin, The White African American Body, New Brunswick 2002, S. 1ff. sowie Margo Jefferson, »Freaks«, in: Christopher R. Smit (Hg.), Michael Jackson. Grasping the Spectacle, Farnham 2012, S. 11-22. 35 Martin 2002, S. 6. 36 Vgl. Michael Rogin, Blackface, White Noise: Jewish Immigrants in the Hollywood Melting Pot, Berkeley 1996, S. 26. 37 Spike Lees Farce BAMBOOZLED (USA 2000) enthält eine längere Sequenz, in der zahlreiche historische blackface-Beispiele montiert sind; u.a. Einstellungen aus SCRUB ME MAMA WITH A BOOGIE BEAT (USA 1941, R. Walter Lantz), in der der Übergang von blackface zum Cartoon der 1930er und 1940er besonders augenfällig wird. 38 Vgl. zu einer post-/kolonialen Lesart einer noch älteren Kulturgeschichte des Handschuhs Peter Stallybrass, Ann Rosalind Jones, »Fetishizing the Glove in
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einer als weiß kodierten Eleganz oder, im Falle des blackface, deren lächerliche, ähnliche, aber nichtidentische Kopie ausgewiesen. Andererseits kennzeichnet Jacksons Handschuh die Maskerade jenes Freaks, der (aufgrund kosmetischer Eingriffe, aufgrund einer Pigmentstörung oder einer Kombination aus beidem) weiß wurde, ohne jedoch eine »wahrhaftige« Manipulation seiner Identität vornehmen zu können. War Michael Jacksons weißer Handschuh zunächst eine Ikone, die auf vielschichtige Weise auf die Versatzstücke einer von rassifizierten Unterschieden durchdrungenen US-amerikanischen Popkultur verwies und – legt man Jackson als politischen Entertainer aus – ihn als einen Grenzgänger eines »epidermischen Rassenschemas«,39 zwischen black or white und postmodernen Kommentator der Geschichte schwarzen Entertainments auswies, gerät der Handschuh spätestens mit seinem Tod zum Merkmal einer uneindeutigen Eindeutigkeit, in der der Körper Jacksons zu einem pathologischen, von Vitiligo gekennzeichneten, in einen geweißten, aber dennoch essentiell schwarzen Körper umgedeutet wird. Mit der Pathologisierung Jacksons nach dessen frühem Tod gerät der Handschuh endgültig in den Verdacht einer Maskerade, die den pigmentlosen schwarzen Körper vor dem klassifizierenden Blick des schwarzen wie weißen Publikums beschützen soll. Die Hand, und somit die Haut Jacksons wird mit dem weißen Überzug zugleich unsichtbar wie übersichtbar, die rassifizierte Differenz Jacksons zugleich verborgen wie ausgestellt, wenn der Handschuh auf die rassifizierte Differenz, auf das fast, aber doch nicht ganz Dasselbe, auf eben jene Haut ihres Trägers verweist, die er eigentlich verdecken soll. Jacksons postmodernes Spiel mit den Versatzstücken einer weißen, hegemonialen (Pop-)Kultur wird so konfrontiert mit einer unhintergehbaren Ordnung auf Grundlage rassifizierter Merkmale, in der Ähnlich-Sein möglich ist, aber Identisch-Sein (im Sinne von Gleichheit) verhindert wird.
Renaissance Europe«, in: Critical Inquiry, Vol. 28, No. 1, 2001, S. 114-132: »Gloves […] not only materialized status, ›gentling‹, the hand of the gentry, but also functioned as what [William] Pietz calls ›external organs of the body‹, organs that could be transferred from beloved to lover, from monarch to subject, from master to servant. They thus materialized the power of people to be condensed and absorbed into things and of things to become persons.« (S. 116). 39 Vgl. Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, New York 2008, S. 88ff.
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S CHLUSS An Michael Jackson zeigt sich besonders, dass von einer essentiellen (geschlechtlichen, ethnischen oder sonstigen) Identität nicht mehr die Rede sein kann, als dass es sich bei seinen Irritation von Kategorien wie Schwarz und Weiß, Mann und Frau, Kind und Erwachsener, Homo-, Hetero- oder Asexualität, um aufgeführte Identitäten handelt. Es ist eine instabile und zugleich performierte Idee eines Konzepts von Identität, mit deren Variation Jackson immer auch auf die jeweiligen Diskurse um seine somatischen Veränderungen reagierte. Insofern ist die Figur Jackson Austragungsort jener Diskurse, an denen sich der aufgeführte Körper mit Identitätspolitiken kreuzt: »Jackson’s body defied definition: he was sexless as he interpreted the roles of both man and woman; […] and likewise Jackson defied race as he was neither black nor white, paradoxically because he was both black and white. […] [H]e sculpted his identity into and around these narratives creating a body that put in question his markings within […] a society where identity is singular, or, at the most, hyphenated. […] Was Jackson black or white, man or woman, gay or straight? Questions that elide how Jackson’s somatic and performative lives broke down these very barriers by eluding them and by reinventing his race, gender, sex and arguably his humanity.«40
Die gesellschaftlichen Anrufungen nach Eindeutigkeit, auf die Michael Jackson als Subjekt zu antworten hätte, finden sich wieder in den Pathologisierungen um seinen Körper und in der Frage nach eben einer Wahrheit, einer Essenz, einer Identität. Eine solche Pathologisierungsstrategie entlarvt sich selbst als unhistorisch. Dagegen besteht die Inszenierung Jacksons gerade in ihrer Geschichtlichkeit, im Spiel der Zeichen, welches nicht willkürlich ist. Das Spiel der Zeichen konstituiert, wie wir gezeigt haben, die Figur als eine immer schon mediengeschichtliche. Hier wird ein hegemonialer Diskurs sichtbar, der auch medialen Figuren einen Sinn erst dort zugesteht, wo sie eine identitäre Schließung aufweisen.
40 Julian Vigo, »Michael Jackson and the Myth of Race and Gender«, in: Christopher R. Smit (Hg.), Michael Jackson. Grasping the Spectacle, Farnham 2012, S. 23-38, hier: S. 24f., Hervorheb. i. Orig.
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»Precisely because identities are constructed within, not outside, discourse, we need to understand them as produced in specific historical and institutional sites within specific discursive formations and practices, by specific enunciative strategies. Moreover, they emerge within the play of specific modalities of power, and thus are more the product of the marking of difference and exclusion, than they are the sign of an identical, naturally-constituted unity - an ›identity‹ in its traditional meaning (that is, an all-inclusive sameness, seamless, without internal differentiation).«41
Michael Jackson kann als Figur gelesen werden, die fixe Identitätskategorien in Frage stellt, unterläuft und damit gleichzeitig ausstellt und un-/sichtbar werden lässt. Die Zeichen, die die Figur kennzeichnen, sind dabei allerdings genau zu betrachten und historisch zu verorten. Erst dann können Fragen an die Figur gestellt werden, die darüber hinausgehen, eine Essenz herauszulesen: Fragen nach dem performativen Mehr, das diese Figur medial erzeugt.
L ITERATUR Alcalay, Ron: »Morphing Out of Identity Politics: Black or White and Terminator 2«, in: Bad Subjects 19 (1995), http://bad.eserver.org/ issues/1995/19/alcalay.html (zuletzt abgerufen am 29.03.2013). Babayigit, Gökalp: »Der König mit dem Handschuh«, in: Süddeutsche Zeitung Online vom 17.05.2010, http://sz.de/1.601095 (zuletzt abgerufen am 11.02.2012). Bhabha, Homi K: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Baldwin, James: »Here Be Dragons«, in: ders., The Price of the Ticket. Collected Non-Fiction 1948-1985, New York 1985, S. 677-690. Baudrillard, Jean: »Transsexuality«, in: ders., The Transparency of Evil. Essays on Extreme Phenomena, New York, London 1993, S. 20-25. Bergermann, Ulrike: »Morphing. Pfeile des Digitalen«, in: dies., medien//wissenschaft. Texte zu Geräten, Geschlecht, Geld. 3. Band der Schriftenreihe labor:theorie, Bremen 2006. S. 197-226. Bertrand, Michael T.: Race, Rock, and Elvis, Champaign 2000.
41 Stuart Hall, »Introduction: Who needs identity?« In: ders., Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London/ Thousand Oaks/ New Delhi 1996, S. 4.
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F ILM
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V IDEO
BAMBOOZLED (USA 2000, R. Spike Lee) BLACK OR WHITE (USA 1991, R. John Landis) LIBERIAN GIRL (USA 1989, R. James Yukich) MOTOWN 25: YESTERDAY, TODAY, FOREVER (USA 1983, Fernsehproduktion, NBC; R. Don Mischer, P. Suzanne de Passe) SCRUB ME MAMA WITH A BOOGIE BEAT (USA 1941, R. Walter Lantz) THEY DON’T CARE ABOUT US (USA 1996, R. Spike Lee)
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ABBILDUNGEN Abb. 1: Video-Standbilder aus dem Musikvideo zu Black or White (USA 1991, R. John Landis) Abb. 2: Giant Glove, Tim Knapen, 2007 (Video-Standbild). Aus dem White Glove Tracking Project, Evan Roth, Ben Engebrecht. Rhizome/Eyebeam 2007
Zurückbleiben
Freunde verraten Prinzipien einer Kehre A NDREA S ICK
Heute wird Freundschaft zur Selbstjustierung verfolgt. Diese Sichtweise drängt sich insbesondere auf, nehmen wir die Prozesse in den sozialen Netzwerken ins Visier. Freundschaft wird zum Zeichen für Aufmerksamkeit und die Zahl der Freunde zum Hinweis für ein erfolgreiches s/Selbst publiziert. Im Folgenden sollen die Prinzipien dieses Mechanismus als eine »Kehre« vorgestellt werden: ich nenne ihn die »Politiken der Freundschaft«.1 Ausgangspunkt für die Darstellung solcher Politiken ist die Frage, auf welche Art und Weise ihr Funktionieren maßgeblich von einem »Verraten«2 abhängt, welches heute zum wichtigen Faktor eines sich dynamisch entwickelnden Netzwerks zu werden scheint, und somit Voraussetzungen für die fortwährende Formierung von Identitäten im Netz (OnlineIdentitäten) bildet. Die sich bei der Suche nach Antworten offenbarenden Effekte führen kontinuierlich in sich gedrehte Schleifenbewegungen vor. Denn die Selbstjustierung dieser Identitäten wird sich als in sich selbst gewendeter Vorgang zeigen.
1
Vgl. Jacques Derrida: Politik und Freundschaft. Frankfurt a. M. 2002; Martin
2
Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Version eines bereits veröffentlich-
Heidegger: Die Kehre, zwei Aufsätze [1962], Stuttgart 2007, S. 37–47. ten Beitrags: »… denn Freunde sind Verräter!«, in: Claudia Reiche/Andrea Sick (Hg.), Was ist Verrat, Bremen 2012, S. 39-51.
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N ETZWERKEN Freunde werden im Zeitalter des Web 2.0 gesammelt, gemappt und sortiert. Zeichen der Freundschaft werden kreiert. Zufällige Gefolgschaften – bei Twitter auch Verfolger (Follower) genannt – werden addiert, hierarchisiert und kommentiert und die generierte gezählte Aufmerksamkeit steuert auch die zukünftigen Freundschaftseffekte. Ein Zusammenspiel, welches dem auditiven Cocktailpartyeffekt gleicht.
Abbildung 1: Gesprächssituation von zwei Menschen, die sich inmitten anderer sprechender Menschen befinden.
Abbildung 2: Schallquelle in halliger Umgebung.
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Mit dem Begriff Cocktailpartyeffekt wird die Fähigkeit des menschlichen Gehörs gekennzeichnet, sich auf die Signale einer Schallquelle zu konzentrieren, wenn mehrere Schallquellen gleichzeitig aktiv sind und sich überlagern. So ist ein Mensch auf einer Cocktailparty, wo viele Menschen gleichzeitig reden, grundsätzlich in der Lage, sich auf nur einen Sprecher zu konzentrieren und alle anderen nicht wahrzunehmen. Wer etwas überhört, hat aber nicht unbedingt schlechte Ohren. Akustische Signale können unserer Aufmerksamkeit entgehen, obwohl der Hörnerv sie an das Gehirn weitergeleitet hat, – so stellt ein neurologisches Forscherteam in Heidelberg heraus. Denn dort werden sie offenbar maskiert, wenn zu viele Informationen gleichzeitig eintreffen. Dann gehen ursprünglich vom Gehirn messbar registrierte Meldungen in der Informationsverarbeitung verloren. Dieser neuronal erklärbare Mechanismus der Informationsmaskierung wird als Cocktailpartyeffekt bezeichnet.3 Vergleicht man den persönlichen Höreindruck mit Mikrofonaufnahmen in Cocktailparty-Situationen, so erscheinen die Mikrofonaufnahmen viel stärker durch Störquellen (andere Sprecher) beeinflusst als der direkte Höreindruck. Durch den Cocktailpartyeffekt erzielt das Gehör einen Gewinn an Signal-Störabstand von 9 bis 15 dB. Das heißt, die bevorzugte Schallquelle wird mit Hilfe des Cocktailpartyeffekts ca. 2 bis 3-mal lauter wahrgenommen. Übertragen auf die Freundschaftsgenerierung in den sozialen Netzwerken heißt das, es werden einzelne Freundschaften mehr gepflegt als andere, finden mehr Zustimmung als andere, werden mehr weitergeleitet als andere, finden wiederum mehr Gefolgschaften als andere. Viele Chats, Soziale Plattformen, Online-Spiele und Blogs werden gleichzeitig besucht, dennoch wird selektiert, werden Gefolg- und Freundschaften ausgewählt, händisch oder automatisch. Es findet eine Selektion statt, die man als Filtern beschreiben kann. Zurück zum Cocktailpartyeffekt: Es geht also um ein Hören, dem ein Horchen beiwohnt, ein »das Ohr leihen«, ein »Ohren spitzen« in eine Richtung, wie ein Richtmikrophon, wenn viele Möglichkeiten vorhanden sind.4
3
»Was steckt hinter dem Cocktail-Party-Effekt?«, http://www.klinikum.uniheidelberg.de/ShowSingleNews.176.0.html?&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news] =3830 (zuletzt abgerufen am 15.02.2013).
4
Vgl. auch Luc Nancy: Zum Gehör [2002], aus dem Französischen von Esther von Osten, Berlin 2010, S. 12.
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Auf Grund der diesem Cocktailpartyeffekt vergleichbaren Netzwerkprozesse, die zugleich Anzahl und Selektion in den Vordergrund stellen, ist es nicht verwunderlich, dass die Verfolger- oder Freundeslisten – ähnlich wie auch andere IP- oder Adresslisten – verkauft und versteigert werden. Mal direkt, was eigentlich nicht erlaubt ist, und mal auf Umwegen. Allerdings wird z.B. in der Zeitschrift PC-Welt schon 2010 herausgestellt, dass die Verfolger oder Freunde heute fast nichts mehr wert sind. »So liegt der Preis für einen Twitter-Follower inzwischen bei unter einem US-Penny, während 2009 durchschnittlich 25 Penny dafür bezahlt werden mussten.«5 All diese Gefolg- und Freundschaften werden auf unterschiedlichen Wegen erzeugt und sind wiederum auf Karten visualisier- und verortbar. Bei Twittervision werden Daten aus Googlemaps und Twitter quasi in Echtzeit exemplarisch für eine weltweite Übersicht zusammengefügt. Die Freunde und Freundschaften werden auf unterschiedlichsten thematischen Karten verortet, die verschiedene Relationen sichtbar machen: Standorte, Häufigkeiten der Kontaktaufnahme, Freundschaftsrankings, Aktualität etc. In all diesen Publikationen der Freundschaft mit ihren immer wiederkehrenden Mitteilungen findet ein endloses Zählen und Ranken sowie ein Berichten und Erzählen statt. Diese Verfahren können als Teil einer inflationären Kommunikationsstruktur beschrieben werden, die geradezu Filtertechniken herausfordert. Entscheidend für die Argumentation dieses Beitrags ist: Die Anzahl bestimmt den Traffic, die Aufmerksamkeit, die Marketingeffekte und die Selbstjustierung im Netz. Das heißt: Nicht so sehr das, was publiziert wird, sondern die Verbindungen im Netzwerk sind wichtiger Bestandteil der Selbstvermarktung und der Selbstvergewisserung. Man wählt aus – filtert – und zielt darauf ab ausgewählt zu werden – gefiltert zu werden. Zählen und Selektieren können somit als die grundlegenden Mechanismen der Praxis des Netzwerkens herausgestellt werden, welches kurz- und längerfristige Identitäten bildet.
5
»Twitter-Follower
sind
nichts
mehr
wert«,
http://www.pcwelt.de/news/
Gekaufte-Freunde-Twitter-Follower-sind-nichts-mehr-wert-441002.html letzt abgerufen am 16.02.2013).
(zu-
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Freunde zu haben, heißt zumeist, Verfolger zu haben, die die gleichen Interessen bekunden und die publizierten Ansichten und Meinungen bestätigen. Die Freundschaft war bei Montaigne, der seinen Essay über die Freundschaft schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert verfasste, noch die eigentliche Erfüllung des Ideals der Gesellschaft: »[A]lle anderen Beweggründe für menschliche Bindungen, sexuelle Anziehung, Vorteil, Notwendigkeit für die Gruppe sind weniger schön und uneigennützig.«6 Montaigne geht dabei von Worten aus, die Aristoteles in den Mund gelegt werden: »Liebe Freunde, ach es gibt keinen Freund.«7 In diesem zweigeteilten Satz, der mit einem Komma auseinanderklafft, wird einerseits die Zahl, die vielen Freunde angesprochen (liebe Freunde) und andererseits aber auch die Seltenheit oder gar Unmöglichkeit von Freundschaft (kein Freund). Es geht also darum, anhand dieses Satzes auf die zwei Arten von Freundschaft, die auch Cicero beschrieben hat, hinzuweisen.8 Die »wahren und vollkommenen« und die »gewöhnlichen und mittelmäßigen« Freunde. Derrida stellt im ersten Kapitel seines Essays zur »Politik der Freundschaft« heraus, dass hier eine arithmetische Anmerkung auf den Plan gerufen wird. »Wieviele Freunde? Wieviele sind wir? Im Hinblick auf die Anzahl derer, die man nennt und zitiert, aufzählt, anführt [...] spricht diese Anmerkung von der Seltenheit oder der geringen Zahl. Wir werden es keinen Augenblick vergessen. Sind die Freunde selten.«9
6
Michel de Montaigne: »Über die Freundschaft«, in: ders., Die Essais. Stuttgart 1984, S. 101.
7
Montaigne, S. 105 vgl. Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt/M.
8
»Aber ich will jetzt nicht von alltäglicher oder unvollkommener Freundschaft
2002, S. 17: »O meine Freunde, es gibt keinen Freund.« (de vulgari aut medicori) sprechen, obwohl auch sie schon Freude und Nutzen spendet, sondern von der wahren, vollkommenen Freundschaft (sed de vera et perfecta loquor), wie sie nur wenige pflegten, die man aufführen kann (qualis eorum, qui pauci nominatur).« Cicero: Laelius de Amicitia. Hans Färber, Max Faltner (Hg.), München 1961, zitiert nach Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 19. 9
Derrida, Politik der Freundschaft, S. 19.
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In Montaignes Essay, der sich mitunter als Lobgesang auf die so genannte »wahre« Freundschaft liest, zeigt sich auch, was Aristoteles schon über die Freundschaft sagte: sie braucht Zeit. Und insofern ist die Zahl derer, mit denen wir Freundschaft schließen von vornherein begrenzt. »Man muß mit jemanden erst einen ganzen Scheffel Salz gegessen haben, bevor man ihm ein [...] Vertrauen entgegen bringen kann.«10 Montaigne vertieft den Prozess der »wahren Freundschaft«, indem er zeigt, es geht neben der Zeit auch um die »vollständige[n] Verschmelzung der zwei Seelen miteinander, [...] daß an dem Punkt an dem sie sich treffen, keine Naht mehr zu entdecken ist. Die Zweiheit ist verschwunden [...] Weil er es war. Weil ich es war.«11 Diese Freundschaft, wäre nichts anderes als »mich selbst als Exemplar zu zitieren«, sagt Derrida und zeigt, dass dies in Anlehnung an das ciceronische Freundschaftskonzept dem Selben und dem Doppelgänger den Vorzug erteilt.12 Der, der den einen Freund hat, ebenso wie der Verräter glauben stolz an sich selbst. Der, der die Freundschaft bekundet – und nach Derrida muss ihr Akt (Handlung und Passion), das Lieben, gewusst und kundgetan (publiziert) werden, um Freundschaft zu stiften13 – setzt hier eindeutig auf die Brüderlichkeit und schließt somit an Traditionen einer Männlichkeit an, wie es auch der junge Kämpfer, der Verräter, von André Gorz vollzogen hat, indem er sich als Held der Freiheit vorstellt.14
10 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 45. 11 Montaigne, Über die Freundschaft, S. 103. 12 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 22. 13 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 29. Hier auch bezogen auf das Lieben in der Freundschaft. 14 Auch Derrida zeigt, dass das Modell dieser Freundespaare stets Männer sind, bei all den Zitaten von Zitaten die davon sprechen. Derrida, Politik der Freundschaft, S. 116. Vgl. André Gorz: Der Verräter, Zürich 2008. Zur Brüderschaft und Freundschaft: »Nach deutschem Sprachsinn (wie in vielen anderen Sprachen) ist ›Freund‹ ursprünglich nur der Sippengenosse, Freund ist also ursprünglich nur der Blutsfreund oder der durch Heirat, Schwurbrüderschaft [...] ›verwandt gemachte‹«. Carl Schmitt, in: Derrida, Politik der Freundschaft, S. 190. Ein weiterer Text ist noch zu schreiben, der fragt, was wäre, wenn wir Freundinnen zählen würden. Könnten sie auch als Modell eines Konzeptes fungieren,
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In den aktuellen Sozialen Netzwerken und Mikroblogs ersetzt der Traffic die uneigennützigen Vorteile der Freundschaft, die Zeit braucht und das von Montaigne beschworene »Ideal für eine Gesellschaft« verkörpern. Es geht also auch hier um den Teil des aristotelischen Satzes, der die arithmetische Anmerkung hervorgerufen hat: Wieviele Freunde? Auf alle Fälle sind die Freunde hier keine Seltenheit und sollen dies auch gar nicht sein. Gerade dann, wenn es verifizierte und gefälschte Freunde zu geben scheint, sie allesamt aber als Traffic gezählt werden. Wohl ein Grund warum die gedruckte Zeitung »Welt Kompakt«15, die gelernte Onlineverhaltensweisen letztes Jahr aufgreift und auf die Zweigeteiltheit des zitierten aristotelischen Satzes baut und eine Kampagne initiiert mit dem Titel: »Wir haben online so viele Freunde, dass wir ein neues Wort für die echten brauchen.«16 Bebildert wird diese Einschätzung mit den teletubbiegleichen Sony Angel Kewpie Dolls, dem wiederkehrenden Motiv der Kampagne.17 Aber was wären denn dann diese ›echten‹ Freunde? Die, die nicht in einer Intimität, die als Tausch funktioniert, agieren? Die, mit denen wir viel Zeit verbringen? Die, die Geheimnisse nur dem einen ›idealen‹ Freund mitteilen, der das zitierte Exemplar unserer selbst zu sein scheint? Wären es all diese ausgewiesenen Doppelgänger? Denn: »Wer sein Auge auf einen Freund gerichtet hält, schaut gleichsam auf ein Vorbild seiner selbst (tamquam exemplar aliqoud intuetur sui)«18? Oder wären die wahren
was eine Verbindung stiftet, die der Politik der Freundschaft etwas entgegensetzt? 15 Seit 24.05.2004 eine kompakte gedruckte Ausgabe der Welt. 16 Welt
Kompakt-Kampagne
vgl.
http://www.flickr.com/photos/gillyberlin/
4109556165/, zuletzt gesehen am 15.02.2013; Welt Kompakt lässt die Puppen tanzen: http://www.youtube.com/watch?v=aZKu7mbVqRo (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). 17 Weitere bebilderte Kampagnesätze: »wir checken emails und telefonieren dabei mit Mama«, »wir melden unsere Lieblinge bei facebook an«, vgl. alle Poster der Kampagne: www.axelspringer.de/presse/-Sind-wir-reif-fuer-eine-neue-ZeitungWELT-KOMPAKT-startet-bundesweite-Kampagne_973199.html (zuletzt abgerufen 15.02.2013). 18 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 22.
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Freunde nicht auch die Gefolgschaften, da sie als Doppelgänger zur kontinuierlichen Bestätigung unserer selbst dienen? Denn sie sind ebenfalls diejenigen, die in kontinuierlicher Zitation eine Selbstjustierung vorantreiben. Ein fortwährender Verrat ist als Praxis einer solchen kontinuierlichen Zitation im Netz zu beschreiben, welche die durch Freundschaften bedingte Selbstvergewisserung bedeutet. Hieraus ergibt sich die Frage: Sind Freunde Verräter?
V ERRAT
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V ERRÄTER
Im Anschluss an André Gorz’ Konzept vom Verräter und auch anhand Walter Benjamins Konzept des destruktiven Charakters möchte ich zunächst fragen, inwiefern das Ausplaudern in den sozialen Netzwerken überhaupt als Verrat zu bezeichnen ist. Verrat (von althochdeutsch farratan) heißt eigentlich »zu jemandes Verderben raten, einen Entschluss zu jemandes Verderben fassen«19 und benennt zunächst im engeren Sinne ein so genanntes treuloses Handeln, eine Preisgabe, eine schonungslose Mitteilung von Geheimnissen. Man kann also auch gedankenloses, unbegrenztes Mitteilen von Geheimnissen, Belanglosigkeiten und Intimitäten, wie es in den sozialen Netzwerken praktiziert wird, mit den Praktiken des Verrats gleichsetzen. Die Figur des zugehörigen Verräters handelt insofern gegenüber moralischen Prinzipen, Geheimnissen und Versprechen treulos. Für Gorz ist der Verräter, den er in seinem vor 40 Jahren publizierten Essay »Über das Altern«20, charakterisiert, zunächst jung und ungebunden. Jung zu sein, heißt, so schreibt er auch in der autobiografischen Schrift »Der Verräter«21, keine Interessen wahren zu müssen. Das heißt, sich keiner Loyalität gegenüber Anderen verpflichtet zu fühlen. Was auch bedeutet, nicht anzustreben, in das familiäre sowie gesellschaftliche System integriert zu sein: »[Jungsein] heißt weder Eigentum noch Erworbenes noch Interessen wahren zu müssen – denn solltest du welche haben, dann bist du ein
19 Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch, bearbeitet von Elmar Seebold, 24. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin, New York 2002. 20 Der Essay »Über das Altern« ist als Epilog zu der Neuauflage seines Buches »Der Verräter« von 2008 nun auch in Deutsch zu lesen. 21 Gorz, Der Verräter.
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frühzeitiger Alter, Erbe oder Nachfolger [...]«22, der zum Beispiel sagt: »Allen geht es so, da muss man eben durch, will man nicht beim Betrachten des blauen Himmels verhungern.«23 Im Anschluss an Gorz glaubt der Verräter stets daran, jederzeit alles über Bord werfen zu können und so handelt er notwendigerweise stets siegreich.24 Verrat ist somit Revolte. Indem dieser Verräter jederzeit neu beginnen kann25, kann er Geheimnisse – eigene oder fremde – nicht nur ausplaudern sondern auch vergessen. Immer wieder ganz neu beginnend, kann er, der keine Selbstjustierung und auch keine Selbstvergewisserung benötigt, das Vergessen trainieren und so die »ewige Jugend« praktizieren. Verraten heißt für diesen Verräter erzählen, vereinfachen und destruieren und vergessen. Er erlaubt sich Identitäten zu zerstören und neu zu bilden. Ewig jung, fängt er immer von vorne an. Auch Walter Benjamin schreibt schon in den 1930er Jahren in der Schrift »Der destruktive Charakter« davon, dass auch dieser jung sei: »Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Radizierung seines eignen Zustands bedeutet. Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. […] Das ist ein Anblick, der dem destruktiven Charakter ein Schauspiel tiefster Harmonie verschafft [...]. Der destruktive Charakter ist gar nicht daran interessiert, verstanden zu werden. Bemühungen in dieser Richtung betrachtet er als oberflächlich.«26
Benjamin hebt für den destruktiven Charakter weiter hervor: »Das Missverstandenwerden kann ihm nichts anhaben. Im Gegenteil, er fordert es heraus, wie die Orakel, diese destruktiven Staatseinrichtungen, es
22 Gorz, Über das Altern, S. 381. 23 Gorz, Der Verräter, S. 86. 24 Auszüge aus der manifesthaften Ausschreibung 2009/2010 des thealit Frauen.Kultur.Labor. von Claudia Reiche und Andrea Sick, www.thealit.de/lab/ verrat (zuletzt abgerufen 15.02.2013). 25 Gorz, Über das Altern, S. 376. 26 Walter Benjamin: Der destruktive Charakter, in: ders., Illuminationen, Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/M. 1972, S. 289, S. 290.
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herausgefordert haben. Das kleinbürgerlichste aller Phänomene, der Klatsch kommt nur zustande, weil die Leute nicht missverstanden werden wollen.«27 Aber ist nun dieser treulose Verräter, der schonungslos alles sagt, was es zu sagen gibt oder der destruktive Charakter, der gar nicht verstanden werden will, und somit Identität eher irritiert und zerstört als bestätigt, tatsächlich vergleichbar mit dem Netzwerkenden des Web 2.0, der alles ausplaudert, was Freundschaft und Traffic stiften kann? Sind die beiden Figuren nicht auch grundsätzlich verschieden, obwohl sie sich einig sind im Vereinfachen, zensurlosen Erzählen und im Destruieren? Könnte man wirklich meinen, unsere Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit ihrer Medialisierung des Alltags in Sozialen Netzwerken, Blogging und Onlinetagebüchern besteht aus heroischen Verrätern, die alles vergessen? Wohl eher nicht. Die Mitteilungsinflation der sozialen Netzwerke mit ihrer Aufmerksamkeitsabhängigkeit und dem Trafficmaßstab speist sich aus dem Wunsch verstanden zu werden, Gleichgesinnte anzulocken, Gemeinsamkeiten zu zelebrieren, Freunde und Gefolgschaft zu finden, Bezüge herzustellen und zu speichern, sich selbst zu justieren und zu bestätigen. Insofern stünden der heroische Verräter Gorz’ und der destruktive Charakter Benjamins zunächst – trotz all der strukturellen Ähnlichkeit – dem Identitäten stiftenden Netzwerkenden entgegen, der sich stetig erkannt und bestätigt weiß. Er praktiziert fortwährend die auch auf Speicherungstechniken basierende Selbstvergewisserung, obwohl er mit der Option ausgestattet ist, Datenpakete zu löschen, Verbindungen zu filtern oder zu trennen und somit genauso wie der junge Verräter davon träumen könnte, ganz von vorne anzufangen und jung zu sein. Das heißt, der Verrat der sozialen Netzwerke basiert, auch wenn er ebenfalls vereinfacht, destruiert und ohne Abstriche erzählt, auf Speicherstrategien wider das Vergessen und auf dem Umstand verstanden zu werden. Das sind beides Praktiken, Handlungsprinzipien, die der destruktive Charakter und der heroische männliche junge Verräter hinter sich zu lassen suchen. Die Mechanismen des Netzwerkenden gleichen insofern eher, in Anlehnung an Benjamin, denen des Klatschs, der unendlich zirkulierenden, auch bestätigenden Mitteilungen, dessen Ansinnen nie das Vergessen gewesen sein wird.
27 Ebd.
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Im Web 2.0 wird nicht vergessen, missverstanden und destruiert, sondern die vielen ewig zirkulierenden Indiskretionen – die immer wieder gespeichert, evaluiert und neu verteilt werden – bestätigen eher ein System, sind Teil eines Regelwerkes, und können als Zeichen einer kontinuierlichen Anrufung einer absoluten Autorität gelesen werden. Es kann also davon gesprochen werden, dass in den sozialen Netzwerken ein aufgespeicherter Verrat betrieben wird. So wird ein solcher Verrat zu einer sozialen Praxis, vollzogen in den standardisierten Formaten einer Nachrichteninflation und reproduziert in den Strukturen globalisierter vernetzter Marketing- und Verkaufsstrategien. Die digitalen Netzwerke bewerkstelligen diese Datenberge eines aufgespeicherten Verrats, indem sie Zeichen wie die Hashtags (die Raute) entwickeln und auch Mechanismen von Gatekeepern, die ihre Meinung nach interessanten Meldungen per Repeat Tweet (RT) an ihre Follower verteilen, sowie fiktive Figuren autorisieren, um definierten Mechanismen das Kategorisieren und Rastern zu überlassen. Dynamische Prozesse werden immer wieder neu entwickelt und stehen dem Verrat gegenüber, der abbricht, vergisst und destruiert. Der junge dynamische, destruierende Verräter des André Gorz mit seiner Bereitschaft zu vergessen und missverstanden zu werden hat demnach nicht viel von dem Verräter, der als Netzwerkender agiert, nichts vergisst und alles speichert oder speichern lässt, der allenfalls Loyalität kennt und der schon lange nicht mehr an die persönliche Freiheit und Zerstörungswürdigkeit glaubt. Oder doch? Denn bedingen sich nicht die beiden Prinzipien: die des Netzwerkenden, der nicht mehr an die Freiheit glaubt und alles speichert und die Dauer ins Auge fasst und die des Verräters, der alles vergisst, heroisch immer neu beginnt und alles hinter sich lässt? Kann man nicht behaupten, dass sowohl die Strategien des Verrats als auch die des Speicherns die Selbstjustierung der Identitäten im Netz bedingen und sich genau deshalb eine Schleifenbewegung artikulieren lässt, die auch die Relationen von Freund und Verräter bestimmt?
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D IE K EHRE Kann man den Bezug zwischen Freund und Verräter als Kehre bezeichnen? Und wäre die Kehre die Figur einer in sich verdrehten immer wiederkehrenden Wendung – hin und her, in sich selbst? Mit der Kehre wird eine Richtungsänderung um 180 Grad bezeichnet. Eine Wende, ein Bogen, eine Biege, eine Krümmung. Das heißt, es ist eine Bewegung zurück, eine Umkehr. Aber nicht auf der gleichen Route sondern gewissermaßen daneben, fast parallel. Insofern ist die Kehre auch als kontinuierliche Schleifenbewegung (setzen wir die Kehre in den Plural), als ein Drehen in sich selbst zu bezeichnen. Dies lässt sich auch bei Hölderlin, von Heidegger in seinem Aufsatz zur Kehre zitiert, lesen, der im Patmos sagt: »Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brücken«28
Wohnt der Gefahr somit immer schon das Rettende inne? Im übertragenen Sinne kann man fragen: Wohnt also dem Verräter immer schon der Freund inne, der der eine von den Vielen ist und der als Doppelgänger meiner selbst agiert? Und wäre es jemals wirklich zu klären, ob der Verräter oder der Freund nun Gefahr oder Rettung sind, wenn die Gefahr selber schon das Rettende ist? Wollte man nun die Figur und Bewegung der Kehre auf das Freund/Verräter-Verhältnis übertragen, weil auch hier, gerade im Zuge der Praktiken in den sozialen Netzwerken, eine Wende in sich selbst zu reklamieren ist, wäre der Freund notwendig immer schon der Verräter. Denn es scheint ganz einfach: Freund kann ich nur sein und werden, wenn ich
28 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe Bd. 1, München (Carl Hanser) 1993, S. 379. Unterstrichene Zeilen zitiert bei: Heidegger, Die Kehre, S. 37-47, S. 41.
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verrate und dieser Verrat wird ebenso gesammelt wie der Freund selbst. Deutlich wird an diesem Prinzip des aufgespeicherten Verrats, dass der Freund, indem er notwendig zugleich Verräter ist, nicht seine Freundschaft leugnet. Es ist kein Gegensatz zwischen Verrat und Freundschaft zu verzeichnen, sondern der Verrat ist Voraussetzung für die Freundschaft. Will man in diesem Sinne den verdrehten Wendungen Heideggers folgen: ist der Verrat die Gefahr für die Rettung. ›Damit man verraten kann, ist man Freund‹ wird quasi noch gesteigert in: ›Weil man Freund ist, wird man zum Verräter‹ oder auch ›durch den Verrat wird man zum Freund‹. Man wird einer von vielen, der auch kurzfristig der eine Freund sein könnte. Immer wieder: hier liegt nicht einfach eine Kausalität vor, sondern eine Wendung in sich selbst. Vorausgesetzt also, dem Freund wohnt immer schon der Verräter inne, insbesondere dann, wenn er scheinbar interessenlos agiert und somit seine »eigenen Ideale« verrät, angezogen von Traffic und Aufmerksamkeit, kehrt er sich in sich selbst. Verrat muss sich insofern wie die Kehre – zumindest wie es Heidegger für diese Figur formuliert – an uns selbst vollziehen. Wenn der Freund nun immer schon Verräter ist und sich Freundschaft und Verrat in einander kehren, bilden sich kontinuierlich in sich wendende, verdrehende Schleifen aus Mitteilungen, die auch als verhakte Kettenglieder (Datenpakete) zu bezeichnen sind und Teil eines Selbstjustierungsprozesses und somit auch einer Identitätsbestätigung sind. Wäre da tatsächlich noch an die Möglichkeit einer Unterbrechung zu denken, die den aufgespeicherten Verrat tatsächlich löscht?
Abbildungen 3 & 4
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U MKEHR
UND
S UIZID
Wie könnte eine solche in sich selbst verdrehte Schleife unterbrochen werden, in der alles jederzeit wiederkehren und (selbst) aufgerufen werden könnte, was schon verraten wurde? Und kann sich eine solche Mühe überhaupt lohnen? Gehen wir davon aus, dass sich Freundschaft wie auch Verrat gerade in den Sozialen Netzwerken in sich selbst kehren und zur Selbstjustierung beitragen, könnte nur die nachhaltige Liquidierung entsprechender Datenpakete der kontinuierlichen Selbstbestätigung ein Ende bereiten. Die Web 2.0. Suicide Machine, erstellt von dem niederländischen Medialab moddr29 und Fresco Gamba, produziert von dem Künstlerkollektiv WORM in Rotterdam, räumt entsprechend auf. »You want your actual life back?« oder »Wanna meet your real neighbour again?«, fragt das Projekt.30 Angeboten wird von den Akteuren auf der Website ein Programm, welches den aufgespeicherten Verrat sowie die gesammelten Freundschaften in den angewählten sozialen Netzwerken (z.B. Facebook, LinkedIn, Myspace und Twitter) löscht, kommt es zur Anwendung. »Learn how to kill« heißt die entsprechende Anweisung. Die geschaffene fragmentarische Netzidentität wird selbst getötet, der kontinuierliche Prozess eines aufgespeicherten Verrats selbst unterbrochen. »Liberate your new friends with a Web 2.0 suicide! »This machine lets you delete all your energy sucking social-networking profiles, kill your fake virtual friends, and completely do away with your Web 2.0 alterego. The machine is just a metaphor for the website which moddr_ is hosting; the belly of the beast where the Web 2.0 suicide scripts are maintained. Our service currently runs with Facebook, Myspace, Twitter and LinkedIn! Commit NOW!«31 Man kann die Datenansammlungen und somit auch die Freundschaftsansammlungen mit ihrem Bestätigungsgestus als Identitätsstiftungsmaschi-
29 moddr_ Homepage, moddr_ & Fresco Gamba: Suicide Machine, http://moddr.net (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). 30 http://suicidemachine.org (zuletzt abgerufen am 30.07.2011); dazu: Paolo Pedercini: Web 2.0suicide machine + Seppukoo, social network self-destruction, 2009, in: Neural, www.neural.it/art/2009/12/web_20_suicide_machine_seppu ko.phtml (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). 31 moddr_ & Fresco Gamba: Suicide Machine, http://suicidemachine.org (zuletzt abgerufen am 15.02.2013).
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ne verstehen. Ihre Unterbrechung bzw. Zerstörung – insofern die Aufhebung ihrer Ansammlung – bedeutet auch einen Suizid an den sich hierdurch justierenden Identitäten.32 Es wird nicht mehr gefiltert, nicht selektiert, sondern Freundschaftslisten werden ungefragt gelöscht. Es wird vereinfacht und liquidiert. Was bliebe, wäre der Verrat an den verratenen Freundschaften. Dieser strukturelle Suizid im Netz kann auch der Zerstörung gleichgesetzt werden, wie sie bei Walter Benjamin verhandelt wird. Auch der destruktive Charakter von Benjamin räumt auf. Räumen – unter diesem Kennwort können anschaulich die Aktionen des destruktiven Charakters dargestellt werden. So schreibt Benjamin: »Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.«33 Der destruktive Charakter muss die Welt vereinfachen, das heißt im übertragenen Sinn, er muss sie in Datenpakete komprimieren und bündeln. Aber in seiner Zerstörungswut erscheint sie eh schon ganz einfach. Damit er handeln kann, muss er der Natur zuvor kommen. Denn diese würde ja alles zerstören, irgendwann. Folgen wir weiter Benjamins Text, wird hervorgehoben: Er zerstört nicht um seiner selbst willen, er ist »Mandatar«. Er handelt im Auftrag. Er geht davon aus, es wird sich schon einer finden, der den geschaffenen Platz einnimmt, ohne ihn einzunehmen. Damit er überhaupt räumen kann, macht der destruktive Charakter Situationen handlich und kann sie so liquidieren. Er setzt nicht auf den Gang der Dinge – so auch nicht die Suicide Machine. Sie liquidiert Datenpakete und -Verbindungen,
32 Eine ähnliche Aufhebung praktiziert auch eine Plattform wie Chatroulette durch den »next button«. Chatroulette ist eine Website, auf welcher man zufällig mit einem Videochatpartner reden oder per Texteingabe und Videobild kommunizieren kann. Gefällt einem die Person oder das dort zusehende nicht, reicht ein einziger Klick auf den Next-Button (F9) und wenige Sekunden später erscheint normalerweise der nächste Partner. Der Verrat (an sich selbst) ist einmalig, nicht erneut abrufbar. Der Cut – durch den Next-Button – würde wie die Löschung den Platz schaffen und räumen, die Schleifen und die Kehre unterbrechen. Kein aufgespeicherter Verrat, sondern Verrat am Verrat. http://chatroulette.com (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). 33 Benjamin, Destruktiver Charakter, S. 289.
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die die Identitätsfragmente (»Flecks of identity« – Matthew Fuller34) im Netz erst formieren. Insofern bedeutet das sogenannte »unfriending« auch nicht nur ein liquidieren der Freundschaften sondern auch der geschaffenen Identitäten. Dieser eher symbolische Akt der Suicide Machine möchte vor allem Zeichen setzen, auch wenn er tatsächlich die Daten von den Servern der Anbieter der sozialen Netzwerke zu löschen sucht.35 Der Mandatar kann auch nichts Dauerndes sehen, aber überall Wege, auch da, wo andere Gebirge wahrnehmen. Das heißt: »Der destruktive Charakter ist ein Signal«, sagt Benjamin und er sucht nicht die dauerhafte Bequemlichkeit des »Etuimenschen«, wie diejenigen von ihm bezeichnet werden, denen das mit Samt ausgeschlagene Gehäuse der Inbegriff ist. Er verwischt insofern die Spuren seiner Zerstörung. Die Spuren der Aktion werden gelöscht, so wie auch der symbolische Akt der Suicide Machine alle Daten zu löschen vorgibt. Ein technisch fast unmögliches Unterfangen. Für den benjaminschen destruktiven Charakter ist die Lage aussichtslos: »Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt.«36 Hingegen glauben die Autoren der Suicide Machine des Medialabs moddr noch an ihren Auftrag, formulieren eine Vision, in der sich wieder die »realen Nachbarn« besuchen und propagieren, dass der »Selbstmord« – als »unfriending« praktiziert – doch eben seine Mühe lohnt. Nur um Platz zu schaffen, der dann anders – durch das »actual life« – einzunehmen ist, so der Appell der Verfasser. Insofern ist hier eine Kehre vorstellbar, die nicht nur in sich selbst gedreht wird, sondern als Unterbrechung den Neubeginn propagiert, der aber noch nicht begonnen haben wird. Kein Wiederholen des Identischen. Oder doch: denn selbst wenn die Daten tatsächlich einmal gelöscht wären, können die Datenberge des Netzwerkens und somit auch die Freunde wieder erneut angesammelt werden. Und verbreitet wird die Suicide Machine selbst auch über die Sozialen Netzwerke, fast alle auf der
34 Gordan Savicic, hacktivism, Interview, in: Neural, Friends?, Issue 35, herausgegeben von Alessandro Ludovico, Bari, S. 12. 35 Ebd.: »The Web 2.0 Sucide machine is a symbolic act as Facebook doesn’t delete any data on its servers....? I’d say it’s more than just a symbolic act since the machine executes real actions on those servers.« 36 Benjamin, Destruktiver Charakter, S. 290.
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Website genannt unter dem link »promote us; share this«. Es bleibt die Frage: Ist eine Unterbrechung oder ein Ende also praktizierbar – was auch Freund und Verräter scheiden könnte – oder bleibt doch nach wie vor alles in sich selbst gekehrt, wenn der Neubeginn nur die erneute Möglichkeit des Suizids der (Netz-)Identitäten mit sich zieht? Ein neuerlicher Verrat des Verrats.
L ITERATUR Anonym (pte), PC Welt online: Twitter-Follower sind nichts mehr wert, http://www.pcwelt.de/news/Gekaufte-Freunde-Twitter-Follower-sindnichts-mehr-wert-441002.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2013). Benjamin, Walter: Der destruktive Charakter, in: ders., Illuminationen, Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/M. 1972, 289-290. Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2002. Gorz, André: Der Verräter, Zürich 2008. Gorz, André: Über das Altern, in: ders., Der Verräter, Zürich 2008. Heidegger, Martin: Die Kehre, zwei Aufsätze [1962], Stuttgart 2007, 37-47. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, Bd.1, München 1993. moddr_: http://moddr.net (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). moddr_ & Fresco Gamba: Suicide Machine, http://suicidemachine.org (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). Montaigne, Michel de: Über die Freundschaft, in: ders., Die Essais, Stuttgart 1984. Nancy, Luc: Zum Gehör [2002], aus dem Französischen von Esther von Osten, Berlin 2010. Neural, Friends?, Issue 35, herausgegeben von Alessandro Ludovico, Bari 2010. Pedercini, Paolo: Web 2.0 suicidemachine + Seppukoo , social network self-destruction, 2009: www.neural.it/art/2009/12/web_20_suicide_ machine_seppuko.phtml (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). Reiche, Claudia / Sick, Andrea: Was ist Verrat?, www.thealit.de/lab/verrat (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). Ternowskij, Andrej: Chat Roulette, http://chatroulette.com (zuletzt abgerufen am 15.02.2013).
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Universität Heidelberg: Pressemitteilungen 10.06.2008, Was steckt hinter dem Cocktail-Party-Effekt? http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/ ShowSingleNews.176.0.html?&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=3830 (zuletzt abgerufen am 15.02.2013).
ABBILDUNGEN Abb. 1: http://www.cocktail-party-processor.de/intro/CPP_people.html (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). Abb. 2: http://www.cocktail-party-processor.de/intro/CPP_hall.html (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). Abb. 3: Geocaching.com: In der Kehre, http://www.geocaching.com/seek/ cache_details.aspx?guid=282d501a-5cfe-4646-a2c4-3afa0b4da2b5 (zuletzt abgerufen am 15.02.2013). Abb. 4: moddr_ & Fresco Gamba: http://www.nrcnext.nl/files/2010/02/ suicidemachine.gif (zuletzt abgerufen am 15.02.2013).
Divisionen des Individuums Selbstgespräche am Ende der Zeit F LORIAN S PRENGER
In den nachgelassenen Schriften Friedrich Nietzsches findet sich ein längerer Aphorismus mit dem Titel »Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst«. Verfasst hat Nietzsche diesen Text vermutlich zwischen Sommer 1872 und Ende 1873, kurz nach der Veröffentlichung von Die Geburt der Tragödie und zu einer Zeit, als der junge Basler Professor für Philologie sich miss- oder gleich gar nicht verstanden fühlte – unzeitgemäß wie in seinen Betrachtungen von 1873. In diesem kleinen Text errichtet Nietzsche mit all seinem rhetorischen Geschick eine Bühne, auf der er seine Begriffe zum Spielen bringt. Er entwickelt eine paradoxe Position, in die er sich selbst als Sprechender hineinbegibt: Vom letzten Menschen, dessen Rolle oder Maske Nietzsche übernimmt, könnte man nie etwas lesen, weil es niemanden gäbe, der etwas lesen könnte, außer, man würde erneut mit einem ersten Menschen anfangen. Doch der letzte Mensch muss zwei sein. Er muss sich von sich selbst unterscheiden. Zunächst soll der Text in voller Länge zitiert werden: »Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst. Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles
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Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre. Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, so dumm und blind wie je vorher, und nur Eines stirbt – der Mensch. – Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme!! Es stirbt noch Einer außer mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall: der letzte Seufzer, dein Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus.«1
Dieser kurze Text dient im Folgenden dazu, den Zusammenhang von Kommunikation und Identität auf eine grundlegende Spaltung hin zu durchdenken. Es bietet sich an, den letzten Menschen als eine Begriffsperson im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari zu beschreiben, als eine Figuration, die Konstellationen von Begriffen denkbar macht, aber nicht einfach eine Idee manifestiert, sondern im Denken und seiner Tradierung ein ›Eigenleben‹ aus Bezügen und Verweisen entwickelt.2 So möchte ich fragen, wie der letzte Mensch, der in allen im Folgenden angeführten Texten männlich ist, seinen eigenen Grund und Boden deterritorialisiert und welche strukturellen Notwendigkeiten er aufzeigt, wenn er kommuniziert. Nietzsches Aphorismus zielt auf eine Differenz im Innersten, die den Modus der Kommunikation betrifft, auch wenn Nietzsche über diesen Begriff nicht verfügte. Meine Lektüre zielt weder auf eine Theorie der Kommunikation noch auf eine historische Situierung der Figur des letzten Menschen. Warum dieser letzte Mensch grob ab 1800 im abendländischen Denken erscheint, in welchen Wissenshaushalt er eingreift und wie er in kulturellen Selbstbeschreibungen – etwa bei Oswald Spengler – eine Rolle spielen
1
Friedrich Nietzsche: »Nachgelassene Fragmente. Herbst 1884 bis Herbst 1885«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Berlin: De Gruyter 1974, hier S. 460f.
2
Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996.
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wird, muss Thema eines anderen Aufsatzes sein.3 In Frage soll also nicht stehen, welche Artikulationen die Spaltung, die von Kommunikation vorausgesetzt wird, historisch gefunden hat, von welchem Wissen sie organisiert wird oder in welchen konkreten Identitätsformen sie ein Leben führt.4 Vielmehr soll es darum gehen, die elementaren Oppositionen von Kommunikation herauszuarbeiten, um ihre Funktionsweisen oder theoretischen Grundierungen zu dekonstruieren und gewissermaßen Nietzsches eigene ›Dekonstruktion‹ zu lesen, wenn man sein Vorgehen schon so nennen darf. Zwei Fragen sind für die folgenden Überlegungen maßgebend: erstens steht die Spaltung, Trennung oder Sonderung im Mittelpunkt, die Kommunikation impliziert, um sie zu überwinden. Anhand ihrer Oszillation kann zweitens gefragt werden, wie ein Selbstgespräch, per se in sich geschlossen, produktiv werden und dabei Neues hervorbringen kann. Beide Fragen laufen darauf hinaus, Identität als kommunikative Aushandlung dieser
3
Die Figur des letzten Menschen nimmt Nietzsche 1883 in Also sprach Zarathustra wieder auf. Dort bildet Ödipus gemeinsam mit dem letzten Menschen, dem höheren Menschen und dem viel missbrauchten Übermenschen eine Figurenkonstellation. Der letzte Mensch ist Nietzsches Gegenentwurf zum Übermenschen: seine Apathie verhindert alles Handeln. Dieser letzte Mensch aus dem Zarathustra ist ein anderer als der kommunizierende letzte Mensch aus dem Nachlass. In diesem kurzen Text geht es weniger um die Überwindung der Menschlichkeit des Menschen zugunsten des umschworenen Übermenschen, es geht nicht um den letzten Menschen als ersten neuen Menschen, nicht um die Apokalypse, die Voraussetzung für die Existenz eines letzten Menschen sein mag. Der letzte Mensch des Nachlasses steht dem kosmischen Untergang, den man auch mit Hinweis auf Nietzsches Lektüre der Schriften Robert Mayers als thermodynamischen beschreiben könnte , nicht nur gegenüber wie im Zarathustra, sondern er spricht. Es geht auch nicht darum, ob sich Nietzsche die Maske des Ödipus aufsetzt, der ja schon vor seinen Taten weiß, was ihr Resultat sein wird und ebenso in einer komplexen Kommunikationssituation steckt (Vgl. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985). Doch wer hier Ödipus ist, bleibt unklar. Deshalb soll diese Linie, so interessant sie erscheinen mag, nicht weiterverfolgt werden, weil sie sich nicht am Text argumentieren lässt.
4
Vgl. dazu den Aufsatz von Stefan Rieger in diesem Band.
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Spaltung und als Einheit aus Vielheit zu begreifen – als Netz, in dem Eindeutigkeit gefangen wird. Eine solche Perspektive verspricht, nicht nur die Komplexität der Beschreibung von Kommunikation zu erhöhen, die auch eine Selbstbeschreibung wäre, sondern darüber hinaus eine aporetische Konstellation genauer zu fassen. Sie liegt Kommunikation zugrunde.5 Sie treibt Kommunikation an. Diese Beschreibung der Aporie einer Verbindung, die eine Trennung voraussetzt, scheint hilfreich, will man vermeiden, Kommunikation als etwas zu verstehen, was entweder unmöglich – einseitige Betonung der Trennung – oder aber immer schon gelungen ist – einseitige Betonung der Verbindung. Es handelt sich bei dieser Aporie zugleich um eine Bedingung des Beginnens, das nur bei Zwei ansetzen kann. Mit Einem lässt sich nicht anfangen: weder mit einzelnen Lauteinheiten beim Sprechen noch mit einem einzelnen Punkt im Raum bei der Orientierung. Niemand kann sich nur auf sich selbst beziehen. Ohne Zwei gibt es keine Richtung.6
G ESTALTEN
DER
S PALTUNG
So kann der letzte Mensch dazu dienen, dem Kommunikationsverständnis der gegenwärtigen Kommunikationswissenschaft ihren wichtigsten Begriff zu entziehen: den der Öffentlichkeit. Weil seine Kommunikation keine Öffentlichkeit hat, wird es möglich, Kommunikation und auch klassische Kommunikationsmodelle weitaus vielschichtiger zu beschreiben als dies bislang zumeist der Fall gewesen ist. Die Vermutung lautet, dass im Begriffsfeld ›Kommunikation‹ ein auch von philosophischer Seite kaum beachtetes Potential liegt, Fragen nach Identität, Zeit und Raum zu stellen. Nietzsches Aphorismus spielt mit diesem Potential, ohne von derartigen Theorien zu ahnen.
5
Vgl. Briankle Chang: Deconstructing Communication, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, John D. Peters: Speaking into the Air. A History of the Idea of Communication, Chicago: University of Chicago Press 2000 sowie Christof Windgätter: Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift, Berlin: Kadmos 2006, S. 227ff.
6
Vgl. Markus Klammer/Stefan Neuner: »Die Figur der Zwei«, in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie (2010), S. 15-21.
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Viel zu selten wurde die Relation zwischen dem, was man Sender und Empfänger nennen kann, als Relation gedacht, als Trennung, die etwas verbindet und dabei die Relata bestimmt.7 Kommunikation entpuppt sich mithin als in die Grundfesten philosophischen Denkens eingelassen – etwa in Bezug auf die Prämisse, dass nichts an zwei Orten zugleich oder zur gleichen Zeit an einem Ort sein kann, weshalb, wie Leibniz im Briefwechsel mit Clarke (und Newton) anführt, physikalische Kommunikation ein Medium haben muss und keine unmittelbare Fernwirkung sein darf, wovon wiederum die Stellung Gottes im Universum abhängt.8 Die Frage der Fernwirkung, wie etwa ein Planet auf einen anderen Körper wirken (mithin kommunizieren), also dort etwas hervorrufen, dort anwesend sein kann, wo er nicht ist, wenn eine Entfernung, eine Leere und eine Trennung zwischen ihnen liegen, schon diese Frage beschäftigt sich mit Kommunikation. Seit Aristoteles bewegt sie philosophisch-physikalische Grenzdebatten. In der heutigen Verwendung dieses Begriffs wurde diese Dimension verschüttet9 und das Sender-Empfänger-Modell voreilig als unterkomplex kritisiert. Kommunikationen lassen sich dem entgegen als relationale Figuren begreifen, als Konstellationen von Aktanten, innerhalb von deren
7
Es geht also um ein weites Kommunikationsverständnis, das eben nicht aus der Massenmedienforschung des 20. Jahrhunderts stammt, sondern vor allem in der Geschichte der Physik und der Philosophie formuliert wurde. Dort wurde mit Kommunikationen ganz unmetaphorisch Wechselwirkungen zwischen Elementen, etwa zwischen Planeten, elektrischen Leitern oder mechanischen Werkzeugen gedacht und auch mit diesem Begriff bezeichnet wurden. Vgl. Brief von Newton an Bentley, 1692, in Isaac Newton: Isaac Newton’s Papers & Letters on Natural Philosophy, Cambridge: Harvard University Press 1978, S. 302.
8
Vgl. Gottfried W. Leibniz/Samuel Clarke: Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel, Berlin: Akademie 1715/1991, S. 73.
9
Die Unkenntnis dieser Zusammenhänge kann leicht zu spekulativen, historisch ungenauen Medien(begriffs)geschichten führen, die ›Medium‹ allein als ästhetischen Terminus gelten lassen, wie man etwa an John Guillorys Arbeiten auf diesem Gebiet sieht. Der Gebrauch der Begriffe ›Medium‹ und ›Kommunikation‹ in der Physik ist gerade kein metaphorischer oder abgeleiteter, wie Guillory behauptet, weil diese Konzepte unter anderem in diesen Bezirken neue Formationen bilden. Vgl. John Guillory: »Genesis of the Media Concept«, in: Critical Inquiry (2010), S. 321-362.
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Bezügen Identität, An- und Abwesenheit oder Adressen verhandelbar sind. Erst ihre Spaltung räumt diesen Spielraum ein. Kommunikation bezeichnet somit Relationen, in denen zwei Elemente voneinander getrennt sind, aber auf irgendeine Weise – etwa durch Modifikation von Raum- und Zeitachsen – in ein neues Verhältnis gebracht werden. Dadurch verändern sich auch ihre eigenen Positionen, sprich, ihre Identifikation durch Akte der Konstellation im Feld der Wechselwirkung mit anderen, ebenso isolierten Elementen. In diesem Sinne denkt Nietzsche an dieser Stelle Kommunikation. Er verfügt zwar nicht über diesen Begriff, lotet aber dessen Konstellation aus. Der letzte Mensch ist in diesem Fragment, anders als im Zarathustra, wo er als Gegenentwurf zum Übermenschen dient, nicht der zu überwindende Vertreter einer überholten Spezies, sondern der Letzte der Letzten und dennoch ein Todgeweihter. Der letzte Mensch ist in diesem Falle wirklich der allerletzte und kein wie Robinson Crusoe auf einer Insel Gestrandeter, der noch Hoffnung hat, gerettet zu werden und deshalb mit einem Baseball spricht wie vergleichbar Tom Hanks in CAST AWAY (USA 2000, R. Robert Zemeckis) oder Will Smith in I AM LEGEND (USA 2007, R. Francis Lawrence). Diese Figur taucht vermutlich erstmals in Jean-Baptiste Cousin de Grainvilles Roman Le dernier homme von 1805 sowie in Mary Shelleys The Last Man von 1826 auf. Jean-Paul überführt sie in die deutsche Romantik.10 In Nietzsches Formulierung, die diesen Beschreibungstraditionen einige Facetten hinzufügt, ohne sich eindeutig auf sie zu beziehen, bringt sie die gängigen Kommunikationsformen nah an den Zusammenbruch und verortet damit ihre theoretischen Grenzen. Der letzte Mensch ist zu sich selbst verurteilt. Ihm fehlt jeder Partner, sein Adressbuch ist nutzlos geworden, aber er muss dennoch adressieren, weil er redet und dabei nur sich selbst finden kann. Deshalb kann er, ein wichtiges Thema Nietzsches, sich selbst fremd bleiben und spricht in der Gefahr, sich selbst zu verwechseln oder vom Ich, das mit eigener Zunge spricht, verführt zu werden. Er steht in der zwiespältigen Situation, seinen Kommunikationspartner einerseits so grundlegend zu kennen, wie man nur sich selbst kennen kann, andererseits aber einer Unbekanntheit ausgeliefert und mit dem Anderen in sich selbst konfrontiert zu sein. An anderer Stelle schreibt Nietzsche: »Einmaleins. – Einer hat immer Unrecht: aber mit
10 H. Birus: »Apokalypse der Apokalypsen« 1996.
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zweien beginnt die Wahrheit. – Einer kann sich nicht beweisen: aber zweie kann man bereits nicht widerlegen.«11 Für den letzten Menschen gibt es keine dritte Person, der ihn und ihn aufeinander beziehen würde. Monologe wie dieser gehorchen einer Dia-Logik. Ein Dialog ist nicht einfach Geschehen eines Gesprächs als Übergabe und Übernahme von Botschaften, sondern Aushandlung von Adressen, die es durch den Dialog gibt. So ist auch der Monolog, in dem man sich selbst gegenübersteht, nicht als rudimentäre Kommunikationsform zu begreifen, bei der egozentrisch auch das Andere im Ich gesucht, sondern die Trennung der Kommunikation integriert wird. Daraus lässt sich folgern, dass sich die Selbstgegenwart im Selbstgespräch mit Hilfe des Kommunikationsbegriffs als Form einer kommunikativen Aushandlung kennzeichnen lässt, als Performanz von Trennung und Verbindung in sich selbst und ohne übergeordnete Instanz. Ihr Resultat ist eine immer schon gebrochene und gespaltene Identität. Für den letzten Menschen ist alle Zweideutigkeit eindeutig adressiert. Die Kommunikationen des letzten Menschen und im Anschluss daran jedes Selbstgespräch sind nicht öffentlich. Sie sind zwar soziale Praxen, doch das ›Wir‹, das sie zusammenbringen, steht vor jeder Gruppierung und Gemeinschaft. Sie sind aber deswegen nicht einfach privat, das heißt abgeschottet und eigen. Kommunikation setzt in diesem Sinne eine Trennung voraus, damit sie diese Trennung im Vollzug der Kommunikation zu überwinden versuchen kann. Dabei werden zugleich die beiden Seiten des Abgrunds identifizierbar oder gesondert. Sie sind, um diese Formulierung Bernhard Waldenfels’ aufzunehmen, bereits sondern. Das Selbstgespräch lässt sich also ebenso wenig wie über Öffentlichkeit über einen Modus der Privatheit herleiten. Man hat zwar nur sich selbst und agiert innerhalb einer sozialen Praxis, etwa im Gebet. Doch das dia steckt im mono des Monologs. Diese These ist etwa vom Prager Strukturalisten Jan Mukarovsky in den 40er Jahren geäußert worden, für den die sprachliche Äußerung als solche schon eine dialogische Form impliziert, weil jede Rede adressiert sein muss. In jedem Gespräch, ob mit sich selbst oder einem Partner, sind Dialog und Monolog vorhanden und verflochten.12 Jede Anrede setzt die
11 Friedrich Nietzsche: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: De Gruyter 1974, hier S. 517. 12 Vgl. Jan Mukarovsky: Kapitel aus der Poetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967.
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Selbstbestimmung fort: »In der Anrede bestimmt sich der Andere als Du, indem er dem Ich gegenübertritt in einem einzigen Geschehen der Sonderung.«13
ADRESSORDNUNGEN Eine erste These lautet, dass jede Kommunikation eindeutige Adressaten braucht, an die sie sich wendet, um operieren zu können.Sie muss ein Ziel haben, weil sie nicht bei sich bleiben kann. Die Ziele oder Adressen mag es nicht dauerhaft geben und die Adressierung ein hoffnungsloses Unterfangen bleiben – Derrida und andere haben auf diese Dissemination in aller Vehemenz hingewiesen.14 Wenn sich jede Botschaft zwangsläufig an alle wendet, wäre auch das schon eine Adresse, schließlich meint das französische ›adresse‹ zunächst nichts anderes als ›ausrichten‹. Wer eine an alle gerichtete Botschaft empfängt – wie etwa jede Radio- oder Fernsehübertragung –, ist damit Empfänger und hat eine Adresse, wie jeder Computer in einem Netzwerk über eine eindeutige MAC- bzw. IP-Adresse verfügen muss. Niemanden darf (oder soll) es in diesem Fall doppelt geben. Die Verbindungswege mögen unvorhersagbar sein – kommt eine Botschaft an, korrekt, missverstanden oder gestört, ist eine Verbindung vorhanden und mit ihr Sender und Empfänger. Adressierung geschieht in diesem Sinne nicht vor der Kommunikation, sie wird nicht auf einen Brief aufgetragen und funktioniert damit, sondern ist erst dann geschehen, wenn eine Verbindung hergestellt ist. Sender und Empfänger vorab zu bestimmen ist zwecklos, wenn es keine materielle Verbindung gibt, die sie festlegt, etwa ein Kabel. Aber auch dann kann die Kommunikation sich an unvorhersagbare andere wenden. Wenn es keine Adressaten gibt, wie beim letzten Menschen, der niemanden mehr hat, zu dem er sprechen kann, weil niemand außer ihm mehr da ist, dann muss im Akt der Kommunikation zwangsläufig eine Adresse produziert werden. Adressierungen bedeuten die Möglichkeit,
13 Bernhard Waldenfels: Das Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophische Untersuchungen in Anschluß an Edmund Husserl, Den Haag: Nijhoff 1971, S. 288. 14 Vgl. Jacques Derrida: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, Berlin: Brinkmann & Bose 1982.
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etwas zu-schreiben zu können. Wer eine Adresse hat oder wem durch Kommunikation eine Adresse zugeteilt wird, hat eine verortbare Position im Spiel der Kommunikation, selbst wenn er sie sofort wieder verliert. Der letzte Mensch zieht daraus sich selbst als Lehre. Er kann nicht ins Leere seiner Welt und in die ›mitleidslosen Sterne‹ sprechen, ohne die Leere um ihn anzusprechen, welche die Leere in ihm selbst füllt. In dieser reduziertesten aller Kommunikationen geschieht dies durch das Re-Enactment der grundlegenden Unterscheidung jeder Kommunikation in Sender und Empfänger. Ohne diese Unterscheidung macht Kommunikation keinen Sinn, denn Kommunikation ist ihr Resultat. Sender und Empfänger werden erst in der Kommunikation zu solchen. ›Communicare‹ [lat.] bedeutet ›teilen‹ oder ›mitteilen‹, aber auch ›vereinigen‹. Der Wortstamm ›munia‹ lässt sich mit ›Austausch‹ oder ›gegenseitige Hilfe‹ übersetzen und bezeichnet darüber hinaus ›Leistungen‹ und ›Pflichten‹. ›Communitas‹ heißt ›Gemeinschaft‹, womit aber nicht zwangsläufig eine menschliche Gemeinschaft gemeint ist, sondern auch die Gemeinsamkeit von Eigenschaften benannt sein kann: das Gemeine, das im Gegensatz zum Eigenen steht.15 Die ›Exkommunikation‹ ist der Ausschluss einer Person aus der Gemeinschaft und damit der Entzug einer Position, von der aus sie auf gewöhnlichem Weg adressierbar ist. Kommunikation umfasst damit die Bedeutungsschattierungen von Verbindung, Gewährung, Austausch, Verkehr und Umgang. Es geht hier jedoch um eine Kommunikation in vermeintlicher Gegenwärtigkeit: Der Einsatz des letzten Menschen ist, mit jemandem zu kommunizieren, von dem er (fast) alles weiß, der in der gleichen Gegenwart lebt und immer antworten kann. Einen Rückkanal gibt es nicht, obwohl alle Wege Rückkanäle darstellen. Für den letzten Menschen oder für Selbstgespräche allgemein fallen Sender und Empfänger in eins. Wer schon alles über sich wüsste und selbst auf seine Routinen zugriff hätte, müsste nicht mit sich reden. In der Einheit des Sichselbsthabens gäbe es keine Kommunikation. Beim letzten Menschen geht die Adressierung nicht mehr darauf zurück, ob er mit einem Ich oder einem Du spricht, weil diese ununterscheidbar sind. Die Botschaft ist gesendet und an den letzten Menschen selbst gerichtet, als ob er zwei Menschen wäre. Wir können nicht nur nicht nicht-kommunizieren, sondern
15 Vgl. Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: Diaphanes 2004, S. 13.
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Kommunikation gibt es nicht ohne Adressen. Adressieren können wir nur jemanden, von dem wir etwas wissen, nämlich seine Adresse, die es aber vielleicht vor der Kommunikation gar nicht gibt. Der letzte Mensch muss sich von sich selbst unterscheiden und damit die Differenz von Eigenem und Fremdem in sich selbst wieder herstellen, um so Kommunikation zu ermöglichen. Er ist sich in seiner Eigenheit gemeinsam. Aber das kann er nur, indem er durch die Differenz von sich selbst verneint, dass er der letzte Mensch ist. Er muss sich von sich selbst unterscheiden, um in der Kommunikation diese Unterscheidung wieder zu überwinden. Kommunikation setzt einen Unterschied voraus, den sie dann tilgen soll. Sie sondert. Der letzte Mensch restituiert mit seinen unvermeidbaren Selbstgesprächen eine Trennung, von der er weiß, dass sie aufgehoben ist, weil es nur noch ihn selbst gibt. Der letzte Mensch, der deshalb der letzte Philosoph ist, kann sich nirgendwohin wenden, sondern nur noch im Kreis drehen. »Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir.«16 Er muss sich, auf sich allein gestellt, in Liebe und Vielheit hineinlügen. Damit Gemeinsamkeit erzeugt werden kann, muss vorher eine Differenz zwischen den Kommunizierenden vorhanden sein. Das ist der Unterschied, den Kommunikation voraussetzt und den Nietzsche artikuliert. Das Subjekt, das sich durch Kommunikation mit anderen zu verbinden sucht, wird philosophiehistorisch als isolierte, einsame Entität gedacht, die sich letztlich durch die Stimme selbstgegenwärtig ist.17 Der letzte Mensch hingegen ist so einsam, dass er sich zur Verdopplung zwingen muss. So einsam der letzte Mensch ist, kann er nie sprechen. Er ist deshalb nie allein – es gibt ihn im Sprechen nur mehrfach. Ganz in dieser Oszillation befangen schreibt Georg Christoph Lichtenberg ein Jahrhundert vor Nietzsche: »Man hat vieles über die ersten Menschen gedichtet, es sollte es auch einmal jemand mit den beiden letzten versuchen.«18 Den letzten Menschen, der als
16 F. Nietzsche: »Nachgelassene Fragmente« S. 460. 17 So hat es Briankle Chang in seiner Dekonstruktion der Kommunikation anhand der Phänomenologie beschrieben: B. Chang: Deconstructing Communication 1996. 18 Georg Christoph Lichtenberg: »Sudelbücher 1«, in: Ders.: Schriften und Briefe, herausgegeben von Wolfgang Promies, München: Hanser 1968, hier S. 753, J 697, Hervorhebungen im Original.
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allerletzter nur allein sein kann, gibt es in diesem Sinne nur im Plural. Trotz Selbstgegenwart und Fehlen der Differenz erzeugt Kommunikation eben diese Brechung im Selbst, die mit der Aushandlung von Identität einhergeht. Das dia in Dialog meint keine Beschränkung auf zwei, sondern das durch und damit die Trennung. Der letzte Mensch ist hier und dort zugleich, weil er beides in einem ist, und deshalb braucht er seine Stimme, um zwischen hier und dort zu vermitteln. So taucht die Stimme im Zarathustra auch unter der Überschrift ›Vom Freunde‹ auf: »›Einer ist immer zu viel um mich‹ – also denkt der Einsiedler. ›Immer einmal Eins – das gibt auf die Dauer Zwei!‹ Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe? Immer ist für den Einsiedler der Freund der Dritte: der Dritte ist der Kork, der verhindert, daß das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt.«19 In diesem Fall ist das Dritte ein Außen des Selbstgesprächs und der Freund des Einsiedlers ist er selbst: er redet mit sich selbst und nicht mit dem Freund, der nicht der Zweite ist, sondern der Dritte, welcher die Identität des Einsiedlers aufrecht erhält. Die Worte des letzten Menschen sind immer schon abgeschlossen. Sie sind die letzten, weil niemand außer ihm selbst sie je hören wird. Der letzte Mensch stirbt doppelt. Mit ihm stirbt sein letzter Hauch. Aber der Hauch, der letzte Seufzer, das ›hingezogene Wehe, Wehe!‹ wird ihn um eine Kleinigkeit überleben. Seine Stimme löst sich von seinem Körper und kehrt zugleich zu ihm zurück. Dieser Abstand, diese Differenz ist Zeit. Der letzte Mensch kann seine eigenen Gedanken nicht einholen, obwohl er sie überholt, indem er sie zu sich selbst spricht. Einerseits weiß er, was er sagt, andererseits ist er darin mit der jeder Kommunikation eigenen Kontingenz konfrontiert: mit einer unvorhersagbaren Fremdheit. Er weiß deswegen, weil er in seiner eigenen Gegenwart ist. So sehr er über diese Gegenwart verfügt, so sehr entzieht sie sich ihm, weil sie in der Spaltung seiner selbst liegt. Wenn er etwas sagt, hört er es in diesem Moment – ob in seinem Inneren oder wenn es über seine Lippen kommt. Er kann nur in seiner Anwesenheit sprechen. Aber weil er spricht, gibt es die Differenz im Eigenen, in der Gegenwart. Seine Anwesenheit muss zugleich abwesend sein. In
19 Friedrich Nietzsche: »Also sprach Zarathustra«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 4, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: De Gruyter 1974, hier S. 71.
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dekonstruktive Termini gefasst bedeutet dies, dass die Anwesenheit nicht ohne Abwesenheit zu denken ist und die Abwesenheit die Anwesenheit nicht einfach ersetzt, sondern supplementiert. Zumindest andeuten möchte ich in diesem Kontext die Nähe dieses Verhältnisses zur Phänomenologie von Anzeichen und Ausdruck bei Edmund Husserl, wie sie Jacques Derrida in Die Stimme und das Phänomen erarbeitet hat.20 Für Husserl gibt es, so zeigt Derrida, im Monolog keine Zeichen, weil die Selbstgegenwart verhindert, dass etwas re-präsentiert werden muss. »Oder sollen wir etwa sagen, daß wir auch im einsamen Seelenleben mit dem Ausdruck etwas kundgeben, nur daß wir es nicht einem Zweiten gegenüber tun? Sollen wir sagen, der einsam Sprechende spreche zu sich selbst, es dienten auch ihm die Worte als Zeichen, nämlich als Anzeichen seiner eigenen psychischen Erlebnisse? Ich glaube nicht, daß eine solche Auffassung zu vertreten wäre. […] In der einsamen Rede begnügen wir uns ja, normalerweise, mit vorgestellten, anstatt mit wirklichen Worten. […] In gewissem Sinne spricht man allerdings auch in der einsamen Rede, und sicherlich ist es dabei möglich, sich selbst als Sprechenden und eventuell sogar als zu sich selbst Sprechenden aufzufassen.«21
Für Husserl braucht man im Selbstgespräch keine repräsentierende Funktion der Sprache, weil es nur Präsenz gibt. Im Selbstgespräch muss demnach nichts aufgezeigt werden. Die Selbstgegenwärtigkeit darf von keiner Repräsentation durchzogen sein. In dieser Präsenz gibt es keine Wiederholung und damit keine Idealität des Zeichens. Da nichts wiederholt werden muss, ist das Selbstgespräch sogar zeichenlos. Nietzsche kann in Abgrenzung dazu so gelesen werden, dass er vor und gegen Husserl zeigt, dass auch innere Worte, selbst wenn sie gesprochen werden, nicht in einer unmittelbaren Selbstgegenwart stehen können. Selbstgespräche legen nahe, so könnte wiederum Husserl sagen, Sinn außerhalb jeglicher Materialisierung zu suchen. In dieser Perspektive sind sie unmittelbar und erlauben direkten Zugang zu sich selbst, weil man selbst es ist, der spricht. Einen Bruch oder
20 Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. 21 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen 2. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Den Haag: Martinus Nijhoff 1984, S. 35f.
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Abstand zu sich selbst gibt es in dieser idealisierenden Konzeption nicht. Aus dem psychoanalytischen ›Ich ist ein anderer‹ würde die Frage, wie man sich selbst gegenwärtig sein kann. Doch man ist sich nie gleichzeitig, ähnlich dem Freudschen Gedanken, dass ein Subjekt erst Subjekt ist, wenn es die Unterscheidung des Ich vom Anderen trifft. Derrida zeigt in dieser Hinsicht, wie sehr die Husserlsche Phänomenologie davon abhängt, dass das Bewusstsein nicht kommuniziert, weil es sich selbst gegenwärtig und ungespalten ist. Aber niemand außer dem letzten Menschen wird je erfahren, was er zu sagen hat. Genau deswegen schreibt Nietzsche die Worte des letzten Menschen. Sie mögen uneinholbar verklungen sein, lesbar bleiben sie. Mit dem Leser lässt Nietzsche einen Dritten, einen Korken hinzutreten. Er inszeniert ein Stück, bei dem er den Leser dem letzten Menschen lauschen lässt, seinem Atemhauch, der vergeht. Kommunikation bedeutet, wenn sie nicht nur an sich selbst gerichtet ist, die Offenheit ihres Scheiterns zu akzeptieren, ob man es nun Rauschen, Unwahrscheinlichkeit, Parasit oder Missverständnis nennt. Der Abgrund zwischen Sender und Empfänger, der die Kommunikation als Überwindung dieses Grabens überhaupt erst nötig macht, impliziert, dass man hinabstürzen kann. Die Störung ist Bestandteil der immanenten Funktionsweise der Kommunikation.22 Ohne die Möglichkeit des Scheiterns gibt es keine Kommunikation. Der letzte Mensch kann die Kommunikation mit sich selbst hingegen nur durch die Verschiedenheit von Sender und Empfänger erfüllen. Ansonsten scheint ihm alles zu gelingen. Er erkennt sogar, dass er sich belügt.
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Doch vielleicht ist es sinnvoll, an dieser Stelle in einem zweiten Schritt über den letzten Menschen hinauszugehen. Implizit waren die bisherigen Ausführungen von der Frage begleitet, wie in einem Selbstgespräch Wissen produziert werden kann, obwohl der Sprechende weiß, was er hören wird. In der Zirkulation der Adressierung als Aushandlungsprozess liegt eine Produktivität, die sich vom Gehalt des Übertragenen unterscheidet.
22 Vgl. die Aufsätze in Albert Kümmel/Erhard Schüttpelz (Hg.): Signale der Störung, München: Fink 2003.
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Das Selbstgespräch geht mit einem Bezug auf die Zukunft einher, weil die Selbstunterscheidung notwendig Zeit erzeugt und der andere in einem selbst auf die Antwort des anderen danach wartet. Es ist etwas grundsätzlich anderes, sich Botschaften zu schreiben, als sie zu sich zu sprechen, weil sie gespeichert und damit auf andere Weise zeitkritisch sind. Der sich selbst Hörende hört sich als Sprechenden oder vielmehr eine eigene Stimme in der Fremdheit, während der sich Lesende seinem Produkt gegenübersitzt. Beide haben die Option, sich nicht zu verstehen oder aus ihren eigenen Äußerungen etwas über sich zu erfahren, was sie während der Äußerung nicht wussten. Nicht nur können mehrere Ereignisse nicht gleichzeitig am gleichen Ort sein, auch mehrere Identitäten können nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander im gleichen Körper sprechen. Die Speicherung im Tagebuch hat eine Funktion für die Erinnerung. Geschriebenes können wir am nächsten Tag wieder aufnehmen und fortsetzen. Das Selbstgespräch hingegen beginnt immer wieder von neuem. Der ›Fortschritt‹, die Veränderung geschieht im Subjekt, in der Einheit der Unterscheidung, und nicht im gespeicherten Inhalt.23 Das Selbstgespräch unterbricht die Selbstgegenwärtigkeit durch die Kommunikation und die Ungleichzeitigkeit von Sender und Empfänger. Das Selbstgespräch kann also nicht mit der zunächst naheliegenden Luhmannschen Unterscheidung von Kognition und Kommunikation, die sich gegenseitig ausschließen, beschrieben werden.24 Für Luhmann wäre ein Selbstgespräch vermutlich gar keine Kommunikation, weil es nur innerhalb eines geschlossenen Systems stattfindet. Platonische Selbstgespräche der Seele, in denen Erkenntnisgewinn möglich sein soll, die augustinische Praxis der meditativen Psychotechnik oder gar Psychohygiene oder auch das Gebet sind so nur schwer beschreibbar, weil sich kategorial nicht
23 Es handelt sich bei all dem um Rituale der Selbstanrede. Man könnte an dieser Stelle auch bestimmte Praktiken des Gebets als Kulturtechnik der Kommunikation mit Gott anführen, das qua natura ein Selbstgespräch ist, aber die Teilung negieren und die Illusion einer Antwort von Außen aufrechterhalten muss. Etwa an Augustinus Confessiones oder an Ulrich Seidls Film JESUS, DU WEIßT (Österreich, 2003) könnte man zeigen, wie Dialog und Monolog im Gebet ineinander greifen. 24 Vgl. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
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sagen lässt, wer denkt und wer kommuniziert, wenn man mit sich selbst spricht. Auch die soziale Kontrolle durch Beobachtung eines Selbst als Fremdem im Inneren, also Technologien des Selbst als Selbstkontrolle, kommen so nicht in den Blick, Techniken also, das Innere zum Sprechen zu bringen, um es auszuhorchen und in die Wissenschaften vom Menschen ausdifferenziert wurden. In diesem Sinne kann das Selbstgespräch in weiterführender Perspektive mit Michel Foucaults Konzept der Technologien des Selbst als Kulturtechnik der Hermeneutik des Subjekts beschrieben werden.25 Die Produktivität von Selbstgesprächen liegt ja gerade in diesem performativen Aushandeln, wer es da ist, der da redet, das über die Frage hinausgeht, was gesagt wird. Wüsste man dies immer schon, bräuchte man sich nicht verständigen. Das Selbstgespräch artikuliert Identität nicht, sondern verhandelt sie.26 Die Vorstellung von sich selbst als Sprechendem muss durch Kommunikation konsolidiert werden. Die Frage, was im kommunizierenden Selbst zuerst da ist, die Einheit oder die Vielheit, macht hier keinen Sinn. Etwa von Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden oder anhand der Ecriture Automatique kann man lernen, wie sich im Schreiben oder im Sprechen das Geschriebene oder Gesprochene formiert.27 Die Selbstperformanz tritt dabei an die Stelle der Repräsentation eines Wissensinhalts. Die Frage, woher es denn nun kommt, was da gesprochen oder geschrieben wird, kann vielleicht gar nicht beantwortet werden. So läge in der Offenheit ihrer anhaltenden Aushandlung der Schlüssel zu dem, was man Identität nennt – Identität durch Differenz. Darüber hinaus haben Selbstgespräche eine lange Geschichte als literarische Gattung. Zu denken wäre etwa an Augustinus’ gebetartige Selbstgespräche, die von einer Unsicherheit geprägt sind, woher die Stimmen kommen, die im Inneren sprechen: »War ich es oder ein anderer, der von außen
25 Vgl. Michel Foucault: »Technologien des Selbst«, in: Technologien des Selbst, Frankfurt/M.: Fischer 1993, S. 24-62. 26 Vgl. dazu auch Günter Butzer: Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur, München: Fink 2008, S. 34. 27 Heinrich von Kleist: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987.
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oder aus meinem Inneren sprach, ich weiß es nicht.«28 Letztlich wird diese Art des Selbstgesprächs zu einer Befragung der Seele durch die Vernunft, ohne dass die Seele die Vernunft beherrschen könnte. Aber sie machen gemeinsame Sache.29 Für Johann Gottlieb Fichte wird, beispielhaft für den deutschen Idealismus, das Selbstbewusstsein aus dem Selbstgespräch geboren. Das absolute Ich konstituiert ein empirisches Ich, das wesentlich Reflexion ist, und die erscheinende Welt – also ein Nicht-Ich, das dem Ich gegenüber steht, wobei beides vom absoluten Ich umfasst wird. In einem spezifischeren Bezug auf den philosophischen Einsatz Nietzsches kann man den Aphorismus auch als Spitze gegen die sokratische Tradition der Selbstauslegung verstehen, denn der letzte Mensch kann nicht anders als diese Selbstauslegung zu sprengen, womit er die traditionell angestrebte Übereinstimmung mit sich selbst und die Hermeneutik des Subjekts unterläuft.30 In der paradoxen Situation des Selbstgesprächs ist die doppelte Kontingenz zur Hälfte aufgehoben, welche Talcott Parsons als Unwahrscheinlichkeit der beiden black boxes der Kommunizierenden beschrieben hat.31 Aber man weiß nicht, welche Hälfte. Zwar verfügt der Sprechende nicht immer über seine Worte und Gedanken, aber er weiß doch genug über sich, um die eine Seite der Kontingenz aufzuheben. Wenn er etwas tut oder sagt, weiß er, dass er etwas tut oder sagt. Wie kann man in dieser Kommunikationssituation davon sprechen, dass Identität ver- oder gar ausgehandelt wird?
28 Augustinus: Selbstgespräche, München: Heimeran 1951, S. 7. 29 Die Anthropologin Tanya Luhrmann hat beschrieben, wie Kulturtechniken des Gebets in gegenwärtigen religiösen Strömungen der USA Übungen und Verfahren entwickelt oder aus anderen Traditionen der Selbstbeobachtung übernommen haben, auf die ›innere Stimme‹ zu achten, um in ihr oder in den Pausen zwischen spontanen Gedanken auf ähnliche Weise wie der letzte Mensch die Stimme Gottes zu vernehmen – mit dem Unterschied, dass der letzte Mensch weiß, wen er hört. Vgl. Tanya M. Luhrmann: When God talks back. Understanding the American evangelical relationship with God, New York: Alfred A. Knopf 2012. 30 In dieser Hinsicht bietet sich eine weitere Lektüre vor allem der späten Vorreden und der letzten Briefe Nietzsches an, um aufzuzeigen, wie die Figur einer ›Division des Individuums‹ philosophiehistorisch verortet werden kann. 31 Vgl. Talcott Parsons (Hg.): Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1980.
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Warum scheinen also Tagebücher, innere Monologe, Gebete, vielleicht auch Träume als die Orte, an denen Identität fraglich oder festgesetzt wird? Und das, obwohl dort eine Person spricht, die echolos und ohne Austausch in Selbstreferenz badet? Wie kann hier die Komplexität der Selbstbeschreibung im Austausch mit sich selbst gesteigert werden, wenn man selbst nur zurückgibt, was man schon hatte? Vielleicht könnte man sagen, dass gerade diese Selbstreferenz durch die Spaltung der Kommunikation nie einen festen Referenzpunkt hat und deshalb produktiv wird. Wiederum auf der Systemtheorie aufbauend kann argumentiert werden, dass das Selbstgespräch dabei hilft, sich der Umwelt gegenüber zu bestimmen. Man wäre der äußeren Kontingenz gegenüber selbst ein »Kork, der verhindert, daß das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt.«32 Gelingt dies, wäre die Unterscheidung, die im Selbst getroffen wird, stabilisiert, weil sie sich als Teil der Unterscheidung in Umwelt und Selbst bestimmen ließe. Dann ließe sich diese Selbstreferenz als autopoietische Produktion aus sich selbst beschreiben, durch Differenz von System und Umwelt. Damit handelte man sich aber all die bekannten Probleme ein, diese Emergenz zu erklären.33 Vor allem wäre es schwierig, in sich selbst eine Beobachtung zweiter Ordnung zu leisten, weil man sich selbst nicht äußerlich sein kann. Denn die Trennung verbleibt in der Einheit. Es gibt keine Position, von der aus sich die beiden Seiten objektiv beschreiben ließen, also ihrem Gegenstand gegenüberstehend. Systemtheoretisch lässt sich das Problem also nur verschieben. Während im Dialog die Erwartungen unklar sind und damit Kontingenz bestimmend, sind im Monolog die Erwartungserwartungen klar, auch wenn die Erwartung ist, etwas Neues über sich zu erfahren. Aber was für Erwartungen hat man sich selbst gegenüber? Wie kann man sie erfüllen, wenn die erfüllende Instanz mit der beurteilenden übereinstimmt? Der Monolog redet alles an, fremde Menschen, Dinge, Ideen, aber sie antworten als man selbst – ein Chiasmus der Selbstbefragung. Nietzsche macht sich selbst nicht zum Ding, über das, sondern zum Subjekt, mit dem er sprechen kann, und dies gelingt nur in der übertragenden Stimme und
32 F. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra« S. 71. 33 Die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung ist durch die Frage charakterisiert worden, wie ein geschlossenes, autopoietisches System Offenheit hervorbringen kann, um sich fortzuentwickeln. Vgl. Bruce Clarke/Mark Hansen (Hg.): Emergence and Embodiment, Durham: Duke University Press 2009.
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nicht in der speichernden Schrift. In ihrer Übertragung liegt die zeitkritische Produktivität der Adressierung. Nietzsche imaginiert in seinem Text eine Stimme, »denn sie gibt sich dem Subjekt als Affekt ihrer selbst durch sich selbst, ohne sich selbst zu verlassen.«34 Sein Innen kann der letzte Mensch nie vernehmen. Zu hören ist immer nur das Außen, das Veräußerlichte, das Zeichen. Das Sprechen des letzten Menschen ist ein gegenwärtiges Sprechen, das auf eine Zukunft gerichtet ist, die vielleicht nie präsent werden wird, weil auch der letzte Mensch vergeht. Es muss in seiner Gegenwart verhaftet bleiben, weil es in dem Moment gehört wird, in dem es ausgesprochen ist. Er kommuniziert nur in der Präsenz, in der nichts abwesend ist, in der es aber dennoch eine Differenz geben muss. Die Zeit des Selbstgesprächs ist zwangsläufig aufgeschoben und ungegenwärtig, weil nicht zwei Stimmen zugleich sprechen können. Das Gespräch braucht die Pause. »Die Diskontinuität sichert die Kontinuität«35, wie Maurice Blanchot schreibt. Präsenz und Differenz gehen hier ganz in Derridas Sinne einer asymmetrischen Symmetrie Hand in Hand. Diese Differenz einzufügen bedeutet, Selbstidentität auszuschließen, zugleich aber vorauszusetzen, jedoch als gebrochene, die Differenz einfügende Identität. Nach Derrida ist eine »gewisse Selbstidentität«36 nötig, damit ein Zeichen ein Zeichen bleibt. Was bedeutet diese zerstrittene, aber doch einheitliche Kommunikation für die Identität, die sich ihr aussetzt? An Nietzsches Aphorismus über den letzten Menschen wird deutlich, dass Kommunikation, selbst wenn sie in der radikalsten Form beschnitten wird, eine Differenz und damit eine Vielheit voraussetzt, und genau diese Vielheit scheint als ein philosophisches Problem der Kommunikationstheorie und der Medienwissenschaft noch nicht hinreichend bedacht worden zu sein. Es sind mithin drei Schritte, die in diesem Text versucht wurden: Erstens wurde die bekannte Serressche Formel, »Einen Dialog führen heißt,
34 Francois Wahl: »Die Philosophie diesseits und jenseits des Strukturalismus«, in: Francois Wahl (Hg.), Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 323-478, hier S. 433. 35 Maurice Blanchot: »Unterbrechung«, in: Ders.: Das Neutrale, Berlin: Diaphanes 2010, S. 171-206, hier S. 172. 36 Jacques Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 291-314, hier S. 301.
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einen Dritten setzen und ihn auszuschließen versuchen«37 um einen Teilnehmer verringert: »Einen Monolog führen heißt, einen Zweiten setzen und ihn einzuschließen versuchen.« Dieser Monolog wäre dann natürlich wieder ein Dialog, bei dem noch zu erörtern wäre, ob er gestört werden kann und welche Rolle der Korken spielt, denn auch der Dritte gehört zum Ersten. Mit dieser Selbstsetzung des Zweiten in sich ging es um eine Oszillation von Subjekt- und Objekt-Zuständen, um das Prekärwerden der Unterscheidung von Ich und Anderem: diese Grenze tritt auch im Sprechenden als Aushandlungssache hervor, als Unterscheidung, welche die Identität stiftet, die sich dann wieder selbst unterscheidet. Im Selbstgespräch macht der Sprechende sich selbst zum Objekt und zugleich in sich den Anderen zum Subjekt. Insofern also Ich selbst mich brauche, um mich von mir zu unterscheiden, bin Ich immer schon jemand anders, um ich gewesen und jener Andere sein zu können. Und all das ist Resultat einer Kommunikationssituation, die damit als Bestandteil einer jeden Identität hervortritt. Um es ein letztes Mal zu wiederholen: Kommunikation setzt eine Trennung zwischen zwei Elementen voraus, die im Akt der Kommunikation zu überwinden versucht wird und ihre Relata in diesem Akt konstituiert. Die Frage, ob Identität vor der Kommunikation da ist oder danach, ob sie das Produkt einer Aushandlung darstellt oder die Grundlage dafür, dass überhaupt ausgehandelt werden kann, kann als Frage nach den Netzwerken der Eindeutigkeit gestellt werden. Die Selbstunterscheidung des Selbstgesprächs liegt aber noch vor allen Potentialen, welche die Schrift für die Selbstfindung und -artikulation bereitstellt, vor ihrer Speicherfunktion, die das Gedächtnis ergänzt, vor ihrer Ordnung, die sich verbreitet und besonders vor allen Inhalten, die man sich sagt. Diese Unterscheidung ist notwendig, will man Kommunikation in ihrer Relationalität und Medialität denken und damit Identität als Produkt eben dieser Prozesse fassen. In Nietzsches Text lässt sich zweitens ein feiner Unterschied der Medien ausmachen. Dem letzten Menschen dient seine Stimme als Medium weniger der Äußerung als der Veräußerlichung, obwohl er nur Innerlichkeit hat. Ob er in Gedanken spricht oder laut redet ist dabei zweitrangig. Das Sprechen liefert eine Projektionsfläche, auf der er sich selbst gegenüber treten kann. Damit vergeht Zeit, die nötig ist, damit es Kommunikation und damit es keine Selbstgegenwart gibt. Ohne Medium, sei es die Sprache, das
37 Michel Serres: Hermes I. Kommunikation, Berlin: Merve 1991, S. 50.
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Tagebuch oder Rituale des Gebets, gibt es kein Selbstgespräch als Aushandlung von Identität. Medien konstituieren diese Identität aber nicht oder bringen sie eigenständig als ein feststehendes Produkt hervor, sondern eröffnen die Möglichkeit ihrer Aushandlung, indem sie Ich und Ich gegenüberstellen. Dabei ist weder eines der Ichs ursprünglich noch gar das Medium oder die Differenz. Vielmehr sind sie Divisionen des Individuums durch sich selbst. Die Differenz spaltet, weil das Medium spaltet, und deshalb stellt es im Selbstgespräch in Frage und liefert zugleich die Antwort: Identität als Differenz. Wer sich im Selbstgespräch findet, ist sich einen Schritt voraus. Entsprechend lässt sich eine Medienfunktion aus der Perspektive des Begehrens formulieren, das im 19. Jahrhundert Menschen vor dem Tod ihre Stimme aufnehmen und an die Nachwelt übermitteln ließ, oder der NASA nahelegte, Außerirdischen unsere Botschaften zu präsentieren, des Begehrens, das seit jeher autobiographische Texte als Botschaft an die Nachkommen anleitet, des Begehrens, das Menschen die Aufnahme- und Speicherfunktion von Medien nahelegt, um mit Hilfe der Übertragungsfunktion eine Funktion ihrer selbst in die Zukunft zu transportieren.38 Dieses Begehren nach Veräußerlichung und damit nach Unsterblichkeit erfüllen Medien auf je spezifische, historisch wandelbare Weise, indem sie ihre Potenziale für die beschriebenen Operationen zur Verfügung und ihren intendierten Inhalt unter neue Bedingungen stellen – so auch das Selbstgespräch, dessen Medien und Techniken näherhin untersucht werden können. In diesen Vorgängen werden jedoch weniger ›echte Menschen‹ übertragen oder ›letzte Willen‹ befolgt, sondern stiften eher Doppelgänger Verwirrung. Botschaften kommen nicht an, wie Kafka an Milena schreibt, »sondern werden von den Gespenstern auf dem Weg ausgetrunken«.39 Diese Differenz kann eine zeitliche oder räumliche Ausprägung haben, wo technische Medien einsetzen. Sie ist noch in jeder Öffentlichkeit am Werk, die Medien nutzen mag. Medien können die Funktion haben, etwas Abwesendes anwesend zu machen und damit einen paradoxalen Status erzeugen. Was hier ist, kann nicht dort sein. Und dieser Gedanke berührt unsere Identität, die von
38 Vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986 sowie J. D. Peters: Speaking into the Air 2000, S. 136ff. 39 Franz Kafka: Briefe an Milena, Frankfurt/M.: Fischer 1986, S. 302, (Prag, Ende März 1922).
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Kommunikationen getrennt und verbunden wird. Wir sind alle, immer und überall letzte Menschen.
V ERBUNDENE T RENNUNGEN Für den dritten Punkt soll nochmals von all dem einen Schritt zurückgetreten und ein breiterer, vielleicht etwas vager Bogen geschlagen werden. Er betrifft die Logik der getroffenen Unterscheidungen. Jede Division hat ein Ergebnis, auch wenn sie nicht glatt aufgeht. Am Ende dieser Division steht wieder eine Einheit, so gebrochen sie nunmehr sein mag. Die Selbstheit der Identität bleibt eins, auch wenn die Intersubjektivität, verstanden als Zwischen-Subjektivität, der Subjektivität vorausgeht. Selbst wenn nur eine Stimme spricht und nichts von anderen Stimmen bewusst ist, ist derart eine Einheit zu denken, die trotz Einheitlichkeit gebrochen ist. Vielleicht sollte man deshalb statt von Individuen, die immanent und in sich geschlossen erscheinen, besser von Singularitäten sprechen, wie es Jean-Luc Nancy vorgeschlagen hat.40 Ihr Sein ist, so Nancy, singulär plural, weil erst die (kommunizierende) Gemeinschaft sie als Singularitäten denkbar sein lässt. Eine Trennung, die verbindet, eine Berührung, die entfernt, eine Einheit, die gebrochen ist, all dies will auch die Begriffsperson des letzten Menschen mitteilen, die durch Nietzsche spricht und die zu lesen versucht wurde. Auch wenn es nie jemand hören wird.41
L ITERATUR Augustinus: Selbstgespräche, München: Heimeran 1951. Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. Birus, Hendrik: »Apokalypse der Apokalypsen. Nietzsches Versuch einer Destruktion aller Eschatologie«, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München: Fink 1996, S. 3258.
40 Jean-Luc Nancy: Singulär Plural Sein, Berlin: Diaphanes 2004. 41 Christine Abbt/Zürich hat verhindert, ›dass das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt‹, wofür ich meinen Dank ausspreche.
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Blanchot, Maurice: »Unterbrechung«, in: Ders.: Das Neutrale, Berlin: Diaphanes 2010, S. 171-206. Butzer, Günter: Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur, München: Fink 2008. Chang, Briankle: Deconstructing Communication, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996. Clarke, Bruce/Hansen, Mark (Hg.): Emergence and Embodiment, Durham: Duke University Press 2009. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, Berlin: Brinkmann & Bose 1982. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 291-314. Esposito, Roberto: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: Diaphanes 2004. Foucault, Michel: »Technologien des Selbst«, in: Ders.: Technologien des Selbst, Frankfurt/M.: Fischer 1993, S. 24-62. Guillory, John: »Genesis of the Media Concept«, in: Critical Inquiry (2010), S. 321-362. Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen 2. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Den Haag: Martinus Nijhoff 1984. Kafka, Franz: Briefe an Milena, Frankfurt/M.: Fischer 1986. Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986. Klammer, Markus/Neuner, Stefan: »Die Figur der Zwei«, in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie (2010), S. 15-21. Kleist, Heinrich von: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«. In: Ders. (1987): Sämtliche Werke und Briefe. Frankfurt/M., Deutscher Klassiker Verlag. Kümmel, Albert/Schüttpelz, Erhard (Hg.): Signale der Störung, München: Fink 2003.
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Leibniz, Gottfried W./Clarke, Samuel: Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel, Berlin: Akademie 1715/1991. Lichtenberg, Georg C.: »Sudelbücher 1«, in: Ders.: Schriften und Briefe, herausgegeben von Wolfgang Promies, München: Hanser 1968. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. Luhrmann, Tanya M.: When God talks back. Understanding the American evangelical relationship with God, New York: Alfred A. Knopf 2012. Mayer, Robert J.: »Ueber Auslösung (1845)«, in: Ders.: Die Mechanik der Wärme. Sämtliche Schriften, Heilbronn: Stadtarchiv 1978, S. 371-416. Mukarovsky, Jan: Kapitel aus der Poetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967. Nancy, Jean-Luc: Singulär Plural Sein, Berlin: Diaphanes 2004. Newton, Isaac: Isaac Newton’s Papers & Letters on Natural Philosophy, Cambridge: Harvard University Press 1978. Nietzsche, Friedrich: »Also sprach Zarathustra«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 4, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: De Gruyter 1974. Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: De Gruyter 1974. Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente. Herbst 1884 bis Herbst 1885«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 7/3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: De Gruyter 1974. Parsons, Talcott (Hg.): Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1980. Peters, John D.: Speaking into the Air. A History of the Idea of Communication, Chicago: University of Chicago Press 2000. Serres, Michel: Hermes I. Kommunikation, Berlin: Merve 1991. Wahl, Francois: »Die Philosophie diesseits und jenseits des Strukturalismus«, in: Ders.; (Hg.), Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 323-478. Waldenfels, Bernhard: Das Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophische Untersuchungen in Anschluß an Edmund Husserl, Den Haag: Nijhoff 1971. Windgätter, Christof: Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift, Berlin: Kadmos 2006.
Autor_innen
Peter Berz studierte Philosophie und Germanistik, promovierte in Kulturwissenschaft (»08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts«), war Assistent am Lehrstuhl für »Ästhetik und Geschichte der Medien« an der HumboldtUniversität zu Berlin und habilitierte dort in Kultur- und Medienwissenschaft (»Programm und Umgebung«). Unterrichtet in Berlin und Wien, arbeitet seit 2010 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin über molekulare Kybernetik und Naturphilosophie bei Jacques Monod. Forschungsschwerpunkte: Lamarckismus, Morphogenese, Pythagoreismus. Einschlägige Veröffentlichungen: »Das Augentierchen. Euglena gracilis KLEBS«, in: Chr. Kassung, J. Mersmann, O.B. Rader (Hrsg.), Zoologicon. Ein kulturhistorisches Wörterbuch der Tiere, München 2012. »Die Einzeller und die Lust. Boelsche Freud Ferenczi«, in: G. Scharbert, Ch. Kirchhoff (Hrsg.), Freuds Referenzen, Berlin 2011. Julia Eckel, M.A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) mit einem Projekt zur Theoriegeschichte des Anthropomorphen in audiovisuellen Medien. Sie studierte Sozialpsychologie/-anthropologie (B.A.) und Medienwissenschaft (B.A./ M.A.) an der RUB und am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Eva Warth am Institut für Medienwissenschaft der RUB, sowie Promotionsstipendiatin der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität. Aktuelle Veröffentlichungen: Zeitenwende(n) des Films – Nonlineare Narrrationen im zeitgenössischen Erzählkino (Marburg: Schüren, 2012) und
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(Dis)Orient-ing Media and Narrative Mazes (Hrsg. zusammen mit B. Leiendecker, D. Olek, C. Piepiorka; Bielefeld: transcript, 2013). Maja Figge, M.A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Theorie und Geschichte zeitgenössischer Medien am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. 2012 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin zu »(Wieder-)Herstellungsprozessen von Deutschsein im bundesdeutschen Kino der 1950er Jahre«. Forschungsschwerpunkte: Race, Gender und Medien, Film & Geschichte, Deutsches Kino. Zuletzt erschienen: Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah (Hg. mit Konstanze Hanitzsch & Nadine Teuber), Bielefeld 2010, »›Der Konsum hilft!‹ Rassismus und Heilung durch Integration in Toxi«, in: Um/Ordnungen. Fotografische Menschenbilder zwischen Konstruktion und Destruktion (Hg. von Klaus Krüger et al.) München 2010. Natascha Frankenberg und Michael Andreas forschen in den Bereichen Postcolonial Studies, Queer Studies, Identitätspolitiken und -kritik. Natascha Frankenberg ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am HeleneLange-Kolleg »Queer Studies und Intermedialität: Kunst – Musik – Medienkultur« der Universität Oldenburg und war bis 2013 Wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Medienwissenschaft der Universität Bochum. Michael Andreas ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Universität Bochum. Er studierte Film- und Fernsehwissenschaft, Anglistik und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und der University of Toronto. Natascha Frankenberg studierte Film- und Fernsehwissenschaft, neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und an der Universität Stockholm. Nanna Heidenreich ist seit Sommersemester 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Medienwissenschaften an der HBK Braunschweig. Zuvor vor allem Arbeit im Bereich Experimentalfilm & Videokunst beim Arsenal – Institut für Film und Videokunst (www.arsenal-berlin.de) in Berlin, wo sie auch weiterhin als Ko-Kuratorin der Sektion Forum Expanded bei der Berlinale tätig ist. Daneben unabhängige kuratorische Projekte mit Film & Video, besonders an den Kreuzungspunkten von Politik & Kino / Kunst, Übersetzungen aus dem Englischen (Kunst/Theorie/Kino) und bis
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2009 Performanceproduktionen und andere Interventionen mit dem antirassistischen Netzwerk Kanak Attak (www.kanak-attak.de). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: visuelle Kultur, Politik & Kunst, Bilderstreite, Migration, Antirassismus. Eva Kuhn, lic. phil., hat Kunstgeschichte, Filmwissenschaften und Philosophie an den Universitäten Basel, Zürich und Berlin studiert. 2008 bis 2011 Assistentin am Lehrstuhl für neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel. 2011 bis 2012 Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds: Aufenthalt in Paris zur Fertigstellung der Dissertation: »leben – filmen. Die Tagebuchfilme von Jonas Mekas« (Arbeitstitel). Feb. 2013 Wiederaufnahme der Assistenz am Lehrstuhl für neuere Kunstgeschichte, Universität Basel. Publikationen (Auswahl): »Ein Filmbild im Blick«, in: Egenhofer u. a. (Hg.): Was ist ein Bild? : Antworten in Bildern : Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag, München 2012. »Hafnargata«, in: Bitterli (Hg.): Silvia Bächli. Far apart - close together, Nürnberg 2012, S. 132-145. Anja Michaelsen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft, Bochum. Sie promovierte 2012 mit einer Arbeit zu Darstellung und Diskurs moderner Adoption, mit Fokus auf Sentimentalität, Biopolitik und Transnationalität. Interessensschwerpunkte: Gender, Race and Media Studies, Public Feelings, Kritische Verwandtschaft- und Adoptionsforschung, Queer Theory. Veröffentlichungen: mit Karin Michalski: »The Alphabet of Feeling Bad: Ein Gespräch«, in: onlinejournal kultur&geschlecht #10/2013; »Zur Bedeutungsverschiebung des Biologischen. Queere und feministische Kritik an der Normativität der ‚neuen’ Familien mit The Kids Are All Right (USA 2010) und First Person Plural (USA 2000)«, in: Fachgesellschaft Gender Studies (Hg.): Wanderungen. Migrationen & Transformationen aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven. Bielefeld (im Erscheinen); mit Astrid Deuber-Mankowsky und Christoph Holzhey (Hg.): Der Einsatz des Lebens. Lebenswissen, Medialisierung, Geschlecht. Berlin 2009. Robert Pfaller ist Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien. 2007 ausgezeichnet mit dem Preis »The Missing Link« des Psychoanalytischen Seminars Zürich. Veröffentlichungen u. a.: Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere (Frankfurt/M.: Fischer, 2012);
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Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie (Frankfurt/M.: Fischer, 2011); Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur (Frankfurt/M.: Fischer, 2008); Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzp in der Kultur (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002); gemeinsam mit Beate Hofstadler: Hätten Sie mal Feuer? Intellektualismus, Begehren und Tabakkultur (Wien: Löcker, 2012). Stefan Rieger studierte Germanistik und Philosophie. Stipendiat im Graduiertenkolleg Theorie der Literatur (Konstanz), im Anschluss daran Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich Literatur und Anthropologie. Promotion über barocke Datenverarbeitung und Mnemotechnik, Habilitationsschrift zum Verhältnis von Medien und Anthropologie (Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/M. 2001). Aktuelle Arbeits- und Publikationsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Medientheorie und Kulturtechniken. Jüngste Buchveröffentlichungen: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt/M. 2003; Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve, Frankfurt/M. 2009. Zusammen mit Benjamin Bühler, Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt/M. 2006 sowie Das Wuchern der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens, Frankfurt/M. 2009. Zuletzt: Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung, Berlin 2012 (edition unseld). Heisenbergstipendiat der DFG. Seit 2007 Professor für Mediengeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Andrea Sick ist Kuratorin und Kultur- und Medienwissenschaftlerin. Seit November 2009 Professorin für Kultur- und Mediengeschichte/-theorie an der Hochschule für Künste Bremen. Zuvor Lehr- und Vortragstätigkeit an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. Seit 1993 Künstlerische Leitung/Geschäftsführung des Frauen.Kultur.Labor. thealit (seit 2009 zusammen mit Claudia Reiche / Helene von Oldenburg) //www.thealit.de Aktuelle Publikationen (Auswahl) als Herausgeberin: Rauchwolken und Luftschlösser. Temporäre Räume (zusammen mit Dennis Paul) Hamburg (Textem Verlag), Erscheinungsdatum Herbst 2013. Was ist Verrat? (Zusammen mit Claudia Reiche) Katalog, Bremen (thealit) 2012. Aufsätze: »Von innen und von oben«. In: Christian Reder (Hg.), Kartographisches Denken, Springer Verlag 2012., »Auszeichnen und Aufzeichnen von Räumen«. In: Stefan Günzel, Lars Nowak: KartenWissen. Territoriale
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Räume zwischen Bild und Diagramm, Wiesbaden 2013. »Programme und Raster. Zur Ausbreitung analoger und digitaler Techniken«. In: Rasterfahndung, Kunstmuseum Stuttgart, Simone Schimpf et al. (Hg.), Ausstellungskatalog, Köln 2012. Florian Sprenger ist PostDoc am Graduate Centre for the Study of Culture an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zuvor war er Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien sowie Visiting Scholar an der Stanford University. 2012 ist seine Dissertation Medien des Immediaten - Elektrizität, Telegraphie, McLuhan im Kadmos-Verlag erschienen. Er arbeitet zur Geschichte der Medientheorie, zu Medien der Architektur und zur Wissenschaftsgeschichte der Elektrizität. Sebastian Vehlken, Dr. phil, ist seit April 2013 Juniordirektor der DFGKollegforschergruppe Medienkulturen der Computersimulation an der Leuphana Universität Lüneburg. Er studierte Medienwissenschaften und Wirtschaftswissenschaft in Bochum und Media Studies in Perth. Von 2005 bis 2007 war er DFG-Stipendiat im Graduiertenkolleg Mediale Historiographien der Bauhaus-Universität Weimar, von 2007 bis 2010 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Epistemologie und Philosophie Digitaler Medien des Instituts für Philosophie der Universität Wien, und von 2010-2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien der Leuphana Universität. Seine Dissertation schloss er 2010 am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Sie erschien 2012 unter dem Titel Zootechnologien. Eine Mediengeschichte der Schwarmforschung im Diaphanes Verlag. Seine Interessensbereiche umfassen die Theorie und Geschichte Digitaler Medien (Schwerpunkt: Supercomputing, Agentenbasierte Computersimulation und ihre Visualisierungstechniken), Medientheorie, Medien in der Biologie, die Geschichte und Epistemologie von Think Tanks und Beraterwissen, die Mediengeschichte des Sonars, und Ozeane als Wissensräume. Publikationen u. a.: »Zootechnologies. Swarming as a Cultural Technique«, in: Technology, Culture, and Society. Special Issue: Cultural Techniques, ed. Geoffrey Winthrop-Young, Jussi Parikka and Ilina Irascu, 2013 (in press).
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung März 2013, 176 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung September 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture September 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.) Werkbegriff Nachhaltigkeit Resonanzen eines Leitbildes Oktober 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-2422-9
Hermann Parzinger, Stefan Aue, Günter Stock (Hg.) ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen Februar 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2450-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik
Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information
August 2013, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2160-0
August 2013, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1983-6
Tanja Carstensen, Christina Schachtner, Heidi Schelhowe, Raphael Beer (Hg.) Digitale Subjekte Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart
Jan Henschen Die RAF-Erzählung Eine mediale Historiographie des Terrorismus
Dezember 2013, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2252-2
Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten Dezember 2013, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2330-7
Özkan Ezli, Andreas Langenohl, Valentin Rauer, Claudia Marion Voigtmann (Hg.) Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft August 2013, ca. 366 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1888-4
Beate Flath (Hg.) Musik/Medien/Kunst Wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven
September 2013, ca. 290 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2390-1
Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.) SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale Juli 2013, 260 Seiten, kart., zahlr. z.T. farbige Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2210-2
Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert Oktober 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2215-7
Bastian Lange, Hans-Joachim Bürkner, Elke Schüssler (Hg.) Akustisches Kapital Wertschöpfung in der Musikwirtschaft August 2013, ca. 308 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2256-0
August 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2346-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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