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German Pages 507 Year 2009
Schriften zum Europäischen Recht Band 146
Identitätsstiftung durch den Europäischen Verfassungsvertrag Von Katharina Körner
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
KATHARINA KÖRNER
Identitätsstiftung durch den Europäischen Verfassungsvertrag
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann
Band 146
Identitätsstiftung durch den Europäischen Verfassungsvertrag
Von Katharina Körner
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Sommersemester 2007 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-12903-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Martina Ley
Danksagung Die vorliegende Dissertation wurde in der Zeit von Oktober 2004 bis März 2007 angefertigt und von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Sommersemester 2007 als Dissertation angenommen. Die vorliegende Fassung wurde lediglich um Neuerungen in Bezug auf den Vertrag von Lissabon ergänzt und überarbeitet. An erster Stelle gilt mein besonderer Dank dem geistigen Initiator der vorliegenden Arbeit, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Blumenwitz (*11.07. 1939 ²02.04.2005), meinem sehr verehrten und leider zu früh verstorbenen Doktorvater. Herr Professor Dr. Blumenwitz legte den wissenschaftlichen Grundstein zur Erstellung dieser Dissertation und gab die wesentlichen Weichenstellungen vor. Mein herzlicher Dank gilt darüber hinaus meinem hoch geschätzten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Burkhard Schöbener, der mir während der Anfertigung der vorliegenden Dissertation immer mit Rat und Tat zur Seite stand und mich vor allem in schwierigen Phasen sehr unterstützte. Dabei ließ er mir jegliche wissenschaftliche Freiheit und förderte meine Arbeit durch hoch interessante Diskussionen und fachliche Anregungen. Desweiteren bedanke ich mich sehr herzlich bei Herrn Professor Dr. Otto Depenheuer für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Mein Dank gilt auch der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., die mich während der gesamten Doktorandenzeit durch eine großzügige finanzielle und ideelle Promotionsförderung unterstützt hat. Vor allem die diversen fachlichen Veranstaltungen zur Förderung eines interdisziplinären Dialogs unter den Stipendiaten empfand ich als sehr bereichernd. Einen besonderen Dank möchte ich daher stellvertretend für die gesamte Hanns-Seidel-Stiftung e. V. an Herrn Professor Hans-Peter Niedermeier und Herrn Dr. Rudolf Pfeifenrath richten. Mein tiefer Dank gebührt desweiteren meinen Eltern, die mich immer in jeder erdenklichen Hinsicht beraten, gefördert und unterstützt haben. Ganz besonders möchte ich meiner Mutter, Frau Martina Ley, danken. Durch ihre klugen Nachfragen und Diskussionsanregungen wurde mir so manches Identitäts-Problem der Europäischen Union aus Sicht der Bürger erst gegenwärtig. Ebenso danke ich meinem lieben Vizevater, Herrn Dr. Kornelius Ley. Ohne seine Hilfe bei so manchem Problem der „Computerei“ hätte die vorliegende Arbeit nicht so rasch erstellt werden können. Weiterhin möchte ich mich bei meinem Vater,
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Danksagung
Herrn Dr. Klaus Körner, ganz herzlich für seine Hilfe bei der Entstehung der Dissertation, insbesondere für die konstruktiven Ratschläge an eine zweifelnde Doktorandin, bedanken. Auch meinem Bruder, Herrn Fabian Körner, gebührt Dank für die vielen aufmunternden Telefonate. Ebenso möchte ich mich gerne bei Frau Dipl. jur. Isabelle Ley dafür bedanken, dass sie so rasch und sorgfältig meine Manuskriptfassung Korrektur gelesen hat. Desweiteren danke ich meiner lieben Freundin und Weggenossin, Frau Dr. Hülya Bandak. Ihre Freundschaft in allen Phasen unseres juristischen Werdegangs und darüber hinaus war und ist eine große Bereicherung für mich. Ein Dank gilt auch meinen Freunden, Frau Rechtsanwältin Stephanie Kainz und Herrn cand. iur. Philipp Zach, die meine Arbeit vor allem in der Endphase durch vielseitige Ermutigungen und Ablenkungen gefördert haben. Schließlich möchte ich vor allem und ganz besonders dem Mann an meiner Seite, Herrn Christoph Schäfle, für seine grenzenlose Geduld und seinen Frohsinn danken, der mir immer wieder deutlich macht, dass die Juristerei doch nur ein kleiner Teil des Lebens ist. New York, im März 2009
Katharina Körner
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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A. Stand der Identitätsdiskussion in Europa und Entwicklung des Themas . . . . . . I. Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Idee einer europäischen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Identitätsstiftende Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Aktualität der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Inhalt, Aufbau und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erster Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil
Kollektive Identität als normative Bedingung für den Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Union
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1. Kapitel Bestimmung des Begriffs „Identität“
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A. Sprachwissenschaftlicher Hintergrund des Identitätsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Eingrenzung auf den sozialpsychologischen Identitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . I. Kulturelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europa als geographische Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sozialpsychologische und soziologische Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Sozialpsychologische Definition von Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Personale Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozialpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kollektive Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichtlicher Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theorie der Sozialen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Theorie der Selbstkategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bildung kollektiver Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis III. Intersubjektive Anknüpfungsmöglichkeiten für Identität . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Genetische Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Affektive Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Abgrenzung der Begrifflichkeiten: Identität und Identifikation . . . . . . . . . V. Tauglichkeit des sozialpsychologischen Ausgangspunktes für die rechtswissenschaftliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Identitätstheorie des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtslage Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verwendung des Identitätsbegriffes durch die Europäische Union . . .
48 48 49 51 52 53 54 55
2. Kapitel Konstruktion von Identität in Gemeinwesen – Nationalstaatliche Identitätskonstruktionen als Beispiele für eine europäische Identitätsstiftung
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A. Prototyp einer supranationalen Organisation sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Konstruktionsverläufe nationalstaatlicher Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Vergleichbarkeit nationalstaatlicher Identitätskonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Integration, Staat, Gesellschaft und Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Volk und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Sprachnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Nationalstaatliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion . . . . . . . . . . . .
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F. Geschichtsnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Nationalstaatliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion . . . . . . . . . . . .
73 73 74
G. Abstammungsgemeinschaft bzw. Volksnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Nationalstaatliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion . . . . . . . . . . . .
76 76 78
H. Kulturnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Nationalstaatliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion . . . . . . . . . . . .
79 79 82
J.
84 85 88 89
Verfassungsnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Nationalstaatliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion . . . . . . . . . . . . 1. Europäische Union als Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhaltsverzeichnis
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2. Verfassung im funktionalen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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K. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Kapitel Notwendigkeit kollektiver Identität und Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht A. Das I. II. III.
Verhältnis von kollektiver Identität, Legitimität und Verfassung . . . . . . . . . Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfassung und kollektive Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bezugnahme auf die Weimarer Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Rechtspositivismus Hans Kelsens: Entbehrlichkeit kollektiver Identität für Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Identität von Staat und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einheitsstiftung durch die Grundnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Tauglichkeit des Ansatzes zur Identitätsstiftung durch europäisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europäische Union als Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legitimitätskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Identität und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Homogenität als vorrechtliche Voraussetzung von Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . I. Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einheitskonzeption: Homogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassung und Verfassungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bund und Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Tauglichkeit des Ansatzes zur Identitätsstiftung durch europäisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsvertrag und Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staat als Verfassungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ethnisches Homogenitätsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Identität und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. National-kulturelle Homogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Konzeption Ernst Wolfgang Böckenfördes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ansicht Paul Kirchhofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 4. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) National-kulturelle Homogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identität und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Hermann Heller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einheitskonzeption: Soziale Homogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tauglichkeit des Ansatzes zur Identitätsstiftung durch europäisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Europäischer Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Souveränitätsverständnis und europäische Integration . . . . . . . . . . . c) Legitimitätskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Identitätsstiftung und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sprachliche Homogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
D. Kollektive Identitätsstiftung zur Sicherung von Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rudolf Smend: Legitimität durch Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Integration als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Integrationsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönliche Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionelle Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sachliche Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einheitsstiftung durch Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Drei Funktionsweisen sachlicher Integration durch Verfassung . . . . . . a) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bundesstaatskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Tauglichkeit des Ansatzes zur Identitätsstiftung durch europäisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ablösung vom Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wertegemeinschaft als Voraussetzung von Integration . . . . . . . . . . . c) Integration als geistiger Vorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bundesstaatskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nebeneinander der Identitäten im Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausgleich innerer Spannungen im Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Vereinnahmung Einzelner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Normativität der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Differenzierung zwischen Rechts- und Integrationswert . . . . . . bb) Grundrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132 132 133 134 134 134 136 138 138 140 143 145 146 149 151 152 152 152 156 156 157 158 159 160 161 161 162 163 164 165 168 169 169 170 172 174 174 177
Inhaltsverzeichnis
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cc) Staatsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Abwertung der Normativität und konstitutionelle Identitätsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Unvollständigkeit der Integrationslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Identitätsstiftung durch Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rezeption der Integrationslehre Rudolf Smends . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechte als Wertordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einheitsstiftung als Verfassungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Ansatz von Ingolf Pernice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Bedeutung einer Verfassung für die kollektive Identitätsbildung aus der sozialpsychologischen Perspektive: Der Ansatz Armin von Bogdandys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wirkungszusammenhang zwischen Rechtstext und sozialer Identität . . 2. Kategorisierung durch Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unmittelbarer Wirkungsmodus einer Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mittelbarer Wirkungsmodus einer Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178
E. Kollektive Identität und Legitimität in ausgewählten Theorien der Soziologie und Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entbehrlichkeit kollektiver Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Postmoderne Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Notwendigkeit kollektiver Identität für den Bestand von Gemeinwesen . . 1. Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Generalisierte Unterstützungsbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundkonsens zur Sicherung von Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftlicher Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entbehrlichkeit eines Konsenses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konflikt als Modus der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungspatriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Konzeption Dolf Sternbergers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Konzeption von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Identitätsstiftung durch Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Diskurstheoretische Begründung von Legitimität . . . . . . . . . . . . 4. Europäischer Verfassungspatriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178 180 182 183 184 185 186 188
190 191 192 192 193 195 195 196 196 197 198 199 199 202 203 203 205 207 207 209 211 211 212 213 213 214 216
14
Inhaltsverzeichnis a) Dolf Sternbergers Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Jürgen Habermas’ Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Legitimitätskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Normative Vorbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Totalitarismusnähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Möglichkeit der Zustimmung aller Bürger . . . . . . . . . . . . . . (4) Fingierte Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Realitätsferne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abgrenzung gegenüber dem Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Fehlen institutioneller Voraussetzungen auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
F. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sozialpsychologische Konsequenzen für eine Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtliche Grenzen einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht . . . . . 1. Freiheitsgefährdende Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechte als Abwehrrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kollektive Identität als notwendige Voraussetzung von Legitimität . . . . . IV. Endergebnis zum Ersten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217 217 219 219 219 220 221 222 223 223 224 225 226 227 229 229 231 232 234
Zweiter Teil
Identitätsstiftende Ansatzpunkte des Konstitutionalisierungsprozesses der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des Europäischen Verfassungsvertrages 239 1. Kapitel Bedeutung und Funktion kollektiver Identität für die EU – Notwendigkeit einer europäischen Identität aus ihrer Perspektive A. Identitätsstiftende Politik der Gemeinschaften seit den 70er Jahren . . . . . . . . . . I. Dokument über die europäische Identität 1973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tindemans Bericht 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Feierliche Deklaration zur EU 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einheitliche Europäische Akte 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Unterzeichnung des EU-Vertrages 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Änderung des EG-Vertrages 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Feierliche Verabschiedung der Grundrechtecharta 2000 . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Vertrag über eine Verfassung für Europa 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
240 242 242 244 245 245 246 246 247 248
Inhaltsverzeichnis
15
IX. Vertrag von Lissabon 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 X. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 B. Erfolg dieser Politik: Bestehen einer europäischen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eurobarometer-Umfrage Herbst 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eurobarometer-Umfragen zu den Verfassungsreferenden . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251 251 252 254
C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 2. Kapitel Entwicklungsgeschichte des Verfassungsvertrages – identitätsstiftende Ansatzpunkte der Verfassungsgebung A. Verfassungskonvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unabhängigkeit der Konventsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gleichheit der Delegierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Rational motivierter Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
256 257 260 261 263 264 265 266
B. Europaweites Referendum als Alternative zum Konventsverfahren . . . . . . . . . . 267 I. Vorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 II. Gefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 3. Kapitel Identitätselemente des Vertrages über eine Verfassung für Europa und des Vertrages von Lissabon
272
A. Gründung einer neuen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einheitliches Gründungsdokument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Art. I-1 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
276 276 279 281
B. Präambeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bedeutung der Präambeln für die europäische Identität . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwei Präambeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtliche Verbindlichkeit der Präambel des Verfassungsvertrages . . . . . IV. Gesamtpräambel des Europäischen Verfassungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . 1. Vergangenheitsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Thukydides-Zitat im Verfassungsvertragsentwurf des Konvents . . . b) Erbe Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
282 282 284 286 287 288 288 290
16
Inhaltsverzeichnis aa) Erbesklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Authentizität der historischen Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schmerzliche Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gegenwartsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wohlstand Europas zum Wohl seiner Bewohner . . . . . . . . . . . . . . . . b) Völker Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Europa als ein Ort, an dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas e) Gottesbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Laizismus des Verfassungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Alternativklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zukunftsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Voranschreiten Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Immer enger vereint als Schicksalsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Europa als Schicksalsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einheit Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Hoffnung der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291 292 296 297 298 299
C. Verhältnis von nationaler und europäischer Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Multiple Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Identität und Europäisches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. EU-Vertrag und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nationale Identität gemäß Art. 6 Abs. 3 EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identität Europas: Präambel EU, Art. 2 UA 2 EU . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsvertrag und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nationale Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identität Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vertrag von Lissabon und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nationale Identität gemäß Art. 4 Abs. 2 EU n. F. . . . . . . . . . . . . . . . b) Identität Europas: Präambel EU n. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Empirische Untersuchungen zu europäischer und nationaler Identität . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
310 310 312 312 312 314 316 317 317 318 318 318 319 321
D. Symbole der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Symboldefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirkungsweise von Symbolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vermittlungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Emotionale Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Symbole in der Staats- und Verfassungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321 321 321 322 322 322 323
V.
300 300 301 302 304 306 306 307 307 308 309 310
Inhaltsverzeichnis
17
Art. I-8 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Flagge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identitätsstiftende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hymne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identitätsstiftende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Leitspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Währung als Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Positive Assoziation aufgrund der Wertentwicklung . . . . . . . . . . . . . c) Symbolgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Euro-Banknoten und Euro-Münzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eurozeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Identitätsstiftende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Europatag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identitätsstiftende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schutz der Unionssymbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zwischenergebnis zu Art. I-8 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Symbolwert einer Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminus „Verfassung als Symbol“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Probleme des Verfassungsterminus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis zur Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
324 325 326 328 330 330 331 332 334 334 335 337 337 338 338 339 340 341 341 343 344 345 346 348 350
E. Europa als eine Wertegemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bedeutung gemeinsamer Werte für eine Identitätsstiftung . . . . . . . . . . . . . II. Wert als Schlüsselbegriff, Art. I-2 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Pleonasmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Universalität der Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Legitimationswirkung von Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundrechtecharta als Mittel zur Identitätsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Präambel der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Geistig-religiöses Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Widersprüchlichkeiten zwischen den beiden Präambeln . . . . . . . . . 2. Identitätsstiftung durch die Grundrechte der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . a) Defizite des bisherigen Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittelbar identitätsstiftende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
350 351 352 354 355 356 357 359 359 360 361 362 364 364 365
II.
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Inhaltsverzeichnis c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
F. Demokratiedefizit der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Transparenz und personalisierte Ergebnisverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Europäisches Parlament und parlamentarische Legitimation der Integrationspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mitentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fehlende Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Europäischer Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einstimmigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ministerrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beschlussfassungsmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Teampräsidentschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Europäische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Präsident des Europäischen Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Präsident der Europäischen Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Organisatorische Stärkung des Kommissionspräsidenten . . . . . bb) Legitimatorische Stärkung des Kommissionspräsidenten . . . . . cc) Institutionelle Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Außenminister der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Befugnisse des Außenministers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beibehaltung des Konsensprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Übersichtlichkeit der politischen Entscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . 1. Integration durch Zuständigkeitsabgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kompetenzkatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtliche Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Demokratisches Leben in der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz der repräsentativen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
370 370 371 371 372 372 374 374 375 376 377 378 379 379 381 381 382 383 384 385 388 388 388 391 393 394 398 399 401 403 403 404 407 408 410 411 412
Inhaltsverzeichnis
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2. Grundsatz der partizipativen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 3. Transparenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 G. Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . III. Petitionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
419 421 421 422 423
H. Rolle des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Integrationsfunktion einer Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stellung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Klagemöglichkeiten der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorabentscheidungsverfahren, Art. III-369 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nichtigkeitsklage, Art. III-365 Abs. 4 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Individualrechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
424 424 427 428 429 429 431 434
J.
435 435 438 438 440 443 444
Abgrenzung der Europäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Innenpolitische Abgrenzung über das europäische Sozialmodell . . . . . . . . II. Abgrenzung nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Außenpolitische Abgrenzung zu den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung nach Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abgrenzung zur Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fehlen eines Gottesbezuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Türkei als „europäischer Staat“ i. S. d. Art. I-58 Abs. 1 VVE bzw. Art. 49 EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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K. Endergebnis zum Zweiten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gemeinschaftsaufgabe Identitätsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Widersprüche und Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. I-5 Abs. 1 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Supranationalität und Intergouvernementalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Widersprüche zwischen den Integrationsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . 4. Sozialpsychologische Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Normative Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normierung von Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einbeziehung der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
448 448 450 451 452 452 453 453 454 454
Schluss und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500
Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. AEUV Alt. AöR Art. BVerfG BVerfGE bzw. ders. dies. DM DÖV DVBl. EAGV ed. eds. EEA EFTA EG EGKS EGV EL EMRK endg. ESVP et al. EU EuG EuGH EuGRZ EuR EUV
andere Ansicht Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Alternative Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) Artikel Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtliche Sammlung) beziehungsweise derselbe dieselben Deutsche Mark Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft editor, Herausgeber editors, Herausgeber Einheitliche Europäische Akte European Free Trade Association Europäische Gemeinschaften bzw. der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (je nach Zusammenhang) Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Ergänzungslieferung Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) endgültig Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und andere Europäische Union bzw. der Vertrag über die Europäische Union (je nach Zusammenhang) Europäisches Gericht erster Instanz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union
Abkürzungsverzeichnis EuZW EWG f. F.A.Z. ff. Fn. FS GASP GG GS h. M. Hrsg. Hs. i. S. d. Jura JuS JZ KJ KOM lit. m.w. N. NATO n. F.
NGO NJW Nr. NVwZ PVS Rn. Rs. Rspr. S. Slg. Spstr. StAG StGB SZ UA UN UNO
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Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende und fortfolgende Fußnote Festschrift Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Grundgesetz Gedächtnisschrift herrschende Meinung Herausgeber Halbsatz im Sinne des Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift) Kritische Justiz (Zeitschrift) Dokumente der Kommission der Europäischen Gemeinschaften litera, Buchstabe mit weiteren Nachweisen North Atlantic Treaty Organization neue Fassung, in Bezug auf die Normen des EU- und EG-Vertrages die jeweilige Norm in der konsolidierten Fassung des Vertrages von Lissabon vom 09. Mai 2008 non-governmental organization, Nichtregierungsorganisation Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Politische Vierteljahresschrift (Zeitschrift) Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Seite Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz Spiegelstrich Staatsangehörigkeitsgesetz Strafgesetzbuch Süddeutsche Zeitung Unterabsatz United Nations, Vereinte Nationen United Nations Organization
22 USA v. a. vgl. VVDStRL VVE WTO WVK z. B. ZEuS ZfP ZfParl ZG ZRP ZVglRWiss
Abkürzungsverzeichnis United States of America, Vereinigte Staaten von Amerika vor allem vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrag über eine Verfassung für Europa World Trade Organization Wiener Vertragsrechtskonvention zum Beispiel Zeitschrift für Europäische Studien Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft
ÇAnrwpoò ýsei politikÎn zÁµon Aristoteles, Politik 1253 a 2, 3 „Das Volk lebt weder von Brot noch von Begriffen allein; es will durchaus etwas Positives zu lieben, zu sorgen und sich daran zu erfrischen (. . .). Oder glaubt Ihr denn in vollem Ernste, ein wahrhaftes Staatsleben, wie alles Innerliche, könne so obenher durch Machtansprüche der Aufklärung anbefohlen, der Volksgeist durch philosophische Zauberformeln besprochen werden?“ Joseph Freiherr von Eichendorff (Politischer Brief, S. 355)
Einleitung A. Stand der Identitätsdiskussion in Europa und Entwicklung des Themas I. Mythos Dem antiken Mythos1 zufolge war Europa die schöne Tochter des phönizischen Königs Agenor, der im vorderasiatischen Kanaan herrschte. Als sie mit Freundinnen auf einer Wiese nahe am Strand Blumen pflückte, verliebte sich Zeus in sie. Er verwandelte sich in die Gestalt eines betörend schönen Stieres und umschmeichelte Europa so lange, bis sie auf seinen Rücken stieg. Dann entführte er die nichts ahnende Europa nach Kreta, um sie zu seiner Frau zu machen. Als Europa ihren Raub erkannte und ihr Unglück beklagte, erschien ihr die schaumgeborene Aphrodite und tröstete sie. Nach deren Weissagung wird der Name Europa unsterblich werden, da der fremde Weltteil, der die Unglückliche aufgenommen hat, fortan ihren Namen tragen soll. So erklärt der antike Mythos die Herkunft des Namens Europa. II. Idee einer europäischen Identität In der Diskussion um eine europäische Identität der letzten Jahrzehnte wechselte der Bezugspunkt des Begriffes von der mythischen Person Europa zur Europäischen Union.2 Als Lösung der beträchtlichen innereuropäischen Konflikte infolge der beiden Weltkriege entstand die Idee der europäischen Identität.3 Mit 1 Die Nacherzählung folgt Schwab, Die schönsten Sagen des Klassischen Altertums, Europa. Siehe dazu auch Zahn, Europa und der Stier, S. 11; Droege, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 104 (104 f.). 2 Siehe dazu Schmidt, Muttersprache 84 (1974), S. 409 (409). 3 Zum Folgenden Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 12 f.
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Einleitung
ihr wird die politische Hoffnung auf Stabilität und Krisenfestigkeit der Europäischen Union verbunden und sie soll der Überwindung der vielen historischen Konfliktlinien auf dem Kontinent dienen. Hinter der Absicht der Identitätsstiftung steht die für jedes demokratische System anerkannte Notwendigkeit der gesellschaftlichen Akzeptanz und Legitimität. Gleichzeitig wird seitens der Europäischen Union befürchtet, dass der europäische Integrationsprozess am Negativvotum der Bürger scheitern könnte.4 Die europäische Integration hat im Laufe der Zeit mit ihrem mehr oder weniger erfolgreichen Funktionieren die Grundlage für die Begeisterung der Bürger selbst unterlaufen. Lange Zeit wurde den Bürgern die europäische Integration primär als wirtschaftliches Unterfangen vermittelt. Daher ist aus der großen Idee eine selbstverständliche Alltagserfahrung mit den normalen politischen Konflikten und Reibungsverlusten geworden.5 Über die Stiftung einer europäischen Identität wird versucht, die Europäer zu einer politischen Gemeinschaft zusammenzuschweißen; europäische Identität soll als Integrationsfaktor dienen.6 Die Europäer sollen die Europäische Union als „ihre Union“ begreifen und sich untereinander als einheitliche Gruppe fühlen.7 III. Identitätsstiftende Politik Seit den siebziger Jahren gibt es Bemühungen, ein Bewusstsein für Europa im Sinne einer europäischen Identität auf verschiedene Weise zu fördern. Im Rückblick erfolgte ein massiver Verbreitungsstoß des Begriffs der europäischen Identität zunächst dadurch, dass eine Erklärung über die europäische Identität8 ausgearbeitet wurde, die als Ausgangsdokument für den Begriff gilt.9 Diese Erklärung wurde von den Außenministern der Mitgliedstaaten der EWG am 14.12.1973 in Kopenhagen angenommen. Sie spricht erstmals von der europäischen Identität und wurde in der deutschen Presse auch Identitätserklärung, Identitätsbestimmung und europäisches Identitätspapier genannt. Sie enthält eine begriffliche Neuerung von immenser verfassungs- und völkerrechtlicher Bedeutung, denn Identität wird als Schlüsselbegriff sowohl für die Beziehung der Europäischen Gemeinschaften zum Bürger als auch für die äußere Politik der Gemeinschaften gebraucht.10 Der Begriff der europäischen Identität ist da4
Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 238. Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (24). 6 Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (196); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 238. 7 Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (196). 8 Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 50 ff. 9 Siehe ausführlich zum Folgenden Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (344 ff.); von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (164). 10 Nach diesem Dokument macht eine nähere Bestimmung der europäischen Identität es erforderlich, „das gemeinsame Erbe, die eigenen Interessen, die besonderen Ver5
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mit in die wissenschaftliche Sprache des Staats- und Völkerrechts eingegangen. Seither hat der Begriff weltweite Beachtung und Verbreitung gefunden. Vor allem in jüngster Zeit wird der Identitätsbegriff häufig in der europapolitischen Diskussion benutzt. Hier wird er als modernes politisches Schlagwort eingesetzt, um bestimmte Forderungen durchzusetzen. Politische Schlagworte haben zwar intellektuell-rational nur einen geringen Sinn, sind dafür aber umso mehr mit einem unbestimmten emotionalen Gehalt beladen.11 Demzufolge liegt dem Schlagwort Identität eine gesellschaftliche Attraktion und Zweckmäßigkeit zugrunde, die sowohl politisch als auch emotional leicht zu instrumentalisieren ist. Der Identitätsbegriff wurde von Europapolitikern und Gemeinschaftsorganen daher immer wieder aufgegriffen und mit Leben und Inhalt zu erfüllen versucht. So hat das Schlagwort Identität durch seine vielfache Verwendung die begriffliche Genauigkeit verloren.12 Auch der Europäische Verfassungsvertrag kann neben seinen anderen Zielsetzungen als eine wiederholte Bemühung zur Stiftung einer europäischen Identität durch die Politik angesehen werden. Zum einen erhielt der Verfassungskonvent den Auftrag, Vorschläge zu dem Anliegen zu unterbreiten, „den Bürgern das europäische Projekt und die europäischen Organe näher zu bringen.“13 Zum anderen sollen gemäß Art. I-46 Abs. 4 VVE14 die Parteien zur Herausbildung eines europäischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union beitragen. Die „Näherbringung des europäischen Projekts“ und die „Herausbildung eines europäischen Bewusstseins“ können nur in der Weise interpretiert werden, als dass mittels des Verfassungsvertrages auch eine europäische Identität gestiftet werden sollte. Damit war die Ausarbeitung des Vertrages über eine Verfassung für Europa nicht lediglich die Suche nach einer optimalen Kompetenzverteilung. Dies wird auch daran deutlich, dass der am 13. Dezember 2007 im Europäischen Rat unterzeichnete Vertrag von Lissabon15 in seinem Art. 8 a bzw. in pflichtungen der Neun (Mitgliedstaaten) und den Stand des Einigungsprozesses in der Gemeinschaft zu erfassen, den bereits erreichten Grad der Zusammenhalts gegenüber der übrigen Welt und die daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten festzustellen, den dynamischen Charakter des europäischen Einigungswerks zu berücksichtigen.“ (Hervorhebungen und Einfügungen von der Verfasserin); Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 50. 11 Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (343). 12 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 23. 13 Vorwort des Verfassungsvertragsentwurfs, der vom Europäischen Konvent unter der Leitung von Valéry Giscard d’Estaing ausgearbeitet und dem Europäischen Rat in Thessaloniki am 20. Juni 2003 überreicht wurde; Europäischer Konvent, Vorwort Entwurf VVE. 14 Wenn im Folgenden von VVE gesprochen wird, ist die maßgebliche Grundlage die Ausgabe von Lenz/Borchardt, Vertrag über eine Verfassung für Europa.
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Art. 11 EU n. F.16 die Formulierung des Art. I-46 Abs. 4 VVE wörtlich übernimmt. Auch in der wortgetreuen Übernahme der Formulierung des Art. I-2 VVE durch den Vertrag von Lissabon in Art. 1 a bzw. Art. 2 EU n. F.,17 wonach eine Wertegemeinschaft für die Europäische Union postuliert wird, kann geschlossen werden, dass der Vertrag von Lissabon das Konzept der Stiftung einer europäischen Identität nicht vollständig aufgibt. Die Konstitutionalisierung der Europäischen Union kann daher als ein Moment der Neu- oder Wiederentdeckung des Selbstverständnisses der europäischen Integration qualifiziert werden. Die aktuelle Diskussion um die Verfasstheit Europas ist ein Ausdruck für die Suche nach einer europäischen Identität und zugleich konstitutiv für diese.18 Die Eurobarometer-Umfragen der letzten Zeit verdeutlichen jedoch, dass die bisherige identitätsstiftende Politik der Europäischen Union nicht sehr erfolgreich war. Die Konsequenzen des fehlenden „Wir-Gefühls“ wurden vor allem anhand der Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrages in den Verfassungsreferenden von Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 deutlich. Der negative Ausgang der Referenden hat die Tragweite des neuen Integrationsschrittes deutlich in das Bewusstsein der europäischen Bürger gerückt und die Regierungen wachgerüttelt. Die Fortentwicklung des europäischen Integrationsprozesses war damit nicht mehr nur Gegenstand zäher Vertragsverhandlungen auf den Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs. IV. Aktualität der Diskussion Der Ratifikationsprozess des Verfassungsvertrages ist nach dem negativen Ergebnis der Referenden in Frankreich und den Niederlanden zunächst ins Stocken geraten und nach zwei Jahren der Ungewissheit schließlich gescheitert. Am 21./22. Juni 2007 kam der Europäische Rat in Brüssel unter der Ratspräsidentschaft der deutschen Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, darin überein, eine neue Regierungskonferenz einzuberufen, die einen Reformvertrag zur Änderung der bestehenden Verträge bis Ende 2007 ausarbeiten sollte.19 Danach
15 Wenn im Folgenden vom Vertrag von Lissabon gesprochen wird, ist die maßgebliche Grundlage die im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichte konsolidierte Fassung des Vertrages: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 1 ff. 16 Wenn die Normen des Vertrages über die Arbeitsweise der Union (AEUV) oder des EU-Vertrages als n. F. zitiert werden, ist damit die jeweilige Norm des zu ändernden EU-Vertrages und des AEUV mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon gemeint, vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 1 ff., 361 ff. 17 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17. 18 Weiler, Ein christliches Europa, S. 18 f.
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sollen die in dem Reformvertrag enthaltenen Änderungen und Neuerungen zum einen in den EU-Vertrag und zum anderen in den EG-Vertrag, der dann „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ heißen soll, eingearbeitet werden. Der Reformvertrag20 wurde am 13. Dezember auf dem Europäischen Rat von den Staats- und Regierungschefs als Vertrag von Lissabon angenommen und befindet sich derzeit im Ratifikationsprozess, der bis zum 01. Januar 2009 abgeschlossen sein sollte. Dieser Zeitplan konnte aber aufgrund des irischen Referendums, in dem der Vertrag von Lissabon mit einer Mehrheit von 53,4% von den Bürgern abgelehnt wurde, nicht eingehalten werden. Allerdings ist ein zweites Referendum in Irland für das Jahr 2009 geplant, so dass der Vertrag von Lissabon unter Umständen bis zu den Wahlen zum Europaparlament im Juni 2009 erfolgreich ratifiziert werden kann. Das Verfassungskonzept des Verfassungsvertrages, welches darin bestand, die bestehenden Verträge aufzuheben und durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung „Verfassung“ zu ersetzen, wird durch den Vertrag von Lissabon ausdrücklich aufgegeben. Allerdings bleibt die Substanz des Verfassungsvertrages im Vertrag von Lissabon weitgehend erhalten. Dies war das Anliegen derjenigen Mitgliedstaaten, die den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert hatten.21 Aus diesem Grund orientieren sich das weitere Fortschreiten des europäischen Integrationsprozesses und der Vertrag von Lissabon eng an den Kernelementen des Verfassungsvertrages. Teilweise wurden die Normen des Verfassungsvertrages wörtlich in den Vertrag von Lissabon integriert. Für eine entsprechende Auslegung der Normen des Vertrages von Lissabon ist damit in wesentlichen Teilen weiterhin die Entstehungsgeschichte der Normen des Verfassungsvertrages relevant. Dadurch behält der Europäische Verfassungsvertrag seinen Bedeutungsgehalt als umfassendes Reformwerk der Europäischen Union. Das weitere Vorgehen soll darüber hinaus die im Ratifizierungsverfahren deutlich gewordenen Befürchtungen der Bürger über die künftige Ausrichtung der Europäischen Union berücksichtigen.22 Bei der Suche nach den Ursachen 19 Vgl. ausführlich zum Folgenden Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www. consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 2, 15 sowie Europäischer Rat, Bericht des Vorsitzes an den Rat/Europäischen Rat, Brüssel den 14. Juni 2007, abrufbar unter: http://register.consilium.europa.eu/pdf/de /07/st10/st10659.de07.pdf (07.07.2007), S. 3, 5. 20 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 1. 21 Europäischer Rat, Bericht des Vorsitzes an den Rat/Europäischen Rat, Brüssel den 14. Juni 2007, abrufbar unter: http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st10 /st10659.de07.pdf (07.07.2007), S. 3. 22 Europäischer Rat, Bericht des Vorsitzes an den Rat/Europäischen Rat, Brüssel den 14. Juni 2007, abrufbar unter: http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st10 /st10659.de07.pdf (07.07.2007), S. 2.
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für das Scheitern des Verfassungsvertrages und im Zusammenhang mit der Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union wird deshalb verstärkt die Frage nach den gemeinsamen Werten und dem Zusammenhalt Europas, mithin also die Frage nach einer europäischen Identität aufgeworfen. Die Bestimmung einer europäischen Identität betrifft nämlich auch die potentielle Mitgliedschaft bestimmter Staaten in der Europäischen Union.23 Je nachdem, welchen Inhalt man einer europäischen Identität zuschreibt, wird man die Mitgliedschaft einiger Staaten in der Europäischen Union bejahen oder ablehnen. Die Problematik des Türkei-Beitritts und einer Südost-Erweiterung der Union münden teilweise in die Wiederbelebung des christlichen24 Abendlandes als Kampfbegriff der Politik und in die Konstruktion eines europäischen Kulturraumes.25 Darüber hinaus wirkt sich eine europäische Identität darauf aus, wie die Europäische Union ihre Politik gegenüber Drittstaatsangehörigen ausrichtet und inwieweit sie bei ihrer innereuropäischen Politik auf identitätsprägende Besonderheiten und Differenzen der Mitgliedstaaten Rücksicht nimmt.26 Dies betrifft insbesondere die rechtliche Ausgestaltung des Verhältnisses von nationaler und europäischer Identität und die Verwendung einer eigenen europäischen Symbolik. Die Frage der europäischen Identität begleitet damit sowohl den Konstitutionalisierungs- als auch den Erweiterungsprozess der Union und ist eine drängende Frage des europäischen Primärrechts. Die Stiftung europäischer Identität hat weitreichende praktische Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Union. Die Diskussion der Möglichkeit einer Identitätsstiftung zielt zum einen auf die sozialwissenschaftliche Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält. Zum anderen wird ein grundlegendes verfassungstheoretisches Problem behandelt, nämlich die Frage, inwieweit eine demokratische Verfassung eine integrierte Gesellschaft voraussetzt und welchen Beitrag sie selbst zur Integration leisten kann.27 Denn die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union wird davon abhängig gemacht, ob eine kollektive Identität für ein verfasstes Gemeinwesen als notwendig angesehen wird oder nicht.28 Eine Traditionslinie in den Politik- und Rechtswissenschaften vertritt, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in ihrem gegenwärtigen Zustand die Europäi23 Beispielsweise ist der Beitritt der Türkei und anderer potentieller Staaten zur Europäischen Union von ihrer Selbstdefinition abhängig; Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (201). 24 Statt vieler Wenzel, Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 05.10.2004, S. B13 (B13 ff.). 25 Droege, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 104 (106 f.). 26 Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (201). 27 Siehe zum Folgenden Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 22 f. 28 Ebenso Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (195).
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sche Union die Bedingungen der Demokratie- und Verfassungsfähigkeit nicht erfüllt.29 Als ein Hindernis auf dem Weg zu einem demokratischen Europa wird oft das Fehlen einer kollektiven Identität der Europäerinnen und Europäer, also das Fehlen eines Bewusstseins der Zusammengehörigkeit in der europäischen Bevölkerung, angeführt.30 Nach dieser These könne sich Europa keine Verfassung geben, weil sich die Europäische Union mangels eines europäischen Volkes nicht zu einem politischen Gemeinwesen mit eigener Identität entwickeln könne. Daher wird gefordert, mit einer weitergreifenden politischen Integration zunächst inne zuhalten.31 Die entgegen gesetzte Traditionslinie in den Politik- und Rechtswissenschaften nimmt an, dass politische Institutionen auch gestaltend auf ihren gesellschaftlichen Kontext einwirken können.32 In dieser Theorierichtung wird vor allem der Verfassung die Aufgabe der Integration zugewiesen.33 Die Verabschiedung einer demokratischen europäischen Verfassung kann demzufolge selbst zur Integration der europäischen Gesellschaft beitragen, weil die dadurch geschaffenen Institutionen Vergemeinschaftungsprozesse in der europäischen Bevölkerung in Gang setzen. Dabei handelt es sich um langfristige Prozesse, so dass sich insofern die Frage stellt, wie sich die Europäische Union als Bezugspunkt europäischer Identität formieren soll. Die Antworten auf die Frage der Integration einer Gesellschaft durch Recht bleiben in der Regel sehr abstrakt. Es ist bislang nicht abschließend geklärt, ob das Funktionieren einer konstitutionellen Demokratie tatsächlich eine integrierte Gesellschaft voraussetzt.34 Außerdem werden die Theorien anderer Wissenschaften kaum rezipiert.35 Die beteiligten Disziplinen erörtern ihre sozial-, politik- oder wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse zur gesellschaftlichen Integration in fast völliger Abgeschiedenheit voneinander. In der Staats- und Ver29 Diese Traditionslinie geht auf den Weimarer Staatsrechtler Carl Schmitt zurück. Siehe dazu S. 113 ff. 30 Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (247 ff.); Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (57 f.); Böckenförde, in: ders., Staat Nation Europa, S. 103 (125 f.). Das Bundesverfassungsgericht argumentiert ähnlich, vgl. BVerfGE 89, 155 (185 f.). 31 Böckenförde, in: ders., Staat Nation Europa, S. 68 (93). 32 Diese Traditionslinie geht auf den Weimarer Staatsrechtler Rudolf Smend zurück. Siehe dazu S. 152 ff. 33 Siehe dazu auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 5 ff.; Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 3 (12); Hennis, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 267 (267 ff.); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 282 ff. 34 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 22. 35 Möllers, Staat als Argument, S. 242; Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (118). Zu den Gründen, warum die Staatslehre zwischen Soziologie, Staatsphilosophie, Politikwissenschaft, Verfassungsgeschichte und Verfassungslehre laviert Hofmann, JZ 1999, S. 1065 (1065 ff.).
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fassungslehre scheint die Funktion der Einheitsbestimmung in der Selbstgruppierung in bestimmte wissenschaftliche Lager zu bestehen. Denn die Stellungnahme zum Einheitsbegriff ermöglicht den Bezug zu den genannten Traditionslinien.36 Sie gestattet weniger den eingeforderten Wirklichkeitsbezug als die disziplininterne Standortbestimmung.37
B. Inhalt, Aufbau und Methodik Um einen neuen Blickwinkel zu ermöglichen, will die vorliegende Untersuchung die Erkenntnisse der Sozialpsychologie zur kollektiven Identitätsbildung einbeziehen und sich vor diesem Hintergrund der europäischen Verfassungsdebatte nähern. Zum einen sollen die Bedeutung und Funktion kollektiver Identität aus Sicht der Sozialpsychologie erörtert werden. Zum anderen soll dargestellt werden, inwieweit sich die Rechts- und Politikwissenschaften mit der Thematik der Einheitsbildung auseinander gesetzt haben. Dadurch soll eine Versachlichung der Diskussion um die Einheitsstiftung ermöglicht werden. I. Erster Teil Der erste theoretisch-konzeptionelle Teil der Arbeit besteht aus drei Kapiteln. Ziel des 1. Kapitels ist es, den Begriff der kollektiven Identität kritisch zu entwickeln und dadurch die Grundlage für die Untersuchung der identitätsstiftenden Ansatzpunkte des Verfassungsvertrages der Europäischen Union zu schaffen. Die Analyse soll in folgenden Schritten vorgehen: Die Figur der europäischen Identität soll zunächst im 1. Kapitel als Anwendungsfall des soziologischen und sozialpsychologischen Forschungsfeldes in den Strukturen und Funktionen der kollektiven Identität entfaltet werden. Es werden daher die allgemein-theoretischen Grundannahmen zur Identität, insbesondere zur kollektiven Identität dargestellt. Aufgrund der inflationären Verwendung des Begriffes der europäischen Identität ist eine abschließende Definition nicht möglich. Insofern muss eine heuristische Annäherung an die Inhalte einer europäischen Identität als Basis für die Untersuchung genügen. Es sollen in diesem Zusammenhang vor allem die neueren Erkenntnisse der Sozialpsychologie aufgrund ihrer Genauigkeit und aufgrund der Schwierigkeiten bei der Bestimmung einer kulturellen europäischen Identität operabel gemacht werden. In einem zweiten Schritt werden im 2. Kapitel die nationalstaatlichen Identitätskonstruktionen der Vergangenheit exemplarisch an einzelnen Nationenbeispielen dargestellt. Dabei sollen die identitätsstiftenden Elemente aufgezeigt 36 Eine ausführliche Aufarbeitung der Traditionslinien Carl Schmitts und Rudolf Smends nach 1949 findet sich bei Günther, Denken vom Staat her. 37 Möllers, Staat als Argument, S. 242.
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werden, die in der Vergangenheit zu großräumigen Transformationsprozessen kollektiver Identitäten führten. Bei der Extrahierung der Grundzüge identitätsstiftender Politik aus den historischen Nationalstaatsbildungen besteht die Zielsetzung, allgemeine Aussagen über Eckpunkte kollektiver Identitätsstiftungen in Gemeinwesen zu gewinnen. In diesem Kontext geht es vor allem um die Übertragbarkeit verfassungszentrierter Identitätsstiftungsmodelle auf die Europäische Union. Ausgehend von den nationalstaatlichen Prozessen zur Ausbildung kollektiver Identitäten werden die Möglichkeiten der Europäischen Union, mittels eines Verfassungsvertrages eine europäische Identität zu stiften, dargelegt. Auf diese Weise sollen die für eine kollektive Identitätsstiftung maßgeblichen Kategorien aufgezeigt und ihre Anwendbarkeit auf den Prozess der europäischen Integration untersucht werden. Daraufhin werden im 3. Kapitel die theoretischen Modelle der Integration von Gemeinwesen in der deutschen Staats- und Verfassungslehre sowie in ausgewählten Theorien der politischen Philosophie und Soziologie dargelegt. Dabei werden die Notwendigkeit kollektiver Identität für Gemeinwesen und insbesondere der Zusammenhang zwischen der Legitimität eines Gemeinwesens und der kollektiven Identität seiner Bürger betrachtet. Die Integrationsfunktion von Verfassungen und ihre verfassungstheoretischen Grundlagen sollen besondere Berücksichtigung finden. Anhand der Bezugnahme auf die Einheitslehren der Weimarer Staats- und Verfassungslehre sollen verfassungstheoretische Mechanismen identifiziert werden, mittels derer eine Verfassung auf Muster gesellschaftlicher Integration Einfluss nehmen kann. Denn eine eigenständige europäische Integrationstheorie hat sich bisher nicht herausgebildet, vielmehr orientiert sich die Europarechtswissenschaft sehr stark an den Integrationsmodellen der nationalen Staats- und Verfassungsrechtswissenschaft. Aus deren jeweiligen Theorierichtungen folgen unterschiedliche Voraussetzungen für die Legitimität der Europäischen Union. Daher werden die Grundlagen und Grenzen einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht diskutiert. Es ist beabsichtigt, die Relevanz der um die Integration von Gesellschaften geführten Debatte für den Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Union zu verdeutlichen. II. Zweiter Teil Die im ersten Teil behandelten Grundsatzthemen haben die Tendenz, sich den Maßstäben der wissenschaftlichen Widerspruchfreiheit zu entziehen; sie sind abhängig von ihren jeweiligen Prämissen. Aus diesem Grund ist die Entscheidung für die eine oder andere Theorie juristisch nicht möglich. Denn es ist eine Frage der europäischen Politik und des Vertrages über eine Verfassung für Europa, welche Identitätskonstruktion einflussreich wird. Daher werden im zweiten Teil der Untersuchung die identitätsstiftenden Ansatzpunkte des Konstitutionalisierungsprozesses der Europäischen Union analysiert. Dabei sollen die Umfra-
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gen aus den regelmäßig stattfindenden Eurobarometer-Umfragen herangezogen werden, um ein Aussage über den bisherigen Erfolg der jeweiligen identitätsstiftenden Maßnahme treffen zu können. Im 1. Kapitel des zweiten Teils der Arbeit soll die identitätsstiftende Politik der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften ausgehend von dem Dokument über die europäische Identität aus dem Jahr 1973 bis zum Vertrag von Lissabon im Jahr 2007 überblicksartig dargestellt werden. Anhand ihrer identitätsstiftenden Politik seit den siebziger Jahren soll aufgezeigt werden, dass aus der Perspektive der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften die Notwendigkeit einer europäischen Identität besteht. Daraufhin werden im 2. Kapitel die identitätsstiftenden Ansatzpunkte des Verfahrens des Europäischen Konvents zur Ausarbeitung des Verfassungsvertrages erörtert. Insbesondere soll die Eignung des Konventsverfahrens gegenüber dem bisherigen Procedere einer Regierungskonferenz herausgestellt werden. Es soll abgewogen werden, ob das Konventsverfahren Nachteile oder Vorteile gegenüber dem Verfahren eines europaweiten Referendums zur Verabschiedung des Verfassungsvertrages bietet. In dem abschließenden 3. Kapitel werden die einzelnen Bestimmungen des Europäischen Verfassungsvertrages auf ihre Eignung überprüft, eine europäische Identität bei den Bürgern zu stiften. Die Normen des Verfassungsvertrages sollen diesbezüglich auf ihre Wirkung und Funktion untersucht werden. Dabei werden vor allem die Bestimmungen zur Neugründung der Union, die Präambeln, die Normen zur Symbolik der Union, die Möglichkeit einer europäischen Wertegemeinschaft, die Artikel zur Beseitigung des Demokratiedefizits, die Unionsbürgerschaft, die Rolle des Europäischen Gerichtshofes und die Abgrenzung der Europäischen Union gegenüber der übrigen Welt in den Blick genommen. Aufgrund des Scheiterns des Europäischen Verfassungsvertrages im Ratifikationsprozess wird in diesem Zusammenhang besonders auf die Neuerungen und Änderungen durch den Vertrag von Lissabon eingegangen. Die Kernelemente des Verfassungsvertrages sind in diesen Vertrag aufgenommen worden, so dass viele der untersuchten Normen des Verfassungsvertrages im zukünftigen Vertrag von Lissabon ebenfalls enthalten sind. Auch in diesem Kapitel werden die Eurobarometer-Umfragen herangezogen, um den Aussagen über die identitätsstiftende Wirkung einzelner Normen ihren spekulativen Gehalt zu nehmen.
Erster Teil
Kollektive Identität als normative Bedingung für den Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Union 1. Kapitel
Bestimmung des Begriffs „Identität“ Der Begriff der europäischen Identität wird in der aktuellen juristischen, gesellschaftswissenschaftlichen und vor allem auch politischen Diskussion sehr häufig gebraucht.1 Dies verweist darauf, dass eine europäische Identitätsbildung unter den gegenwärtigen gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen prekär geworden ist.2 Das Verständnis von Identität in den öffentlichen Diskussionen richtet sich in der Regel nicht an ihrem wissenschaftlichen Inhalt aus. Daher wird zunächst die wissenschaftliche Begriffsbestimmung von Identität vorgenommen, die als Arbeitsgrundlage zur Untersuchung des identitätsstiftenden Potentials des Verfassungsvertrages dienen soll.
A. Sprachwissenschaftlicher Hintergrund des Identitätsbegriffs Der Begriff der Identität hat eine lange Geschichte, daher soll zunächst der sprachwissenschaftliche Hintergrund des Identitätsbegriffes beleuchtet werden. Der Wortstamm von Identität geht auf das lateinische Adjektiv idem zurück und bedeutet dasselbe.3 Aus diesem Wortstamm ergeben sich zwei unterschiedliche Bedeutungszweige von Identität. Der ältere Zweig der Wortfamilie beschreibt mit den Benennungen identisch, Identität, identifizieren und Identifizierung Objektbeziehungen. Hier werden Untersuchungsgegenstände mit bestimmten Eigenschaften zueinander in Beziehungen der Einheit oder des Vergleichs gesetzt. Zu diesem Zweig gehören die Iden1 Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (343); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 23. 2 Keupp, in: Keupp/Höfer (Hrsg.), Identitätsarbeit heute, S. 7. 3 Siehe ausführlich zum Folgenden Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (333).
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1. Teil: Kollektive Identität
titätsbegriffe der Philosophie, der Logik und der Mathematik,4 denen der Begriff ursprünglich entstammt. Denn bereits die Philosophie der Antike beschäftigte sich mit dem Thema.5 Nach Aristoteles bedeutet Identität Gleichheit, Artgleichheit oder wesensgleiche Übereinstimmung.6 Aristoteles orientierte das Identitätsproblem auf die Frage nach dem, was ein Einzelding zu einem solchen macht. Diese Sichtweise beeinflusste die nachfolgende Beschäftigung der Philosophie mit dem Identitätsbegriff maßgeblich.7 Gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hat die Sozialpsychologie den Terminus der Identität von der Philosophie übernommen.8 Dieser jüngere Zweig der Wortfamilie von Identität beschreibt mit den Ausdrücken sich identifizieren mit, Identifikation und Identität geistig-seelische Vorgänge und Ergebnisse der Übernahme oder Abstoßung von Vorbildern, religiösen und vergleichbaren geistigen Überzeugungen, Werten und Eindrücken durch Menschen. Daher dient dieser Zweig der Thematisierung innerer Einstellungen und beschreibt Subjektbeziehungen. Die Abzweigung und Eigenständigkeit des jüngeren Zweiges geht dabei wahrscheinlich auf Sigmund Freud zurück, der 1926 den Identitätsbegriff zur Beschreibung erstmals von ihm erkannter neuer Subjektbeziehungen zur Begründung der Psychoanalyse einsetzte.9
B. Eingrenzung auf den sozialpsychologischen Identitätsbegriff Der Identitätsbegriff müsste ein brauchbarer juristischer Arbeitsbegriff sein und sich für die Untersuchung des Verfassungsvertrages eignen. Die Problematik des Identitätsbegriffes im rechtswissenschaftlichen Bereich besteht vor allem darin, dass Identität, insbesondere ihre Bildung, ihre Krise und ihr Verlust, Gegenstand zahlreicher Untersuchungen war. Der Zugang zur Identitätsthematik ist daher für den Juristen nicht leicht zu finden.10 Es besteht vor allem ein geographisches und kulturhistorisches Definitionsproblem, die Begriffe Europa und europäisch sind indifferent. Von den unterschiedlichen wissenschaftlichen Identitätsbegriffen11 der Philosophie, Mathematik, Psychologie, Soziologie, 4
von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (161 Fn. 20). Weidenfeld, in: ders./Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Identität, S. 376. 6 Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 12. 7 Einen umfassenden Überblick über die wesentlichen philosophischen Theorieversuche und Kontroversen über die Identität in der Geschichte der Philosophie bietet Henrich, in: Marquard/Stierle (Hrsg.), Identität, S. 133 (137 ff.). 8 Weidenfeld, in: ders./Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Identität, S. 376. 9 Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (353). 10 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (159). 5
1. Kap.: Bestimmung des Begriffs „Identität‘‘
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Politologie, Geographie und Kulturwissenschaft soll eine Eingrenzung auf den sozialpsychologischen/soziologischen Identitätsbegriff stattfinden, der sich auf das politische Gebilde der Europäischen Union bezieht. Ziel dieser Eingrenzung ist die Schaffung einer definitorischen Annäherung für die weitere Untersuchung des Europäischen Verfassungsvertrages. I. Kulturelle Identität Eine Bestimmung der kulturellen Identität Europas soll mit der vorliegenden Untersuchung gerade nicht vorgenommen werden. Einige Abhandlungen12 über europäische Identität sehen die europäische Kultur als einen Weg, die Einzigartigkeit Europas vor allem in Abgrenzung zur Türkei zu definieren. Diese Ansätze beziehen sich in der Regel auf die Geistesgeschichte Europas. Es wird angenommen, dass eine kulturelle Herkunftseinheit Europas besteht, die sich aus den Kulturen des antiken Griechenland, des imperialen Rom und der jüdisch-christlichen Kultur speist.13 Es erscheint aber zweifelhaft, ob aus der Konstruktion einer kulturellen Herkunftseinheit Impulse für die europäische Integration gewonnen werden können. Ein derartig idealistischer Ansatz hat nur sehr wenig Aussagekraft bezüglich der Identifikationsprozesse bei den europäischen Bürgern selbst. Für den Großteil der europäischen Bevölkerung sind Europa und seine Identität nämlich keine Angelegenheit von elitären Diskursen oder geistesgeschichtlichen kulturellen Gebilden. Eine europäische Identität wird vielmehr auf konkrete soziale Handlungsträger bezogen.14 Demzufolge kommt die Definition einer europäischen Identität aus der Geistesgeschichte Europas oder aus einer kulturellen Herkunftseinheit heraus nicht in Betracht. II. Europa als geographische Einheit Der Kontinent Europa ist auch keine natürliche geographische Einheit wie die anderen Kontinente Afrika, Amerika und Australien, da er nicht auf allen Seiten von Wasser umgeben ist. Es handelt sich eigentlich um einen Subkontinent der eurasischen Halbinsel. Die geographische Bestimmung Europas war gegenüber Asien mangels einer Wassergrenze von den jeweiligen politischen 11 Siehe zum Identitätsbegriff in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen die Aufzählung von Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 12 ff. 12 Zum Überblick Rijksbaron/Roobol/Weisglas, Europe from a Cultural Perspective; Riedel-Spangenberger, Fundamente Europas. Christentum und europäische Identität; Meyer, Die Identität Europas; Morin, Europa denken; Viehoff/Segers, Kultur Identität Europa. 13 Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 154. 14 So Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (284).
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1. Teil: Kollektive Identität
Gegebenheiten abhängig und wechselte daher häufig. Man könnte sagen, dass Europa im Osten nicht endet, sondern sich verwischt.15 Als derzeitige Grenze Europas wird der Ural angesehen, ein 2000 km langes Mittelgebirge zwischen der Osteuropäischen Ebene und dem Westsibirischen Tiefland, das bis zu 1894 m hoch ist.16 Dadurch lässt der europäische Raum kaum Grenzen an seiner Peripherie erkennen. Die Geographie Europas entzieht sich einfachen Definitionsversuchen, da die historischen Entwicklungslinien zu kompliziert und widersprüchlich sind. Definitionen Europas nach Geographie, Kultur oder nach einer von der frühmittelalterlichen Einheit der Christen ausgehenden religiösen Bestimmung sind also aus rechtswissenschaftlicher Sicht nicht eindeutig.17 III. Sozialpsychologische und soziologische Einheit Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen daher vor allem die sozialpsychologischen und soziologischen Erkenntnisse zum Identitätsbegriff herangezogen werden, die der Thematisierung innerer Einstellungen dienen. Die innere Einstellung der Bürger, um die es dabei geht, ist ihre Einstellung gegenüber der politischen Organisation der Europäischen Union. Denn in der Sprache der europäischen Bürger ist zu dem althergebrachten und diffusen geographischen Begriff von Europa und europäisch ein zweiter, engerer Begriff hinzugekommen. Dieser ist mittlerweile zahlenmäßig so stark verbreitet, dass die normale sprachliche Verwendung der Begriffe Europa und europäisch inzwischen eher das politische Gebilde der Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaften, nicht aber den geographischen Begriff meint.18 Diese Art einer organisationsbezogenen Identität fand durch den Vertrag von Maastricht 1992 auch Eingang in das primäre Gemeinschaftsrecht.19 Nach der 10. Präambelerwägung des EU-Vertrages und Art. 2 Abs. 1 Spstr. 2 EU verfolgt die Europäische Union das Ziel, auf internationaler Ebene ihre Identität zu behaupten, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern. Gemäß Art. 6 Abs. 3 EU achtet die Union auch die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten. Der Europäische Verfassungsvertrag übernimmt die Regelung des Art. 6 Abs. 3
15 Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (17). Der Gebrauch des Wortes „Europa“ ist zu keiner Zeit nur ein geografischer Begriff gewesen; vielmehr weist schon die Entstehungsgeschichte des Begriffes auf die Verbindung mit anderen Elementen – kulturellen, religiösen, politischen – hin; vgl. Schieder, in: Franz (Hrsg.), Am Wendepunkt der europäischen Geschichte, S. 10 (10 f.). Zur Geschichte der Ostgrenze insbesondere Köpke, in: Köpke/Schmelz, Das gemeinsame Haus Europa, S. 18 (21 f., 23 ff.). 16 Meyers Taschenlexikon, Ural, S. 56. 17 Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 178. 18 Schmidt, Muttersprache 84 (1974), S. 409 (410). 19 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 166.
1. Kap.: Bestimmung des Begriffs „Identität‘‘
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EU wortgetreu in seinem Art. I-5 Abs. 1 VVE. Eine auf ein politisches Gemeinwesen bezogene Identität orientiert sich an bestimmten inhaltlichen und rechtlichen Merkmalen.20 Der Begriff von Identität zur Untersuchung des Europäischen Verfassungsvertrages wird daher im Ergebnis auf den sozialpsychologischen Identitätsbegriff eingegrenzt und soll sich auf das politische Gebilde der supranationalen Union beziehen.
C. Sozialpsychologische Definition von Identität Im Folgenden soll der sozialpsychologische Identitätsbegriff genauer ausgeführt werden. In der Sozialpsychologie existiert keine allgemein akzeptierte Definition von Identität.21 Daher muss man sich bei der Klärung der Begrifflichkeit und der Benennung des Gegenstandes mit einer definitorischen und heuristischen Annäherung zufrieden geben. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, verschiedene Theorieansätze zur Klärung des Identitätsbegriffes heranzuziehen. Diesen zufolge ist Identität in erster Linie ein psychologisches Phänomen, das durch seine Wechselwirkungen und Verknüpfungen mit dem sozialen Umfeld des Individuums als ein sozialpsychologisches Phänomen präzisiert werden kann.22 Also kann Identität aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden, nämlich als eine Eigenschaft und Fähigkeit sprach- und handlungsfähiger Subjekte und als eine Eigenschaft von Gruppen.23 Im Rahmen einer Begriffsbestimmung von Identität ist zwischen personaler und kollektiver Identität zu unterscheiden. I. Personale Identität Die Psychologie hat sich gerade in den letzten Jahrzehnten bemüht, das Phänomen Identität genauer zu beschreiben. Der Identitätsbegriff wurde vor allem im Rahmen von zwei psychologischen Theorietraditionen – der Psychoanalyse und der amerikanischen Sozialpsychologie – entwickelt. In diesen wurde Identität als Selbst, Charakter oder Personalität definiert. Trotz der unterschiedlichen Terminologie scheint die Verwendung all dieser Begriffe dieselben Prozesse und Phänomene zu beschreiben24 und dient der Thematisierung innerer Einstellungen.
20
Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 166. Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 33. 22 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 25. 23 Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 177. 24 Siehe ausführlich dazu Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 33. 21
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1. Teil: Kollektive Identität
1. Psychoanalyse In der Psychoanalyse wird personale Identität als psychisches Organisationsprinzip aufgefasst.25 In dieser Tradition basiert die Identitätsdiskussion auf der Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856–1939),26 die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstand. Danach wurde die Ausbildung einer aus den frühkindlichen und adoleszenten Identifikationsproblemen nicht ableitbaren Instanz „Ich“ als Thema theoretischer und therapeutischer Bemühungen anerkannt.27 Die Theorie Freuds wurde von dem amerikanischen Psychoanalytiker Erik Erikson (1902–1994)28 erweitert. Erikson hat dem „Ich“ eine personale Identität nämlich dann zugesprochen, wenn es zwischen früheren Identifikationen und hierarchisch geordneten Rollen in der sozialen Umwelt eine stabile Synthese aufgebaut hat.29 Dabei durchlebt jeder Jugendliche eine Phase der Identitätskrise; der Prozess der Identitätsfindung und Identitätsbildung findet demnach bereits in der Adoleszensphase statt.30 Erikson hat seinen ursprünglichen Terminus „Ego-Identität“ zur einfachen „Identität“ verkürzt. In der Folgezeit haben auch die Soziologie und Sozialpsychologie diese Kurzfassung des Identitätsbegriffes aufgegriffen, wo er bis heute in dieser Weise verwendet wird. 2. Sozialpsychologie Die amerikanische Sozialpsychologie begreift dagegen Identität als soziales Organisationsprinzip.31 Dieser Theoriezweig geht von dem amerikanischen Psychologen William James (1842–1910) aus. Er führte den Begriff des „Selbst“ ein. Er unterschied in diesem Zusammenhang das Selbst grundlegend in „Mich“ (Me) und „Ich“ (I). Diese Unterscheidung wurde von dem amerikanischen Sozialpsychologen George Herbert Mead (1863–1931)32 übernommen. Er entfaltete den Begriff des Selbst, indem er an die Stelle des in sich gegliederten „Mich“ ein verallgemei25 Huber/Krainz, in: Grubitzsch/Rexilius (Hrsg.), Psychologische Grundbegriffe, S. 474 (474 ff.). 26 Freud, in: ders., Gesammelte Werke, Band XIII, S. 115 ff.; Freud, in: ders., Gesammelte Werke, Band XIII, S. 237 (237 ff.). 27 Henrich, in: Marquard/Stierle (Hrsg.), Identität, S. 133 (135). 28 Erikson, Identität und Lebenszyklus. 29 Siehe dazu und zum Folgenden Henrich, in: Marquard/Stierle (Hrsg.), Identität, S. 133 (135). 30 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 27. 31 Siehe zum Folgenden Huber/Krainz, in: Grubitzsch/Rexilius (Hrsg.), Psychologische Grundbegriffe, S. 474 (474 ff.). 32 Dabei versuchte Mead zu zeigen, dass Geist und Identität ausschließlich gesellschaftliche Phänomene sind; vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft.
1. Kap.: Bestimmung des Begriffs „Identität‘‘
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nertes „Mich“ (Me) setzte, das die Erwartungen einer Gesellschaft gebündelt an den Einzelnen heranträgt. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass weder James noch Mead den Begriff „Identität“ verwenden, sondern den Begriff des „Selbst“.33 Die darauf aufbauende Identitätskonzeption des kanadischen Sozialwissenschaftlers Erving Goffman (1911–1982) unterscheidet soziale und persönliche Identität, die beide dem Individuum von seinen Interaktionspartnern zugeschrieben werden, und stellt diesen beiden Identitätsformen die nur subjektiv erfahrbare „Ich-Identität“ gegenüber. Dies ist die Position des strukturellen Interaktionismus.34 In diesem Bedeutungskontext werden Identitäten als internalisierte Rollen betrachtet. Die Rollentheorie beschreibt das Verhalten eines Individuums aus der Perspektive der sozialen Situation. Zur Rollentheorie haben weiterhin Georg Simmel (1858–1918),35 Èmile Durkheim (1858–1917), Charles Horton Cooley (1864–1929) und Ralf Dahrendorf (*1929)36 entscheidende Beiträge geleistet. Zur Rezeption dieser vorwiegend amerikanischen Konzepte von Identität hat im deutschen Sprachraum vor allem der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas (*1929)37 beigetragen.38 Nach der Konzeption der Rollentheorie setzt die personale Identität eines Individuums die soziale und die persönliche Identität begrifflich und faktisch voraus.39 Die personale Identität ergibt sich aus dem Reifeprozess des Individuums. In diesem Prozess löst sich die betreffende Person aus den Steuerungen der Ordnungen, in denen sie aufwächst. So soll ein Individuum dazu kommen, sein Leben aus eigener Einsicht und in Autonomie zu führen.40
33 In der deutschen Ausgabe von Meads Werk wird der Begriff des „Selbst“ deshalb unrechtmäßig mit „Identität“ übersetzt, weil die gegenwärtige Bedeutung von Identität bei James und Mead noch keinen Anhaltspunkte hat; vgl. Henrich, in: Marquard/Stierle (Hrsg.), Identität, S. 133 (134). 34 Vgl. dazu Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 34. 35 Niemand hat in der Gruppe der soziologischen Klassiker so entschieden wie Georg Simmel mit dem Missverständnis aufgeräumt, dass es ausschließlich assoziative Kräfte seien, die moderne Gesellschaften zusammenhalten. Auf die Integrationswirkung von Konflikten hat Simmel vor allem in seinen Überlegungen zum „Streit“ hingewiesen. Nach Simmel wird der Zusammenhalt moderner Gesellschaften mithin garantiert durch spezifische Kombinationen von Konsens und Dissens. Solche Kombinationen glaubt Georg Simmel selbst noch in Situationen physischer Gewalt identifizieren zu können. Wenn es in derartigen gewaltförmigen Auseinandersetzungen noch irgendeine – sei es auch schwache – Bereitschaft zur Schonung des Gegners gibt, liegt jenes integrierende, den Konflikt potentiell hegende Moment vor; vgl. Simmel, Soziologie, S. 186 ff. 36 Dahrendorf, Homo Sociologicus. 37 Habermas, in: Habermas/Henrich, Zwei Reden, S. 23 (30). 38 Huber/Krainz, in: Grubitzsch/Rexilius (Hrsg.), Psychologische Grundbegriffe, S. 474 (474 ff.). 39 Henrich, Nach dem Ende der Teilung, S. 29. 40 Henrich, Nach dem Ende der Teilung, S. 50.
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1. Teil: Kollektive Identität
Die persönliche Identität betrifft die Binnenperspektive in der Selbstwahrnehmung eines Menschen.41 Sie gilt es, ein Leben lang konsistent zu halten trotz der verschiedenen Ansprüche der unterschiedlichen Rollensysteme der sozialen Identität.42 Sie wird definiert als die psychische Einheit einer Person, also die Gleichheit und Kontinuität eines Individuums in sich und über den Zeitraum eines Lebenszyklus.43 Die Selbigkeit der Person ist in der Kontinuität der Erinnerungen von ihrem eigenen Lebenszyklus begründet. Dies ist die eigentümliche Fähigkeit sprach- und handlungsfähiger Subjekte, auch noch in tief greifenden Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur, mit denen sie auf widersprüchliche Situationen antworten, mit sich identisch zu bleiben. Sie bewährt sich in der Fähigkeit des Erwachsenen, neue Identitäten aufzubauen und diese gleichzeitig mit den überwundenen Identitäten trotz widersprüchlicher Rollensysteme in die eigene Persönlichkeit zu integrieren, um sich und seine Interaktionen in eine unverwechselbare Lebensgeschichte zu integrieren.44 Die Erinnerung wird dabei abgestützt durch allgemein akzeptierte Kenntnisse von den äußeren Umständen dieses Lebensganges. Die soziale Identität betrifft die von Normen und Rollen geprägte Organisation der Handlungen eines Individuums. Soziale Identität erlangt das Individuum also durch seine Zugehörigkeit zu verschiedenen Bezugsgruppen. Im Laufe eines Lebensganges kann die soziale Identität mehrfach wechseln. Die soziale Identität bestimmt die Position einer Person in der Gesellschaft durch ihre Rollen und durch die Verbindungen, die zwischen den einzelnen Rollen bestehen.45 Es wird in komplexen Gesellschaften erwartet, dass sich Individuen in den verschiedenen sozialen Positionen in der passenden Art und Weise verhalten.46 Soziale Identität ist erreicht, wenn es dem Individuum gelingt, die unterschiedlichen Rollenerwartungen zu einer Einheit zu integrieren.47 Abschließend bleibt also festzustellen, dass die personale Identität mit der sozialen Umwelt über Rollen in Kontakt tritt. Dies führt bei Gemeinsamkeiten, übereinstimmenden Überzeugungen, Zuschreibungen und Einordnungen zur kollektiven Identitätsfindung.48 Kollektive Identität konstituiert sich somit durch
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Siehe zum Folgenden Henrich, Nach dem Ende der Teilung, S. 29 f. Huber/Krainz, in: Grubitzsch/Rexilius (Hrsg.), Psychologische Grundbegriffe, S. 474 (474 ff.). 43 Siehe ausführlich zum Folgenden Habermas, in: Habermas/Henrich, Zwei Reden, S. 23 (27). 44 Habermas, in: Habermas/Henrich, Zwei Reden, S. 23 (30). Siehe dazu auch Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 177. 45 Henrich, Nach dem Ende der Teilung, S. 50. 46 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 34. 47 Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 177. 48 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 28. 42
1. Kap.: Bestimmung des Begriffs „Identität‘‘
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die Dialektik von Individuum und Gesellschaft.49 Bei einer Verbindung von personaler Identität und Gruppe können daher aufgrund der Interaktion des Individuums mit anderen die personale und kollektive Identität nicht eindeutig voneinander unterschieden werden. II. Kollektive Identität 1. Geschichtlicher Abriss Vor allem innerhalb der Sozialpsychologie wird die Existenz kollektiver Identität thematisiert. Die Erkenntnis aber, dass sich Menschen nicht nur als einzelne, unverbundene Individuen verstehen, sondern sich bestimmten Gruppen zugehörig fühlen und auch danach handeln, ist keineswegs neu. Sigmund Freud hat schon früh auf die Diskontinuität zwischen dem Erleben und Verhalten eines Menschen als Individuum einerseits und als Mitglied einer Gruppe andererseits hingewiesen.50 Allerdings war die Existenz kollektiver Identität lange umstritten. Bei der Beantwortung der Frage nach der Beziehung zwischen Individuum und Gruppe lassen sich zwei Lager unterscheiden: Die Group-Mind-Theorien gestehen der Gruppe eine eigene kollektive Realität zu, die unabhängig von den Individuen besteht.51 Sie halten Kollektivverhalten für nachweisbar. Ein Vertreter der Group-Mind-Theorien ist zunächst der französische Soziologe Gustave LeBon (1841–1931), der durch sein Buch über die „Psychologie der Massen“52 die Suche nach den kognitiven Wurzeln kollektiver Identität begründete.53 Dazu gehören auch William McDougall (1871– 1938), der im Jahr 1920 den Begriff des Group-Mind prägte,54 ebenso wie einer der Pioniere der amerikanischen Soziologie, Edward Alsworth Ross (1866– 1951).55 Die streng individuumsorientierten Psychologen verneinen dagegen nachdrücklich die Nachweisbarkeit von Kollektivverhalten. Vertreter dieser Theorie49
Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 178. Freud, in: ders., Gesammelte Werke, Band XIII, S. 73 (73 ff.). 51 Schiffmann, Ein sozialpsychologisches Modell von Gruppe und Identität, S. 1. 52 LeBon, Psychologie der Massen. 53 Nach LeBon handelt und fühlt der Einzelne in der Gruppe anders und selbst das Individuum einer Hochkultur handelt in der „Masse“ als ob es auf primitiver Stufe lebe; vgl. Maus/Krämer, in: Bernsdorf/Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon I, S. 237. 54 McDougall, The Group Mind. 55 Ross, Social Psychology. Ross wurde dabei stark von dem Soziologen und Vertreter der Rollentheorie Georg Simmel beeinflusst. In den sozialpsychologischen Theorien von Ross geht es vor allem um die Herausarbeitung der Kontrollprinzipien, die die Gruppe entwickelt, um das Verhalten ihrer Mitglieder zu regulieren; vgl. Coser, in: Bernsdorf/Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon, Band 1, S. 357 f. 50
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1. Teil: Kollektive Identität
richtung ist vor allem Floyd H. Allport (1890–1978).56 Nach seiner Theorie wäre es ein Trugschluss, ein mentales Leben der Gruppe selbst anzunehmen und nicht von den mentalen Prozessen der einzelnen Individuen auszugehen.57 Allport wies die Ansätze von LeBon und McDougall zurück, die Masse bzw. die Gruppe als Wesen sui generis zu betrachten und ihr eine eigene psychologische Essenz zuzuschreiben.58 Es entstanden jedoch im Laufe des letzten Jahrhunderts zahlreiche fundierte Kollektivstudien, die das Vorhandensein von Gruppenverhalten und Gruppenidentität eindeutig nachwiesen.59 Die Existenz kollektiver Identität wird daher im Rahmen dieser Arbeit als bestehend vorausgesetzt. Kollektive Identität beschreibt die Gleichgerichtetheit der sozialen Identitäten der Mitglieder einer Gruppe.60 In der neueren sozialpsychologischen Identitätsforschung haben sich zur sozialen Identität vor allem zwei Theorien herauskristallisiert, die „Theorie der Sozialen Identität“ und die „Theorie der Selbstkategorisierung“ von Henri Tajfel und John C. Turner.61 Im Folgenden soll ausführlich auf beide Theorien eingegangen werden, da sie eine sehr bedeutende Konzeption von Identität eingeführt haben und bis heute sehr einflussreich sind. Beide Theorien untersuchten Gruppen insbesondere in Bezug auf die Motivationen der ihnen angehörenden Individuen. Dabei erkannte man, dass Prozesse der sozialen Identität Auswirkungen auf das Gruppenverhalten haben können. Daher sollte unter Zuhilfenahme der Erkenntnisse der Individualpsychologie die Frage geklärt werden, welche Bedingungen notwendig und hinreichend sind, damit eine Menge von Individuen sich als Gruppe wahrnimmt und entsprechend verhält. 2. Theorie der Sozialen Identität Die Theorie der Sozialen Identität 62 ist als Theorie von Intergruppen-Beziehungen entstanden. Eine ihrer wesentlichen Erkenntnisse ist, dass die Mitgliedschaft des Einzelnen in bestimmten sozialen Kategorien und sozialen Gruppen in der Regel einen wichtigen Aspekt des individuellen Selbstkonzepts ausmacht.63 Nach Tajfel und Turner bilden im sozialpsychologischen Sinn zwei oder mehr Personen eine soziale Gruppe, wenn sie sich als Mitglieder der glei56 Allport, The Journal of Abnormal Psychology and Social Psychology, Volume XIX 1924–1925, S. 60 (60 ff.). 57 Schiffmann, Ein sozialpsychologisches Modell von Gruppe und Identität, S. 1. 58 Mummendey/Simon, in: dies. (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 11 (14). 59 So Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 28. 60 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (157 Fn. 3). 61 Siehe zum Folgenden Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 36 ff. 62 Tajfel/Turner, in: Worchel/Austin (eds.), Psychology of Intergroup Relations, S. 7 (7 ff.). 63 Cinnirella, in: Breakwell/Lyons (eds.), Changing European Identities, S. 253 (253).
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chen sozialen Kategorie verstehen, wenn sie also eine gemeinsame soziale Identifikation aufweisen.64 Nach dieser Konzeption ist notwendige und hinreichende Bedingung für das Zustandekommen einer Gruppe die Wahrnehmung einiger Individuen von sich selbst als Gruppe und als Angehörige derselben Kategorie.65 Nach der Theorie der Sozialen Identität entsteht eine kollektive Gruppenidentität dabei in vier Schritten: soziale Kategorisierung, soziale Identifikation, sozialer Vergleich und soziale Distinktheit.66 Die Wahrnehmung von Individuen wird zunächst anhand sozialer Kategorien strukturiert, wodurch das Wahrgenommene in diskontinuierliche Klassen eingeteilt wird. Dieser Kategorisierungsprozess vereinfacht die Orientierung des Einzelnen in einer sonst diffusen Welt67 und fungiert als Ordnungsrahmen für die eingehenden Informationen.68 Identität ist also die Summe an Orientierungswissen. Der Kategorisierungsprozess ist vor allem durch die Kultur, Werte und Normen einer Gesellschaft geprägt.69 Der zweite Schritt zur Entstehung einer kollektiven Identität ist der Prozess der sozialen Identifikation, bei dem Individuen in das wahrgenommene Kategoriensystem eingeordnet werden. Dadurch wird dem Einzelnen die Selbstdefinition erleichtert, denn die Vorstellung eines Individuums von sich selbst beruht auf seiner Zuordnung zu bestimmten Kategorien. Das Gefühl der eigenen Identität ist demnach eng mit der Mitgliedschaft in einer Gruppe verknüpft70 und die soziale Identifikation ist die Verinnerlichung bestimmter Kategorisierungen bzw. Rollen. Die Summe aller sozialen Identifikationen bildet dann die soziale Identität einer Person. Die Selbstdefinition eines Individuums im Rahmen seiner Gruppenzugehörigkeit gewinnt aber nur eine Bedeutung in Bezug auf oder im sozialen Vergleich zu anderen Gruppen oder sozialen Kategorien. Die Ergebnisse der sozialen Vergleiche liefern dem Einzelnen nämlich die Informationen über die Charakteristika seiner spezifischen Identität. Die Mitglieder einer Gruppe bezwecken in diesem Zusammenhang eine positive Unterscheidung ihrer eigenen Gruppe gegenüber anderen Gruppen durch Inter-Gruppen-Vergleiche. Die Eigengruppe 64
Mummendey/Simon, in: dies. (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 11 (16). Siehe ausführlich zu dieser Theorie Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 37 ff. und Simon/Trötschel, in: Bierhoff/Frey (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, S. 684 (685 ff.). 66 Herkner, Lehrbuch der Sozialpsychologie, S. 490. 67 Tajfel/Forgas, in: Forgas (ed.), Social Cognition, S. 113 (113 ff.). 68 Weidenfeld, in: ders./Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Identität, S. 376; Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 178. 69 Zum Folgenden siehe ausführlich Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 38 f. 70 Die Vorstellung, dass soziale Identität sich aus Gruppenmitgliedschaft ableitet, hat eine lange Geschichte. Sie findet sich bereits bei George Herbert Mead; vgl. Brown, in: Stroebe et al. (Hrsg.), Sozialpsychologie, S. 400 (420). 65
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1. Teil: Kollektive Identität
muss von den Gruppenmitgliedern positiv unterschieden oder distinkt von Fremdgruppen wahrgenommen werden. Ansonsten würden nämlich die Individuen bei unbefriedigender sozialer Identität dazu neigen, entweder ihre Gruppe zu verlassen und in eine stärker positiv distinkte Gruppe einzutreten und/oder sie versuchen, die positive Distinktheit ihrer Gruppe zu erhöhen.71 3. Theorie der Selbstkategorisierung Die Theorie der Selbstkategorisierung72 entwickelt dieses Verständnis des Identitätsbegriffs weiter.73 Sie untersucht vor allem Intra-Gruppen-Prozesse und den Akt der Kategorisierung des Einzelnen als Mitglied einer sozialen Kategorie.74 Nach dieser Theorie ist der Akt der Selbstkategorisierung eines Individuums das Wesen aller Gruppenprozesse.75 Ein Individuum nimmt im Rahmen seiner Selbstwahrnehmung und der damit einhergehenden Kategorisierung seiner sozialen Welt sich selbst als gleich oder als unterschiedlich mit anderen wahr.76 Diese Wahrnehmung von Ähnlichkeit und Verschiedenheit ist eng mit den Prozessen der Kategorisierung und der Gruppierung verbunden.77 Es ist zu klären, welcher der unterschiedlichen sozialen Kontexte78 für eine mögliche 71
Tajfel/Turner, in: Worchel/Austin (eds.), Psychology of Intergroup Relations, S. 7
(16). 72
Turner, in: Tajfel (ed.), Social Identity and Intergroup Relations, S. 15 (15 ff.). Siehe dazu ausführlich Turner et al., Rediscovering the Social Group; Hogg/ Abrams, Social Identifications; Simon/Trötschel, in: Bierhoff/Frey (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, S. 684 (686 ff.). 74 Cinnirella, in: Breakwell/Lyons (eds.), Changing European Identities, S. 253 (253). 75 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 44. 76 Siehe dazu im Folgenden Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 42 f. 77 Ein instruktives Beispiel für diesen Wahrnehmungsprozess findet sich bei Mummendey/Simon, in: dies. (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 11 (12): In dem Kontext der gemeinsamen Arbeit wird zum Beispiel von zwei Kollegen aufgrund der gleichen Forschungsinteressen die Ähnlichkeit zwischen ihnen als sehr groß wahrgenommen, weil andere Kollegen diese Interessen nicht teilen. In diesem Fall definieren sich beide Kollegen aufgrund der gemeinsamen Forschungen und identifizieren sich miteinander. Wenn sich diese beiden jedoch abends auf einer politischen Veranstaltung treffen, auf der ihre unterschiedlichen und entgegen gesetzten politischen Ansichten deutlich werden, tritt in der Wahrnehmung der beiden Kollegen ihre Verschiedenheit in den Vordergrund. In dieser Situation distanzieren sie sich voneinander aufgrund ihrer unterschiedlichen politischen Ansichten und nehmen auch ihre Identitäten als unterschiedlich wahr. 78 Die Selbstkategorisierungen eines Individuums erfolgen auch auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen. Einmal auf der interpersonalen Ebene, also der Ebene der persönlichen Identität und des Selbst als individueller Person, zum zweiten auf der intergruppalen Ebene, in der sich die soziale Identität des Selbst als Mitglied einer Gruppe entwickelt und schließlich auf der Intergattungsebene, welche das Selbst als der Gattung Mensch zugehörig kategorisiert. 73
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Kategorisierung des Individuums als Mitglied einer bestimmten Gruppe salient, also kognitiv dominierend ist. Nach der Theorie der Selbstkategorisierung wird immer diejenige Kategorisierung salient, welche die von dem einzelnen Individuum wahrgenommenen Unterschiede zwischen den zur Auswahl stehenden Kategorisierungsmöglichkeiten maximiert und gleichzeitig die wahrgenommen Unterschiede innerhalb der wahrgenommenen Kategorie minimiert.79 Wenn dann die soziale Distinktheit der Eigengruppe für das Individuum in einem besonderen sozialen Kontext sehr wichtig wird, gelten diejenigen Charakteristika, die vorher für das Individuum galten, nunmehr für die gesamte Gruppe. Die Selbstinterpretation des Individuums wird sozial erweitert, indem die EigengruppenMitglieder in die eigene Selbstinterpretation aufgenommen und somit depersonalisiert werden. Damit gründet eine soziale Identität in der Selbstinterpretation als austauschbares Gruppenmitglied, also im kollektiven Selbst.80 Demzufolge lässt sich soziale Identität wie folgt definieren: Soziale Identität meint die Erweiterung des psychologischen Selbst-Verständnisses durch Aufnahme von Personen, mit denen man eine Gruppenmitgliedschaft teilt, in die eigene Selbst-Definition mit entsprechenden emotionalen, kognitiven und verhaltensbezogenen Konsequenzen.81 Sie basiert auf einer Zuordnung der eigenen Person sowie der Mitglieder einer bestimmten Eigengruppe („wer“) zu einer gemeinsamen Kategorie („wie“) in Abgrenzung zu anderen Kategorien und Fremdgruppen („die anderen“).82 Eine soziale Identität der Einzelnen im gruppenkonstituierenden Sinn beruht also auf gleichgerichteten Zuordnungs- und damit Identifikationsprozessen. Die soziale Identität bestimmt die Mitgliedschaftsregeln einer Gruppe und definiert, wer dazu gehört. Die maßgeblichen Kategorien werden durch Inhalte verdeutlicht, die aussagen, wie die Gruppenmitglieder sind.83 Dabei sind die Selbstbeschreibungen einer Gemeinschaft untrennbar mit deren Grenzziehung und Abgrenzung gegenüber anderen verbunden. Zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung muss zur Selbstvergewisserung der Einzelnen ein Innen-/Außen-, Mitglied-/Nichtmitglied-Dualismus vorliegen.84
79 Dies wird in der Sozialpsychologie mit dem Begriff Meta-Kontrast-Prinzip umschrieben. Siehe dazu Simon/Trötschel, in: Bierhoff/Frey (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, S. 684 (688); Mummendey/Simon, in: dies. (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 11 (12). 80 Vgl. Mummendey/Simon, in: dies. (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 11 (20). 81 Simon/Trötschel, in: Bierhoff/Frey (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, S. 684 (685). 82 Simon/Trötschel, in: Bierhoff/Frey (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, S. 684 (687). 83 Lerch, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 215 (220 Fn. 14). 84 Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 178.
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1. Teil: Kollektive Identität
Die positive Beschreibung dessen, was eine Gruppe ausmacht, stellt zugleich klar, was sie nicht ausmacht.85 Die kollektive Wahrnehmung der Zugehörigkeit zu derselben sozialen Kategorie ist die maßgebliche Vorbedingung für die Bildung einer Gruppe und einer entsprechenden kollektiven Identität.86 Die soziale Identität eines Individuums hat damit eine Schlüsselrolle in der theoretischen Modellbildung zur kollektiven Identität. Abschließend bleibt festzustellen, dass die beiden genannten Theorien die personale und soziale Identität nur den einzelnen Individuen zuschreiben.87 Träger einer sozialen Identität ist also nicht die Gruppe als Ganzes, sondern der einzelne Mensch als Gruppenmitglied.88 4. Bildung kollektiver Identität Eine kollektive Identität entspricht dem Grundbedürfnis des Menschen, sich zu Gruppen zu formen und sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen.89 Sie besteht nicht nur aus der Summe der Einzelidentitäten der Gruppenmitglieder.90 Kollektive Identität wird in gesellschaftlichen Prozessen geformt.91 Diese Prozesse verlaufen anhand von kommunikativ vermittelten Gehalten. Denn Individuen benutzen allgemeine Wissenssysteme, gesellschaftliche Normen und Interpretationsmuster, um sich selbst zu definieren.92 Diese sozialen 85 Siehe ausführlich Lerch, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 215 (219 f.). 86 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (168 f.). 87 Siehe zum Folgenden Mummendey/Simon, in: dies. (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 11 (20). 88 Die Theorie der Sozialen Identität und die Theorie der Selbstkategorisierung haben eine Vielzahl von empirischen Studien geriert. Beide Theorien wurden aber auch vielfach kritisiert. In diesem Zusammenhang wird vor allem die zu starke Verallgemeinerung der zur Modellbildung gebildeten Gruppen bemängelt und dass kein genügendes Modell des Selbst besteht. Außerdem wurde kritisiert, dass die Theorie der Sozialen Identität und die Theorie der Selbstkategorisierung die Analyse sozialer Identitäten auf die individuelle Ebene beschränken. Weiterhin wird die unkritische Behandlung der sozialen Kategorisierung beanstandet, da die soziale Kategorisierung kein unproblematischer und vor allem kognitiver Prozess sei. Damit wird an den genannten Theorien vor allem die ungenügende Konkretisierung und Charakterisierung des Sozialen in der Modellbildung moniert. Der Grund dafür liegt darin, dass Tajfel und Turner vor allem allgemeine Prozesse analysiert haben. Allerdings ist die Wirklichkeit, in der die Individuen und Gruppen leben, komplexer. Siehe zur ausführlichen Kritik Cinnirella, in: Breakwell/Lyons (eds.), Changing European Identities, S. 253 (254). Eine detaillierte Darstellung der Schwächen der beiden Theorien findet sich bei Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 45 ff., 49 ff. 89 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 28. 90 Lyons, in: Breakwell/Lyons (eds.), Changing European Identities, S. 31 (33). 91 Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 178. 92 Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 145.
1. Kap.: Bestimmung des Begriffs „Identität‘‘
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Interpretationssysteme orientieren und organisieren das soziale Verhalten der Individuen und ihre soziale Kommunikation. Sie beschreiben eine Wirklichkeit, die gerade durch die Interaktion und Kommunikation der Einzelnen über eine psychische und soziale Welt konstruiert wird. Sie beziehen sich auf Ideen, Gedanken, Bilder und Wissensinhalte, welche kennzeichnend für eine Kollektivität sind.93 Sie wirken als gemeinsamer Nenner, der eine Primärstruktur für diejenigen vorgibt, die innerhalb dieses spezifischen Kontextes leben.94 Die Bilder, die Individuen über sich selbst konstruieren, sind damit maßgeblich von den in der Gesellschaft zirkulierenden Bildern geprägt. Nationale Selbst- und Fremdbilder besitzen daher in der Gesellschaft und in der Politik eine herausragende Orientierungsfunktion.95 Das, was auf der Ebene der sozialen Identität Gleichheit und Verschiedenheit der Kategorien, in die sich Individuen einordnen, ist, drückt sich auf der kollektiven Ebene von Identität in gesellschaftlichen Fremd- und Selbstbildern aus.96 Kollektive Identität bezeichnet das Selbstbild und das Wir-Bewusstsein einer Gruppe. Sie ist letztlich immer auf die soziale Identitäten der einzelnen Gruppenmitglieder zurückzuführen, die sich mit diesem Kollektiv identifizieren.97 Eine kollektive Identität kann auch über mehrere Generationen bestehen bleiben.98 Die Annahme einer gewissen Beständigkeit kollektiver Identität bedeutet aber nicht, dass diese determiniert und starr ist. Eine kollektive Identität ist aufgrund der sich ändernden Kategorisierungsprozesse der Einzelnen dynamisch und mit dem wechselnden sozialen Kontext verknüpft.99 Sie gewährleistet kurz und mittelfristig Stabilität, schließt aber auch die prinzipielle Wandlungsmöglichkeit mit ein.100 Das Leistungsspektrum kollektiver Identität lässt sich abschließend wie folgt beschreiben:101 kollektive Identität ist der Filter für eingehende Informationen der Individuen. Sie ist das Raster für die Einordnung und Zuordnung sozialer Objekte. Darüber hinaus ist sie der Bezugspunkt für Konfliktregelungen und sowohl Objekt als auch Medium von Loyalität der Gruppenmitglieder gegenüber der Gruppe und untereinander. Sie ist die sozialpsychologische Vertrauensbasis, die Vertrautes von Fremdem unterscheidet und so für die Einzelnen eine erhebliche soziale Entlastung darstellt. 93
Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 63. Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 165 f. 95 Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 145. 96 Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 178. 97 Lerch, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 215 (220 Fn. 14). 98 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 32. 99 Mummendey/Simon, in: dies. (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 11 (12 f.). 100 Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 178. 101 Siehe ausführlich dazu Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 180. 94
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1. Teil: Kollektive Identität
Wenn im Rahmen dieser Arbeit von regionaler, nationaler oder europäischer Identität gesprochen wird, ist damit immer eine kollektive Identität gemeint. Das Entstehen einer europäischen Identität ist ein kollektives Phänomen. Denn auch eine europäische Identität ist das Resultat eines sozialen Kommunikationsprozesses.102 Das Selbstbild der Bürger kann sich nur auf einem Repertoire sozialer Vorstellungen aufbauen, das Europa als Europäische Union und die Europäer als Unionsbürger beinhaltet.103 Daher wird eine gemeinsame europäische Identität als kollektive Identität nur dann entstehen, wenn eine Reihe weithin akzeptierter politischer und sozialer Grundüberzeugungen ein gemeinsames Substrat durch gemeinsame Inhalte, Bedeutungen und Grenzziehungen bilden werden.104 III. Intersubjektive Anknüpfungsmöglichkeiten für Identität Die Ausführungen machen deutlich, dass eine kollektive Identität auf Intersubjektivität bei der Bestimmung der gruppenspezifischen Kategorien konstitutiv angewiesen ist. Jede Person erfährt ihre Welt als eine intersubjektive Welt, die sie mit anderen teilt und deren Gefüge sie mit anderen Menschen gemeinsam interpretiert.105 Die intersubjektiven Anknüpfungsmöglichkeiten für eine kollektive Identität sind durch die verschiedenen für die jeweilige Gruppe dominanten Kategorien und Selbstbilder geprägt.106 Denn die Identität eines Individuums entwickelt sich maßgeblich anhand seiner gesellschaftlichen Rollen und der gesellschaftlich angebotenen Kategoriensysteme. Die verschiedenen Wege der Identitätsfindung sind davon abhängig, wie sich eine Gruppe selber vorstellt und welche der verschiedenen Kriterien als konstitutiv für die Gruppe angesehen werden.107 Es lassen sich in der Literatur vor allem drei intersubjektive Anknüpfungspunkte für eine kollektive Gruppenidentität unterscheiden, nämlich historische, genetische und affektive Anknüpfungspunkte. 1. Historische Anknüpfung Ein Weg der Identitätssuche führt über eine historische Betrachtungsweise. In diesem Fall sind die drei zeitlichen Kategorien der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die dominanten Anknüpfungspunkte für die Gleichgerichtetheit der sozialen Identitäten der Gruppenmitglieder. Zunächst ist die Gruppenkategorie 102 103 104 105 106 107
Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 85. Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 165 f. Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 157. Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 179. von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (167). Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 29 ff.
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der gemeinsamen Geschichte maßgeblich, da die Menschen ein Verhältnis zu ihrer Vergangenheit haben und ihr Gedächtnis erinnerungswürdige Ereignisse speichert.108 Persönliche und soziale Erinnerungen befähigen ein Individuum zur Konstruktion seiner Identität, um den gegenwärtigen Ereignissen Sinn zu geben und auf eine nachvollziehbare Art zu handeln.109 Neben der Vorstellung über die gemeinsame Abstammung und die Einbindung in das gleiche Schicksal wird daher vor allem die Bedeutung der gemeinsamen Geschichte und Ursprungsmythen für das Kollektivbewusstsein betont.110 Der Prozess des Erinnerns ist sozial und kann kollektiv vonstatten gehen, entweder mittels öffentlichen Dialogs oder in öffentlichen Erinnerungszeremonien und Ritualen.111 Die Hervorhebung der Gegenwart als gruppenrelevante Kategorie soll ebenfalls ermöglichen, die ökonomische, soziale, politische und kulturelle Ortsbestimmung der einzelnen Gruppenmitglieder zu erleichtern.112 Die dritte identitätsformende Komponente ist schließlich die Zukunft einer Gruppe. Die Menschen antizipieren ihr zukünftiges Handeln und beziehen so die Zukunft in die Gegenwart mit ein. Dabei wird die Projektion der Absichten und Ziele zur Entscheidungshilfe für die Gegenwart.113 So beeinflussen sich die drei Komponenten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegenseitig. Die Konstruktion der Gegenwart einer Gruppe wird auch ihre Erwartungen für die Zukunft bestimmen. Ebenso wie die Rekonstruktion der Vergangenheit auch Einfluss auf die gegenwärtigen Bedingungen haben wird, mittels derer sich Gruppen finden. Demzufolge rekonstruieren Individuen in der Regel ihre Vergangenheit entsprechend den Bedürfnissen der Gegenwart.114 Eine kollektive Identität ist immer Resultat der Herkunftsgeschichte einer Gruppe, von der auch gleichzeitig die Zukunftsvorstellungen der Gruppenmitglieder abhängen.115 2. Genetische Anknüpfung Ein zweiter Weg der Identitätssuche geht von einem genetischen Identitätsbegriff aus. Dieser formuliert identitätsstiftende Elemente der Gruppenkohäsion.116 Danach entsteht eine kollektive Identität durch Abgrenzung gegenüber anderen, innere Homogenisierung der Gruppe, durch die Einbeziehung der Peri108 Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (16); Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 179. 109 Lyons, in: Breakwell/Lyons (eds.), Changing European Identities, S. 31 (32). 110 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 164. 111 Lyons, in: Breakwell/Lyons (eds.), Changing European Identities, S. 31 (32). 112 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 101. 113 Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (16). 114 Lyons, in: Breakwell/Lyons (eds.), Changing European Identities, S. 31 (37). 115 Lübbe, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 191 (199). 116 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 104.
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1. Teil: Kollektive Identität
pherien ins Zentrum und durch den Ausgleich innerer Spannungen117 zwischen den Gruppenmitgliedern.118 Eine sehr dominante Kategorie für die Bildung kollektiver Identität ist die äußere Abgrenzung der Gruppe, da auf ihr maßgeblich die vorgenannte Selbst- und Fremdwahrnehmung der Individuen aufbaut. Die Notwendigkeit einer Abgrenzung zu anderen Gruppen wird auch an der sprachlichen Verwendung des Wortes „Identität“ deutlich. Zum Beispiel erscheinen im Zusammenhang mit dem Begriff der europäischen Identität die Präposition „gegenüber“ und das Adjektiv „unabhängig“ extrem häufig im Sprachgebrauch.119 Derartige identitätssichernde Abgrenzungen stärken die innere Solidarität, den Konsens und die innere Ordnung des sozialen Lebens einer Gruppe.120 Damit geht allerdings auch oft eine Tendenz zum Handeln nach dem primitiven „Freund-Feind-Schema“ einher. Hier wird eine Form von Identitätsbildung angesprochen, die im Bereich der Rechtswissenschaft in der Staatstheorie von Carl Schmitt auftaucht.121 Eine derartige aus- und abgrenzende Tendenz lässt sich nach der Theorie der Sozialen Identität vor allem dadurch erklären, dass jedes Individuum bestrebt ist, eine positive Identität zu besitzen. Eine Identität ist aber nur dann positiv, wenn die sozialen Vergleiche zwischen der eigenen Gruppe und der Fremdgruppe für die eigene Gruppe positiv ausfallen.122 In diesem Zusammenhang wurde mehrfach ein Beurteilungsfehler von Individuen belegt. Dieser besteht darin, dass Individuen die Angehörigen der eigenen Gruppe besser beurteilen als die Angehörigen von Fremdgruppen. Dieser Beurteilungsfehler kommt zumindest einer relativen Benachteiligung und Abwertung der Anderen gleich.123 Nach diesbezüglichen Experimenten reicht sogar die einfache triviale Kategorisierung in zwei Gruppen aus, um begünstigendes Verhalten gegenüber der Ingroup und diskriminierendes Verhalten gegenüber der Outgroup hervorzurufen.124 Demgegenüber wurde jedoch in der sozialpsychologischen Forschung zum Beispiel von Floyd H. Allport125 schon früh darauf hingewiesen, dass die Identifikation mit einer Gruppe oder Nation nicht zwangsläufig mit der Abwertung 117 In der Literatur wird diese Funktion auch teilweise mit dem Begriff der „Heterogenitätskompensation“ benannt; vgl. Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (172). 118 Siehe zum Folgenden ausführlich Münch, Das Projekt Europa, S. 15–45. 119 Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (349 f.). 120 Derartige Erkenntnisse finden sich schon früh in der Geschichte der Soziologie bei Simmel, Soziologie, S. 232–245. 121 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 f., 29 f., 50 ff. 122 Brown, in: Stroebe et al. (Hrsg.), Sozialpsychologie, S. 400 (420 f.). 123 Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (62). 124 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 37. 125 Allport, Die Natur des Vorurteils.
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von Fremdgruppen verknüpft sein muss.126 Eine Gruppe muss sich nicht erst in Gegnerschaft oder gar Feindschaft gegenüber Fremdgruppen konstituieren.127 Eine Identitätsbildung findet nämlich auch durch innere Homogenisierung der Gruppe, also durch die Etablierung von Gemeinsamkeit und die Schaffung eines Wir-Gefühls statt.128 Aufgrund der vielfach sich überschneidenden Kategorien, in die sich Individuen einordnen können und der daraus folgenden mehrdimensionalen Komplexität einer kollektiven Identität, bedeutet dies jedoch keinesfalls die totale Homogenität einer Gemeinschaft.129 Eine Gruppe stellt niemals ein homogenes Ganzes, sondern stets ein komplexes Gebilde dar, welches aus einer kleineren oder größeren Anzahl von Teilsystemen besteht.130 Wenn eine Wanderung der peripheren Randgruppen ins Zentrum der Gruppe stattfindet, kommt es außerdem zu Identitätsbildung durch Inklusion.131 Ebenso ist der Ausgleich innerer Spannungen innerhalb einer Gruppe für die Ausbildung einer kollektiven Identität konstitutiv,132 wobei dieser in der Regel auf der rituellen Konstruktion von Gleichheit beruht. Kollektive Identität resultiert nach dem genetischen Identitätsbegriff also auch aus der Überwindung interner Verschiedenheit und der Herstellung von Gleichheit zwischen den Mitgliedern eines Kollektivs.133 3. Affektive Anknüpfung Bei dem dritten intersubjektiven Anknüpfungspunkt für kollektive Identität ist die affektive Bindung des Einzelnen zur Gruppe bzw. einzelner Bürger zu einer politischen Gemeinschaft die dominant wahrgenommene und gruppenkonstituierende Kategorie.134 Identifikation mit der Gruppe bzw. der politischen Gemeinschaft entspringt in diesem Fall einer emotionalen Bindung an eine soziale Einheit, die Sicherheit, Geborgenheit und sogar Zuneigung hervorruft.135 Teilweise wird sogar gefordert, dass das subjektive Wohlergehen und Leiden der Mitglieder einer Gruppe durch das Wohlergehen und Leiden der Gruppe als Kollektiv 126 Blank/Schmidt, in: Mummendey/Simon (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 127 (132). 127 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (59). 128 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 102. 129 Innerhalb der Staatslehre wird ebenfalls die Frage der Homogenität als Voraussetzung eines Staatsvolkes diskutiert, wobei über die rechtliche Notwendigkeit einer solchen Streit besteht. Siehe dazu weiter unten, S. 112 ff. 130 Müller, Das magische Universum der Identität, S. 67. 131 Münch, Das Projekt Europa, S. 23. 132 Münch, Das Projekt Europa, S. 31. 133 Giesen, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte in Europa, S. 492 (495). 134 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 102. 135 Diesen Ansatz vertritt auch Weiler, The Constitution of Europe, S. 338 f.
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1. Teil: Kollektive Identität
mitbestimmt wird.136 Die Wurzeln dieser affektiven Sichtweise liegen in den philosophischen Systemen, die eine einheitsstiftende Identität zwischen dem Individuum und seinem Umfeld herzustellen versuchen.137 Vor allem die klassischen Gesellschaftstheoretiker der Neuzeit haben sich mit dem Verhältnis zwischen kollektiver und individueller Identität beschäftigt, um das Spannungsfeld des Einzelnen mit der Gruppe bzw. des Bürgers mit dem Staat zu lösen.138 Die Theorie der Sozialen Identität relativiert demgegenüber aber das Erfordernis positiver gefühlsmäßiger Bindungen zwischen den Gruppenmitgliedern und sieht einen affektiven Wir-Gehalt für eine Gruppe nicht als unerlässliche Voraussetzung für eine kollektive Identität an. Die Wahrnehmung der Individuen von sich selbst als Gruppe und als Zugehörige zu derselben sozialen Kategorie ist nach dieser Theorie vielmehr die notwendige und hinreichende Bedingung für das Zustandekommen einer kollektiven Identität.139 Gerade in diesem Herabsetzen der funktionellen Abhängigkeit und der Affektivität als zentralem Faktor in der Gruppenbildung besteht der revolutionäre Charakter der Theorie der Sozialen Identität.140 Damit ist allein die Wahrnehmung der sozialen Einheit der Gruppe, also die kollektive Wahrnehmung der einzelnen Gruppenmitglieder, zu derselben Kategorie oder Gruppe zu gehören, obligatorisch für die Konstituierung einer Gruppe. Eine kooperative gegenseitige Abhängigkeit oder positive gefühlsmäßige Bindungen, welche die einzelnen Individuen untereinander aufbauen, sind nicht notwendig. Allerdings können affektive Gehalte durchaus als hilfreich für die Bildung und die Festigung einer Gruppe angesehen werden. IV. Abgrenzung der Begrifflichkeiten: Identität und Identifikation Weiterhin soll der Unterschied zwischen Identitätsbildung und Identifikation dargestellt werden.141 Identifikation und Identität haben sprachlich und psychologisch zwar ähnliche Wurzeln. Identifikation steht aber vor allem in der Tradition der psychoanalytischen Schule Sigmund Freuds. Danach wird Identifikation als ein Prozess des gefühlsmäßigen intuitiven Hineinversetzens in einen anderen Menschen und die Übernahme wesentlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen 136
Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 257. Pfetsch, Die Europäische Union, S. 109 f. 138 Siehe eine übersichtliche Darstellung der klassischen Gesellschaftstheorien der Neuzeit und ihrer Lösungsansätze für das Spannungsfeld zwischen dem Bürger und der Gesellschaft Kraiker, Oldenburger Vor-Drucke, Nr. 61 (1989), S. 1 (1 ff.). 139 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 37. 140 Brewer, in: Capoza/Brown (eds.), Social Identity Processes, S. 117 (117 ff.). 141 Siehe dazu auch Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 47 f. 137
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in das eigene Ich verstanden,142 wobei Identifikation mehr ist als nur Imitation.143 Nach der Theorie der Sozialen Identität bedeutet Identifizieren, dass ein Individuum eine angemessene Kategorisierung vornimmt. Eine soziale Identifikation ist also nach dieser Theorie die Zuordnung einer Person zu einer sozialen Kategorie innerhalb eines wie auch immer gearteten komplexen Kategoriensystems.144 Demgegenüber wird der Begriff Identität im deutschen Sprachgebrauch auch als Terminus für Ziel, Erfolg und Abschluss eines Vorgangs benutzt.145 Dieser zur Identität führende, langwierige und nie völlig abgeschlossene Vorgang der Entwicklung und Veränderung des Individuums wird in der deutschen Umgangssprache beschrieben durch die Begriffe sich identifizieren mit oder Identifikation mit. Wenn im Folgenden also der Begriff Identifikation verwendet wird, dann ist nicht dessen psychoanalytische Bedeutung gemeint. Vielmehr soll die im deutschen Sprachgebrauch übliche Verwendung des Begriffs Identifikation als Vorgang der Identitätsfindung beschrieben werden. Aufgrund der Komplexität des Identitätsthemas muss die Beschäftigung damit zwangsläufig unvollständig bleiben, um den zweckmäßigen Umfang der vorliegenden Arbeit nicht zu überschreiten. Die definitorischen Annäherungen an den Identitätsbegriff werden als Arbeitsgrundlage für die Untersuchung der identitätsstiftenden Konstruktionen des Verfassungsvertrages mithin als ausreichend angesehen. V. Tauglichkeit des sozialpsychologischen Ausgangspunktes für die rechtswissenschaftliche Untersuchung Der sozialpsychologische Ausgangspunkt einer Identitätsbestimmung müsste auch für die rechtswissenschaftliche Untersuchung der identitätsstiftenden Ansatzpunkte des Verfassungsvertrages tauglich sein. Es bestehen allerdings erhebliche Zweifel an der juristischen Brauchbarkeit des Identitätsbegriffes146 und es wird sogar vertreten, dass der Jurist mit dem Begriff der Identität nicht arbeiten kann.147 Zur Klärung der juristischen Tauglichkeit des Identitätsbegriffes muss zwischen seiner Verwendung durch das Bundesverfassungsgericht und der Verwendung des Begriffes der europäischen Identität durch die europäischen Institutionen unterschieden werden.
142
Brockhaus Wahrig, Identifikation, S. 702. Gerstenmaier, in: Grubitzsch/Rexilius (Hrsg.), Psychologische Grundbegriffe, S. 472 (474). 144 Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (61). 145 Siehe ausführlich dazu Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (340). 146 So Doehring, FS für Everling I, S. 263 (264). 147 Doehring, ZRP 1993, S. 98 (101). 143
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1. Teil: Kollektive Identität
1. Identitätstheorie des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtslage Deutschlands Die Zweifel an der juristischen Brauchbarkeit des Identitätsbegriffes ergeben sich vor allem aus den Schwierigkeiten der deutschen Rechtswissenschaft mit dem Begriff der Identität.148 Eine Identität von Staaten, die sich auf die Existenz des Staates an sich bezieht, bewirkt im Völkerrecht, dass die Regeln über die Staatennachfolge nicht angewendet werden. Frühere Handlungen sind einem Staat unmittelbar zuzurechnen, weil er als genau derjenige angesehen wird, der in der Vergangenheit gehandelt hat.149 Zunächst war demzufolge nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der ihr folgenden herrschenden deutschen Staatsrechtslehre die Bundesrepublik Deutschland identisch mit dem Deutschen Reich.150 Diese Begrifflichkeit konnte sich innerhalb dieser Rechtsprechung nur auf die Rechtsperson und nicht auf ihr Substrat beziehen. Das Substrat der Bundesrepublik Deutschland war ja gerade nicht identisch mit dem des Deutschen Reiches bis 1945. Wegen dieser Schwierigkeit entwickelte das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Teilidentität, womit diese Problematik hinsichtlich des Substrats klargestellt werden sollte.151 Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts ging dabei von der in der Staatsrechtslehre entwickelten These aus, dass das Deutsche Reich noch fortbesteht und dass die Bundesrepublik Deutschland mit ihm teilidentisch ist.152 Damit begannen jedoch erst die juristischen Schwierigkeiten mit einem derartigen Gebrauch des Identitätsbegriffs. Nach einer Ansicht konnte die Bundesrepublik kaum mit dem Deutschen Reich identisch sein, wenn das Deutsche Reich keine Organisation und keine Organe hatte, an den eigenständigen Organen und der Organisation der Bundesrepublik dagegen kein Zweifel bestand. An diesem unauflösbaren Widerspruch ändern auch die relativierenden Bemerkungen über die Teilidentität nichts. Denn wenn nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil nur die räumliche Ausdehnung zur Teilidentität führt, müssten die Organe der Bundesrepublik doch wohl gesamtdeutsche Organe gewesen sein oder zumindest deren Funktion wahrgenommen haben. Dann wäre das Deutsche Reich aber handlungsfähig gewesen, wenn auch in einer räumlichen Begrenzung.153
148 149 150
Vgl. zum Folgenden Doehring, FS für Everling I, S. 263 (264). Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 167. BVerfGE 6, 309 (338, 363 f.); von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156
(161). 151
BVerfGE 36, 1 (15 f.). Das Bundesverfassungsgericht wollte wohl im Interesse von Stetigkeit und Rechtssicherheit an der These von der Fortexistenz des Reiches festhalten. Siehe dazu Lewald, NJW 1973, S. 2265 (2265). 153 Bernhardt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, § 8, Rn. 32. 152
1. Kap.: Bestimmung des Begriffs „Identität‘‘
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Teilidentität kann es im streng logischen Sinn aber nicht geben. Wenn nämlich nur zum Teil Identität besteht, dann kann man auch sagen, dass eben keine Identität besteht.154 Daher war der Begriff der Teilidentität unnötig, wenn sich Identität nicht auf das Substrat, sondern lediglich auf die Rechtsperson bezieht. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt und daher in seiner Maastricht-Entscheidung155 auf den Begriff der Teilidentität verzichtet. Es ist wieder zum Begriff der Identität nur im Sinne der Rechtssubjektivität zurückgekehrt. Im völkerrechtlichen Schrifttum wird Identität der Staaten dementsprechend als Gegenbegriff zur Rechtsnachfolge verwendet. Nach der westdeutschen Rechtsansicht, die sich in der stillen Revolution von 1989/90 gegenüber der Rechtsauffassung der DDR durchgesetzt hat, ist die Bundesrepublik Deutschland also mit dem Deutschen Reich identisch, so dass sich in diesem Zusammenhang das Problem der Staatensukzession nicht stellt.156 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht gehört der vom Bundesverfassungsgericht zur Kontinuität Deutschlands verwendete Identitätsbegriff dem bereits vorgenannten älteren Bedeutungszweig von Identität an, der zu den Feststellungen der Sacheinheit und des Vergleichs im Sinne der Objektbeziehungen gehört.157 Er ist für die Untersuchung der identitätsstiftenden Ansatzpunkte des Verfassungsvertrages ungeeignet, da er die Identifikationsprozesse der Bürger nicht im Blick hat. 2. Verwendung des Identitätsbegriffes durch die Europäische Union Um die Identifikationsprozesse der Bürger mit der Europäischen Union geht es dagegen den europäischen Institutionen. Sie knüpfen in der Frage der Stiftung einer europäischen Identität an die neuesten Erkenntnisse der politischen Wissenschaft, Soziologie, Geschichte und Sozialpsychologie an.158 Für eine Verwendung des sozialpsychologischen Identitätsbegriffes im Hinblick auf die Untersuchung des Europäischen Verfassungsvertrages spricht demzufolge der Gebrauch des Identitätsbegriffes durch die europäischen Institutionen selbst – vor allem des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission. Identität wird in der Sprache der europäischen Institutionen und in der öffentlichen Darstellung zum einen typischerweise verbunden mit Verben wie stiften, suchen, finden, gewinnen und zum anderen mit den entgegen gesetzten Wörtern wie verlieren, Verlust und auflösen.159 Europäische Identität wird auch oft definiert 154 155 156 157 158 159
Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 3 f. BVerfGE 89, 155 (155 ff.). Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (266). Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (343). Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (828). Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (340).
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1. Teil: Kollektive Identität
mit Begriffen wie Bewusstsein, innerer Zusammenhalt und Zusammengehörigkeitsgefühl.160 Diese Begriffe sind psychologische Termini und entstammen dem Bereich der Gruppenpsychologie. Die im Zusammenhang mit dem Begriff der europäischen Identität verwendeten Verben, Adjektive und Substantive lassen daher die Zugehörigkeit zu den Subjektbeziehungen in Form der Thematisierung innerer Einstellungen und darin zur Gruppenidentität erkennen.161 Die europäischen Institutionen benutzen den Begriff der Identität im Gegensatz zur dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Kontext sozialpsychologischer Kollektividentität und als Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Einmütigkeit.162 Im Rahmen der europäischen Identität führt die Verwendung des Terminus also zurück in die psychologische Fachsprache.163 Die Untersuchung des Europäischen Verfassungsvertrages anhand des sozialpsychologischen Identitätsbegriffes ist daher auch aus juristischer Sicht lohnend. Schon bei dem Weimarer Staats- und Verfassungsrechtler Rudolf Smend findet sich die Erkenntnis, dass die Verfassung als positives Recht nicht nur Norm, sondern auch integrierende Wirklichkeit sei.164 Nach Rudolf Smend bedarf der juristische Formalismus auch einer methodischen Erarbeitung der materialen soziologischen und teleologischen Gehalte, die Voraussetzung und Gegenstand seiner Normen sind.165 Hermann Heller griff in seiner Staatslehre ebenfalls auf die Erkenntnisse der Soziologie und Sozialpsychologie zurück. Im Weimarer Richtungsstreit ging er davon aus, dass sehr bedeutsame Tatsachen der staatlichen Wirklichkeit nur durch soziologische und massenpsychologische Erkenntnisse erklärbar seien.166 Die Verfassungs- und Rechtstheorie muss also ihren Aufmerksamkeitshorizont für die in anderen Disziplinen gegebenen Antworten öffnen und problematisieren, welche Rolle Recht und Verfassung bei der Integration spielen.167 An Cassirer angelehnt168 ist Rechtswissenschaft insofern nicht nur die Erkenntnis
160
Siehe ausführlich dazu Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (348 ff.). Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (347). 162 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 218 f. 163 Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (353 f.). 164 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (189). 165 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (124). 166 Vgl. dazu auch mit Beispielen aus der Massenpsychologie Heller, Staatslehre, S. 171 ff. 167 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (32). 168 Diese Aussage von Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 291 war ursprünglich auf die Geschichtswissenschaft bezogen und wurde von Ulrich Haltern auf die Rechtswissenschaft übertragen. Siehe dazu Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (138), der den Symbolbegriff Cassirers für den juristischen Kontext als ungeeignet ansieht. 161
2. Kap.: Konstruktion von Identität in Gemeinwesen
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äußerer Fakten oder Ereignisse, sondern auch eine Form der Selbsterkenntnis.169 Die Individuen werden durch das soziale Phänomen Recht geprägt, welches wiederum von ihnen selbst abhängig ist. Zunächst nimmt sich der Einzelne selbst als Bürger – auch als Rechtsbürger – eines bestimmten Gemeinwesens wahr und ordnet sich in die durch das Recht vorgegebenen Kategorien ein. Das Recht konstituiert auf diese Weise die Erfahrung des Selbst und des Anderen und ist bereits integraler Bestandteil dessen, was es regelt. Recht beeinflusst Menschen nicht nur von außen, sondern ist Teil ihres Selbstverständnisses. Der einzelne vom Recht betroffene Bürger sieht sich so, wie das Recht ihn sieht, indem er an der Konstruktion derjenigen Kategorien teilnimmt, die das Recht vornimmt. Individuen internalisieren also die Vorstellungen, die das Recht von ihnen formt, und können ihre Ziele und Einsichten nicht isoliert davon bestimmen. Recht ist demnach strukturierende und konstituierende Kraft im alltäglichen und politischen Bereich und beeinflusst so die Selbstwahrnehmung der Bürger. Derartige Wahrnehmungs- und Kategorisierungsprozesse sind vor allem innerhalb der Sozialpsychologie im Rahmen verschiedener Theorien untersucht worden. Es finden sich demzufolge in der neueren Sozialpsychologie einige verfassungstheoretisch relevante Einsichten zur gruppendynamischen Bildung einer sozialen Identität.170 Der Zugang über die sozialpsychologische Identität der Bürger bietet daher aufgrund der zahlreichen interdisziplinären Anknüpfungspunkte substantielle Erkenntnisgewinne für die Rechtswissenschaft. Es ist somit von der Tauglichkeit des sozialpsychologischen Identitätsbegriffes für die Untersuchung der identitätsstiftenden Ansatzpunkte des Europäischen Verfassungsvertrages aus rechtswissenschaftlicher Perspektive auszugehen.
2. Kapitel
Konstruktion von Identität in Gemeinwesen – Nationalstaatliche Identitätskonstruktionen als Beispiele für eine europäische Identitätsstiftung In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, welche Identitätskonstruktionen in Großgruppen möglich sind. Vor allem auf staatlicher Ebene lassen sich kollektive Identitäten feststellen. Es handelt sich um das Phänomen der nationalen Identität, also die intersubjektiv geteilte Identifikation von Indivi-
169 Siehe ausführlich zum Folgenden Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (813). 170 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (159, 168).
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1. Teil: Kollektive Identität
duen mit einer wie auch immer definierten Nation als sozialer Einheit.1 Die Ausprägung einer europäischen kollektiven Identität könnte sich an ähnlichen Merkmalen orientieren wie sie im Bereich der Nationenbildung beobachtet wurden. Ein Rückgriff auf die Konstruktionsverläufe nationalstaatlicher Identitäten erscheint zunächst zweckmäßig, um generell aufzuzeigen, anhand welcher Kategorien sich in der Vergangenheit Kollektividentitäten ausgebildet haben. Damit soll aber nicht eine vollständige Übertragbarkeit der nationalstaatlichen Identitätsmodelle auf die Europäische Union postuliert werden. Denn eine gänzliche Analogisierung der nationalstaatlichen Identitätskonstruktionen auf europäischer Ebene ist angesichts der höheren Abstraktionsebene nicht Erfolg versprechend.
A. Prototyp einer supranationalen Organisation sui generis Die Europäischen Gemeinschaften sind der Prototyp einer supranationalen Organisation sui generis. Mit dem Begriff der Supranationalität werden einzelne Merkmale der Europäischen Gemeinschaften zusammengefasst, durch die sie sich als Gemeinschaften in ihrer rechtlichen Struktur von internationalen oder völkerrechtlichen Organisationen unterscheiden.2 Mit den Europäischen Gemeinschaften ist ein neuer Typus der zwischenstaatlichen internationalen Organisation entstanden. Dieser zeichnet sich durch eine eigene „Gesetzgebungskompetenz“ in dem von den Mitgliedstaaten übertragenen Rahmen, durch eine eigene Gerichtsbarkeit und durch Finanzautonomie aus.3 Mit den internationalen Organisationen teilen die Gemeinschaften zwar den Entstehungsgrund, nämlich die „Geburt“ durch internationalen Vertrag. Die Europäischen Gemeinschaften unterscheiden sich aber durch ihre Eigenschaft als Quelle von Rechtsnormen und als Gegenstand rechtlicher Kontrolle.4 Die maßgeblichen Elemente der Supranationalität sind die Selbständigkeit des Gemeinschaftsrechts, die unmittelbare innerstaatliche Wirksamkeit und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten.5 Supranationalität bedeutet zugleich ein Minus gegenüber der Staatlichkeit. Die Europäischen Gemeinschaften sind mangels Kompetenz-Kompetenz keine Staaten oder Bundesstaaten;6 sie sind Organisationen eigener Art.
1 Blank/Schmidt, in: Mummendey/Simon (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 127 (127 ff.). 2 Nicolaysen, Europarecht I, S. 70. 3 Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 6 Rn. 15. 4 Ehlermann, FS für Carstens I, S. 81 (82). 5 Nicolaysen, Europarecht I, S. 70 f. Siehe zum Begriff der Supranationalität auch ausführlich von Bogdandy, Integration 1993, S. 210 (210 ff.); Ehlermann, FS für Carstens I, S. 81 (82).
2. Kap.: Konstruktion von Identität in Gemeinwesen
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Demgegenüber ist die Europäische Union nach den Normen des EU-Vertrages zwar hauptsächlich intergouvernemental und nicht supranational organisiert.7 Die Abgrenzung zwischen Supranationalität der Gemeinschaften nach dem EG-Vertrag und Intergouvernementalität der Union nach dem EU-Vertrag ist im Lauf der Zeit allerdings unscharf geworden.8 Damit lässt sich feststellen, dass es mit der Europäischen Union erstmals eine völkerrechtliche Organisation gibt, die dem föderalen Staat nahe kommt.9 Denn auch hier handelt es sich um einen auf Dauer angelegten engen allgemeinen Zusammenschluss, der mehrere 6 Für eine Qualifizierung der Europäischen Gemeinschaften als Staat müssten diese ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und Staatsgewalt haben. Zunächst ist umstritten, ob die Europäischen Gemeinschaften ein eigenes Gebiet besitzen. Einerseits lässt sich ihr Territorium eindeutig nach Art. 229 I EG (nach dem Europäischen Verfassungsvertrag bleibt diese Regelung nach Art. IV-440 Abs. 1 VVE bestehen) bestimmen, da das Gemeinschaftsgebiet sich grundsätzlich auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten erstreckt. Andererseits hängt diese Bestimmung aber vom Staatsgebiet der Mitgliedstaaten ab. Denn die Änderungen der Staatsgrenzen können das Gebiet der Gemeinschaften verändern, ohne dass sie oder die anderen Mitgliedstaaten dabei mitwirken müssten. Demzufolge kann man argumentieren, dass den Europäischen Gemeinschaften schon das Merkmal des eigenen Staatsgebietes fehlt, da die Europäischen Gemeinschaften lediglich ein von den Mitgliedsstaaten vermitteltes und abgeleitetes Hoheitsgebiet besitzen. Die Geltung des völkerrechtlichen Grundsatzes der beweglichen Vertragsgrenzen, wonach jede Gebietsveränderung bei den Mitgliedsstaaten automatisch den räumlichen Geltungsbereich von EG-Vertrag und EU-Vertrag ändert – wie dies zum Beispiel im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung geschehen ist – spricht gegen die Annahme eines eigenen Staatsgebietes. Ähnliches gilt für das Volk der Gemeinschaften. Zwar wurde mit Art. 8 EG (heute Art. 17 EG) 1993 eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Aber auch die Unionsbürgerschaft ist von der mitgliedstaatlichen Regelungen der jeweiligen Staatsbürgerschaft des Mitgliedstaates abhängig. Denn die Unionsbürgerschaft wird automatisch mit der Einbürgerung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union erworben. Definitiv scheitert aber die Staatsqualität der Europäischen Gemeinschaften am Kriterium der Staatsgewalt. Denn die Europäische Union besitzt keine Kompetenz-Kompetenz. Ihre Zuständigkeiten beruhen auf ausdrücklichen Kompetenzübertragungen durch die Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung; vgl. Art. 5 EG. Dieses Prinzip enthält auch der Europäische Verfassungsvertrag gemäß Art. I-11 Abs. 2 VVE. Damit weisen die Europäischen Gemeinschaften und auch die künftige Union keine Staatsqualität auf. Siehe dazu Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 16; Nicolaysen, Europarecht I, S. 104; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 108; Tsatsos, EuGRZ 1995, S. 287 (291); Calliess/Ruffert, EuGRZ 31 (2004), S. 542 (544). 7 Im intergouvernementalen Bereich des EU-Vertrages werden Parlament, Kommission und Gerichtshof weitgehend außen vor gehalten und der EU-Vertrag enthält eigene Handlungsformen der Europäischen Union wie Rahmenbeschlüsse, die sich bewusst von Handlungsformen des supranationalen Bereichs absetzen. Im intergouvernementalen Bereich sind vor allem auch besonders empfindliche Themenfelder wie die Außenpolitik sowie die Rechts- und Innenpolitik verortet. Siehe dazu Mayer, Integration 2003, S. 398 (407 f.). 8 So erhielt der Gerichtshof einzelne Kompetenzen aus dem Unionsrecht und es wurden im supranationalen Bereich einzelne vormals intergouvernementale Regelungen angesiedelt. Siehe ausführlich dazu Mayer, Integration 2003, S. 398 (407 f.). 9 Zum Folgenden siehe ausführlich bei Schmitz, Integration in der supranationalen Union, S. 386 f.
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1. Teil: Kollektive Identität
kleinere Herrschaftsverbände und deren Bürger zu einer größeren Verantwortungs- und Solidargemeinschaft verbindet. Der Zusammenschluss ist auf eine gemeinsame Zukunft nicht nur der Herrschaftsverbände, sondern auch der Menschen gerichtet. Ähnlich wie bei einem Staat nimmt die Europäische Union als eigenständiger Herrschaftsverband in eigener Verantwortung öffentliche Aufgaben wahr und wirkt an der gemeinsamen Aufgabenerledigung mit. Insbesondere wird die Europäische Union selbst rechtsetzend tätig. Diese Gemeinsamkeiten lassen in mancher Hinsicht die Union trotz ihrer völkerrechtlichen Grundlagen dem Staat näher erscheinen als dem klassischen Staatenbund oder einer anderen internationalen Organisation. Die Europäische Union ist daher nicht mit anderen internationalen Organisationen wie den UN oder der WTO vergleichbar. Die Konstruktion einer kollektiven europäischen Identität wird folglich dadurch erschwert, dass es für die Europäische Union kein supranationales Vorläufermodell gibt, an dem sich der Verlauf der Ausbildung kollektiver Identitäten beobachten ließe.
B. Konstruktionsverläufe nationalstaatlicher Identitäten Für die modernen Nationalstaaten liegen dagegen gesicherte Erkenntnisse für den Verlauf kollektiver Identitätskonstruktionen vor. Die Entstehung der modernen Nationen war jeweils ein mehrstufiger Integrationsprozess. Sie waren keine präexistenten vorpolitischen Entitäten, sondern wurden in und durch politische Institutionen geschaffen.10 Das wird durch die Erkenntnisse der Soziologie und Psychologie bestätigt. Diese Wissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten von der Annahme „natürlich gewachsener“ Identitäten Abstand genommen.11 Man geht im Gegenteil davon aus, dass kollektive Identitäten sich nicht aus einer zufälligen Gleichheit von Interessen oder objektiven Merkmalen ergeben. Vielmehr ist die Ausbildung kollektiver Identität das Resultat einer Konstruktion von fundamentalen Grenzen zwischen Innen und Außen.12 Denn soziale Identität ist an das Bewusstsein der Gruppenzugehörigkeit gebunden und im Rahmen der Theorie der Sozialen Identität ein positives Konstrukt.13 Insofern ist eine kollektive Identität ideologisch steuerbar.14 Daher weisen alle Großgruppen wie Nationen, Parteien oder Organisationen die Eigenschaft konstruierter Gemeinwesen auf.15 10
Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 71 f. Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 42 ff. 12 Grew, in: Boerner (Hrsg.), Concepts of National Identity – An Interdisciplinary Dialogue, S. 31 (35). 13 Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (71). 14 Dies verdeutlichen auch die Beispiele aus der Nationalstaatsbildung. Die Nation entstand im Allgemeinen erst nach der eigentlichen Staatenbildung. Siehe dazu weiter unten S. 66 ff. 15 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 42 ff. 11
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Ihre gemeinsame kollektive Identität erscheint zwar in der Regel den Mitgliedern einer Gemeinschaft als elementare und natürliche Vorgegebenheit. Eine kollektive Identität ist aber tatsächlich nicht natürlich vorgegeben, sondern sie wird in gewissen Situationen von bestimmten Trägergruppen sozial konstruiert.16 Bei der Konstruktion kollektiver nationaler Identitäten wurden nicht selten objektive Gemeinsamkeiten unabhängig von tatsächlichen Anhaltspunkten postuliert. Diejenigen Objekte, auf die sich die nationale Verbundenheit richtet, existieren folglich paradoxerweise lediglich in der Vorstellung der Individuen. Dabei blieben nur wenige kulturelle Unterschiede, die wirksam für den Nationalismus eingesetzt werden können, ungenutzt.17 Im Bereich der Nationalstaatsbildung wurden teilweise sogar Nationen konstruiert, wo es sie vorher nicht gab.18 Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „imagined communities“.19 Eine Trägergruppe etabliert eine kollektive Identität so, als würden die behaupteten Gemeinsamkeiten in der Gesellschaft tatsächlich vorliegen. Je mehr behauptete Gemeinsamkeiten von objektiv vorhandenen Berührungspunkten der Mitglieder tatsächlich gestützt werden, desto leichter ist für die Trägergruppe die Konstruktion einer kollektiven Identität durch die kommunikative Vermittlung von Gemeinsamkeiten.20 Typische Trägergruppen, von denen eine kollektive nationale Identität konstruiert wird, sind zum Beispiel Intellektuelle, Politiker und Experten. Diese bauen eine ihren Vorstellungen entsprechende kollektive Identität als Vorstellung des Allgemeinen auf, indem sie stellvertretend für die Gesamtgesellschaft handeln.21 Die Ausbildung nationaler Identitäten erfolgte aus diesem Grund in Wechselwirkung mit der politischen Institutionalisierung.22 Der Wandel kollektiver Identität bei der Entstehung der Nationalstaaten von einem lokalen regionalen Bewusstsein zu einem nationalen Bewusstsein der Bevölkerung stellte einen enormen Abstraktionsschub in der Ausprägung kollektiver Identität dar.23 Dabei 16 Giesen, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte in Europa, S. 492 (492); ebenso Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 21; Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (55). 17 Gellner, Nationalismus und Moderne, S. 165 f. 18 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 75. Siehe dazu auch Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 163; Gellner, Nationalismus und Moderne, S. 183 ff.; Hobsbawm, in: ders./Terence Renger (eds.), The Invention of Tradition, S. 1 (6 ff.); Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 59 ff. 19 Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 154. Siehe dazu auch van Laak, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 7 (9). 20 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 163. 21 Giesen, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte in Europa, S. 492 (493); Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 188 f. 22 Deutsch, Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, S. 17 ff., 31 ff., 44 f. 23 Habermas, in: ders., Die postnationale Konstellation, S. 91 (154); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 720.
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1. Teil: Kollektive Identität
bot die Idee der Nation den Bürgern Orientierung, Gemeinschaft und Transzendenz. Die Identifikation mit der Nation vereinfachte die komplizierten gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Zusammenhänge und klärte das Problem der Loyalität der Bürger vor allem in den Ländern, in denen die Landesherrschaften vielfach wechselten.24
C. Vergleichbarkeit nationalstaatlicher Identitätskonstruktionen Die Konstruktionsverläufe der modernen nationalen Identitäten bieten sich im Hinblick auf die Prozesse der Ausbildung großräumiger kollektiver Identitäten aufgrund der diesbezüglichen Untersuchungen als Vergleich zur aktuellen europäischen Identitätsproblematik an.25 Vor allem die künstlichen Entstehungsbedingungen des nationalen Bewusstseins sprechen für die Fortsetzbarkeit kollektiver Identitätskonstruktionen über den Staat hinaus.26 Denn eine nationale Identifikation kann sich im Lauf der Zeit und sogar innerhalb kurzer Perioden verändern und erweitern.27 Der Hintergrund der folgenden Erörterungen zur Ausbildung nationaler kollektiver Identitäten ist die Annahme, dass die europäische Integrationsbewegung, in der sich die europäischen Gesellschaften befinden, einer der großen historischen Transformationsprozesse ist und dass dieser mit der Herausbildung des europäischen souveränen Nationalstaates vergleichbar ist.28 Aus diesem Grund erscheint es für die Analyse des europäischen Einigungsund Identitätsbildungsprozesses lohnend, anhand einiger Beispiele darzustellen, wie und mit welchen Konsequenzen ausgewählte Nationalstaaten eine nationale, über regionale Identitäten hinausgreifende Identität herausgebildet haben. Daher ist es zweckmäßig, sich an den Modellen zu orientieren, die für die Nationalstaaten entwickelt wurden.29 Allerdings ist zuzugeben, dass eine vollständige Kongruenz mit nationalstaatlichen Identitätskonstruktionen für die Ebene der Europäischen Union nicht bestehen kann. Im Folgenden soll anhand von Beispielen aus dem Bereich der Nationenbildung deutlich gemacht werden, wie
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Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 172. Ebenso Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 73 f. 26 Habermas, in: ders., Die postnationale Konstellation, S. 91 (154); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 720. 27 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 22. 28 von Bogdandy, Integration 1993, S. 210 (210); Hobe, Der Staat 37 (1998), S. 521 (546). 29 Ebenso Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 73 f. 25
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eine kollektive Identität durch bestimmte Trägergruppen in der Vergangenheit konstruiert wurde.
D. Begriffsbestimmungen I. Integration, Staat, Gesellschaft und Gemeinwesen Die Untersuchung der Bedeutung und Funktion kollektiver Identität für die Nationalstaaten ist mit dem Problem des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft verbunden. Zunächst sind daher die Begriffe „Integration“, „Staat“, „Gesellschaft“ und „Gemeinwesen“ voneinander abzugrenzen. Die terminologische Fixierung der Begrifflichkeiten kann angesichts der Fülle der hierzu vertretenen Ansichten lediglich skizziert werden; daher sollen formale Festlegungen genügen.30 Zur Kennzeichnung des Prozesses politischer Einheitsbildung wird der Begriff „Integration“ gebraucht, dessen Ergebnis die politische Einheit ist. In Bezug auf das Wirken der staatlichen Gewalten wird der Begriff „Staat“ benutzt. Der Begriff „Staat“ erfasst überdies nicht das gesamte menschliche Zusammenleben innerhalb des Staatsgebietes, daher ist er vom Begriff der „Gesellschaft“ abzugrenzen. Das herkömmliche Verständnis unterschied zwischen Staat und Gesellschaft und stellte den Staat der Gesellschaft beziehungslos gegenüber. Der Staat wurde als vorhandene Einheit und die Gesellschaft als vorhandene Vielheit betrachtet.31 Gesellschaftliches Leben ist aber im modernen demokratischen und sozialen Staat der Gegenwart ohne die organisierende, planende, verantwortliche staatliche Gestaltung nicht mehr denkbar. Der demokratische Staat begründet sich erst in gesellschaftlichem Zusammenwirken. Damit steht das gesellschaftliche Leben in mehr oder minder engem Zusammenhang mit dem staatlichen Leben im Rahmen der politischen Einheitsbildung. Die Voraussetzungen eines Dualismus zwischen Staat und Gesellschaft sind entfallen und eine unverbundene Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft ist ausgeschlossen. „Gesellschaft“ in diesem Sinn bedeutet also die einem konkreten Staat durch seine Staatsgrenzen zugeordnete Gesellschaft. „Gesellschaft“ ist ein egalitäres Phänomen, das innerhalb bestimmter räumlicher Grenzen jedermann umfasst.32 30 Siehe ausführlich zu diesen Begriffsabgrenzungen Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 11. 31 Dies ist die Position des deutschen Etatismus des 19. Jahrhunderts; vgl. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 100. Bis weit in das 19. Jahrhundert wurde überdies der Begriff der „Gesellschaft“ in Unabhängigkeit zu den Staatsgrenzen definiert. Siehe ausführlich zum Folgenden Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 46. 32 Die Verengung des Gesellschaftsbegriffes auf die gebildeten und begüterten Schichten ist heute obsolet. „Gesellschaft“ im Sinne der Staatslehre ist heute weder ein klassengebundener noch sonst elitär geprägter Begriff; vgl. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 46.
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1. Teil: Kollektive Identität
Der Begriff „Gemeinwesen“ wird als den „Staat“ und die „Gesellschaft“ umfassender Oberbegriff verwendet. Dadurch soll die Differenzierung von Staatlichem und Nicht-Staatlichem im menschlichen Zusammenwirken innerhalb des Staatsgebietes verdeutlicht werden. Der Begriff „Staat“ bleibt der engeren Bedeutung als Handeln und Wirken der konstituierten Gewalten vorbehalten. Diese Begriffsbestimmungen dienen lediglich der Veranschaulichung, es handelt sich nämlich teilweise um Aspekte eines einheitlichen und komplexen Zusammenhanges. „Integration“, „Staat“, „Gesellschaft“, und „Gemeinwesen“ werden dementsprechend als Bezeichnungen unterschiedlicher Wirkungszusammenhänge verwendet, die aber weithin von denselben Menschen getragen werden und darum nicht im Sinne eines getrennten Nebeneinander verstanden werden dürfen. Dementsprechend sollen diese Begrifflichkeiten auf der Ebene der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften verwendet werden. Die Begriffe „Europäische Union“ und „Europäische Gemeinschaften“ beziehen sich auf das Handeln und Wirken der konstituierten Gewalten. Der Begriff des „Gemeinwesens“ wird als Oberbegriff für die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften und die (europäische bzw. mitgliedstaatliche) Gesellschaft gebraucht. Auch hier soll anhand der unterschiedlichen Begriffe eine Differenzierung von hoheitlichem und nicht-hoheitlichem Handeln im menschlichen Zusammenwirken innerhalb des Gebietes der Europäischen Union veranschaulicht werden. Wenn von der „Integration Europas“ gesprochen wird, ist damit der Prozess zur Herstellung von Einheit innerhalb des politischen Gebildes der Europäischen Union gemeint. II. Volk und Nation Hinsichtlich der verschiedenen maßgeblichen Kriterien zur Definition einer Nation oder eines Volkes existieren in der Geschichte, der Politikwissenschaft und im Recht unterschiedliche Ansichten. Die Begriffe Volk und Nation werden in der Rechtswissenschaft sowohl im Sinne von Staatsvolk (Staatsnation), als auch im vorstaatlichen Bereich als ethnische oder soziologische Einheit verstanden.33 Daher werden die Begriffe Nation und Volk im rechtswissenschaftlichen Bereich teilweise synonym verwendet.34 In der allgemeinen Terminologie der Staatslehre wird die Nation definiert als jedes Volk, das sich seiner selbst bewusst geworden ist und damit zugleich die Bewahrung seiner Eigenart anstrebt.35 Eine Definition der Politologie be33
Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, S. 35. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, S. 35 f.; ebenso Grawert, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I § 14, Rn. 8. 35 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 44. 34
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stimmt die Nation als einen politischen Identitätsraum auf der Basis politischer Vergemeinschaftung, wobei das jeweilige politische Identifikationskriterium sehr unterschiedlich ausfällt.36 Das sozialpsychologische Element des Zusammengehörigkeitsbewusstseins, welches in der Gruppensoziologie als Wir-Gefühl oder Wir-Bewusstsein bezeichnet wird, ist nach beiden Definitionen ein Konstituens der Nation.37 Anhand der unterschiedlich starken Ausprägung bestimmter Identitätsmerkmale werden verschiedene Nationalstaatstypen klassifiziert. Allerdings ist dabei zu beachten, dass monokausale Gemeinschaftsbegründungen, die je ein einziges Kriterium in den Mittelpunkt der Definition stellen, nicht wirklichkeitsadäquat sind und daher fiktiven Charakter haben.38 Denn das nationale Selbstverständnis wird immer von mehreren Faktoren wie Sprachen, historischem Bewusstsein, gemeinsamen Sitten, Erfahrungen und auch religiösen Zugehörigkeiten beeinflusst, die damit auch Auswirkung auf die nationale kollektive Identität haben.39 Die Nation ist demnach ein offener Sammlungs- und Integrationsbegriff, dessen Bedeutungsschattierungen je nach den Integrationsfaktoren von der Kultur- bis zur Staatsnation reichen.40 Es sollen im Folgenden die nationalstaatlichen Konzepte der europäischen Vergangenheit wie die Sprachnation, die Volksnation, die Geschichtsnation, die Kulturnation und die Verfassungsnation bzw. die Staatsbürgernation überblicksartig dargestellt werden. Die Auflistung der genannten Nationalstaatstypen ist keineswegs abschließend, vielmehr existiert eine Vielzahl von monotypisierenden Nationenbezeichnungen.41 Für jedes einzelne der genannten nationalstaatli-
36 Mayer, Prinzip Nation, S. 23. Siehe dazu auch van Laak, in: Göbel/van Laak/ Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 7 (12). 37 Ebenso Grawert, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I § 14, Rn. 8; Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 42 f. 38 Mayer, Prinzip Nation, S. 23. 39 Bußmann, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon in 5 Bänden, Nation, S. 1266 (1266). 40 Grawert, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I § 14, Rn. 10. Diese Begriffsunterscheidungen wurden von Friedrich Meinecke eingeführt; vgl. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 10 ff. Er unterschied zwischen der „Staatsnation“, in der ein zur Nation erweitertes Volk zugleich im Staat seine politische Organisation gefunden hat und die auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung beruhen und der so genannten „Kulturnation“, die vorzugsweise auf einem gemeinsam ererbten Kulturbesitz beruht, aus dem sie hervorgeht. Wichtig ist, dass Staats- und Kulturnation nicht zusammenfallen müssen, da der Typus der „Kulturnation“ nicht notwendigerweise den Willen zur nationalen Selbstbehauptung finden muss; vgl. Leibholz, in: Herzog et al. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, S. 2193 (2197 f.). 41 Eine umfassendere Auflistung der verschiedenen Nationalstaatstypen findet sich bei Mayer, Prinzip Nation, S. 23.
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1. Teil: Kollektive Identität
chen Identitätselemente 42 gibt es in der Realität immer auch Gegenbeispiele, die verdeutlichen, dass es sich nicht um das allein ausschlaggebende Identitätselement handelt. Es kann daher lediglich ein kursorischer Überblick über die verschiedenen Nationenmodelle gegeben werden, der auf einige wenige Staatenbeispiele beschränkt ist. Ohne auf die unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten einzugehen, werden im Folgenden fünf verschiedene Kennzeichen nationalstaatlicher Identitätskonstruktionen unabhängig voneinander vorgestellt. Die genannten nationalstaatlichen Beispiele der Konstruktion kollektiver Identität könnten auch auf europäischer Ebene Erfolg versprechen. Es soll in diesem Zusammenhang nicht um eine vollständige Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit nationalstaatlicher Modelle auf die Europäische Union gehen. Vielmehr sollen anhand der gut erforschten Nationalstaatsbildungsprozesse Konstruktionsmöglichkeiten für erfolgreiche Identitätsstiftungen in der Vergangenheit aufgezeigt werden.
E. Sprachnation Das maßgeblich vorherrschende Identitätsmerkmal der Sprachnation verlangt die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft. I. Nationalstaatliche Konstruktion Viele der traditionellen Werte und Kindheitserinnerungen sind auf die Muttersprache bezogen.43 Daher ist sie ein unmittelbar zugängliches Medium für Information und Kommunikation der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft und durch sie prägen sich kognitive und emotive Identifikationssymbole aus.44 Sprache und menschliche Identität sind folglich eng miteinander verbunden.45 Das Bewusstsein der gemeinsamen Sprache bewirkt bei den Individuen einer Sprachgemeinschaft ein Zusammengehörigkeits- und Identitätsgefühl.46 Daher wird eine gemeinsame Sprache als Ausdruck der Wesenheit eines Volkes und als Bestandteil seiner Kultur angesehen.47 42 Zum Beispiel der gemeinsamen Sprache, Geschichte, Kultur, weltanschaulichen Überzeugung etc. 43 Deutsch, Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, S. 206. Vor diesem Hintergrund lässt sich ein altes Sprichwort verstehen, welches besagt „Die Seele eines Volkes lebt in seiner Sprache.“ Vgl. Oppermann, ZEuS 2001, S. 1 (2). 44 Lepsius, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 201 (218). 45 Der Verlust an sprachlicher Identität kann sogar zu psychischer Instabilität führen. Daher kann das Verbot der Muttersprache bei unterdrückten Minderheiten auch zu Instabilität in anderen Bereichen, hauptsächlich im politischen Bereich führen; vgl. Schröder, Sociolinguistica 9 (1995), S. 56 (56 f.). 46 Nicolaysen, FS für Everling II, S. 945 (952); Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 165.
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Teilweise wird der Nationalsprache jedoch ihre integrative Kraft mit der Begründung abgesprochen, dass bei der Nationalstaatsbildung der meisten modernen Nationalstaaten keineswegs eine einheitliche Sprache in dem späteren Staatsgebiet vorherrschend war.48 Dem ist aber nicht zuzustimmen. Zwar herrschte in den frühen Nationalstaaten wie England und Frankreich bei der Nationalstaatsbildung keine sprachliche Einheit vor.49 Jedoch stimmt die Forschung heute weitgehend darin überein, dass gesprochene oder geschriebene nationale Hochsprachen als solche erst aufkommen konnten, nachdem es Druckerpressen und eine Volksbildung in allgemeinen Schulen gab.50 Als diese Voraussetzungen gegeben waren, entstanden in den jungen Nationalstaaten starke Bestrebungen, ein einheitliches Sprachgebiet zu gestalten.51 Vor allem in Frankreich fanden in Folge der Französischen Revolution im Jahr 1789 ambitionierte sprachliche Umformungsprozesse statt.52 Die französische Sprache wurde sogar zur Bedingung der Nationalität gemacht.53 Damit stellt Frankreich den klassi47 Lepsius, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 201 (218); ebenso Schröder, Sociolinguistica 9 (1995), S. 56 (57); Nicolaysen, FS für Everling II, S. 945 (952). 48 Diese Ansicht vertritt Anne Peters. Sie führt an, dass die Verabsolutierung von Sprache historisch durch die Geschichte der französischen und italienischen Nationalstaatsbildung widerlegt sei. Denn nach der Revolution in Frankreich sprach nur etwa die Hälfte der französischen Bevölkerung französisch und in Italien wurde zum Zeitpunkt des Einigungsprozesses im Jahr 1860 das Italienische von nur 2,5% der Bevölkerung als Alltagssprache verwendet. Daher käme die Sprache bei der Nationenbildung zuletzt. Vgl. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 708 f. 49 Bußmann, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon in 5 Bänden, Nation, S. 1266 (1268). Die mundartliche Vielfalt des Englischen blieb bis weit in das 16. Jahrhundert erhalten und stand damit einer einheitlichen Verkehrssprache entgegen; auch die französische Sprache war bis zur Revolution weitgehend eine Sprache des Hofes, des Adels und der großen Städte Nordfrankreichs, aber keine einheitliche Volkssprache. Siehe dazu Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 130, 139. 50 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 21. Demnach gab es in der Zeit vor Einführung einer allgemeinen Schulpflicht keine gesprochene „Nationalsprache“. Es konnte sie auch nicht geben – abgesehen von den Bildungs- und Amtssprachen, die für den mündlichen Gebrauch geschrieben, entworfen und angepasst wurden; vgl. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 66. Siehe dazu auch Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 130 ff. 51 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 77; Bußmann, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon in 5 Bänden, Nation, S. 1266 (1268). 52 Bußmann, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon in 5 Bänden, Nation, S. 1266 (1269). Siehe dazu auch Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 173 f. 53 In Frankreich ist im Verlauf dieses Prozesses die französische Zentralsprache gegen sieben regionale Sprachen durchgesetzt worden. Auch heute pflegt man die französische Sprache in besonderer Weise. In jüngster Zeit wurden mehrere Institutionen zur Pflege der französischen Sprache gegründet. Es wurde sogar durch eine spezielle Sprachgesetzgebung der Gebrauch nicht französischer Begriffe sanktioniert; vgl. dazu
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1. Teil: Kollektive Identität
schen Fall einer Sprachnation dar. An diesen Bemühungen wird deutlich, dass eine Nationalsprache hauptsächlich aus Identitätsgesichtspunkten heraus definiert und von anderen Sprachen abgegrenzt wird.54 Nationalsprachen haben deshalb fast immer etwas von einem Kunstprodukt und sind gelegentlich so gut wie erfunden.55 Dies wird daran deutlich, dass Sprachen teilweise sogar wieder belebt und rekonstruiert wurden, um eine gemeinsame Identität und die Abgrenzung nach außen zu symbolisieren.56 Gerade die Bestrebungen der jeweiligen Nationalstaaten zur Durchsetzung einer einheitlichen Hochsprache machen also die integrative Bedeutung von Sprache deutlich. Eine einheitliche Nationalsprache ist zwar der heutige Normalfall, es bestehen aber auch einige Gegenbeispiele mehrsprachiger Nationalstaaten, wie zum Beispiel die Schweiz, Finnland, Kanada, Belgien und Südafrika. Darüber hinaus existieren in vielen Nationalstaaten zahlreiche sprachliche Minderheiten.57 Sprachliche Verschiedenheiten brauchen demzufolge einem Nationalbewusstsein nicht im Wege zu stehen. Demgegenüber war die gemeinsame Sprache in vielen Fällen auch kein Grund gegen eine Trennung von Nationalstaaten.58 Folglich ist eine gemeinsame Sprache als alleinige Kategorie einer nationalen Identität weder ausreichend noch unentbehrlich. Es ist aber ein Indiz für ein stark profiliertes Nationalbewusstsein, wenn es eine gemeinsame HochMünch, Das Projekt Europa, S. 28; Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 140; Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 173 ff. 54 Ein bedrückendes Beispiel für derartige Sprachabgrenzungen findet sich auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Vor dem Krieg sprachen dort Serben und Kroaten zwei Varianten derselben Sprache, nämlich Serbokroatisch. Infolge des Zerwürfnisses der beiden Völker bestehen heute sowohl Serben als auch Kroaten darauf, dass die Sprache Serbokroatisch nicht existiere. Vielmehr gebe es schon wegen der unterschiedlichen Schriftzeichen lediglich die serbische und die kroatische Sprache; vgl. Schröder, Sociolinguistica 9 (1995), S. 56 (57). 55 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 67 f.; Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 176. 56 Vor allem der Staat Israel stand nach seiner Gründung 1948 vor der sehr schwierigen Aufgabe, die jüdischen Einwanderer unterschiedlichster Herkunft und Sprache im Land zu integrieren. Dies glückte unter anderem mit Hilfe der wieder belebten hebräischen Sprache und eines Gemeinschaftsgefühls gegenüber einer feindlichen arabischen Umwelt; vgl. Bußmann, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon in 5 Bänden, Nation, S. 1266 (1269). An diesem Beispiel wird auch der konstruierte Charakter von Nationalsprachen deutlich; Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 68. 57 Nicolaysen, FS für Everling II, S. 945 (952). 58 Einige Völker sprechen zum Beispiel die gleiche Sprache, bilden aber verschiedene Nationen. Als Beispiel für dieses Phänomen können die Italienisch, Deutsch und Französisch sprechenden schweizerischen Kantone, die keine Neigung zum Anschluss an Italien, Deutschland oder Frankreich zeigen, genannt werden. Ähnliches gilt für Österreich und Deutschland, die Staaten Lateinamerikas und Spanien sowie Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika. Siehe Leibholz, in: Herzog et al. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, S. 2193 (2194).
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sprache gibt.59 Eine gemeinsame Sprache hat folglich für die Ausbildung kollektiver Identitäten eine enorme Bedeutung. Sie ist in der Regel ein staatlich motiviertes Konstrukt und war bei den meisten Nationalstaaten nicht natürlich gegeben. II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion Der Sprache kommt auch innerhalb der Europäischen Union große Bedeutung zu. Sie ist das wichtigste Kommunikationsmedium, obwohl die Europäer zu keiner Zeit eine gemeinsame Sprache gesprochen haben.60 Das Sprachenregime der Europäischen Union steht zwischen dem Schutz der Sprachenvielfalt als Ausdruck der kulturellen Identität der Mitgliedstaaten und der Optimierung der Arbeitsprozesse der Organe und Einrichtungen der Europäischen Union.61 Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht gehört die Sprache einerseits „zur nationalen Identität der Mitgliedstaaten“, welche die Union nach Art. 6 Abs. 3 EG bzw. Art. I-5 Abs. 1 VVE achtet.62 Die linguistische Gleichberechtigung lässt sich andererseits aus unvermeidlichen praktischen Gründen nur in Grenzen verwirklichen. Erfolgreiche mehrsprachige Demokratien verdeutlichen aber, dass Sprachbarrieren grundsätzlich von Vermittlungs- und Übersetzungsinstanzen überwunden werden können.63 Mehrsprachigkeit innerhalb der Europäischen Union könnte ein Hinderungsgrund für die Ausbildung einer kollektiven Identität sein. Als Mehrsprachigkeit wird sowohl die Fähigkeit einer Person, mehrere Sprachen zu gebrauchen, als auch die Koexistenz verschiedener Sprachgemeinschaften in einem geografischen Raum verstanden.64 Die aus ihrer Sprachenvielfalt folgenden praktischen Probleme hat die Europäische Union bisher mit beträchtlichem Aufwand gelöst. Mit Hilfe der Dolmetscher- und Übersetzungsdienste ist jede amtliche Äußerung in allen Amtssprachen verfügbar. Außerdem kommt in allen amtlichen Kontakten auch der weniger Sprachkundige zu seinem Recht. Nach der Ansicht von Gert Nicolaysen sind die Sprachbarrieren in Europa daher überwindlich.65
59 Bußmann, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon in 5 Bänden, Nation, S. 1266 (1268). 60 Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (21). 61 Herrmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 290 EGV, Rn. 1. 62 Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (265 ff.); Oppermann, ZEuS 2001, S. 1 (2). 63 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 120. 64 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM (2005) 596 endg., abrufbar unter: http://europa.eu/languages/servlets/Doc?id=915 (05.05.2006), S. 3. 65 Nicolaysen, FS für Everling II, S. 945 (952).
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1. Teil: Kollektive Identität
Angesichts der enormen Sprachenvielfalt ist die Europäische Union kaum noch mit funktionierenden mehrsprachigen Demokratien vergleichbar. Die Europäische Union hat derzeit 2366 Amtssprachen. Daneben gibt es ungefähr 60 weitere indigene Sprachen und Dutzende von nichtindigenen Sprachen, die von Migrantengemeinschaften gesprochen werden.67 Ein weiteres Problem für eine einheitliche Identitätsvermittlung durch Sprache ist die rechtliche Fixierung ihrer Gleichberechtigung. Demnach stehen sowohl die Vertragssprachen68 als auch die Amtssprachen69 gleichberechtigt nebeneinander. So entsteht wegen der Dolmetscher- und Übersetzungsdienste für die 23 Amtssprachen ein enormer Kostenfaktor.70 Das hohe desintegrative Potential der Sprachenvielfalt wurde vor allem im Juli 1999 unter der finnischen Ratspräsidentschaft deutlich. In dem monatelangen Sprachenstreit ging es um Deutsch als Arbeitssprache in den Ratssitzungen neben Englisch, Französisch und der Sprache des Vorsitzes.71
66 Irisch ist im Jahr 2007 hinzugekommen, ebenso Rumänisch und Bulgarisch; Quelle Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM (2005) 596 endg., abrufbar unter: http://europa.eu/languages/servlets/Doc?id=915 (05.05.2006), S. 2. 67 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM (2005) 596 endg., abrufbar unter: http://europa.eu/languages/servlets/Doc?id=915 (05.05.2006), S. 2. 68 Die Vertragssprachen werden durch das europäische Primärrecht bestimmt, vgl. Art. 314 EG, Art. 53 EU, Art. 225 EAGV, die verschiedenen Beitrittsakte und bei Inkrafttreten des Europäischen Verfassungsvertrages Art. IV-448 I VVE. Jeder Wortlaut in einer der Vertragssprachen ist gleichermaßen verbindlich; vgl. Herrmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 290 EGV, Rn. 1 f. 69 Die Amtssprachen und die Arbeitssprachen sind in der Verordnung Nr. 1 des Rates zu Art. 290 EG vom 15. April 1958 zur Regelung der Sprachenfrage ursprünglich für die EWG fixiert worden. Alle Amtssprachen stehen daher offiziell gleichberechtigt nebeneinander; vgl. Oppermann, ZEuS 2001, S. 1 (4, 8); Herrmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 290 EGV, Rn. 9, 11 f. Siehe dazu auch ausführlich SchübelPfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 59 ff. 70 Dies wird verständlich, wenn man sich die Sprachenkombinationen vergegenwärtigt. Mit 23 Amtssprachen im Jahr 2007 ergeben sich 506 Sprachpaare, wenn man jede Sprache in jede Sprache ohne eine Referenzsprache übersetzt. Die Kosten für die Übersetzungs- und Dolmetschdienste aller Organe zusammen belaufen sich bereits für 2004 mit elf Amtssprachen auf 1,05% des Gesamtbudgets der EU oder auf 2,28 Euro pro Bürger/in pro Jahr. Diese Kosten sind bei den derzeit 23 Amtssprachen noch deutlich höher; Quelle Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM (2005) 596 endg., abrufbar unter: http://europa.eu/languages/servlets/Doc?id=915 (05.05.2006), S. 14. Siehe dazu auch Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 89. 71 Damals wollte man Deutsch als Arbeitssprache mit der Begründung weglassen, dass es an Übersetzungskapazität mangele. Deutschland und Österreich beriefen sich auf ein „Gewohnheitsrecht“ zugunsten von Deutsch als dritter Arbeitssprache, dagegen wollte die finnische Ratspräsidentschaft neben ihrer eigenen Sprache nur noch Englisch und Französisch zulassen. Italien und Spanien wiederum forderten die Gleichbehandlung des Spanischen und Italienischen mit dem Deutschen. Siehe ausführlich dazu Luttermann/Luttermann, JZ 2004, S. 1002 (1003); Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 146; Oppermann, ZEuS 2001, S. 1 (2).
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Als weiteres Problem der Sprachenvielfalt innerhalb der Europäischen Union kommt hinzu, dass sich die Mehrheit der Europäer miteinander nicht verständigen kann.72 Nicht einmal die Hälfte der europäischen Bürger kann sich an einer Unterhaltung in einer Sprache beteiligen, die nicht ihre Muttersprache ist.73 Allerdings gibt es zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten große Unterschiede.74 Europa bleibt damit auf die nationalen Sprachen für die innereuropäische Kommunikation und die kognitive Wahrnehmung seiner Bürger angewiesen. Das Sprachenproblem kann man daher nicht nur als ein technisches Problem behandeln. Übersetzerdienste ermöglichen zwar die Arbeitsfähigkeit von Regierungskonferenzen, sie können aber keine Sprachgemeinschaft etablieren. Denn gerade in den Bereichen, die eine hohe semantische Differenzierung aufweisen und die besonders mit Werten aufgeladen sind, bleiben die jeweiligen sprachlichen Kollektividentitäten trotz der Übersetzungen an ihre jeweilige eigene Sprache gebunden.75 Die europäischen Völker leben in ihren Sprachen als je besonderen „Wahrnehmungs- und Verständigungsstrukturen“.76 Demzufolge ist in Europa angesichts der Sprachenvielfalt und dem Fehlen einer oder mehrerer Referenzsprachen nicht ohne weiteres eine Kommunikationsgemeinschaft gegeben. Aus diesem Grund ist das Problem der Überwindung der Sprachbarrieren in der Europäischen Union nicht mit dem mehrsprachiger Demokratien wie zum Beispiel der Schweiz vergleichbar.77 Denn in mehrsprachigen Demokratien geht 72 Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (55). 73 Die in der Europäischen Union am weitesten verbreiteten Sprachen sind Englisch (47%), Deutsch (30%) und Französisch (23%). 13% der Europäer sprechen Englisch als Muttersprache und 34% als Fremdsprache. 18% der europäischen Bevölkerung sprechen Deutsch als Muttersprache aber nur 12% als Fremdsprache. Weitere 12% der Menschen in der Europäischen Union haben Französisch als Muttersprache und 11% beherrschen Französisch als Fremdsprache. Damit ist das Englische die am weitesten verbreitete Sprache in der Europäischen Union. Abgesehen von Englisch entspricht die Rangfolge der Sprachen mehr oder weniger der Rangfolge der Bevölkerungszahlen. Deutsch hat durch die EU-Osterweiterung das Französisch als die am zweithäufigsten gesprochene Fremdsprache überholt, da Deutsch in den neuen Mitgliedstaaten als Fremdsprache weiter verbreitet ist als Französisch (21% zu 12%); vgl. Eurobarometer 63.4, S. 5, 7. 74 In Luxemburg sprechen fast alle Menschen eine Fremdsprache gut genug, um sich unterhalten zu können. Dagegen verfügen die Menschen im Vereinigten Königreich, in Irland und Portugal über die geringsten Fremdsprachenkenntnisse; weniger als ein Drittel der Bevölkerung gibt dort an, über ausreichende Fremdsprachenkenntnisse zu verfügen; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Sprachen in Europa, abrufbar unter: http://europa.eu.int/comm/education/policies/lang/languages/in dex_de.html (04.05.2006), S. 3. 75 Lepsius, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 201 (218). 76 Lepsius, in: Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas, S. 19 (28); Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 331. 77 Die Vergleichbarkeit der Europäischen Union mit multilingualen Demokratien ist umstritten. Dagegen sind Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Euro-
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1. Teil: Kollektive Identität
es regelmäßig nur um die Verständigung zwischen zwei oder drei Sprachgemeinschaften. Schon in diesen Demokratien entstehen aber erhebliche Schwierigkeiten im Hinblick auf die Erhaltung der Gleichberechtigung der verschiedenen Sprachen und Sprachgemeinschaften.78 Die Umsetzung zum Beispiel eines bestimmten Sprachproporzes erscheint mit 27 Mitgliedstaaten und einer derartigen Sprachenvielfalt tatsächlich nicht mehr herstellbar.79 Daher wird teilweise für Europa aufgrund seiner Vielsprachigkeit ein verständigungsorientiertes interkulturelles Kommunikationsmodell vorgeschlagen.80 Dieses Modell sieht zwei Referenzsprachen vor, anhand derer im Gemeinschaftsrecht eine einheitliche Rechtsetzung, Übersetzung und Vollzugskontrolle gesichert werden soll. Dieses Referenzsprachmodell könnte demzufolge zu einer Integrationsbasis für ein zusammenwachsendes Europa werden. Bei der Umsetzung dieses Modells kann von den beiden Referenzsprachen eine gewisse identitätsstiftende Wirkung – vergleichbar mit der von Nationalsprachen – ausgehen. Denn die Sprachenvielfalt in Europa ist der größte Unterschied zur amerikanischen Integrationsgeschichte, die sich von Anfang an auf eine gemeinsame Sprache einigen konnte.81 Bei einer derartigen sprachlichen Differenzierung innerhalb der Europäischen Union ist die identitätsstiftende Wirkung von Sprache, derer sich die Nationalstaaten über Jahrhunderte mehr oder weniger bedient haben, für die Europäische Union ausgeschlossen.82 Aufgrund des Fehlens von Referenzsprachen und der enormen Sprachenvielfalt in der Europäischen Union erscheint daher das Modell einer Identitätsstiftung durch eine gemeinsame Sprache nicht übertragbar. päische Integration, S. 47 (55) und ebenso Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 112. Für eine Vergleichbarkeit der Sprachenfrage tritt Habermas, Faktizität und Geltung, S. 651, ein. Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (246 ff.) hält das Sprachenproblem wohl nur für überwindbar, wenn eine kollektive Identität der Bürger bereits vorher besteht. Denn eine mehrsprachige Demokratie wie die Schweiz habe schon lang vor der Konstitutionalisierung eine nationale Identität ausgebildet und beziehe ihren mehrsprachigen politischen Diskurs darauf. Daher sei es nötig, dass eine kollektive Identität bereits vorher vorliege, wobei diese keineswegs in ethnischer Abstammung wurzeln müsse. Nötig sei lediglich ein Zusammengehörigkeitsbewusstsein. 78 So wird zum Beispiel in der Schweiz eine ausreichende Repräsentation der Minderheiten in Wahlkreisen, Behörden und Gerichten angestrebt, vgl. Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (55). 79 Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 146. 80 Siehe ausführlich dazu Luttermann/Luttermann, JZ 2004, S. 1002 (1008 ff.). 81 Darüber hinaus haben die Amerikaner im Unterschied zu den Europäern ihren nationalstaatlich geprägten Zusammenhalt aufgegeben und sich auf eine neue politische Heimat mit einer Mehrheitssprache und landesweiter Kommunikation eingelassen; vgl. Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 146; Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (247); Lepsius, in: Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas, S. 19 (27); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 112. 82 Lepsius, in: Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas, S. 19 (27).
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F. Geschichtsnation Für eine Geschichtsnation sind die kollektiven Erfahrungen und die gemeinsame Geschichte die konstitutiven identitätsstiftenden Merkmale der Nation.83 Demzufolge bejaht sich ein Volk als Subjekt der Geschichte oder als ein Träger existentieller Geschichtlichkeit und nimmt als Nation geschichtsgeformt und geschichtsbestimmt eine konkrete Gestalt an.84 I. Nationalstaatliche Konstruktion Vor allem in sehr heterogenen Vielvölkerstaaten fehlen objektive Anhaltspunkte wie zum Beispiel eine gemeinsame Sprache, an denen sich die Ausbildung kollektiver nationaler Identität orientieren kann. Daher wird als das hervorgehobene national-konstitutive Identitätsmerkmal oft die gemeinsame Geschichte etabliert, da sie eine anschlussfähige Erzählung der jeweiligen Beweggründe und Begebenheiten enthält, die zur Einheitsbildung geführt haben.85 Das geschichtliche Leben im selben Staatsverband kann verschiedene Volksgruppen zu einer Nation zusammenschließen,86 da die verschiedenen Volksstämme oder Volksgruppen oftmals einen festen Bestand an gemeinsamen Erlebnissen aufweisen.87 Besonders gewonnene oder verlorene Kriege sowie große kulturelle oder zivilisatorische Leistungen spielen eine bestimmende Rolle in den geschichtlichen Prozessen der Entstehung und des Unterganges von Völkern oder Nationen. Aus diesem Grund werden gerade solche Ereignisse bei der Einheitsbegründung jeweils als „nationales Erbe“ deklariert und empfunden. Typische Geschichtsnationen sind sowohl die Schweiz als auch Belgien, deren Territorien von Sprach- und Volksgrenzen durchzogen sind.88 Jedoch ist der Anhaltspunkt der gemeinsamen Geschichte als allein maßgebliches konstitutives Merkmal für die Ausbildung nationaler kollektiver Identität zu undeutlich. Denn es stellt sich bei diesem Abgrenzungskriterium die Frage, ob unter dem Begriff der gemeinsamen Geschichte sowohl die „Geschichte miteinander“ oder auch die „Geschichte gegeneinander“ – wie zum Beispiel im Fall von Einigungskriegen – zu verstehen ist.89 Daher ist eine gemeinsame Ge-
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Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 78. Leibholz, in: Herzog et al. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, S. 2193 (2194). 85 Nicolaysen, FS für Everling II, S. 945 (952); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 78. 86 Leibholz, in: Herzog et al. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, S. 2193 (2198). 87 Siehe ausführlich dazu Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, S. 42. 88 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 78. 89 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 42. 84
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1. Teil: Kollektive Identität
schichte zwar regelmäßig ein Kennzeichen, nicht aber das alleinige identitätsstiftende Element eines Volkes.90 Die wissenschaftliche und politische Auslegung der Vergangenheit wird in der Regel stark von den aktuellen politischen Rahmenbedingungen geprägt. Die eigene Geschichte wird in Übereinstimmung mit der gegenwärtigen politischen Situation und dem aktuellen vorherrschenden Wertehorizont gebracht. Das Vorliegen einer Geschichtsgemeinschaft kann demzufolge sowohl auf die Sicht der Geschichtsschreibung als auch auf das Verständnis der Bevölkerung zurückzuführen sein. Daran wird deutlich, dass eine Identitätsstiftung durch die Etablierung einer Geschichtsnation ebenfalls ein von bestimmten Trägergruppen konstruiertes Gebilde ist.91 II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion Das nationalstaatliche Modell der Geschichtsgemeinschaft wäre auf die Europäische Union übertragbar, wenn die Ereignisse der Vergangenheit auf dem europäischen Kontinent als gemeinsame europäische Geschichte angesehen werden könnten und wenn diese als maßgebliches Identitätsmerkmal für eine europäische Identität konstitutiv wäre. Diesbezüglich kommt es auf die Sichtweise der Bevölkerung und der Geschichtswissenschaft an. Ein entscheidendes Indiz für das Vorliegen einer Geschichtsgemeinschaft wäre entweder die Betonung einer gesamteuropäischen Definition politischer Ereignisse durch die Geschichtswissenschaft oder die Vermittlung nationalstaatlicher historischer Ereignisse als eigene und gleichzeitig gesamteuropäische Geschichte.92 Es wird konstatiert, dass in Europa gegenwärtig ein neu erwachtes Interesse an der europäischen Geschichte besteht. Dabei werden selbst die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Nationalstaaten als gemeinsame Geschichte betrachtet.93 In diesem Kontext wird zunehmend die Loslösung vom nationalstaatlichen Blickwinkel als unabdingbar gefordert, damit sich die Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Geschichte verbreitet.94 Ein ähnlicher Prozess lässt sich im Rahmen der Rechtsgeschichte beobachten.95 90 Siehe ausführlich zum Folgenden Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 136. 91 In Bezug auf die europäischen Nationen zustimmend Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 188. 92 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 137. 93 Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (27); Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 138. Eine übersichtliche Kurzdarstellung der gemeinsamen europäischen Geschichte findet sich bei Schieder, in: Franz (Hrsg.), Am Wendepunkt der europäischen Geschichte, S. 10 (10 ff.) und Schieder, in: König/Rahner (Hrsg.), Europa, S. 87 (87 ff.). 94 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 138; Bloomfield, in: Fulbrook (ed.), National histories and European history, S. 255 (277 ff.).
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Eine Erweiterung des Geschichtsverständnisses über die nationalstaatliche Ebene hinaus erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen. Man könnte argumentieren, dass die aktuelle europäische Politik zwangsläufig auch den zu erforschenden Stoff der Geschichte verändert und so den Rahmen der historischen Forschung vergrößert.96 Denn es ist die Aufgabe des Historikers, das politische Selbstverständnis einer Gesellschaft durch die erinnerungsbedingte Komponente der Geschichte zu ergänzen. In den jeweiligen nationalstaatlichen Geschichtsinterpretationen ist allerdings der eigene Nationalstaat nach wie vor der maßgebliche Bezugsrahmen für die historische Forschung.97 Denn die Geschichte des Nationalstaates hatte im letzten Jahrhundert absolute Priorität.98 Es werden zwar auch Parallelen in der Vergangenheit der europäischen Nationalstaaten aufgezeigt, jedoch wird die jeweilige Geschichte der Nationalstaaten in der Regel nicht als für ganz Europa beachtlich dargestellt.99 Der Prozess der Erweiterung des historischen Forschungsfeldes auf Gesamteuropa ist noch nicht weit fortgeschritten. Es sind bisher lediglich Ansätze in der Sichtweise der Bevölkerung und in der Geschichtsschreibung für ein gemeineuropäisches Geschichtsverständnis zu verzeichnen.100 Eine europäische Geschichtswissenschaft, die versucht, die jeweilige nationalstaatliche Geschichtswissenschaft zu einer gesamteuropäischen zusammen zu führen, existiert erst in Grundzügen.101 In Europa ist eine gemeinsame rituelle Erinnerung aller Europäer an historische Ursprünge schwierig. Die Identitätskonstruktion einer Geschichtsgemeinschaft dürfte als alleiniges Vorbild für eine Identitätsstiftung in Europa kaum zu etablieren sein. Die Stiftung kollektiver Identität sollte sich im Ergebnis nicht ausschließlich auf das Element einer gemeinsamen europäischen Geschichte stützen.
95 Willoweit, in: Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, S. 141 (141 ff.). 96 Siehe dazu Willoweit, in: Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, S. 141 (144). 97 Denn von Beginn an waren es die Abgrenzung gegen den Nachbarn, die Feindschaft und der Kampf, wodurch die europäischen Nationen sich selbst fanden; vgl. Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 126. 98 Die Historische Schule versuchte Geschichte und geltendes Recht zu verknüpfen. Sie hatte deshalb angenommen, dass Recht und Staat als Ausdruck der Volkspersönlichkeit nur aus nationaler Perspektive historisch adäquat zu erfassen seien. Dies wurde nicht als Beschränkung gesehen, sondern als eine Konzentration auf das „Wesen“ der historischen Phänomene. Siehe dazu Willoweit, in: Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, S. 141 (143); Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 171. 99 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 137. 100 Zu den Ansätzen einer länderübergreifenden Geschichtswissenschaft siehe Willoweit, in: Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, S. 141 (145 f.). 101 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 138.
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1. Teil: Kollektive Identität
G. Abstammungsgemeinschaft bzw. Volksnation Das Identitätsmerkmal der gemeinsamen Abstammung ist zunächst eine naturgegebene biologische Eigenschaft. I. Nationalstaatliche Konstruktion Die Einheit von Staat und Volk stellt das Grundprinzip des völkischen Nationalismus dar. Dieses Modell entspricht der Annahme einer ethnischen Homogenität von Carl Schmitt.102 Der Rassengedanke wurde vor allem durch die Rassentheorien des Grafen Gobineau und von Houston Stewart Chamberlain bekannt gemacht und in der Folge im Nationalsozialismus auf schreckliche Weise pervertiert.103 Der biologische Faktor ist darüber hinaus zu einseitig, um ihm allein ausschlaggebende Bedeutung für die Begründung einer Nation beizumessen.104 Ethnisch gesehen weisen nämlich fast alle heutzutage bekannten Völker einen polymorphen Charakter auf. Diese ethnische Mannigfaltigkeit ist die Folge von Völkerwanderungen und der sich daraus ergebenden Vermischung der jeweiligen Urbevölkerung mit Einwanderern sowie von exogamen Beziehungen zu anderen Völkern.105 In den meisten großen Volksgruppen Westeuropas findet man aus diesem Grund Individuen, die zwar einem bestimmten Typ angehören, aber so gut wie nie kann man ein Individuum nach seiner körperlichen Erscheinung sicher als Angehörigen einer bestimmten Volksgruppe ausweisen. Physisch homogene Ethnien sind extrem selten und meistens durch die Isolierung kleinerer Gruppen entstanden.106 Es ist aufgrund der Vermischungen verschiedenster Menschengruppen unmöglich, in den jeweiligen europäischen Nationalstaaten eine einheitliche Abstammungsgemeinschaft nachzuweisen.107 Die Abstammungsge102 Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26; Schmitt, Verfassungslehre, S. 228 f. 103 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 82; Grawert, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I § 14, Rn. 8; Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 182. 104 So schon Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 9. Siehe dazu Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 82. 105 Siehe ausführlich zum Folgenden Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, S. 40 f. 106 Beispiele für derartige Isolierungen sind das Volk der Innuit, der Samen, bestimmte indische Völker sowie die Aborigines in Australien. 107 Zwar gibt es unter Umständen möglicherweise den typischen Franzosen oder Engländer. Allerdings wurde das biologische Fundament des heutigen französischen Volkes hauptsächlich durch Kelten, Römer und verschiedene andere Stämme gebildet; das biologische Fundament des heutigen englischen Menschenschlages wurde vor allem durch Briten, Picten, Scoten, Angeln, Sachsen und Normannen gebildet. Aber erst durch jahrhundertelange Vermischung und durch eine biologische Anpassung an Land
2. Kap.: Konstruktion von Identität in Gemeinwesen
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meinschaft ist dementsprechend keine exakt fassbare biologische Größe für das Verständnis eines Volkes oder einer Nation.108 Darüber hinaus verweist das Merkmal der gemeinsamen Abstammung bei genauerer Überlegung letzten Endes doch wieder nur auf ein anderes Volk. Es wird nämlich auf das gleiche Volk in einer früheren zeitlichen Dimension gedeutet.109 Aufgrund dieser Selbstbezüglichkeit des Abstammungsmerkmals liegt ein Zirkelschluss vor. Im Ergebnis wird daher die Annahme einer rein „natürlichen“ Zusammengehörigkeit menschlicher Großgruppen zurückgewiesen. Völker sind keine Populationen im biologischen Sinn, sondern stets durch kulturellgeistige Einheitsgründe mitgeprägt.110 Allerdings kann man kaum die Tatsache leugnen, dass Veranlagung und Vererbung bis zu einem gewissen Grad erheblich sind. Dadurch häufen sich in verschiedenen Völkern unterschiedliche körperliche, geistige und charakterliche Anlagen, die auf die herrschenden Rechtsauffassungen und auf die Gestaltung des staatlichen Lebens Einfluss gewinnen können.111 Diese Einflüsse werden auch an der Ausgestaltung des deutschen Rechtssystems deutlich.112 Es gibt beispielsweise nach wie vor eine Bezugnahme auf ein ethnisches Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz.113 und Klima hat sich in den beiden genannten Nationalstaaten mit der Zeit ein mehr oder weniger einheitlicher Menschenschlag herausgebildet; vgl. dazu Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 84 f. 108 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 83; ebenso Bußmann, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon in 5 Bänden, Nation, S. 1266 (1265). 109 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 42. 110 Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, S. 41. 111 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 82. 112 Art. 116 GG – wie auch Art. 16 GG und das übrige Grundgesetz – regelt die Staatsangehörigkeit nicht selbst, sondern sie wird vorausgesetzt. Art. 116 GG hat demzufolge keine über die Funktion der Schaffung eines besonderen Deutschenstatus hinausgehende allgemeine Bedeutung für das Staatsangehörigkeitsrecht. Die Bedeutung des Art. 116 GG liegt vielmehr darin, dass er als erste Übergangsvorschrift die Beziehungen von Personen, deren staatsangehörigkeitsrechtliche Situation infolge der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges unsicher war, einer Klärung zugeführt hat. Zu diesem Zweck wurde in Art. 116 I GG die neuartige Kategorie der Deutschen im Sinne des Grundgesetzes geschaffen. Diese Kategorie garantierte den so genannten Statusdeutschen – vor allem den Millionen Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg, die eine deutsche Staatsangehörigkeit nicht (mehr) besaßen – eine weitgehende Gleichstellung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bilden die Deutschen im Sinne des Art. 116 I GG – nicht etwa nur die Deutschen mit deutscher Staatsangehörigkeit – das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland. Siehe zum Ganzen Grawert, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I § 14, Rn. 15; Vedder, in: Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Band 3, Art. 116, Rn. 1; Lübbe-Wolff, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar III, Art. 116, Rn. 1, 13, 14. 113 Die einfachgesetzliche Ausgestaltung der deutschen Staatsangehörigkeit hat sich zwar durch das Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
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1. Teil: Kollektive Identität
Auch das Vorliegen eines bestimmten abgrenzbaren Volkes wurde in der Vergangenheit von gewissen gesellschaftlichen Gruppen bewusst zur Identitätsstiftung konstruiert, um andere Gruppierungen aus der Gesellschaft auszugrenzen und sich gegenüber anderen Völkern zu behaupten. Das wesentliche Fundament einer Volksgruppe ist jedoch ihre gesellschaftliche Organisation, die vorwiegend kultureller und nicht biologischer Art ist.114 Die Kategorie der Abstammung als kollektives Identitätsmerkmal kann für die Nation kein maßgebliches Kriterium für die Ausbildung eines Nationalbewusstseins sein. II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion Um die identitätsstiftende Funktion des Modells der Abstammungsgemeinschaft für Europa nutzen zu können, müssten die Europäer wenigstens ein gemeinsames biologisches Fundament aufweisen und sich genetisch von anderen Weltbewohnern unterscheiden. Gerade in Europa fand eine fortwährende Vermischung der unterschiedlichsten Gruppen und Völker infolge der historischen Ereignisse statt.115 In der Bevölkerung Europas kommen daher die verschiedensten genetischen Ursprünge vor. Die jeweiligen europäischen Typen weisen oft nicht einmal das Mindestmaß an anthropologischer Homogenität auf, um auch nur einer ethnischen „Familie“ anzugehören.116 Es ist daher unmöglich, auf dem europäischen Kontinent irgendeine feste biologische Größe auszumachen.117 Selbst wenn man den biologischen Faktor abstrakter fassen würde und lediglich auf eine genetische Unterscheidung der Bevölkerung Europas von anderen Weltbewohnern abstellen würde, könnte man eine Abstammungsgemeinschaft der Europäer nicht anneh(StARG) vom 15. Juli 1999, BGBl. 1999, Teil I, Nr. 38, S. 1618 geändert. Die zentrale Neuerung besteht in der erstmaligen Einführung eines Elements des Territorialitätsprinzips (ius soli) in das bislang strikt am Abstammungsprinzip (ius sanguinis) orientierte deutsche Staatsangehörigkeitsrecht. Allerdings gilt bei der deutschen Staatsbürgerschaft weiterhin das Abstammungsprinzip von der deutschen Volkszugehörigkeit, da das ius sanguinis nicht vollständig abgeschafft wurde. Nach § 4 Abs. 3 S. 1 StAG erwerben Kinder ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil acht Jahre rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und eine Aufenthaltsberechtigung oder seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt. Insofern wurde die Konzeption eines ethnischen Nationalstaatsprinzips aufgelockert und die Ausschließlichkeit der Abstammungsgemeinschaft für die Bestimmung des Deutschen Volkes aufgegeben. Siehe zum Ganzen Hailbronner, NVwZ 1999, S. 1273 (1273 ff.); Huber/Butzke, NJW 1999, 2769 (2769 ff.); Lübbe-Wolff, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar III, Art. 116, Rn. 17 f.; Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (141 f.); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 77. 114 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 78. 115 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 78. 116 Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, S. 41. 117 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 85.
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men. Denn es gibt nach neuerem Forschungsstand nicht einmal eine eigene biologische Entwicklungslinie der europäischen Bevölkerung in Abgrenzung zu den anderen Weltteilen. Ein Großteil der europäischen Bevölkerung hat genetische Ursprünge auf dem afrikanischen Kontinent.118 Das Konzept der Abstammungsgemeinschaft ist daher nicht für eine europäische Identitätskonstruktion verwendbar. Im Ergebnis ist das Merkmal der gemeinsamen Abstammung infolge der mangelnden Bestimmtheit des Abstammungskriteriums und aufgrund seiner Selbstbezüglichkeit als konstituierendes Identitätselement unbrauchbar.119
H. Kulturnation Die Definition der Kulturnation stammt aus dem Bereich der politischen Soziologie.120 Dieser zufolge ist das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl oftmals die Folge einer sich im Laufe der Zeit entwickelten Kulturgemeinschaft der Menschen.121 I. Nationalstaatliche Konstruktion Eine gemeinsame Kultur hat großen Einfluss auf die kollektive Identität einer Bevölkerung. Kulturelle Faktoren – wie gemeinsame Sozialmoral und ähnliche Lebensgewohnheiten, Liedgut, Märchen und anderes Bildungsgut – können eine gemeinsame Heimat begründen.122 Deutschland ist bis 1871 ein geradezu klassisches Beispiel für das Konstrukt einer Kulturnation. Man verstand sich bis zur Reichsgründung als eine den gesamten deutschsprachigen Raum umfassende Kulturnation. Dies meinte eine über die politischen Landesgrenzen hinweg sich formierende, an deutschsprachiger Literatur und an Theater orientierte bürgerliche Bildungsgesellschaft und -elite.123 Dabei wurde der Mythos eines gemeinsamen deutschen Kulturerbes hochgehalten und zwar unabhängig davon, ob die betroffenen Bevölkerungsgruppen sich dieser Kulturnation auch zugehörig fühlten.124
118 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 108 m.w. N. 119 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 116. 120 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 79. 121 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 83. 122 Nicolaysen, FS für Everling II, S. 945 (953); Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 83. 123 Böckenförde, in: ders., Staat Nation Europa, S. 34 (39). 124 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 79.
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1. Teil: Kollektive Identität
Ursprünglich war Deutsch eine Sammelbezeichnung germanischer Volksdialekte und ansonsten ein reines Kunstwort.125 Der moderne und die ganze Bevölkerung umfassende Begriff der deutschen Nation wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt.126 Der Begriff der deutschen Kulturnation hat seinen Ausgangspunkt in der Literatur. Vor allem die deutschsprachigen Literaten haben gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Begriff der deutschen Nation in Abgrenzung zur französischen Kultur ästhetisch zugespitzt.127 Die Romantiker Herder, Fichte, Novalis und Schlegel bekämpften als deutschsprachige Schriftsteller die im 17. und 18. Jahrhundert bestehende Vorherrschaft der französischen Kultur auf dem europäischen Kontinent.128 Sie haben die Individualität der deutschen Nation als ein erhabenes Gesamtkunstwerk dargestellt und in Abgrenzung gegenüber der französischen Kultur die nationale Identität der Deutschen formuliert.129 Aus diesem Grund wird die deutsche Kulturnation teilweise sogar als ein reines Literatenprodukt bezeichnet.130 Die deutschen Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich 1813/ 1814 haben in der Folgezeit ebenfalls entscheidend zum Entstehen eines Einheitsgedankens und Nationalbewusstseins in Deutschland beigetragen.131 Als nach der Niederwerfung Napoleons die Regierungen des 1815 gegründeten Deutschen Bundes bürgerlich-liberale Forderungen nach Verfassungs-, Rechtsund Sozialreformen nicht erfüllten, erstarkten die national und liberal-konstitutionellen Bewegungen in den 41 Mitgliedstaaten. Auf dem Wartburgfest am 18. Oktober 1817 demonstrierten Studenten und Professoren dann erstmals für einen einheitlichen deutschen Nationalstaat und eine Verfassung.132 Auf dem 125 Schulze, Kleine deutsche Geschichte, S. 45; Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 75. Zur kulturellen Identifikationsidee avancierte die deutsche Nation erst seit in der Bibliothek des Klosters Fulda der verschollene Text der „Germania“ des Tacitus aufgetaucht war und von Bracciolini 1455 in Italien veröffentlicht wurde. Denn dadurch wurden die Germanen des Tacitus als die Vorfahren der Deutschen angesehen; vgl. Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 141 f. 126 Münch, Das Projekt Europa, S. 63; Conze, Die deutsche Nation, S. 32 ff. 127 Münch, Das Projekt Europa, S. 63. 128 Daraus entstand in der Folgezeit die Entgegensetzung von französischer Zivilisation und deutscher Kultur, die bis heute die Abgrenzung von französischer und deutscher Nationalidentität mit Feindseligkeit aufgeladen hat; Münch, Das Projekt Europa, S. 64 f. 129 Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 146. 130 Münch, Das Projekt Europa, S. 63. 131 Siehe zu den historischen Ereignissen Conze, in: Verlag Ploetz (Hrsg.), Der Grosse Ploetz, S. 738 (741 ff.). 132 Nach den Befreiungskriegen entstand 1815 auch die burschenschaftliche Bewegung. Als Reaktion darauf erließen die Regierungen des Deutschen Bundes die Karlsbader Beschlüsse im Jahr 1819. So wollten sie gegen die neu formierten liberalen und nationalen Kräfte, hauptsächlich gegen Burschenschafter und unerwünschte Professoren vorgehen. Die jeweiligen reaktionären Staaten im Deutschen Bund – allen voran Preußen – verfolgten die Urheber liberalen und nationalen Gedankenguts als Demago-
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Hambacher Fest wurde Ende März 1832 erneut die Forderung nach Einheit, Freiheit und Demokratie erhoben.133 Urheber und Träger des Begriffes „deutsch“ war also hauptsächlich das deutsche Bildungsbürgertum.134 Mit der Rheinkrise von 1840135 erwies sich dann der Massennationalismus in Deutschland erstmals als selbständige politische Kraft. Das neue Nationalgefühl manifestierte sich in dem nationalpatriotischen Aufruf „Die Wacht am Rhein“ zur Verteidigung des Rheinlandes gegen die Ansprüche Frankreichs auf die Rheingrenze.136 Die Abgrenzungskämpfe der deutschen Literaten gegen die französische Sprache und Literatur haben sowohl zur Ausprägung einer eigenständigen deutschen Nationalliteratur wie auch zu einer Verdrängung der französischen Sprache und Literatur geführt.137 Die darauf folgende Literatur der Weimarer Klassik hatte ebenfalls maßgeblichen Anteil an der deutschen Identität als Kulturnation. Sogar die erste deutsche Republik versuchte noch eine symbolhafte Anknüpfung an die deutsche Kulturnation und berief die Nationalversammlung in die Stadt Goethes und Schillers ein.138 Im Gegensatz zu anderen Nationentypen beansprucht eine Kulturnation nicht zwangsläufig die Nationalstaatlichkeit.139 In Deutschland war die Idee der Kul-
gen. Siehe dazu auch Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 124 ff.; Conze, in: Verlag Ploetz (Hrsg.), Der Grosse Ploetz, S. 738 (742 f.). 133 Dies war die Folge der Unzufriedenheit der pfälzischen Bevölkerung mit der Verwaltung ihres Territoriums durch das Königreich Bayern. Als Gegenmaßnahme auf das erneute Erstarken liberaler und nationaler Elemente wurde seitens der reaktionären Regierungen die Demagogenverfolgung abermals intensiviert. Erst als Folge der Märzrevolution von 1848 wurden die Karlsbader Beschlüsse wieder abgeschafft. 134 Denn im Verlauf des 18. Jahrhunderts bildete sich eine neue gesellschaftliche Bildungsschicht im Reich aus, mit der die deutschen Dialekte und Mundarten zur Sprache der deutschen Hochkultur zusammen wuchsen, Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 146. 135 Die französische Regierung unter Thiers löste diese aus, als sie die Rückgewinnung der „natürlichen“ Rheingrenze für Frankreich propagierte. Siehe ausführlich dazu Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 207 f. 136 Dieses Gedicht verfasste Max Schneckenburger unter dem Eindruck der Gefahr eines neuen Krieges mit Frankreich und der Bedrohung der deutschen Rheingrenze. 137 Münch, Das Projekt Europa, S. 67. Die deutsche Nationalliteratur und das deutsche National- und Musiktheater schufen über die Grenzen der deutschen Nationalstaaten hinweg eine Einheitlichkeit des Geschmacks. Diejenigen, die Mitte und Ende des 18. Jahrhunderts Deutsch schrieben, bekannten sich zur Einheit eines aufgeklärten bürgerlichen Geistes, der über den Staatsgrenzen stand und sich bewusst von der französischen Sprachkultur der Fürstenhöfe abgrenzte. Siehe dazu Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 146. 138 Isensee, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (12). 139 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 79.
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turnation bis 1871 gerade der Ersatz für die fehlende staatliche Einheit.140 Auch die Kulturnation erweist sich als Elitephänomen und als politisch motiviertes Konstrukt.141 Ihre Herausbildung war vor allem ein Werk von Intellektuellen, die daran arbeiteten, die eigene Kultur durch die Abgrenzung zu anderen Nationalkulturen und durch die innere Etablierung eines herrschenden kulturellen Paradigmas zu definieren. Dadurch wurde eine Kulturtradition suggeriert, die sich über Jahrhunderte kontinuierlich entwickelt haben soll.142 Auch andere moderne Nationalstaaten gebrauchten Kunst und Kultur als psychologische Verstärker bei der Nationenbildung und als Abgrenzungsmechanismus gegenüber anderen. Alle großen europäischen Nationalstaaten, in denen heute eine relative Einheitlichkeit von Sprache, Kultur und Recht vorherrscht, hatten ursprünglich multikulturellen Charakter. Die heutige relative Einheitlichkeit beruht nämlich insbesondere auf der Durchsetzung einer zentralen Sprache und Kultur gegen regionale Sprachen und Kulturen sowie auf einer einheitlichen Rechtsetzung gegen regionale Rechtstraditionen.143 Unter juristischen Gesichtspunkten ist das Merkmal der Kulturgemeinschaft als national-konstitutives Kennzeichen problematisch. Bisher liegt keine überzeugende und allgemeingültige Definition des Begriffes Kultur vor, so dass sich eine exakte Subsumtion unter diesen Begriff als unmöglich erweist.144 Deshalb weist dieses Kriterium ein hohes Maß an Relativität auf. II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion Die Annahme einer rein europäischen Kultur erscheint höchst zweifelhaft. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Bezugspunkt einer europäischen kulturellen Identität. Es lassen sich auf dem europäischen Subkontinent zahlreiche Kriterien für die Konstruktion von Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten kultureller Identitäten finden.145 So gibt es in Kontinentaleuropa schon kaum kulturell oder religiös homogene Nationen. Denn die Zufälligkeit und Künstlichkeit der territorialen Staatsgrenzen hat in der Regel nicht die unzähligen und fließenden Übergänge kultureller Charakteristika verhindert,146 so 140 Münch, Das Projekt Europa, S. 63 f. Die deutsche Nation wurde damit als objektives Merkmal konstituiert gemäß der Idee Herders von der fundamentalen Individualität des Volkstums; Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 171. 141 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 79. Siehe dazu auch Adam, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 287 (292 f.). 142 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 79. 143 Münch, Das Projekt Europa, S. 27. 144 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 122. 145 Lepsius, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 201 (201).
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dass angrenzende Gebiete oft gewisse kulturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Aus der oben beschriebenen geographischen Unschärfe des Subkontinents Europa resultiert auch eine Besonderheit des Kulturbegriffs in Europa. Denn die geographische Festlegung Europas erfolgte oftmals aus kulturhistorischen Gesichtspunkten.147 Es ist auch im Einzelnen sehr umstritten, welche gemeinsamen kulturellen Elemente die Anwendung eines gemeinsamen Oberbegriff „Europa“ auf eine Reihe von Staaten und Völker rechtfertigen und damit implizit andere ausschließen.148 Europa wird nicht einmal von den Intellektuellen – so wie in der deutschen Kulturnation – als ein einheitlicher Kulturraum wahrgenommen. Es wurde und wird zwar vielfach rezipiert, was jenseits der eigenen nationalen Grenzen in den anderen europäischen Staaten gedacht und gesagt wird. Allerdings gibt es bis heute nicht den europäischen Intellektuellen, der im Wesentlichen grenzüberschreitend denkt.149 Denn im Verhältnis zu den inneren nationalen Diskursen sind die grenzüberschreitenden Diskurse sehr selten.150 Anders als im Schmelztiegel der Vereinigten Staaten von Amerika sind in Europa räumlich abgeschlossene Nationalkulturen entstanden,151 die im Inneren Europas jeweils weitgehend selbständig geblieben und nicht zu einer gesamteuropäischen Kultur zusammengewachsen sind.152 Die Intellektuellen haben ihre eigenen nationalen Denktraditionen und Philosophien, die aufgrund der relativ geschlossenen nationalen Diskurse auch bis heute erhalten geblieben sind.153 Gerade wenn man die wichtige 146 Nicolaysen, FS für Everling II, S. 945 (954); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 80. 147 Köpke, in: Köpke/Schmelz, Das gemeinsame Haus Europa, S. 18 (18); Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 150. Siehe zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der europäischen Kulturen auch die historisch sehr ausführliche Darstellung von Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (17 ff.); Pfetsch, Aus Politik und Zeitgeschichte B25–26/98, S. 6. 148 Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 148; Köpke, in: Köpke/Schmelz, Das gemeinsame Haus Europa, S. 18 (19). 149 Münch, Das Projekt Europa, S. 97. Allerdings formuliert im Gegensatz dazu der französische Philosoph Edgar Morin, dass aufgrund der Globalisierung und Amerikanisierung alle Europäer vor demselben Problem stehen, nämlich als Spezies und in kultureller, politischer und intellektueller Hinsicht nicht unterzugehen. Daher bestehe bei den europäischen Völkern auch ein unausgesprochenes, aber tiefes Bedürfnis nach Europa. Aus diesem Grund müssten die Intellektuellen dem Bewusstsein der gemeinsamen europäischen Schicksalsgemeinschaft und der gemeinsamen Identität Ausdruck verleihen, um eine Artikulierung des unausgesprochenen Bedürfnisses nach Europa zu ermöglichen; vgl. Morin, Europa denken, S. 167, 185. 150 Münch, Das Projekt Europa, S. 98. 151 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 113. 152 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 106. 153 Münch, Das Projekt Europa, S. 97. Ebenso Giesen, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 130 (143), der annimmt, dass eine anspruchsvolle kulturelle Identität Europas derzeit kaum Chancen besitze.
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Rolle der Intellektuellen bei der Formulierung kultureller Identitäten bedenkt, fällt einem ins Auge, wie wenig sie bisher an der Herausbildung einer europäischen kollektiven Identität beteiligt waren und sind.154 Zwar haben Einzelne155 die Idee eines Vereinten Europa teilweise aufgegriffen, eine großräumige intellektuelle Bewegung hat sich daraus aber nicht ergeben. Die Idee Europas wurde vor allem von den führenden Staatsmännern zur Friedenssicherung und zur wirtschaftlichen Prosperität ihrer Nationen verfolgt.156 Die alleinige Nachahmung der Konstruktion einer Kulturnation erweist sich somit für eine Identitätsstiftung auf europäischer Ebene als nicht sehr Erfolg versprechend.157
J. Verfassungsnation Die bisher angestellten Vergleiche mit den nationalstaatlichen Identitätskonstruktionen verdeutlichen, dass sich allgemeingültige Merkmale, die auf die Konstruktion einer europäischen Identität ausschließlich anwendbar wären, nicht ergeben haben. Eine Identitätsstiftung erscheint weder über die Sprache, die Geschichte, die Abstammung oder eine gemeineuropäische Kultur als allein konstitutives Element einer europäischen Identität möglich. Das Gebiet der Europäischen Union hat unterschiedliche Kulturräume, eine große geschichtliche Vielfalt und viele unterschiedliche Sprachen. Diese machen es schwierig, einen gemeinsamen Nenner als Basis für eine „europäische Identität“ im Sinne des organisch-kulturellen Verständnisses zu finden.158 Europa ist kaum erfahrbar als kultureller, sprachlicher, geographischer oder ethnisch definierbarer Raum.159 Moderne multikulturelle Gesellschaften veranschaulichen, dass sich eine politische Kultur nicht auf eine allen Staatsbürgern gemeinsame ethnische, sprachliche oder kulturelle Herkunft stützen muss. Auch Verfassungsgrundsätze können die Grundlage für die Ausbildung kollektiver Identität darstellen.160 Weil die anderen Identitätsmerkmale allein nicht ausreichend signifikant erscheinen, könnte eine gemeinsame Verfassung das maßgebliche Element einer europäi-
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Münch, Das Projekt Europa, S. 98. Beispielsweise Morin, Europa denken. 156 Münch, Das Projekt Europa, S. 98. 157 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 113. Eine a. A. im Hinblick auf die Rechtskultur vertritt Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 107, wonach Europa eine gemeinsame und vielfältige Rechtskultur habe. Daher sei ein kulturwissenschaftlicher Ansatz gefordert, wonach „Europa“ in den Kategorien von Raum und Zeit kulturwissenschaftlich zu erfassen sei; vgl. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 1066 ff. 158 So auch Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 17; ebenso Piepenschneider, Die europäische Generation, S. 29. 159 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 111. 160 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 642. 155
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schen Identität sein.161 Der politische Pol einer konstruierten kultur- und abstammungsunabhängigen Kollektividentität könnte sich an einer Verfassung orientieren. I. Nationalstaatliche Konstruktion Wenn die Verfassung der Eckpunkt der unmittelbaren bzw. mittelbaren kollektiven Identitätsbildung ist, spricht man von einer Verfassungs- oder auch Staatsbürgernation. Im Folgenden soll daher die Relevanz des politisch-institutionalisierten Zusammenlebens für die Etablierung einer Nation dargestellt werden. Die politische Gemeinschaft kann eine Nation auch dann zusammenhalten, wenn gemeinsame Abstammung, gemeinsame Sprache oder gemeinsame Religion fehlen.162 Die Aspekte der politischen Kultur und der Rechtskultur haben im Zusammenleben von Menschen eine herausragende Bedeutung.163 Daher kann die politische Gemeinschaft auch heterogenste Gruppen zu einer Nation verbinden.164 Dabei wird die soziale Integration einer differenzierten Gesellschaft durch den in der Verfassung normierten demokratischen Prozess sichergestellt. Die Steuerungs- und Ordnungsfunktion der Verfassung beruht allerdings nicht allein auf ihrer instrumentellen, sondern auch auf ihrer symbolischen Funktion.165 Als Instrument reguliert die Verfassung den politischen Prozess und liefert das Regelwerk des politischen Systems. Als Symbol artikuliert die Verfassung die Ordnungs- und Sinngehalte der politischen Kultur. Die in der Verfassung genannte Gründung des politischen Gemeinwesens kann diesbezüglich auch als ein klar benennbarer Anfang für die Ausbildung einer kollektiven, auf die Verfassung bezogenen Identität angegeben werden.166 Als Beispiel einer Verfassungsnation werden die Vereinigten Staaten von Amerika angesehen.167 Die USA werden als Einwanderungsland vor allem durch die Verfassung geeinigt. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von 161 So Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 259. 162 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 84. 163 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 122. 164 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 84. 165 Diese Unterscheidung geht auf den amerikanischen Verfassungstheoretiker Corwin, in: The American Political Science Review 30 (1936), S. 1071 (1071 ff.) zurück. Siehe dazu Gebhardt, in: Kimmel (Hrsg.), Verfassungen als Fundament und Instrument der Politik, S. 9 (9). 166 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 164 f. 167 Die amerikanische Verfassung ist die älteste geschriebene Verfassung der Welt, die darüber hinaus seit 1789/91 kaum geändert wurde. In den Vereinigten Staaten gibt es daher seit über 200 Jahren Verfassungskontinuität. Siehe dazu Vorländer, Amerikastudien 34 (1989), S. 69 (69 f.); Gebhardt, in: Akademie für politische Bildung (Hrsg.), Zum Staatsverständnis der Gegenwart, S. 111 (112).
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Amerika war und ist der gemeinsame Bezugsrahmen für die Ausbildung der nationalen Identität; sie ist der Kristallisationspunkt der amerikanischen Selbstinterpretation.168 Auf diese Weise hat sich die Verfassung als Medium sozialkultureller Identitätsstiftung etabliert. In der amerikanischen Gesellschaft bezieht sich die Ausbildung kollektiver Identität vor allem auf bestimmte Teile der Verfassung.169 Ein weiteres Beispiel für das Modell einer Verfassungsnation ist die Bundesrepublik Deutschland nach 1949, in der sich ebenfalls eine verfassungszentrierte politische Kultur herausgebildet hat. Dabei kann man die bundesrepublikanische Verfassungsnation mit ihrer Gesellschaftsstruktur und ihren Verfassungsinstitutionen nicht ohne weiteres mit der historisch gewachsenen amerikanischen Bürgerkultur gleichsetzen. Denn es war die Folge des Scheiterns der Weimarer Republik, dass die Verfassung in der Bundesrepublik Deutschland an Stelle von Staat oder Abstammungsgemeinschaft zum Fokus für Identitätsbildungsprozesse in der Bevölkerung wurde.170 Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus waren die Selbstverständlichkeiten einer vom Nationalismus geprägten kollektiven deutschen Identität erschüttert und zerbrochen.171 Die Idee nationaler Einheit und ein sich auf das Staatsvolk gründender Nationalismus waren tabuisiert.172 Der deutsche Staat und die deutsche Nation waren in öffentlich geführten Diskursen als Bezugspunkte für die kollektive Identität der Bevölkerung problematisch.173 Aus diesem Grund wurde das deutsche Grundgesetz zur Basis und zum Bezugspunkt politischer Identitätsfindung174 und hatte bereits in den Anfängen der Bundesrepublik die zentrale Integrationsfunktion für eine infolge des Dritten Reiches institutionell, kulturell und sozial fragmentarisierte Gesellschaft.175 Das Identifikationspotential der Deutschen richtete sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges daher auf die neue und unbelastete Größe, die Verfassung.176 Die ernüchterte, auf das Grundgesetz bezogene politische Identität, 168 Vorländer, Amerikastudien 34 (1989), S. 69 (71); ebenso Gebhardt, in: Akademie für politische Bildung (Hrsg.), Zum Staatsverständnis der Gegenwart, S. 111 (112). 169 So muss zum Beispiel die Präambel der Verfassung von jedem Schüler auswendig gelernt werden; Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 362. 170 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 168 f. 171 Habermas, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, S. 159 (167). 172 Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (855); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (44). 173 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 169. 174 Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (855); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (44). 175 Dabei wurde die Sicherung der demokratischen Stabilität zum maßgeblichen Konstruktionsprinzip des Grundgesetzes, um die Fehler der Weimarer Demokratie, die zu ihrem Untergang geführt haben, zu vermeiden; Isensee, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (23); Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 167. 176 Isensee, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (14).
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löste sich auf diese Weise von einer nationalgeschichtlich zentrierten Vergangenheit.177 Dieser Neuanfang glückte und das Grundgesetz erreichte im Laufe der Zeit eine einzigartige Zustimmung und Integrationskraft.178 Bei der Redaktion des Grundgesetzes waren juristische Nüchternheit und politische Selbstbeschränkung vorrangig.179 Das Grundgesetz etabliert aus diesem Grund lediglich das Organisationsstatut des föderalen, demokratischen Rechtsstaats, es konstruiert aber keine Gesellschafts-, Wirtschafts-, oder Kulturverfassung.180 Eine Eigenart des Grundgesetzes besteht daher in seiner rechtspraktischen Qualität; das für demokratische Verfassungen typische Pathos findet sich kaum.181 Das Grundgesetz formuliert keine unverbindlichen Programme. Seine Normen sind vielmehr auf effektive Rechtsgeltung, praktische Durchsetzbarkeit und Justiziabilität gerichtet. Damit ist die juristische Qualität des Grundgesetzes eine wesentliche Ursache seines Erfolges. Ein weiterer Grund für den Erfolg der verfassungsbasierten Identitätsstiftung liegt darin, dass die Ordnungsgehalte der Verfassung zum verbindlichen Bezugspunkt der politischen Deutungskultur in Deutschland wurden. Dies war das Resultat eines verfassungstheoretisch von der politischen Elite vorgegebenen objektiven Selbstverständnisses. Die deutsche Verfassungsnation basiert auf der Deutung Grundgesetzes als ein umgreifendes, ganzheitliches System. Daher ist das Grundgesetz nicht nur das oberste Rechtsgesetz der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch ein politisches Integrationsprogramm. Gerade die Verrechtlichung der politischen Kultur in Deutschland verdeutlicht deren Verfassungsgebundenheit.182 Alle zentralen politischen Abläufe des Gemeinwesens werden als ausgehend von und bezogen auf die Verfassung verstanden. Dabei wird nicht nur die instrumentelle, sondern auch die konstitutive Funktion der Verfassung hinsichtlich gesellschaftlicher Vorstellungsmuster betont.183 Die Reichweite der Verfassung erstreckt sich damit nicht nur auf den Staat, sondern auch auf die Gesellschaft.184 Die Folge war eine verfassungsorientierte Umbildung wichtiger Begriffe. So ist der Begriff „Verfassung“ in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik an die Stelle von „Staat“ und „Volk“ getre177
Habermas, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, S. 159 (168). So Isensee, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (14 ff.). 179 Zunächst herrschte kaum Begeisterung, als der Parlamentarische Rat weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit seine Arbeit abschloss. Auch der klanglose Name der neuen deutschen Verfassung „Grundgesetz“ zeugte von großer Zurückhaltung; Sternberger, in: ders., Schriften Band X, S. 13 (13). 180 Isensee, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (15). 181 Siehe ausführlich dazu Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/93, S. 29 (32 f.). 182 Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/93, S. 29 (34 f.). 183 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 170. 184 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (124). 178
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ten.185 Das Vorliegen einer verfassungszentrierten politischen Kultur wurde in Deutschland durch empirisch überzeugend dokumentierte Wandlungen im subjektiven Bereich der Einstellungen und Verhaltensmuster der Bürger bestätigt.186 Demzufolge basiert die verfassungsorientierte Identität der Deutschen einerseits auf dem Bewusstsein, mit der freiheitlichsten deutschen Verfassung zu leben. Darüber hinaus resultiert die verfassungsorientierte Identität der Deutschen andererseits aus den freiheitlichen Regeln und Verfahren des Grundgesetzes.187 Damit ist die deutsche Verfassungsnation im Gegensatz zum amerikanischen Modell das Ergebnis der rechtsförmlichen Exegese der Ordnungsgehalte der Verfassung selbst und deren dogmatischer Fixierung. Die deutsche Verfassungsnation ist nicht das Ergebnis eines historischen Prozesses.188 Auch die Identitätsstiftung über eine Verfassungsnation erweist sich als politisch motiviertes Konstrukt bestimmter gesellschaftlicher Trägergruppen. II. Vorbildfunktion für eine europäische Identitätskonstruktion Der Europäischen Union fehlt ein soziales Substrat wie eine gemeinsame Geschichte oder andere vorrechtliche Gemeinsamkeiten, an denen sich eine Einheit vor ihrer Gründung hätte orientieren können. Gerade ihre Eigenschaft als Rechtsgemeinschaft ist die einzigartige Besonderheit der Europäischen Gemeinschaften.189 Dies könnte die Identitätsstiftung durch ein europäisches Verfassungsdokument ermöglichen. Denn in der Rechtsgemeinschaft bildet das Recht die Grundlage für den Zusammenhalt.190
185 Als Beispiele nennt von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (163) Verfassungsorgan, Verfassungsschutz, Verfassungsfeind. 186 Nach einer Ansicht enthält das Grundgesetz zwar alle Grundrechte, die eine staatsbürgerliche Gemeinschaft ausmachen. Trotzdem könne man aber nicht davon ausgehen, dass das ethnisch-kulturelle Verständnis der Nation von einem offenen staatsbürgerlichen Verständnis vollständig verdrängt worden sei; Münch, Das Projekt Europa, S. 78. Auch Depenheuer, in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (45) geht davon aus, dass der „Konsens im Grundgesetz“ nur ein scheinbarer ist. Seit den siebziger Jahren zeigen aber die demoskopischen Daten einen Einstellungs- und Identifikationswandel an. Der Stolz auf politische Systemmerkmale und das Grundgesetz ist größer geworden und das Grundgesetz ist in erheblichem Ausmaß Quelle des Stolzes der Bundesbürger. Aufgrund der empirischen Widerlegbarkeit sind die Ansichten, die das Vorliegen einer Verfassungsnation für die Bundesrepublik Deutschland verneinen, abzulehnen. Siehe zu den empirischen Daten für die Bundesrepublik Deutschland Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, 132 f. 187 Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/93, S. 29 (32). 188 Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/93, S. 29 (35). 189 Siehe ausführlich dazu Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1161); Nicolaysen, Europarecht I, S. 106 ff.; Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 9; Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (546 ff.); aus der Rechtsprechung etwa EuGH 23.04.1985 – Les Verts/Parlament, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (1365 f.). 190 Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (548).
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1. Europäische Union als Rechtsgemeinschaft Die Qualifizierung der Gemeinschaften als Rechtsgemeinschaft geht auf Walter Hallstein zurück. Er ordnete die Gemeinschaften in dreifacher Hinsicht als Phänomen des Rechts ein: als Schöpfung des Rechts, als Rechtsquelle und als Rechtsordnung.191 Dabei kann der Begriff der Rechtsgemeinschaft als parallele Begriffsbildung zum Rechtsstaat verstanden werden.192 Mit der Anlehnung an den Rechtsstaatsbegriff wird indiziert, dass die Rechtsgemeinschaft – auch wenn sie kein Staat ist193 – doch über wesentliche Attribute verfügt, die in der Staatslehre als konstituierende Elemente der Rechtsstaatlichkeit gelten.194 Die Europäischen Gemeinschaften sind im Unterschied zu den meisten Nationalstaaten reine Schöpfungen des Rechts,195 weil sie durch eine Reihe völkerrechtlicher Verträge zwischen den Mitgliedstaaten gegründet worden sind. Die europäischen Verträge haben eine neue Ordnung geformt, die ausschließlich durch das Recht gestaltet und beherrscht wird.196 Dieser Ordnung sind die Organe der Europäischen Gemeinschaften und die Mitgliedstaaten gleichermaßen unterworfen.197 Damit beruht die Existenz der Europäischen Gemeinschaften nicht auf einer einigenden gemeinsamen Vergangenheit der Völker der Mitgliedstaaten, nicht auf sprachlicher, ethnischer Verbundenheit oder einer hegemonial-machtpolitischen Verbundenheit. Europäische Integration ist nicht wie die bisherigen (und deshalb gescheiterten) Versuche zur Einigung des Kontinents ein hegemonial-machtpolitischer Prozess, sondern die europäische Einigung vollzieht sich in den freiwilligen Bahnen des Rechts.198 Dies ist der entscheidende Unterschied zu den früheren Einigungsversuchen Europas.199 Darüber hinaus sind die Europäischen Gemeinschaften im Gegen191
Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 33. Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (546). 193 Siehe zur fehlenden Staatsqualität oben S. 59 Fn. 6. 194 Nicolaysen, Europarecht I, S. 107. 195 So ausdrücklich Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 33; Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1161); ausführlich dazu Ehlermann, FS für Carstens I, S. 81 (83 f.). 196 Siehe ausführlich zum Folgenden Nicolaysen, Europarecht I, S. 108. 197 Zur Definition der Rechtsgemeinschaft stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass „weder die Mitglieder noch die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag stehen.“ Zu den Wesensmerkmalen einer Rechtsgemeinschaft gehört dabei auch der Grundrechtschutz; vgl. EuGH 23.04.1985 – Les Verts/Parlament, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (1365 f.); EuGH 13.07.1990 – J. J. Zwartveld und andere, Rs. C 2/8, Slg. 1990 I-3365 (3372). 198 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1161 f.); Klein, in: Starck (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, S. 117 (122); Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 33. 199 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 33. 192
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satz zu anderen internationalen Organisationen selbst Quellen des Rechts,200 denn sie können selbst aufgrund eigener, von den Mitgliedstaaten übertragener Kompetenzen, Rechtsakte erlassen. Schließlich formen die Gemeinschaften durch ihre Gründungsverträge und die auf Grundlage dieser Verträge erlassenen Rechtsakte eine eigenständige Rechtsordnung.201 Das Gemeinschaftsrecht erzeugt eine geschlossene supranationale Rechtsordnung mit autonomer Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaft, mit unmittelbarer Wirksamkeit für die Bürger und mit Vorrang auch vor dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten.202 Der Bestand und die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft beruht entscheidend darauf, dass die Organe der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten diese Rechtsordnung respektieren.203 Demzufolge unterliegen die Europäischen Gemeinschaften selbst der Kontrolle durch das Recht.204 Für die Europäischen Gemeinschaften ist das Recht die zentrale Legitimationsgrundlage und ihr maßgebliches Integrationsinstrument.205 Das Recht, seine Beachtung und Durchsetzung besitzt eine ungleich größere und existentiellere Bedeutung für die europäische Identität als zum Beispiel für die einzelnen Nationalstaaten.206 Daran wird die stark identitätsprägende Bedeutung des Rechts für die Europäischen Gemeinschaften deutlich.207 Durch den Prozess der europäischen Vergemeinschaftung wurde eine neue ökonomisch-politische Ordnung mit normativem Gehalt und unmittelbarer Auswirkung auf die Lebensbedingungen der Menschen geschaffen. Europa ist zu einem Bezugsobjekt im Prozess der Identitätsbildung und Selbstbeschreibung der Bürger geworden.208 Die politischen Kategorien einer kultur- und abstammungsunabhängigen kollektiven europäischen Identität könnten sich am Modell der Verfassungsnation orientieren.209 Der Vorteil eines verfassungszentrierten 200 Dabei ist der Gerichtshof von entscheidender Bedeutung; Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 33 ff. Siehe dazu Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162); Ehlermann, FS für Carstens I, 81 (85 ff.). 201 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 35; Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162). Zu den Europäischen Gemeinschaften als Rechtsgemeinschaften in diesem Sinn vgl. EuGH 14.02.1991 – Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079 (6102) (EWG-Vertrag als Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft). 202 Siehe ausführlich dazu Nicolaysen, Europarecht I, S. 108; von Bogdandy, Integration 1993, S. 210 (213). 203 Nicolaysen, Europarecht I, S. 108 f. 204 EuGH 23.04.1985 – Les Verts/Parlament, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (1365). Siehe dazu Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162); Ehlermann, FS für Carstens I, S. 85 (91 f.). 205 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162); Klein, in: Starck (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, S. 117 (122); Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 33. 206 So ausdrücklich Ehlermann, FS für Carstens I, S. 81 (81); Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1161). 207 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162). 208 Lepsius, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 201 (206).
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Identitätsmodells auf der Ebene der Europäischen Union bestünde darin, dass es eine wirkliche Gemeinsamkeit der Europäer zum Bezugspunkt der kollektiven Identität macht, nämlich das allen Mitgliedstaaten gemeinsame europäische Verfassungsrecht.210 Die politische Kultur eines Gemeinwesens ist als Verhaltensorientierung das Ergebnis von Sozialisationsprozessen, durch die bestimmte Denk- und Glaubensmuster, Wertbeziehungen und Ordnungsvorstellungen gelernt werden. Wertorientierungen für politisches Verhalten werden durch die Rahmenbedingungen, die durch die Institutionen festgelegt werden, konkretisiert und entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit diesen Institutionen. So prägen sich politische Kultur und Institutionen gegenseitig.211 Aus der persönlichen Identifizierung der Gesellschaftsmitglieder mit dem politischen System folgt dann die wechselseitige Identifizierung der Individuen im politischen System.212 Eine zustimmungsfähige Verfassung allein ist zwar keine hinreichende Bedingung dafür, dass sich ein tragfähiges Fundament aus kollektiver Identität aufbaut. Eine Verfassung als Institution ist aber jedenfalls eine notwendige Voraussetzung für eine verfassungszentrierte kollektive Identität. 2. Verfassung im funktionalen Sinn Die bisherigen Verträge, der Europäische Verfassungsvertrag und auch der Vertrag von Lissabon sind als Verfassungen anzusehen. Der Verfassungsbegriff kann sich nicht nur auf den Staat beziehen. Historische Verfassungen213 bezogen sich zwar auf rudimentär organisierte Gebilde und waren auch von den jeweiligen faktischen Gegebenheiten abhängig. Der konstitutionalistische Verfassungsbegriff ist aber lediglich in Deutschland auf den Staat bezogen.214 Der Staat hat in anderen europäischen Staaten nicht dieselbe zentrale Bedeutung.215 209 Bejahend Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (284); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 261. 210 Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (284). 211 Lepsius, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, S. 63 (63). 212 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 182. 213 Siehe zur Geschichte des Verfassungsbegriffs Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (220 ff. m.w. N.); Schmitz, Integration in der supranationalen Union, S. 382 ff. m.w. N. 214 In Deutschland war der Staat Element des Verfassungsbegriffes zu Beginn des 19. Jahrhunderts, weil die deutsche Kulturnation gerade als Ersatz für die fehlende deutsche Staatlichkeit fungierte und die Sehnsucht nach einem einheitlichen deutschen Staat transportierte; Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162 f.); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 98 ff. 215 Demzufolge ist der Staat im angloamerikanischen Raum kein Bezugspunkt von Verfassung, sondern in Großbritannien ist es die „society“, wobei dem Staat keine rechtliche Identität zukommt. Dagegen bezieht sich im französischen Konstitutionalismus der Verfassungsbegriff auf die Nation. Siehe ausführlich zu den Verfassungsbe-
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1. Teil: Kollektive Identität
Der Staat war die ursprüngliche Form der politischen Herrschaft, die mit Hilfe der Verfassung geordnet und begrenzt werden sollte.216 Außerdem wurde bis in die jüngere Vergangenheit Hoheitsgewalt nur von Staaten ausgeübt. Insofern bestand kein Anlass, den Verfassungsbegriff vom Staat zu lösen, um ihn auf andere überstaatliche Organisationen anzuwenden.217 Ein rein nationalstaatlicher Verfassungsbegriff erscheint aber angesichts der zunehmenden Verflechtung des nationalen Rechts mit internationalen Strukturen und der verschiedenen nationalen und supranationalen Akteure nicht mehr angemessen. So lassen sich beispielsweise im Grundrechtsbereich Verfassungsinhalte nur noch durch Aufschlüsselung der wechselseitigen Verwiesenheit und Verbundenheit von nationaler und europäischer Ebene darstellen.218 Im Ergebnis ist von einem funktionalen Verfassungsbegriff auszugehen, der auf den Staat bezogen sein kann, aber nicht muss.219 Die bisherigen Verträge sind daher als Verfassung im funktionalen Sinn zu verstehen. Bisher hat sich die Europäische Union aber noch kein ganzheitliches Verfassungsdokument als Orientierungspunkt für die Bürger gegeben. Vielmehr existiert eine Vielzahl von Verträgen, so dass sich eine kollektive, auf die Verfassung bezogene Identität der Bürger schwerlich auf ein Dokument fokussieren kann. Der Europäische Konvent hat zwar im Jahre 2003 einen Entwurf für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa ausgearbeitet. Dieser hätte allerdings gemäß Art. IV-447 VVE von den Mitgliedstaaten der Union nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert werden müssen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Der am 13. Dezember 2007 verabschiedete Vertrag von Lissabon gibt das Konzept einer Verfassung im formellen Sinn auf. Er sieht lediglich Änderungen des EG-Vertrages, der in Vertrag über die Arbeitsweise der Union umbenannt wird, und des EU-Vertrages vor. Damit wurde die Chance vertan, dass die wesentliche Voraussetzung einer Verfassungsnation auf europäischer Ebene in Form eines ganzheitlichen Verfassungsdokumentes erfüllt sein wird. 3. Ausgangssituation Darüber hinaus befindet sich die Europäische Union in einer völlig anderen Ausgangssituation als die Verfassungsnationen USA und Bundesrepublik Deutschland. In den USA hatte die Verfassung eine besondere Konstituierungsgriffen Großbritanniens und Frankreichs Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 45 ff.; Huber, VVDStRL 60 (2001) S. 196 (198); Pache, EuR 2002, S. 767 (771 f.); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 95 ff.; Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (156 f. m.w. N.). 216 Huber, VVDStRL 60 (2001), S. 196 (198 f.). 217 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1163). 218 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), S. 290 (293). 219 Huber, VVDStRL 60 (2001), S. 196 (199).
2. Kap.: Konstruktion von Identität in Gemeinwesen
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funktion für die „neue“ Nation.220 Die Verfassung setzte nicht nur den Bundesstaat an die Stelle eines losen Staatenbundes. Vielmehr etablierte die Verfassung überhaupt erst eine „nationalstaatliche“ Ordnung. Denn vor der Verfassungsgebung waren die USA eine Gesellschaft ohne Staat. Darum schuf erst die Verfassung von 1787 überhaupt ein Zentrum und wurde so Kristallisationspunkt der nationalen Identität. In der Bundesrepublik Deutschland war demgegenüber das nationale Selbstverständnis nach den Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges 1945 zerstört. Dies war der maßgebliche Grund dafür, dass sich die Identifikation und die nationale Selbstbestimmung der Bürger auf das Grundgesetz richteten. Innerhalb der Europäischen Union stellt sich aber keine zu den USA oder der Bundesrepublik Deutschland vergleichbare Situation dar. Die Herausforderung besteht nicht so sehr darin, etwas Neues zu erschaffen, sondern die Errungenschaften des Nationalstaates über dessen nationale Grenzen hinaus in einer anderen Form zu bewahren.221 Der Europäische Verfassungsvertrag sollte die bisherigen Verträge in ein einheitliches Dokument überführen, er sollte nicht erst die europäische Ordnung konstituieren. Außerdem ist das europäische Selbstverständnis nicht völlig gebrochen, wie dies in Deutschland nach 1945 der Fall war. Insofern weicht die Ausgangslage auf der Ebene der Europäischen Union erheblich von der der beiden verfassungsorientierten Nationen USA und Bundesrepublik Deutschland ab. Allerdings lässt die Erkenntnis, dass kollektive Identität sich anhand sozialer Konstrukte bildet, ein mittelfristiges politisches Projekt europäischer Identitätsbildung durch einen expliziten Verfassungstext grundsätzlich möglich erscheinen.222 Mit dem Modell einer an dem europäischen Primärrecht orientierten Identität kann zumindest die Richtung angegeben werden, in die der europäische Integrationsprozess weiterlaufen kann.223
K. Zwischenergebnis Eine für den politischen Zusammenhalt maßgebliche europäische Identität ergibt sich folglich nicht über die Vergleichbarkeit der Identitätsbildungsprozesse einer Sprach-, Geschichts-, Kultur- oder Volksnation, sondern über die für die Verfassungs- oder Staatsbürgernation maßgeblichen rechtlichen Kategorien.224 Damit erscheint die Möglichkeit einer europäischen Identitätsstiftung durch eine Verfassung nicht von vornherein gänzlich ausgeschlossen. 220 Siehe ausführlich zu den Vereinigten Staaten Vorländer, Amerikastudien 34 (1989), S. 69 (77). 221 So Habermas, DIE ZEIT Nr. 27 vom 28. Juni 2002, S. 7. 222 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (171 f.). 223 Ähnlich Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 262. 224 Ebenso Pfetsch, Die Europäische Union, S. 113.
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1. Teil: Kollektive Identität
3. Kapitel
Notwendigkeit kollektiver Identität und Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht Europäische Identität wird verstanden als ein die nationale Orientierung übergreifendes Konzept, das von dem einzelnen Bürger als für seine Selbstdefinition relevant wahrgenommen wird.1 Im folgenden Abschnitt soll die Bedeutung kollektiver Identität für die Legitimierung von Herrschaftssystemen dargestellt werden. Der Rückgriff auf die staatliche Ebene erscheint zunächst zweckmäßig zur Klärung des Zusammenhangs von kollektiver Identität und Legitimität für die Untersuchung der europäischen Identität. Da der moderne Nationalstaat die einzige Vergleichsmöglichkeit für großräumige Transformationsprozesse kollektiver Identitäten ist, muss man sich bei der Frage nach dem Zusammenhang von Legitimität und kollektiver Identität an den theoretischen Modellen orientieren, die für die Nationalstaaten entwickelt wurden.
A. Das Verhältnis von kollektiver Identität, Legitimität und Verfassung I. Legitimität Für die Betrachtung des Verhältnisses von Legitimität und kollektiver Identität ist es erforderlich, den Legitimitätsbegriff zu erläutern. Zunächst ist der Begriff der Legitimität von dem der Legalität abzugrenzen. Legalität wurde als Begriff gegen Ende des 18. Jahrhunderts geprägt und bezeichnet vor allem die formale Gesetzmäßigkeit, die äußere Rechtmäßigkeit des Handelns.2 Der Begriff der Legitimität dagegen bezeichnet in der Sprache des Mittelalters eine gegen Tyrannei und Usurpation gerichtete Kategorie, die sich sowohl auf die Qualität der Herrschaft bezog als auch auf die Ableitung dieser Herrschaft in Form des Gottesgnadentums.3 Umfassende völkerrechtliche und staatsrechtliche Bedeutung erlangte der Begriff als politischer Kampfbegriff der Restauration nach dem Wiener Kongress von 1814/15. Der Begriff diente in der Zeit der Restauration zur Differenzierung zwischen der legitimen, weil histo1 Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (42). 2 Guggenberger, in: Mickel/Zitzlaff (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, S. 267 (268). 3 Die folgenden Ausführungen zur Begriffsgeschichte stützen sich auf Guggenberger, in: Mickel/Zitzlaff (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, S. 267 (269 f.).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
95
risch angestammten Herrschaft und der illegitimen, weil usurpiert oder revolutionär etablierten Herrschaft. Im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert werden verschiedene Legitimitätsbegriffe verwendet. Legitimität ist zunächst die konstitutive Bedingung eines demokratischen politischen Systems, das auf Dauer nur als legitimes System lebensfähig ist.4 Effektivität und Dauer von Herrschaft sind abhängig von ihrer Legitimität.5 Legitimation meint in diesem Zusammenhang den Prozess zur Herstellung von Legitimität.6 Legitimität ist die Rechtfertigung von Herrschaft durch allgemein verbindliche Prinzipien; sie gehört zum Kern des Politischen.7 Einige sehen eine kollektive Identität als das elementare Konstruktionsprinzip moderner Gesellschaften an.8 Nach dieser Ansicht bildet kollektive Identität die Grundlage für die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. Sie ist die legitimatorische Rechtfertigung für die Ausübung von Herrschaftsgewalt.9 Kollektive Identität ist nach dieser Theorierichtung notwendig für die Funktionsfähigkeit und Dauerhaftigkeit der Demokratie und sie ist zugleich die Grenze demokratischer Prinzipien.10 Es wird argumentiert, dass sich Herrschaft auf politische Legitimität stützt, während die Legitimität ihrerseits auf der Identifikation der Bürger mit ihrer Gesellschaft beruht.11 Andere wiederum verneinen die Notwendigkeit kollektiver Identität für Gemeinwesen vollständig.12 Die deutsche Staats- und Verfassungsrechtswissenschaft hat aber insgesamt eine Vorliebe für das Modell des Konsenses in den einheitstheoretischen Modellen gegenüber einem Gesellschaftsmodell des Konflikts und der Auseinandersetzung in den differenztheoretischen Modellen.13 Dabei werden lästige politische Konflikte durch eindeutige Lösungen zu ersetzen versucht.14 Dabei wird die Frage der Notwendigkeit einer kollektiven Iden4
Habermas, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 39 (40). Puntscher Riekmann, FS für Mantl II, S. 1101 (1107). 6 Suski, Das Europäische Parlament, S. 105. 7 Puntscher Riekmann, FS für Mantl II, S. 1101 (1107). 8 Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (14). 9 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1156). 10 Suski, Das Europäische Parlament, S. 105. 11 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 23. 12 Zum Beispiel Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (44 ff.); Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 282 ff.; Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (837 ff., v. a. 841); Leisner, JZ 2002, S. 735 (740 f.); Dubiel, in: Heitmeyer (Hrsg.) Was hält die Gesellschaft zusammen? Band 2, S. 425 (427); Neidhardt, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 15 (20, 28). 13 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (45). 14 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 170 f. 5
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1. Teil: Kollektive Identität
tität für die Legitimität von Herrschaft anhand der Begriffe „Homogenität“ und „Grund- oder Minimalkonsens“ diskutiert. Die Begrifflichkeiten „Integration“, „Grundkonsens“, „Grundwerte“ oder „Homogenität“ erscheinen in diesem Zusammenhang oft in äquivalenter oder sogar synonymer Verwendung.15 Die Aussagen der Staats- und Verfassungsrechtwissenschaft zu den anderen Stichworten können damit auch als Aussagen zum Identitätsthema dienen. II. Verfassung und kollektive Identität Aus dem Verhältnis der einzelnen Theorien zu kollektiver Identität und Legitimität ergeben sich theoretische Folgerungen für die Stiftung kollektiver Identität durch eine Verfassung. Der Stellenwert einer Verfassung im Prozess der Identitätsbildung eines Gemeinwesens wird unterschiedlich verortet, je nachdem ob eine kollektive Identität als Voraussetzung für die Legitimität eines Gemeinwesens bestimmt wird oder ob sie als entbehrlich angesehen wird. An dem im 2. Kapitel erörterten Beispiel der Verfassungsnation wurde deutlich, dass Verfassungen in der Vergangenheit Identität stiften und damit auf die Integration eines Gemeinwesens hinwirken konnten. Verfassungsrecht wurde dann zum maßgeblichen Bezugspunkt von kollektiver Identität, wenn die Orientierung an einer gemeinsamen Geschichte oder an anderen vorrechtlichen Gemeinsamkeiten eher schwach war.16 Gerade die deutsche Staatsrechtslehre hat sich infolge ihrer massiven historischen Umbrüche intensiv mit der Problematik kollektiver Einheitsbildung auseinander gesetzt. Daher besitzen die Theorien der Staatsund Verfassungsrechtswissenschaft für die Frage der Stiftung einer nationalen und europäischen Identität durch Verfassungsrecht eine große Aussagekraft.17 Rechtliche Normierungen in einer Verfassung zielen darauf ab, bestimmte gesellschaftliche Effekte zu bewirken.18 Die Integration eines Gemeinwesens ist aus diesem Grund eine mittlerweile anerkannte Verfassungsfunktion.19 Damit wird die Fähigkeit einer Verfassung angesprochen, ein Gemeinwesen oder eine Gesellschaft mit Mitteln des Rechts zusammen zu halten.20 Diesbezüglich ergibt sich das Problem der Verknüpfung von Recht und den tatsächlich stattfindenden 15 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (159). Für die Begriffe der Weimarer Staatsrechtslehre als Themen der Einheitsbildung siehe Robbers, Jura 1993, S. 69 (72); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (109). 16 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (162); Calliess, JZ 2004, S. 1034 (1044). 17 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1160). 18 Derartige angestrebte Effekte sind zum Beispiel eine höhere Zustimmung der Bürger zur Verfassung oder ein effizienteres Funktionieren politischer Prozesse, vgl. Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 58. 19 Siehe dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 6 ff. 20 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (118).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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integrativen oder desintegrativen Gesellschaftsprozessen. Die Thematik einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht bewegt sich in dem Spannungsfeld zwischen der Gesellschaft und der Verfassung eines Gemeinwesens.21 Eine Verfassung formuliert zunächst nur bestimmte Anforderungen an gesellschaftliche Verhältnisse und enthält das normative Programm für deren Ausformung. Allerdings muss die gesellschaftliche Wirklichkeit dem in der Verfassung formulierten normativen Programm nicht zwangsläufig entsprechen. Es hängt vielmehr von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab, ob der normative Gestaltungsanspruch der Verfassung auch tatsächlich verwirklicht wird. Diesbezüglich muss man zwischen der Verfassung als rechtlicher Norm und der gesellschaftlichen Wirklichkeit bzw. der Verfassungswirklichkeit differenzieren. Denn die rechtlich normierte Verfassung beeinflusst in der Regel die tatsächliche Verfassungswirklichkeit. Ebenso unterliegt auch die rechtlich normierte Verfassung den Maßgaben der gesellschaftlichen Verfassungswirklichkeit.22 Wenn man die Möglichkeit einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht erörtern will, muss man also vor allem die Wechselbeziehung zwischen einer Verfassung im normativen Sinn und der gesellschaftlichen faktischen Verfassungswirklichkeit untersuchen. III. Bezugnahme auf die Weimarer Staatsrechtslehre Wenn die öffentliche Gewalt nicht nur von staatlichen, sondern wie im Fall der Europäischen Gemeinschaften auch von einer supranationalen Organisation ausgeübt wird, besteht grundsätzlich dasselbe Bedürfnis nach den klassischen Verfassungsfunktionen.23 Die Europäische Union bedarf einer ihr angemessenen Verfassungstheorie hoheitlicher Herrschaft. In der verfassungstheoretischen Diskussion um die identitätsstiftende Rolle von Verfassungsrecht wird in der Regel direkt oder indirekt auf die Weimarer Staats- und Verfassungslehre Bezug genommen. Viele Staats- und Verfassungsrechtler stehen in der Tradition bedeutender Weimarer Staatsrechtslehrer und sind von deren Lehre maßgeblich geprägt worden.24 Jedoch hat keiner der Weimarer Staatsrechtler voraussehen kön21 Siehe ausführlich zum Folgenden Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 53. 22 Dieter Grimm formuliert die dargestellte Wechselbeziehung für das deutsche Grundgesetz folgendermaßen: „Es handelt sich um die Frage, was Verfassungen sollen und was Verfassungen können. Sie hängen freilich eng miteinander zusammen, weil einerseits das Ziel nicht ohne Rücksicht auf die Realisierungsmöglichkeiten bestimmt, andererseits aber die Realisierungspotenz nur in Kenntnis des Ziels geprüft werden kann. Insofern ist die erste Frage vorrangig, jedoch stets der Korrektur durch die zweite zu unterwerfen. Erst mit der Beantwortung dieser beiden Fragen gewinnt man ein Bezugssystem, innerhalb dessen sich die einzelnen Verbesserungsvorschläge beurteilen lassen.“ Vgl. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 313. 23 Papier, EuGRZ 31 (2004), S. 753 (753). 24 Siehe zu den „Denkkollektiven“ der deutschen Staatsrechtslehre in Hinblick auf Rudolf Smend und Carl Schmitt ausführlich bei Günther, Denken vom Staat her,
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1. Teil: Kollektive Identität
nen, für welche Fragen ihre Staats- und Verfassungslehren einmal Bedeutung erlangen könnten. Daher birgt die Bezugnahme auf deren Konzeptionen für die Integrationsproblematik der Europäischen Union die Gefahr, dass die Theorien der Weimarer Staatsrechtslehre ihrem zeitlichen Kontext entrissen und ahistorisch fehl interpretiert werden.25 Insofern stellt sich die Problematik einer unzeitgemäßen Übertragung bestimmter nationalstaatlicher Kriterien auf das supranationale Gemeinwesen der Europäischen Union. Denn die Theorien der Weimarer Staatsrechtslehre können aufgrund ihrer Nationalstaatsbezogenheit nicht zu den Ergebnissen führen, die dem politischen System der supranationalen Union unmittelbar entsprechen. Aufgrund dessen, dass die Weimarer Staatsrechtslehre eine eminent politische Lehre war, wird grundsätzlich bezweifelt, ob sie das Wachsen supranationaler öffentlicher Existenz adäquat erfassen kann.26 Das alles beherrschende Thema der Weimarer Staatsrechtslehre war die Identität und Einheit der noch ungefestigten Demokratie. Die gemeinsame Fragestellung war, ob und wie staatliche und gesellschaftliche Einheit nach dem Ersten Weltkrieg (wieder) hergestellt werden konnte.27 Die Frage der Einheit war kein abstraktes akademisches Thema. Das Land war infolge des verlorenen Ersten Weltkrieges zerrissen. Darüber hinaus musste der Übergang von der Monarchie zur Demokratie bewältigt werden. Breite Bevölkerungsschichten waren kulturell und sozial heimatlos.28 Aufgrund des Wegfalls der alten Ordnungsprinzipien des
S. 112 ff. Für Rudolf Smend siehe auch Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (30). Für Carl Schmitt siehe Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 18, der annimmt, dass es innerhalb der konservativen Richtung der Nachkriegszeit kaum einen Autor gibt, der nicht von Schmitt beeinflusst wäre. Siehe insgesamt Möllers, Staat als Argument, S. 4; Preuß, in: Göbel/van Laak/ Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 177 (177). 25 Siehe ausführlich dazu Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (163). 26 Robbers, Jura 1993, S. 69 (73). 27 Robbers, Jura 1993, S. 69 (72); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (108). Die Weimarer Staatsrechtler kommen in ihren Theorien aber zu jeweils unterschiedlichen Folgerungen hinsichtlich des Problems der Notwendigkeit staatlicher Einheit. Daher werden die vier Weimarer Staatsrechtslehrer Kelsen, Smend, Schmitt und Heller auch als „Problemgemeinschaft“ und gerade nicht als „Problemlösungsgemeinschaft“ bezeichnet. Vgl. zum Ganzen Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (418 f.). 28 Robbers, Jura 1993, S. 69 (72); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (108); Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 75. Als der eigentliche Grund für den Weimarer Richtungsstreit kann daher vor allem der abrupte Wechsel von der hierarchischen Monarchie zu dem neuen parlamentarischen-demokratischen System benannt werden. In der Weimarer Republik stellte sich erstmals die Problematik, wie politische Bekenntnisse methodisch überzeugend in verfassungsrechtliche Lehrmeinungen gefasst werden können. Eine ausführliche Darstellung der Gründe für die in der Weimarer Republik stattfindende Verrechtlichung der Politik und die gleichzeitige Politisierung des Verfassungsrecht findet sich bei Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (411 f.).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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Kaiserreiches und einer neuen pluralistischen Situation in der Weimarer Republik entstand das Bedürfnis nach verbindlichen Orientierungspunkten.29 Auch bei der Entwicklung der Europäischen Union geht es – ebenso wie zur Zeit der Weimarer Republik – um politische Einheitsbildung und Integration. Demnach könnte ein Rückgriff auf die Erkenntnisse einer ähnlichen Zeit zu einer Quelle für neue Ideen und Ansätze werden.30 Durch den Rückgriff auf die Weimarer Staatsrechtslehre kann sich so die Möglichkeit ergeben, eingefahrene nationalstaatsbezogene Argumentationsmuster in der Debatte um die europäische Integration zu überwinden.31 Darüber hinaus ist sie ein Beispiel für die Bemühungen, die erforderlich sind, damit eine Verfassung und ihr Gemeinwesen nicht zerbrechen.32 Die ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden haben deutlich gemacht, dass die Gefahr einer unzureichenden Integration auch den Prozess der europäischen Einheitsbildung betrifft. Ferner hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung in einem entscheidenden Teil der Argumentation zur europäischen Integration auf den Weimarer Staatsrechtler Hermann Heller verwiesen.33 Das Wesen von Politik und Recht und das Verhältnis von Einheit und Vielheit ist einer der Schwerpunkte der Weimarer Diskussion.34 In jedem politischen Gemeinwesen, das rechtlich verfasst ist, stehen Politik und Recht in einem Spannungsverhältnis. Dies gilt für Staaten ebenso wie für die von Staaten geschaffenen internationalen Organisationen und auch für die Europäischen Gemeinschaften.35 Legitimität und Demokratie beruhen auf Konzepten, die trotz der komplexen Geschichte ihrer Entstehung gleich bleibenden Prinzipien gehorchen und daher auf alle Gemeinschaften anwendbar sind, auf nationale ebenso wie auf supranationale.36 Die innerhalb der Weimarer Staatsrechtslehre stattfindende Diskussion um das Verhältnis von Politik und Recht ist also auch im Hinblick auf die europäische Integration nach wie vor aktuell.37 Aus den unterschiedlichen Ansätzen der Weimarer Staatsrechtslehre zur Lösung des Verhält-
29
Geis, JuS 1989, S. 91 (95); Robbers, Jura 1993, S. 69 (72). So vertreten von Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (29); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (109). 31 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (163). 32 Robbers, Jura 1993, S. 69 (73). 33 BVerfGE 89, 155 (185 f.). Siehe dazu Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (176). 34 Geis, JuS 1989, S. 91 (91); Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (157); Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 102. 35 Ehlermann, FS für Carstens I, S. 81 (81). 36 Puntscher Riekmann, FS für Mantl II, S. 1101 (1109). 37 Vgl. Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (400). 30
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1. Teil: Kollektive Identität
nisses von Politik und Recht folgen sehr unterschiedliche Positionen zur europäischen Integration. Daher ist die Darstellung der wichtigsten Positionen der Weimarer Staatsund Verfassungsrechtslehre für die nachfolgende Untersuchung unentbehrlich. Denn die staats- und verfassungsrechtliche Diskussion um die Konzeption von Einheit und Integration wurde und wird mit dem Anspruch auf verfassungsrechtliche Umsetzbarkeit geführt.38 Im Folgenden sollen diejenigen Theorien dargestellt werden, die im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs weiterhin einflussreich sind. Es werden exemplarisch die Aussagen der vier Weimarer Staatsrechtler Hans Kelsen, Hermann Heller, Carl Schmitt und Rudolf Smend erörtert. Dabei soll die Aussagekraft ihrer Lehren für die Fragestellung des Verhältnisses von kollektiver Identität und Legitimität sowie für das Problem einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht auf der Ebene der Europäischen Union überprüft werden. Zunächst ist das Verhältnis von kollektiver Identität und Legitimität zu klären. Die unterschiedlichen Ansätze der Weimarer Staatsrechtslehre könnten Aussagen treffen über die verfassungsrechtliche Gestaltung der europäischen Integration.39 Die Theorien der Weimarer Zeit müssten vom Nationalstaat ablösbar sein, so dass sie fruchtbar gemacht werden können für eine verfassungstheoretische Erfassung der europäischen Integration. Es soll dabei besonderes Augenmerk auf den Staats- und Verfassungsbegriff und die darin enthaltenen Implikationen für die Einheitskonzeption der jeweiligen Theorie gelegt werden. Ebenso ist die Erörterung der Bundesstaatskonzeption von großem Interesse. Staatstheoretische Reflexionen auf den Bundesstaatsbegriff haben zwar zunächst mit dem Integrationsprozess und der europäischen Rechtsordnung wenig zu tun, denn die Europäische Union ist kein Staat,40 da die unbegrenzte Staatsgewalt in Form der Kompetenz-Kompetenz fehlt.41 Es geht daher bei der Anwendbarkeit des Bundesstaatskonzepts auf die europäische Integration nicht um eine apriorische Qualifizierung des Entwicklungsprozesses der Europäischen Union als auf einen zukünftigen Bundesstaat gerichtet. Die Europäische Union weist aber Ähnlichkeiten mit einem föderalen Staat auf, da ihr Zusammenschluss auf Dauerhaftigkeit und auf eine gemeinsame Zukunft sowohl der Mitgliedstaaten als
38 Siehe zum Methoden- und Richtungsstreit der Weimarer Staatsrechtslehre Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 155 ff. 39 Siehe zum Folgenden ausführlich Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (109). 40 Im Gegensatz dazu werden die Bundesstaaten als historisch ausgereifte Ordnungen in der Regel als Staaten angesehen; vgl. Tsatsos, EuGRZ 1995, S. 287 (291). Eine a. A. dazu vertrat aber Heller, Die Souveränität, S. 31 (134 f.; 140; 169 f.). Siehe zu Heller auch Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (172); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 179. 41 Weber, JZ 1993, S. 325 (328). Siehe dazu auch oben S. 91 Fn. 209.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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auch der Menschen gerichtet ist.42 Im bisherigen Gemeinschaftsrecht sind stark föderative Elemente erkennbar, so dass die jeweilige Konzeption zum Bundesstaat als Anregung für das Nebeneinander politischer Einheiten herangezogen werden kann.
B. Rechtspositivismus Hans Kelsens: Entbehrlichkeit kollektiver Identität für Legitimität Hans Kelsen (1881–1973)43 war beeinflusst vom Neukantianismus und vertrat die These von der ursprünglichen und unüberwindlichen Trennung von Sein und Sollen.44 Er beschäftigte sich vor allem mit Methodenfragen und machte das Verhältnis von Politik und Recht zum Gegenstand seiner Überlegungen.45 Seine Lösung bestand aber nicht in der Integration der beiden Bereiche, sondern er trennte sie strikt voneinander.46 Sein und Sollen stellen demzufolge zwei gänzlich voneinander unabhängige Bereiche dar.47 Kelsen trennt die Wirklichkeitsseite und die normative Seite des Staates streng voneinander und sieht als Recht nur die lex scripta an. Damit bildet die Konzeption von Hans Kelsen den gedanklichen Höhepunkt des Rechtspositivismus.48 42 Siehe ausführlich dazu Schmitz, Integration in der supranationalen Union, S. 386 f. und oben S. 59 f. 43 Sein Hauptwerk war die „Reine Rechtslehre“, die im Jahr 1934 erschien; Robbers, Jura 1993, S. 69 (69). 44 Nach Kelsen kann der Unterschied zwischen Sein und Sollen nicht näher erklärt werden, denn er sei unserem Bewusstsein unmittelbar eingegeben. Mit der Aussage, dass etwas ist, wird eine Seinstatsache beschrieben. Diese Aussage ist aber wesentlich verschieden von der Aussage, dass etwas sein soll. Denn mit dieser Aussage wird eine Norm beschrieben. Daher kann daraus, dass etwas ist, nicht folgen, dass etwas sein soll. Ebenso wenig kann daraus, dass etwas sein soll, gefolgert werden, dass etwas ist. Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 5. Ansonsten kommt man nach Kelsen zu einem infiniten Regress, Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 37. Die These der Unterscheidung von Sein und Sollen wurde ursprünglich vom Neukantianismus des 19. Jahrhunderts entwickelt; vgl. Robbers, Jura 1993, S. 69 (70); Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 164 f., 168. Siehe zum staatsrechtlichen Positivismus auch Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (201 ff.). 45 Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (418). 46 Die Reine Rechtlehre ist eine Theorie des positiven Rechts. Zum einen muss sich nach Kelsen die Rechtswissenschaft als Normwissenschaft von den Kausalwissenschaften abgrenzen. Zum anderen gilt es, die Jurisprudenz aus den Verflechtungen der anderen Normwissenschaften, zu lösen. Kelsen kritisiert zum Beispiel die kritiklose Vermengung der Jurisprudenz mit Psychologie, Soziologie, Ethik und politischer Theorie. Darüber hinaus muss auch die Moral strikt vom Recht getrennt werden; vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 1 ff.; S. 60 ff. Siehe dazu Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (418); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 58. 47 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 58. 48 Der Konflikt zwischen rechtspositivistischem Denken und überpositivistischer Rechtsüberzeugung prägte die Rechtswissenschaft insgesamt, das Recht, die Philoso-
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1. Teil: Kollektive Identität
Kelsen hat darüber hinaus eine Theorie der identitätsstiftenden Einheit der Rechtsordnung entwickelt.49 Er wollte durch die Ausarbeitung rechtlicher Formen zur Vereinheitlichung einer staatlich verfassten Gesellschaft beitragen.50 Kelsens Lehre kann als Bemühen gedeutet werden, durch die Entwicklung eines durchrationalisierten Konzepts zur Denk- und Herstellbarkeit der Einheit der Rechtsordnung zu einer soziologischen Einheit des Staates beizutragen.51 I. Identität von Staat und Recht Kelsen distanziert sich von jeder Form substantialistischer Einheitskonzeption, wie sie sich zum Beispiel im Werk von Carl Schmitt findet.52 Der Gedanke einer gleichsam mystischen Identität zwischen dem Willen der Repräsentanten und dem der Repräsentierten53 ist nach seiner Auffassung eine bloße Fiktion.54 Er reduziert den Staat auf das Recht;55 der Staat werde durch die Rechtsordnung konstituiert. Demzufolge sei er nur durch die Rechtsordnung Staat. Der Staat tritt der Rechtsordnung nicht als etwas Wesensverschiedenes gegenüber und das Recht wird auch nicht als bloßer Teil des Staates begriffen.56 Denn die spezifische Einheit des Staates liegt nach Kelsen nicht in der Naturwirklichkeit, sondern in der Wirklichkeit der Normen.57 Der Staat ist seiphie und schließlich die Verfassungsgeschichte vielfach und hatte einige Umbrüche zur Folge; vgl. Geis, JuS 1989, S. 91 (91, 93). 49 Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 143. 50 Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 161. 51 An dieser Stelle kann man mit Vorsicht Parallelen zur augenblicklich nach Deutschland vordringenden Diskussion der politischen Philosophie um die Einheit des Staates ziehen. Demnach wäre Kelsen der diskurstheoretischen oder liberalen Richtung zuzuordnen. Dafür spricht, dass Habermas mit seiner Diskurstheorie den Gedanken von Kelsen übernommen hat, dass der Diskurs und die Möglichkeit der Verständigung elementare Voraussetzungen der Integration und Demokratie sind; vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 324; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 65 f. Siehe dazu Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (419). 52 Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (419). 53 So vertreten von Carl Schmitt, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 234 f.; Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 20. Siehe dazu Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 77, 79; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 179. 54 Denn das Wesen der repräsentativen Demokratie bestehe – im Gegensatz zu ihrer Bezeichnung – gerade darin, dass nicht das Volk, sondern das Parlament zur Gesetzgebung berufen ist und in dieser Funktion vom Volk unabhängig ist; vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 315. Siehe dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 77. 55 Geis, JuS 1989, S. 91 (92); Möllers, Staat als Argument, S. 36. 56 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 60; Otten, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 25 (47). 57 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 17; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 289 f. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 37.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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nem Wesen nach ein Normensystem und damit identisch mit seinen rechtlichen Regeln. Erst das Recht mache demzufolge eine soziale Gemeinschaft zum Staat.58 Damit hat Kelsen eine einheitlich normative Betrachtungsweise des Staates als System von Rechtsnormen vorgelegt.59 Kelsen interessiert sich nicht für die soziologische Seite des Staates im Sinne der Zwei-Seiten-Lehre Jellineks.60 Denn die Identität des Erkenntnisstandes sei nur durch die Identität des Erkenntnisprozesses gewährleistet.61 Also sei es methodisch nicht möglich, einen Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnisweise durch zwei verschiedene wissenschaftliche Methoden – nämlich der Rechtswissenschaft und der Soziologie – zu untersuchen, deren Erkenntnisrichtungen voraussetzungsgemäß gänzlich auseinander fallen.62 Daher kann bei einer Befas58 Kelsen wollte zeigen, dass es die Rechtsordnung ist, die den Gegenstand der Staatssoziologie vorgibt. Ein eigener faktischer Staatsbegriff muss nach Kelsen hierzu nicht herangezogen werden. Denn immer wenn die Soziologie das Faktum Staat beschreiben will, beschreibt sie infolge der Identität von Staat und Recht, die staatliche Ordnung, also das Recht. Er versucht so nachzuweisen, dass es einen nichtrechtlichen Staatsbegriff nicht gibt. Damit bestimmt für Kelsen die Rechtswissenschaft den Gegenstand der Rechts- oder Staatssoziologie. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 42 f.; Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (208); Robbers, Jura 1993, S. 69 (70); Geis, JuS 1989, S. 91 (92). 59 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 60. 60 Jellineks rechtspositivistische Theorie des Staates unterscheidet für das Gebilde „Staat“ eine faktische und eine normative Beschreibungsebene. Nach Jellinek stellt der Staat eine teleologische Einheit dar, die eine subjektive Konstruktion sozialpsychologischer Art ist. Einheit in diesem Sinne ist also eine Vorstellung, die von allen geteilt wird und damit eine eigene Wirklichkeit gewinnt. Jellinek stellt aber den Staat trotzdem als vorrechtliche politisch-soziale Einheit dar, die faktische Seite des Staates geht nach Jellinek der rechtlichen also voraus. Die Gründung und Entstehung von Staaten sei aber nicht rechtlich erfassbar. Bei der Umwandlung faktischer Herrschaft in rechtliche Herrschaft handele es sich demzufolge um einen sozialpsychologischen Bewusstseinsprozess, der sich rein innerlich in den Köpfen der Menschen vollzieht. Dies ist Jellineks Lehre von der normativen Kraft des Faktischen. Er verlangte für die Rechtsgeltung auch die dauerhafte psychische Anerkennung der neuen Norm. Damit ist Jellineks Lehre auf einen sozialpsychologisch fundierten Rechtsbegriff zurück zu führen. Die Theorie der normativen Kraft des Faktischen koppelt die Herrschaftsgewalt an außerstaatliche Zusammenhänge in Form der sozialpsychologischen Bewusstseinsprozesse. Für Jellinek ist nämlich die rechtliche Methode die widerspruchsfreie Konstruktion sozialpsychologischer Vorstellungen, die sich die Beteiligten von rechtlichen Zusammenhängen machen. Trotz des trennenden Methodenimperativs wurzelt deshalb für Jellinek auch die normative Betrachtungsebene letztlich im Faktischen; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 10 ff., 50 ff., v. a. S. 332 ff., 339 ff., 367 ff. Siehe ausführlich dazu die umfassende Darstellung von Möllers, Staat als Argument, S. 12 ff. Siehe insgesamt zur positivistischen und antipositivistischen Strömung Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 91 ff. 61 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 7. 62 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 6. Siehe dazu Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (207); Möllers, Staat als Argument, S. 37.
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1. Teil: Kollektive Identität
sung der Rechtswissenschaft als normativer Wissenschaft mit dem Staatsbegriff dieser ebenfalls nur ein normativer sein. Aus der Identität von Staat und Recht folgt, dass das Volk bei Kelsen nicht der Rechtsordnung voraus liegt, sondern eine Funktion der Rechtsordnung ist.63 Kelsen negiert zwar nicht die soziologische Seite des Staates 64 – wie das Vorliegen einer kollektiven Identität. Er hält aber die psychologische und soziologische Frage, warum Menschen sich faktisch an das Recht halten, für juristisch irrelevant.65 Insbesondere sei es nicht möglich, irgendeine Art von seelischer Wechselwirkung aufzuzeigen, die unabhängig von der rechtlichen Bindung alle zu einem Staat gehörigen Menschen zusammenschließe.66 Kelsen kritisiert damit die Annahme des Sozialpsychologen Simmel67, dass eine Vielheit von Menschen dann eine Einheit bilden soll, wenn diese Menschen miteinander in seelischer Wechselwirkung stehen.68 Eine derartige sozialpsychologische Betrachtung des Staates widerspricht nach Kelsen offenkundigen Tatsachen. Die zu ein und demselben Staat gehörenden Menschen stünden untereinander durchaus nicht notwendig und immer in einem Verhältnis intensiver Wechselwirkung. Die Zugehörigkeit zu einer – nicht notwendigerweise mit der staatlichen Gemeinschaft zusammenfallenden – Volks-, Religions-, Klassen- oder Weltanschauungsgemeinschaft schafft nach seiner Ansicht oftmals eine viel engere seelische Verbindung der Menschen, ohne dass damit die Einheit des Staates in Frage gestellt wäre. Daher sind die zu ein und demselben Staat gehörigen Menschen Kelsen zufolge eher in zahlreiche Gruppen getrennt und sogar mit den Menschen anderer Staaten zu den verschiedensten Gemeinschaften verbunden.69 63 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 15 f. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 52. 64 Dies ist ein häufiger Vorwurf, der sich schon bei Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (131) findet. Der Vorwurf der Negierung der sozialen Seite des Staates ist aber ungenau. Kelsen ignorierte die außerrechtliche, soziale Seite des Staates nur in seiner Methodik und nur bzgl. deren Normativität. Er hat diese Seite nicht in den Staatsbegriff aufgenommen. Er hat aber die sozialen und kulturellen Faktoren nicht vollständig ausgeblendet. Kelsen hat sich damit ausführlich bei der Frage der politischen Integration der Bevölkerung beschäftigt. Dies tat er allerdings in institutionellen und politologischen Erwägungen, die methodisch von seinem Rechtsbegriff ferngehalten sind und keinen Anspruch auf Normativität erheben; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 20 f.; Kelsen, Der Staat als Integration, S. 15. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 52 f. 65 Denn nicht der durch Biologie oder Psychologie konstituierte Mensch ist es, dessen Funktion den Inhalt der Rechtssätze bildet; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 7. Siehe dazu Geis, JuS 1989, S. 91 (92); Otten, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 25 (38). 66 Damit kritisiert Kelsen die Lehre von Georg Jellinek, der den Staatswillen aus sozialpsychologischen Tatsachen ableitet; Möllers, Staat als Argument, S. 37. 67 Siehe zu Simmel oben im Rahmen der sozialpsychologischen Begriffsbestimmung von Identität, S. 43 Fn 68. 68 Siehe ausführlich zum Folgenden Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 8.
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Auch das Vorliegen eines übereinstimmenden Willens aller einem Staat angehörigen Menschen bezeichnet Kelsen als bloße Fiktion; demzufolge sei die Einheit des Volkes ein ethisch-politisches Postulat.70 Denn es bleibt offen, hinsichtlich welchen Willensinhaltes alle zu demselben Staat gehörenden Menschen wohl übereinstimmen könnten.71 Derartige Willensübereinstimmungen dürften nur für verhältnismäßig kleine Gruppen und nur in sehr schwankendem Umfang konstatierbar sein. Nach Kelsen ist also in der modernen Demokratie ein gewisses Maß an Heterogenität unvermeidbar.72 Demzufolge gibt es kein anderes Band, das die Bürger eines Staates zusammenhält, als ihre Unterworfenheit unter dieselbe Zwangsordnung. Alle anderen Versuche, ein Band zu finden, welches die Staatsbürger zu einer Einheit verbindet, müssen aufgrund der Verschiedenartigkeit der Menschen scheitern.73 Daher ist die Frage der Zugehörigkeit eines Menschen zu einer staatlichen Einheit keine psychologische Frage, sondern lediglich eine Frage des Rechts. Die Einheit der ein Staatsvolk bildenden Menschen kann folglich nur darin gesehen werden, dass ein und dieselbe Rechtsordnung für diese Menschen gilt und ihr Verhalten regelt.74 II. Legitimität Unter Legitimität ist nach Kelsen das Prinzip zu verstehen, wonach die Norm einer Rechtsordnung solange gilt, bis ihre Geltung auf eine durch diese Rechtsordnung bestimmte Weise beendet oder durch die Geltung einer anderen Norm dieser Rechtsordnung ersetzt wird.75 Der Beginn und das Ende der Geltung von Rechtsnormen können durch die betreffende Norm selbst oder durch eine höhere, ihre Erzeugung regelnde Norm bestimmt sein. Staatliche Existenz als solche hat damit für Kelsen keinen legitimatorischen Gehalt.76 Nach dem rechtspositivistischen Legitimitätsbegriff entspricht Legitimität der Legalität.77
69 Zum Beispiel aufgrund der Zugehörigkeit zu derselben Religion; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 8; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 15 f. 70 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 15. Siehe dazu Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 132. 71 Siehe ausführlich dazu Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 9. 72 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 58 ff.; dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 78. 73 Siehe zum Folgenden Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 290 f. 74 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 90, 291. 75 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 213. 76 Möllers, Staat als Argument, S. 118. 77 Vgl. zum Folgenden auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 506 ff.
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III. Einheitsstiftung durch die Grundnorm Aus der Entbehrlichkeit kollektiver Identität für die Legitimität eines Gemeinwesens folgt nach der Lehre Kelsens, dass der Grundnorm die Aufgabe der identitätsstiftenden Einheit der Rechtsordnung zukommt. Kelsen definiert das Recht als eine reine Sollensordnung. Die Geltung einer Norm kann nicht aus einem Sein – etwa ihrer faktischen Befolgung – abgeleitet werden. Daraus folgt, dass eine Rechtsnorm nur deshalb Geltung besitzt, weil und soweit eine höherrangige Norm besagt, dass sie von den Rechtsunterworfenen befolgt werden soll.78 Deshalb kann die Erzeugung von Rechtsnormen ihrerseits nur durch Normen geregelt werden.79 Dieser Regress führt schließlich zu der Grundnorm, die nicht mehr gemäß der Bestimmung einer anderen Norm gesetzt ist und daher von Kelsen vorausgesetzt wird.80 Als höchste Norm folgt deren Geltung nicht aus einem höherrangigen Sollen oder aus einem Sein. Die Grundnorm kann nicht von einer Autorität gesetzt sein, da deren Kompetenz auf einer noch höheren Norm beruhen müsste.81 Sie ist nach Kelsen die Bedingung für die objektive Rechtsgeltung der (historisch ersten) Verfassung und begründet damit die Geltung der positiven Rechtsordnung. Sie ermächtigt die Verfassung, die Verfahren zur Erzeugung der generellen und individuellen Normen zu bestimmen.82 Eine Vielzahl von Normen kann nur dann als ein einheitliches System, also als eine Rechtsordnung im Sinne Hans Kelsens begriffen werden, wenn sie sich auf eine identische Grundnorm zurückführen lassen.83 In dem Moment, in dem die Rechtsnormen durch ihre Rückführung auf diese Grundnorm ihre normative Verbindlichkeit bekommen, werde auch ihre Einheit erzeugt.84 Die 78 Kelsen definiert die Rechtsordnung als ein System von generellen und individuellen Normen, die miteinander dadurch verbunden sind, dass die Erzeugung jeder zu diesem System gehörigen Norm durch eine andere Norm des Systems und letztlich durch seine Grundnorm bestimmt wird. Dies ist die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung; vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 239. Siehe dazu Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 139 ff.; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 60. 79 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 64. 80 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 239. 81 Die Grundnorm erfüllt bei Kelsen den Zweck, dass sie eine Reduktion des Rechts auf ein Faktum vermeiden hilft; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 104; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 197. Siehe dazu Otten, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 25 (47); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 62. 82 Der Inhalt einer positiven Rechtsordnung ist allerdings von der Grundnorm völlig unabhängig. Aus der Grundnorm kann nur die Geltung, nicht aber der Inhalt einer Rechtsordnung abgeleitet werden; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 203, 224; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 99; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 62 f. 83 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 63 f. 84 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 196 f., 228; dazu Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 145.
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Grundnorm ist also der oberste Geltungsgrund, der die Einheit der Rechtsordnung konstituiert.85 Der letzte Grund für die Geltung aller Rechtsnormen ist bei Kelsen gleichzeitig das Element, das allen Rechtsnormen gemeinsam ist und Einheit stiftet.86 Die Grundnorm ist bei Kelsen aber eine bloß hypothetisch vorauszusetzende Norm, die besagt, dass die Verfassung eines Staates zu befolgen ist.87 Damit bestimmt Kelsen Einheit nur als juristische Fiktion.88 IV. Tauglichkeit des Ansatzes zur Identitätsstiftung durch europäisches Verfassungsrecht Nach der Auffassung Hans Kelsens wäre die Legitimität der Europäischen Union mit der Legalität des Europäischen Vertragsrechts gleich zu setzen. Einer besonderen Begründung von Legitimität über die Rechtsförmigkeit des Vertragsrechts hinaus bedürfte es nicht. Die Lehre Kelsens könnte daher für den Integrationsprozess der Europäischen Union Aussagekraft haben. Denn sie qualifiziert die Rechtsordnung als einen „ewigen Prozess“, der das Gemeinwesen „immer wieder von neuem erzeugt“.89 Hans Kelsen wollte eine reine Strukturtheorie des Rechts entfalten, die gerade auf alle Rechtsordnungen und Staatsformen anwendbar sein soll.90 Damit entwickelt Kelsen eine den Einzelstaat überschreitende, dynamische Sichtweise.91 1. Europäische Union als Rechtsgemeinschaft Die Europäischen Gemeinschaften sind als Rechtsgemeinschaft konzipiert. Sie beruhen auf einer langen Tradition, die mit dem Recht eine besondere Legitimitätsvorstellung verknüpft. Dem Recht wird eine besondere identitätsstiftende Bedeutung zugewiesen.92 Die Europäischen Gemeinschaften bestehen mangels 85
Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 197. Damit hat die Grundnorm bei Kelsen eine Geltungs- und eine Einheitskonstituante; vgl. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 145. 87 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228; Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 88 Möllers, Staat als Argument, S. 117. 89 Kelsen, Der Staat als Integration, S. 44; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 229 ff., 248 f. 90 Denn die Reine Rechtslehre ist nach Kelsen eine Theorie des positiven Rechts schlechthin und nicht die einer bestimmten Rechtsordnung. Sie ist eine allgemeine Rechtslehre und nicht die Interpretation nationaler oder internationaler Rechtsnormen, vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 1. Siehe dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 67. 91 Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 165. 92 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 33 ff. Siehe ausführlich dazu Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162); Nicolaysen, Europarecht I, S. 106 ff.; Oppermann, Europarecht, § 1 Rn. 47; Puntscher Riekmann, FS für Mantl II, S. 1101 (1111). Der EuGH spricht seit 1986 von einer Rechtsgemeinschaft, vgl. EuGH 23.04.1985 – Les Verts/ 86
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1. Teil: Kollektive Identität
eines vorgängigen sozialen Substrats überhaupt nur als Rechtsgemeinschaft.93 Ein großer Vorzug des rechtswissenschaftlichen Positivismus besteht in seinen klaren Definitionen und der logischen Konstruktion.94 Daher könnte die Sichtweise Hans Kelsens interessante Ansatzpunkte für eine verfassungstheoretische Betrachtung der europäischen Integration bieten und brauchbare Hinweise enthalten, um die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft beschreiben zu können.95 2. Legitimitätskonzeption Die Legitimitätskonzeption Kelsens verfehlt aber die Rechtfertigung von Herrschaft, indem sie letztendlich das Recht verneint.96 Rechtswissenschaft hat sich nach Kelsen auf die logisch-dogmatische Durchdringung und Konstruktion des Rechtsstoffes zu beschränken. Geschichte, Ethik und Theologie haben aus der Rechtswissenschaft auszuscheiden.97 Deshalb vertritt Kelsen die These des Wertrelativismus.98 Recht und Moral müssen streng voneinander geschieden werden. Ein notwendiger Zusammenhang zwischen Recht und Moral wird nach dem rechtspositivistischen Legitimitätsbegriff Hans Kelsens verneint.99 Die Reine Rechtslehre lehnt daher eine inhaltliche moralische Bewertung des Rechts ab.100 Da die Reine Rechtslehre über den normativen Gehalt von (Rechts-)Werten nichts sagen kann, muss sie darüber schweigen. Demzufolge kann jeder beliebige Inhalt Recht sein; es wird eine Inhaltsneutralität des Rechts postuliert.101 Selbst moralisch unakzeptable Normen können danach geltendes Recht darstellen. Parlament, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (1365 f.); EuGH 14.02.1991 – Gutachten 1/ 91, Slg. 1991, I-6079 (6102) (EWG-Vertrag als Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft); EuGH 28.03.1996 – Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, 1789 (EMRK – Gutachten). 93 Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (231 m.w. N.); Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (545 ff.). 94 Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 95 So vertreten von Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (109); dazu auch Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (545 ff.). 96 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 507 f. 97 Das Ziel der Reinen Rechtslehre besteht demzufolge darin, die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz als eigenständige Geistes- bzw. Normwissenschaft zu erweisen, deren Exaktheit und Objektivität soweit wie möglich verwirklicht werden sollte; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. III, 1. Siehe dazu Robbers, Jura 1993, S. 69 (69); Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (417 f.); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 58. 98 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 65 ff. 99 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 60 ff., 71. 100 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 68 f. 101 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 67 ff., 201; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 107. Siehe dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 65 f.
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Damit verliert der Begriff des Rechtsstaates seine Bedeutung. Denn durch die Identität von Staat und Recht ist es nach Kelsen unmöglich, den Staat durch das Recht zu rechtfertigen. Denn alles Recht ist staatlich, jeder Staat ist ein Rechtsstaat.102 Die staatliche Rechtsordnung könne jeden beliebigen Inhalt aufnehmen, der Staat in diesem Sinne ist allmächtig.103 Der Begriff des Rechtsstaates enthält nach Kelsen keine legitimierende Kraft.104 Damit verliert der Begriff des Unrechts105, soweit er staatliches Recht beschreibt, seine Bedeutung.106 Gerechtigkeitserwägungen sind als Kriterium zur Beschreibung des Rechts zur Abgrenzung gegenüber anderen Zwangsordnungen untauglich.107 Die rechtspositivistische Legitimität entstammt also der dahinter stehenden Macht, weil die Setzung und Durchsetzung des positiven Rechts auf Macht beruht.108 Das Zusammenfallen von Macht und Recht deutet Kelsen selbst in der Aussprache auf der dritten Staatsrechtslehrertagung im Jahr 1927 an. Demzufolge sei die Frage, auf die das Naturrecht ziele, die ewige Frage, was hinter dem positiven Recht stecke. Die Antwort auf diese Frage liege aber weder in der absoluten Wahrheit einer Metaphysik noch in der absoluten Gerechtigkeit des Naturrechts. Denn wer den Schleier hebe und sein Auge nicht schließe, dem starre das „Gorgonenhaupt der Macht“ entgegen.109 Daher führt der extreme Rechtsformalismus zur Annahme einer totalen Bindungslosigkeit von Herrschaft.110 Diese Konsequenz der Lehre Kelsens erscheint auf der Ebene der Europäischen Union vor allem deshalb problematisch, weil der Begriff der Rechtsgemeinschaft für die Gemeinschaften als Parallelbildung zum Rechtsstaatsbegriff mit den entsprechenden rechtsstaatlichen Implikationen erfolgte.111 Dies verdeutlicht Art. 6 Abs. 1 EU, wonach die Europäische 102 Nach Kelsen handelt es sich deshalb bei dem Rechtsstaatsbegriff um einen Pleonasmus; vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 314. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 50. 103 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 107. 104 Über die moralische Legitimität des Systems werde damit nichts ausgesagt; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 320; Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 105 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 265. 106 Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 50. 107 Nach Kelsen ergibt sich aus dem relativen Charakter des Werturteils, demzufolge eine Gesellschaftsordnung als gerecht angesehen wird, dass Gerechtigkeit nicht das Merkmal sein kann, welches das Recht von anderen Zwangsordnungen unterscheidet; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 50 f. Siehe dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 59. 108 Kelsen zufolge kann das Recht zwar nicht ohne Macht bestehen, es ist aber trotzdem nicht identisch mit der Macht. Nach der Reinen Rechtslehre ist das Recht vielmehr eine bestimmte Ordnung oder Organisation der Macht; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 220 f. 109 Kelsen, VVDStRL 3 (1927), Aussprache), S. 43 (54 f.). 110 Siehe ausführlich dazu Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 16. 111 Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (546).
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Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beruht. Darüber hinaus hat der Staat nach der Reinen Rechtslehre einen umfassenden Regelungsanspruch. Kelsen lehnt die Annahme ab, dass Lücken im Rechtssystem bestehen könnten.112 Wenn der Staat in der Rechtsordnung aufgeht, kann es keinen rechtsfreien Raum innerhalb des Staates geben. Damit läge auch eine restlose Bindung des Menschen ohne Zurücklassung irgendeiner Freiheitssphäre im Machtbereich des Staates, denn ein anderer als der rechtliche Machtbereich kommt nach dieser Auffassung nicht in Betracht.113 Kelsen erkennt zwar an, dass es tatsächliche Grenzen der Beschränkung menschlicher Freiheit gibt und dass ein schrankenloser Zugriff des Staates auf den Einzelnen nicht realisierbar erscheint. Allerdings umfasst diese Beschränkung der staatlichen Allmacht nur das praktische Können, nicht aber das theoretische Dürfen.114 Anhand dieser Überlegungen werden die ungeheuren manipulativen Missbrauchsmöglichkeiten dieses Rechtsverständnisses deutlich.115 Der rechtlich allmächtige Staat ist potentiell totalitär.116 Diese Konzeption einer Entbehrlichkeit kollektiver Identität für die Legitimität von Herrschaft ist im Ergebnis zurückzuweisen. 3. Identität und Verfassung Die vorliegende Untersuchung befasst sich darüber hinaus mit der Möglichkeit der Stiftung sozialpsychologischer kollektiver Identität bei den Bürgern 112 Die Lückenlosigkeit des Rechts ergibt sich aus Folgendem. Wenn die Rechtsordnung keine Pflicht des Individuums zu einem bestimmten Verhalten statuiert, dann erlaubt sie dieses Verhalten; vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 251. Siehe dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 73. 113 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 108. 114 Insoweit ist der sich daraus ergebende Schutz kein genuin rechtlicher, sondern nur die Folge der mangelnden technischen Realisierbarkeit der Erfassung der gesamten Persönlichkeit; vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 45; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 349. Siehe dazu Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 185 f. 115 Man hat daher dem staatsrechtlichen Positivismus häufig vorgeworfen, aufgrund seines Agnostizismus schuld an der viel zitierten Wehrlosigkeit der Weimarer Republik gegenüber ihren Feinden gewesen zu sein und dadurch dem Nationalsozialismus den Weg geebnet zu haben. Denn wenn Recht Recht war und rechtlich verbindlich, soweit es nur von den zuständigen Stellen gesetzt wurde, konnte aus Rechtsgründen auch kein Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime geleistet werden. Vgl. dazu Robbers, Jura 1993, S. 69 (70); Geis, JuS 1989, S. 91 (95). 116 Auf der Grundlage der prinzipiell endlosen Expansion der Legislative im Wege der Rechtsetzung hielt Kelsen selbst nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Ära mit unerbittlicher Konsequenz am Grundsatz der Beliebigkeit eines jeden Rechtsinhalts fest, indem er auch das „Recht“ des Dritten Reiches einschließlich der Errichtung von Konzentrationslagern als Inhalt der Rechtsordnung klassifiziert; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 42. Siehe dazu Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 185.
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durch Verfassungsrecht. Hans Kelsen sieht eine kollektive Identität im Sinne sozialpsychologischer Bewusstseinsprozesse aus juristischer Sicht als entbehrlich für eine Rechtsordnung an. Der Anwendung des Majoritätsprinzips sind nach Kelsen zwar gewisse natürliche Grenzen gesetzt. Denn Majorität und Minorität müssen sich miteinander verständigen können, wenn sie sich miteinander vertragen sollen. Daher müssen nach Kelsen die tatsächlichen Voraussetzungen für eine gegenseitige Verständigung der an der sozialen Willensbildung Beteiligten gegeben sein.117 Auch muss bei der Klärung, welche Grundnorm einer speziellen Rechtsordnung vorausgesetzt werden soll, nach der Lehre Kelsens auf die realen politisch-sozialen Verhältnisse Bezug genommen werden.118 Allerdings sind diese Voraussetzungen bei Kelsen – im Gegensatz zu Carl Schmitt – nicht normativ erheblich.119 Denn Kelsen unterscheidet zwischen der juristischen und der natürlichen Willensbildung. Weil Recht nur auf rechtlichem Wege erzeugt werden kann, vollzieht sich der äußere Tatbestand der Willensbildung zur Erzeugung der Rechtsnormen zwar innerhalb physischer Personen, er erhält seine rechtliche Bedeutung aber ausschließlich durch die Verfassung. Denn diese normiert, dass die übereinstimmende Willensäußerung der Mehrheit einer bestimmten Menschenmenge zum Inhalt des Gesetzes, also zum Staatswillen wird.120 Kelsen schließt die normative Erheblichkeit außerrechtlicher Phänomene aus, wenn sie nicht im Normbestand vorgesehen sind. Er verneint damit eine eigene normative Bedeutung juristischer Konstruktionen jenseits des positivierten Rechts.121 Aufgrund der Ablösung des Rechts von den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen thematisiert Kelsen nicht, inwiefern die Verfassung und die gesellschaftliche Wirklichkeit in Beziehung zueinander stehen. Der Rechtpositivis-
117 In diesem Zusammenhang hebt Kelsen insbesondere das Erfordernis einer gemeinsamen Sprache hervor. Siehe zum Ganzen Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 324; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 65 f. 118 Die Einheit der Rechtsordnung bleibt bei Kelsen also auch nicht im Rahmen des Juristischen von allem Soziologischen „rein“. Die Plausibilität einer bestimmten Grundnorm ergibt sich allein aus der empirischen Überprüfung der in einer Gesellschaft herrschenden kollektiven Traditionen, ökonomischen Interessen, moralischen Werten und sozialen Ordnungsvorstellungen. Die empirische Essenz der Grundnorm ist umstritten. Siehe ausführlich dazu Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 146 f. m.w. N. 119 Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 326. 120 Kelsen lässt also nicht das Theorem eines einheitlichen Staatswillens gänzlich fallen, ihm ist nur der Weg zu einer soziologischen Begründung versperrt. Da ein übereinstimmender Wille der Staatsangehörigen nicht empirisch nachgewiesen werden könne, kann es nach Kelsen keine andere als eine juristische Bildung dieses Willens geben. Handlungen von Menschen sind also im juristischen und nicht im empirischen Sinn als staatlich gewollt zu begreifen. Siehe ausführlich dazu Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 133 f. 121 Möllers, Staat als Argument, S. 56.
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mus kann infolge der strikten Trennung von Sein und Sollen keine verbindlichen normativen Orientierungspunkte für die faktische Integration einer Gesellschaft geben.122 Kelsen findet auf die Fragen einer in sich zerrissenen Gesellschaft keine Antworten.123 Die faktische, soziale Einheit eines Gemeinwesens thematisiert der staatsrechtliche Rechtspositivismus kaum.124 Er konstituiert die Einheit vielmehr als juristische Fiktion über die Annahme einer Grundnorm. Hans Kelsen interessiert sich außerdem ausdrücklich nicht für Fragen der Verfassungsauslegung und er will seine Theorie nicht juristisch operationalisieren.125 Damit bleibt seine Theorie zu abstrakt, um Aussagen bezüglich einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht treffen zu können, die juristisch verwertbar sind. 4. Ergebnis Aufgrund seiner Vernachlässigung von Auslegungsfragen und seiner Ignoranz gegenüber außerrechtlichen Phänomenen – wie dem der kollektiven Identität – kann der Rechtspositivismus nicht weiter helfen bei der Beantwortung der Frage nach den Identitätsstiftungsmöglichkeiten durch Verfassungsrecht. Eine nähere Bestimmung der identitätsstiftenden Funktion von Verfassungsrecht und der Integrationsfunktion von Verfassungen lässt sich anhand seiner Theorie nicht vornehmen. Aus diesem Grund erscheint die Lehre Hans Kelsens als untauglich für eine Untersuchung der identitätsstiftenden sozialpsychologischen Ansatzpunkte des Europäischen Verfassungsvertrages.
C. Homogenität als vorrechtliche Voraussetzung von Legitimität Als vorrechtliche Funktionsbedingung von Demokratie wird die Homogenität der Bürger im Sinn einer äußeren Gleichartigkeit in Betracht gezogen. Homogenität ist danach Voraussetzung für die Legitimität, auf die kein Staat verzichten kann. Sie ist das objektive Pendant zur subjektiven kollektiven Identität der Bürger. Diejenigen Auffassungen, die auf ein Homogenitätserfordernis rekurrieren, betonen vor allem die intersubjektiven genetischen Anknüpfungspunkte der 122 Geis, JuS 1989, S. 91 (95). Der Rechtspositivismus konnte nur solange überzeugen wie das Problem der politischen Einheitsbildung nicht akut war, also solange die politische Einheit nicht in Frage gestellt war; vgl. Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (158 f.). 123 Robbers, Jura 1993, S. 69 (72). 124 Darin liegt auch einer der Hauptgründe, warum der Rechtspositivismus gerade in der Weimarer Zeit so heftig angegriffen wurde; vgl. Robbers, Jura 1993, S. 69 (72). 125 Dies spiegelt sich folgerichtig negativ in seinem Rezeptionserfolg wider, Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (418, 422).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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kollektiven Identitätsfindung einer Gruppe. Diese Ansichten gehen davon aus, dass das Subjekt demokratischer Selbstbestimmung nur ein homogenes Volk sein kann. Der demokratische Entscheidungszusammenhang sei demnach sowohl zur Voraussetzung als auch zur Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen auf Übereinstimmung und Einheit angewiesen. Die Einheit des Volkes hänge von vorrechtlichen und rechtlich nicht steuerbaren Faktoren ab.126 Diese würden der Bevölkerung lediglich bewusst gemacht mit dem Ergebnis, dass sich die Beteiligten als eine Gemeinschaft begreifen.127 Übertragen auf die Europäische Union würde dies bedeuten, dass gewisse vorrechtliche Gegebenheiten für eine Legitimität der supranationalen Organisation notwendig wären. Zur Bestimmung von Homogenität werden unterschiedliche Merkmale genannt. Die objektiven Vorgegebenheiten können auf einer gemeinsamen Sprache und Geschichte, kultureller und wirtschaftlicher Übereinstimmung, gemeinsamer ethnischer Herkunft und Religion beruhen. I. Carl Schmitt Die antipositivistische Richtung der Weimarer Zeit, die sich gegen Kelsen formierte, war uneinheitlich und wies unterschiedliche Facetten auf. Ihr gehörten Carl Schmitt, Rudolf Smend und Hermann Heller an.128 Die Vertreter der antipositivistischen Richtung machten sich vor allem das argumentative Potential der juristischen Nachbardisziplinen zunutze.129 Das vornehmliche Anliegen dieser Strömung war auf die Überwindung der Kluft zwischen Sein und Sollen, auf den Kampf gegen den liberalistischen Individualismus130 und auf die Erklärung von Wechselbezüglichkeiten zwischen den Individuen, der Gesellschaft
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Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (130 f.). Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 163; Smith, The Ethnic Origins of Nations, S. 200 f. 128 Alle drei versuchten die Einheitsbestimmung Jellineks weiter zu objektivieren. An Jellineks theoretisches Konzept, juristische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen unter dem Dach des Staatsbegriffes nominell zu vereinen und methodisch zu trennen, kann auf verschiedene Weise angeknüpft werden. Eine Möglichkeit besteht darin, die beiden Seiten auch rechtsmethodisch wieder miteinander zu verbinden; eine andere Möglichkeit darin, eine der beiden Seiten zu verwerfen. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 116. 129 Vgl. Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (416). 130 In ihrer Liberalismuskritik waren sich die meisten Staatsrechtslehrer einig. Zu diesem Zweck wurde das Bild des Bourgeois zu Hilfe genommen. Der Begriff des Bourgeois war aber kein Klassenbegriff, sondern bezeichnete den Typus eines Menschen, der sich der politischen Verantwortung verweigert und nur nach der Durchsetzung der eigenen Interessen strebt. Demgegenüber steht der Begriff des Bürgers oder Citoyen, der bereit ist, positiv an der politischen Arbeit mitzuwirken und sich als Mitglied der staatlichen Gemeinschaft, des Vaterlandes zu fühlen. Siehe dazu Koga, FS für Quaritsch, S. 609 (609 ff.). 127
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1. Teil: Kollektive Identität
und dem Staat gerichtet.131 Die unterschiedlichen Lösungsansätze resultieren dabei aus den verschiedenen Verknüpfungen von Recht und Politik.132 Carl Schmitt133 (1888–1985) ist oft als einer der umstrittensten, einflussreichsten und brillantesten deutschen Staatsrechtslehrer des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet worden.134 Er war zunächst angetreten, den staatsrechtlichen Positivismus zu überwinden und wird heute teilweise als Kronjurist der Nationalsozialisten bezeichnet.135 Allerdings sah er sich später selbst Angriffen aus der Waffen-SS ausgesetzt und zog sich daher aus der Politik zurück.136 Im Folgenden erfolgt eine zeitliche Beschränkung der Theorie Carl Schmitts auf die Schriften der Weimarer Zeit. 1. Einheitskonzeption: Homogenität Carl Schmitt lehnt eine rein rechtliche Bestimmung der Einheit im Sinne Kelsens ab.137 Er entwirft eine ethnische Integrationsvorstellung und knüpft an vorrechtliche Einheitsvorstellungen an. Substantielle Gegebenheiten bilden den Ausgangspunkt seiner Überlegungen.138 Daher bestimmt er die politische Einheit anhand des Begriffes des Politischen als faktisches Kriterium.139 Carl
131 Die in diesem Zusammenhang stattfindende Rezeption Hegels lief häufig auf die Deutung des Staates als überindividuelle, nicht vom Einzelnen abgeleitete Wesenheit oder doch zumindest als Eigenwert hinaus; Geis, JuS 1989, S. 91 (93 f.). 132 Geis, JuS 1989, S. 91 (94). Die Modelle der drei antipositivistischen Weimarer Staatsrechtslehrer weisen kommunitaristische Merkmale auf. Siehe dazu auch Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1159) und weiter unten zur Theorierichtung des Kommunitarismus S. 203 ff. 133 Siehe aus der umfangreichen Literatur zu Carl Schmitt: Hofmann, Legitimität gegen Legalität; Koenen, Der Fall Carl Schmitt; Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 ff.; Mehring, Carl Schmitt zur Einführung; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 178 ff.; van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens; Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, S. 42 ff. 134 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 87; Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 135 So vertritt etwa Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 353 ff. diese These. Siehe dazu auch Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 13, 103; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 88. 136 Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 137 Schmitt, Verfassungslehre, S. 8 f. 138 Carl Schmitts Begriffe und Theoreme sind weniger auf rationalen Nachvollzug angelegt als vielmehr darauf, unmittelbar einleuchtend zu sein; vgl. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. XI; Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 139 Daher fehlt Carl Schmitt in der Weimarer Zeit die rechtliche Seite des Staates. Der Staat ist als die politische Einheit eines Volkes ein herzustellendes Faktum, welches vorgegeben ist und auch ein Faktum bleibt, wenn es Rechtsform angenommen hat. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 63, 65.
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Schmitt führt seine Lehre auf Rousseau140 zurück, wonach die völlige Gleichartigkeit des Volkes die eigentliche Grundlage eines Staates sei.141 Allerdings erscheint die von Schmitt angegebene Nähe zur Demokratietheorie Rousseaus zweifelhaft. Denn im Gegensatz zu Carl Schmitt setzt die unmittelbare Selbstherrschaft des Volkes nach Rousseau die Existenz einer allen gemeinsamen demokratischen Staatsbürgertugend voraus.142 Bei Carl Schmitt weist die erforderliche Homogenität des Volkes aber keine individualistisch-tugendhaften Bezüge auf.143 Homogenität im Sinne Carl Schmitts ist nur die substantielle Gleichartigkeit der Bürger. 2. Legitimität Der Staat beruht nach Carl Schmitt nicht auf Vertrag, sondern auf der Homogenität des Volkes.144 Er ist die politische Einheit und der Zustand eines Volkes145 und wird als bestehende Größe vorausgesetzt.146 Der Staat benötigt den
140 Im Gegensatz zu dem politisch ungeeinten Deutschland, wo sich die Vermittlung von individuellem und kollektivem Bewusstsein für das Bürgertum in erster Linie über die Kultur vollziehen soll, konstruiert Rousseau in Frankreich ein politisches und kulturelles Identitätsmodell, dem ein emphatischer Begriff von Allgemeinheit und Besonderheit zugrunde liegt. Politische Identität entsteht danach durch die Herausbildung der volonté générale, des allgemeinen Willens. Diesem stellt Rousseau sowohl die volonté singulair, den individuellen Willen als Ausdruck partikularer Interessen und die volonté de tous, die bloße Addition der Einzelwillen zum Gesamtwillen gegenüber. Kollektive Identität soll demnach durch eine gemeinsame Kraftanstrengung hergestellt werden, das für die Allgemeinheit Vernünftige zu finden und herrschaftsfrei zu verwirklichen; vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag. Der emphatische Begriff von Gesellschaft, den Rousseau herausarbeitet, wird im 19. Jahrhundert von Hegel und Marx aufgegriffen; Kraiker, Oldenburger Vor-Drucke, Nr. 61 (1989), S. 1 (4). 141 Schmitt, Verfassungslehre, S. 229 f.; Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 19 f. Siehe dazu auch Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 80; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 107 f. 142 Der Gemeinwille bei Rousseau ist an bestimmte sittliche Voraussetzungen der Individuen gebunden. Aus diesem Grund darf man den Gemeinwillen nicht mit dem beliebigen Willen des Volkes oder einer Mehrheit im Volk verwechseln; vgl. Fetscher, Rousseaus Politische Philosophie S. 124. 143 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 119 f. 144 Schmitt, Verfassungslehre, S. 228 f. Siehe dazu Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. XXIII f. 145 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 20, 44; Schmitt, Verfassungslehre, S. 3, 125, 205. Die Bestimmung des Staates als politischer Einheit des Volkes steht in der Tradition des 19. Jahrhunderts und enthält das gleiche Bestimmungselement wie der faktische Staatsbegriff Jellineks, nämlich die faktische Einheit eines Volkes, die um das Element des Politischen erweitert wird. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 62. 146 Schmitt, Verfassungslehre, S. 21, 23. Siehe dazu Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (109).
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1. Teil: Kollektive Identität
Begriff des Politischen147 zu seiner Beschreibung.148 Der Begriff des Politischen wird durch den existentiellen Gegensatz von Freund und Feind bestimmt. Die homogene politische Einheit der Freunde wird als Voraussetzung der Staatlichkeit behauptet.149 Für Schmitt bestehen die politische Einheit und deren Legitimitätssystem schon vorrechtlich.150 Die Legitimität eines Staates entnimmt er nicht der Rechtsordnung, sondern Legitimität ist das Ergebnis bestimmter systematischer und historischer Voraussetzungen.151 Der Staatsbegriff wird zum Legitimitätsbegriff.152 Nach Carl Schmitt liegt also die Legitimität einer Herrschaft nicht in irgendwelchen Normativitäten, auf die sich der einheitliche Wille des Volkes bezieht, sondern im faktischen Vorhandensein des einheitlichen Volkswillens.153 Carl Schmitt kritisiert damit die rechtspositivistische Auffassung, nach der Legitimität in der bloßen Legalität von Verfahrensübereinkunft und Gesetzesbeachtung besteht. Er grenzt seinen Legitimitätsbegriff deutlich zur Legalität ab.154 Die nur formale Wahrung äußerer Gesetzmäßigkeit im Sinne der Legalität schließt nämlich seiner Ansicht nach nicht aus, dass eine Handlung in grober Weise gegen die Gerechtigkeit oder einen anderen, den staatlichen Zusammenhalt verbürgenden Grundsatz, wie Religion, Nation, kulturelle, ethnische oder klassenmäßige Identität verstößt und damit illegitim – obwohl äußerlich legal – ist.155 Die Homogenität des Volkes sichert demzufolge die Demokratie, wobei das wesentliche Definitionsmerkmal die Identität von Regierenden und Regierten 147 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 20; Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 82. 148 Möllers, Staat als Argument, S. 61. 149 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26; Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 150 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 20. Siehe dazu Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 58 f.; Möllers, Staat als Argument, S. 66. 151 Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 77 m.w. N. 152 Schmitt, Verfassungslehre, S. 90; Möllers, Staat als Argument, S. 81. 153 In Bezug auf die Verfassung drückt dies Carl Schmitt folgendermaßen aus. „Eine Verfassung ist legitim, das heißt nicht nur als faktischer Zustand, sondern auch als rechtmäßige Ordnung anerkannt, wenn die Macht und Autorität der verfassungsgebenden Gewalt, auf deren Entscheidung sie beruht, anerkannt ist. Die über die Art und Form der staatlichen Existenz getroffene politische Entscheidung (. . .), gilt, weil die politische Einheit, um deren Verfassung es sich handelt, existiert und das Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt Art und Form dieser Existenz bestimmen kann. Sie bedarf keiner Rechtfertigung an einer ethischen oder juristischen Norm, sondern hat ihren Sinn in der politischen Existenz. Eine Norm wäre gar nicht imstande, hier irgendetwas zu begründen. Die besondere Art politischer Existenz braucht und kann sich nicht legitimieren.“ Schmitt, Verfassungslehre, S. 87 (Hervorhebungen von der Verfasserin). 154 Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 13 f. 155 Guggenberger, in: Mickel/Zitzlaff (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, S. 267 (270).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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ist.156 Demokratische Identität in diesem Sinne bedeutet für Carl Schmitt, dass die Regierenden „ihrer Substanz nach in der demokratischen Gleichheit und Homogenität des Volkes verbleiben“ und dass das Volk seine Identität im Sinne seiner substantiellen Eigenart bewahrt.157 Mit Identität ist also die Identität des Volkes mit sich selbst als einer nationalen politischen Einheit gemeint, wenn das Volk kraft seines eigenen politischen Bewusstseins und nationalen Willens die Fähigkeit hat, Freund und Feind zu unterscheiden.158 In dieser Erzeugung des Volkes als homogener Einheit, als Gemeinschaft jenseits der realen Gegensätze, liegt der zentrale Topos dieser Figur einer transzendenten, einheitsstiftenden staatlichen Legitimität.159 Die politische Gemeinschaft wird als Ort einer gemeinsamen Identitätsfindung, eines gemeinsamen kollektiven Sinns verstanden. Von besonderer Wichtigkeit ist, dass nach diesem Verständnis die kollektive Identität gleichzeitig sowohl der Legitimitätsgrund als auch das eigentliche Ziel der identitären Demokratie ist. Kollektive Identität ist das funktionale Stabilitätserfordernis und der gemeinschaftliche Selbstzweck einer solchen Gesellschaft. 3. Verfassung und Verfassungsgesetz Carl Schmitt differenziert grundlegend zwischen der Verfassung und dem Verfassungsgesetz.160 Die Verfassung im positiven Sinn entstehe durch den unantastbaren Akt der verfassungsgebenden Gewalt über Art und Form der politischen Einheit, deren Bestehen vorausgesetzt wird.161 Verfassung ist demnach nur die grundlegende politische Entscheidung des Trägers der verfassungsgebenden Gewalt.162 Der Geltungsgrund der Verfassung liegt darin, dass sie von 156 Schmitt, Verfassungslehre, S. 234 f.; Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 20. Siehe dazu Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 77, 79; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 179. 157 Nach Carl Schmitt ist das Wort „Identität“ für die Definition der Demokratie deshalb brauchbar, weil es die umfassende, das heißt die Regierende und Regierte einschließende Identität des homogenen Volkes bezeichnet. Damit sei das Existentielle der politischen Einheit des Volkes gekennzeichnet, im Unterschied zu irgendwelchen normativen, schematischen oder fiktiven Gleichheiten; vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 235 f. Siehe dazu Preuß, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 177 (181); Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (170 f.). 158 Schmitt, Verfassungslehre, S. 214. 159 Siehe ausführlich dazu Hirsch, in: Calliess/Mahlmann (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, S. 155 (160 f.); Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. XIV. 160 Schmitt, Verfassungslehre, S. 20. 161 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 21; Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 83; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 102. 162 Schmitt, Verfassungslehre, S. 21. Dabei ist nach Carl Schmitt die verfassungsgebende Gewalt „der politische Wille, dessen Macht oder Autorität imstande ist, die konkrete Gesamtentscheidung über Art und Form der eigenen politischen Existenz zu
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1. Teil: Kollektive Identität
der verfassungsgebenden Gewalt gesetzt wird, deren Wille der Verfassung vorausgeht.163 Der Staat besteht vor der Verrechtlichung durch die Verfassung.164 Carl Schmitt substantialisiert damit den Verfassungsbegriff und beschränkt ihn auf die politische Einheit eines homogenen Volkes.165 Die Verfassung selbst ist unantastbar, denn die volkliche Substanz in Form der Identität von Regierenden und Regierten kann durch Mehrheit nicht geändert werden.166 Die Dezision der verfassungsgebenden Gewalt bestimmt die Identität eines Staates demnach unabänderlich. Lediglich durch eine erneute unbedingte Entscheidung des Souveräns kann nach der Auffassung Carl Schmitts eine neue Verfassung geschaffen werden. Die Verfassung ist nach dieser Theorie also notwendig statisch, indem sie die tragenden Strukturprinzipien des Staates festlegt.167 Im Gegensatz dazu ist das Verfassungsgesetz die ausführende Normierung des verfassungsgebenden Willens.168 Die konkreten Ausformungen der Grundentscheidung und alle sonstigen nicht substantiellen Bestimmungen des Verfassungstextes sind Verfassungsgesetze. Der Geltungsgrund des Verfassungsgesetzes liegt in der Verfassung und setzt diese voraus.169 Das Verfassungsgesetz ist änderbar in dem nach der Verfassung geltenden und in ihr vorgesehenen Verfahren.170 4. Bund und Verfassungsvertrag Carl Schmitt lehnt eine Unterscheidung zwischen Staatenbund und Bundesstaat ab. Er führt seine Gedanken allgemein für den „Bund“ aus.171 Aus diesem Grund etabliert Carl Schmitt den Begriff des Verfassungsvertrages. Durch diesen Bundesvertrag, der zwischen mehreren schon bestehenden selbständigen politischen Einheiten geschlossen wird, entstehe eine neue Verfassung. Alle Bundesmitglieder würden dadurch einen neuen politischen Status erhalten, so dass die politische Einheit des Bundes neben der der Bundesmitglieder bestehe.172 treffen, also die Existenz der politischen Einheit im Ganzen zu bestimmen.“ Schmitt, Verfassungslehre, S. 75 f. 163 Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 164 Schmitt, Verfassungslehre, S. 200; Möllers, Staat als Argument, S. 64. 165 Schmitt, Verfassungslehre, S. 3; Preuß, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 177 (183). 166 Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 167 Schmitt, Verfassungslehre, S. 24; Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (115). 168 Schmitt, Verfassungslehre, S. 76; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 103. 169 Schmitt, Verfassungslehre, S. 22. 170 Schmitt, Verfassungslehre, S. 20. 171 Schmitt, Verfassungslehre, S. 366 ff. Siehe ausführlich zum Folgenden Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (110). 172 Schmitt, Verfassungslehre, S. 63.
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Entgegen der sonstigen Lehre Carl Schmitts wird in diesem Fall die politische Einheit nicht vorausgesetzt. Vielmehr wird die politische Einheit in diesem Fall erst durch den Bundesvertrag, der auch Verfassung ist, konstituiert. 5. Tauglichkeit des Ansatzes zur Identitätsstiftung durch europäisches Verfassungsrecht a) Verfassungsvertrag und Föderalismus Ein Indiz für eine Orientierung an der Lehre Carl Schmitts zur Beschreibung der europäischen Integration könnte die Bezeichnung des „Vertrages über eine Verfassung für die Europäische Union“ im Deutschen als „Verfassungsvertrag“ sein. Diese Begriffsbildung geht auf Carl Schmitts Föderalismuskonzept zurück. Die Einheitskonzeption Carl Schmitts steht aber vor allem bei der Erklärung des Föderalismus vor Problemen. Die Institutionalisierung einer Mehrheit politischer Einheiten ist mit Schmitts Vorstellung von der identitären Demokratie nicht kompatibel.173 Denn für Carl Schmitt besteht ein grundsätzlicher Widerspruch in dem „Nebeneinanderbestehen selbständiger politischer Einheiten im Rahmen einer ebenfalls politisch existierenden Gesamteinheit“.174 Denn es gehöre zur Souveränität eines Staates, über die Frage der eigenen Existenz selbst zu entscheiden.175 Souveränität – die letzte existentielle Entscheidung – ist folglich unteilbar. Damit besteht ein dogmatischer Widerspruch zwischen dem Föderalismuskonzept und seiner Einheitsvorstellung. Bei jeder Mehrheit selbständiger, politisch existierender Größen – also im Bund – muss nach der Lehre Schmitts die Frage der Souveränität daher offen bleiben.176 Durch die Annahme einer offenen Souveränität hat Carl Schmitt versucht, seine These von der Unteilbarkeit staatlicher Souveränität zu retten. Die Frage nach der Verortung der Kompetenz-Kompetenz lässt sich aber in der Praxis eines föderalen Gemeinwesens nicht offen halten.177 Darüber hinaus leugnet Carl Schmitt den Fall eines möglichen Konfliktes zwischen dem Bund und seinen Mitgliedern. Er löst die Gegensätzlichkeit von Bund und Ländern auf, indem er auf die Voraussetzung der Homogenität in Form der substantiellen Gleichartigkeit der Bundesmitglieder zurückgreift. Demzufolge beruht der Bund auf der wesentlichen Voraussetzung einer Homogenität aller Bundesmitglieder. Diese substantielle Gleichartigkeit soll bewirken, 173
Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 130. Schmitt, Verfassungslehre, S. 373. 175 Schmitt, Verfassungslehre, S. 364. 176 Schmitt, Verfassungslehre, S. 372. Siehe ausführlich zum Folgenden Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (110). 177 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 19. 174
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dass der Konfliktfall innerhalb des Bundes nicht eintritt.178 Die Voraussetzung für die Homogenität der Bundesmitglieder ist die Homogenität ihrer Bevölkerungen und die Gleichartigkeit ihrer politischen Systeme (Monarchie, Aristokratie oder Demokratie).179 Nur wenn die substantielle Homogenität vorliege, sei ein Bund rechtlich und politisch möglich. Wo die Homogenität der Bundesmitglieder fehle, sei die Verabredung eines „Bundes“ ein nichtiges und irreführendes Scheingeschäft.180 Demzufolge ist bei Carl Schmitt die substantielle Homogenität zwischen den Gliedstaaten konstitutive Voraussetzung für einen Bund. Allerdings verliert der Bund bei demokratischen Staaten seinen Sinn.181 Denn nach Carl Schmitt fließt die demokratische Homogenität mit der Bundes-Homogenität zusammen, wenn demokratische Staaten einen Bund bilden. Nach seiner Auffassung soll die homogene Einheit des Volkes über die politischen Grenzen der Gliedstaaten hinweg gehen und den Zustand des Nebeneinanderbestehens von Bund und politisch selbständigen Einheiten zugunsten einer durchgängigen Einheit beseitigen. In diesem Bund soll es dann nur noch ein Volk geben.182 Nach Schmitt kann sich demzufolge ein echter Bund der europäischen Völker nur auf die Anerkennung der völkischen Substanz gründen und von der nationalen und völkischen Verwandtschaft dieser Völker ausgehen.183 So wäre eine politische Einheit in Europa nur möglich, wenn eine ethnische Homogenität der Bürger innerhalb der Union bestehen würde und wenn alle Mitgliedstaaten untereinander homogen wären. Eine substantielle Gleichartigkeit der Völker der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht anzunehmen.184 Ebenso wenig herrscht eine Homogenität hinsichtlich der politischen Systeme der einzelnen Mitgliedstaaten im Sinne Carl Schmitts vor.185 Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind konstitutionelle Monarchien186, die übrigen republikanische Demokratien187. 178 Infolge der substantiellen Gleichartigkeit könne ein Konflikt ausgeschlossen werden, so dass auf das „ius belli“ dauerhaft verzichtet werden könne; Schmitt, Verfassungslehre, S. 377 f. Siehe dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 130. 179 Schmitt, Verfassungslehre, S. 376. Ausgehend von der Erkenntnis, dass ein Bundesstaat eine Mindestmaß an nationaler, zivilisatorischer, religiöser Homogenität oder eines gemeinsamen politischen Prinzips, wie etwa der Monarchie, Aristokratie oder Demokratie bedürfe, weist Schmitt nach, dass alle modernen Bundesstaaten und sogar Staatenbünde Homogenitätsklauseln aufweisen; Weber, JZ 1993, 325 (329). 180 Schmitt, Verfassungslehre, S. 379. 181 Siehe ausführlich zum Folgenden Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (110). 182 Schmitt, Verfassungslehre, S. 388 f. 183 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 213. Siehe dazu Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 116. 184 Siehe dazu oben bei der Übertragbarkeit der Abstammungsnation auf die europäische Integration, S. 78 ff. 185 Bejahend bezüglich der demokratischen Homogenität der Mitgliedstaaten Weber, JZ 1993, 325 (329).
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Demnach kann es einen europäischen Bund im Sinne Carl Schmitts zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in naher Zukunft mangels der erforderlichen Mindesthomogenität nicht geben. Der Zusammenschluss der Mitgliedstaaten zur Europäischen Union wäre nach der Lehre Carl Schmitts also ein nichtiges Scheingeschäft. Der Dezisionismus Carl Schmitts läuft Gefahr, die unionsrechtliche Wirklichkeit nicht angemessen zu erfassen.188 b) Staat als Verfassungsvoraussetzung Die Anwendung des Begriffes Verfassungsvertrag189 auf die Europäische Union erscheint zwar möglich. Allerdings kann die föderale Struktur der europäischen Integration von der Begrifflichkeit Carl Schmitts nicht vollständig erfasst werden.190 Der Verfassungsbegriff von Carl Schmitt setzt nämlich notwendigerweise das Bestehen der politischen Einheit, eines Staatsvolkes und damit das Bestehen eines Staates voraus. Wenn man diesen Verfassungsbegriff folglich auf das europäische Vertragsrecht anwendet, dann kann das die Europäische Union konstituierende Vertragsgeflecht kaum als Verfassung bezeichnet werden. Auch würde eine neue Verfassungsentscheidung innerhalb der Europäischen Union das Bestehen eines europäischen Staates voraussetzen. Die begriffliche Koppelung von Staat und Verfassung mündet damit in der Frage nach der Eigenstaatlichkeit der Europäischen Union. Die Voraussetzungen für einen Staat – Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt – sind aber nicht erfüllt, wenn die Europäische Union weiterhin auf bestehenden Mitgliedstaaten beruht.191 Aus diesem Grund eignet sich dieser Ansatz nicht zur adäquaten Beschreibung des föderalen Systems der Europäischen Union mit eigenständigen Mitgliedstaaten als 186 Konstitutionelle Monarchien innerhalb der Europäischen Union sind das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich Spanien, das Großherzogtum Luxemburg, das Königreich der Niederlande, das Königreich Schweden sowie das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland. 187 Republiken sind die Tschechische Republik, die Bundesrepublik Deutschland, Estland, Griechenland, Frankreich, Italien, die Republik Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Österreich, Polen, Portugal, Slowenien, die Slowakei und Finnland. 188 Huber, VVDStRL 60 (2001), S. 196 (198). 189 Siehe dazu auch Weber, JZ 1993, S. 325 (329 f.) mit der Prognose, dass die Europäische Gemeinschaft sich mit den Worten Carl Schmitts vom Bündnisvertrag zum Verfassungsvertrag wandeln werde. 190 Der echte Verfassungsvertrag ist ein Bundesvertrag zwischen mehreren selbständigen politischen Einheiten und immer auch ein Statusvertrag, der als Vertragspartei mehrere politische Einheiten voraussetzt und einen neuen Status für alle an der Vereinbarung beteiligten Staaten begründet; Schmitt, Verfassungslehre, S. 63, 66 f. Siehe dazu Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (111); Huber, VVDStRL 60 (2001), S. 196 (234). 191 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162).
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„Herren der Verträge“. Die Auffassung, dass der Staat Verfassungsvoraussetzung sei, ist juristisch nicht haltbar.192 c) Ethnisches Homogenitätsverständnis Auch das ethnische Homogenitätsverständnis Carl Schmitts ist auf massive Kritik gestoßen. Denn die verfassungsgebende Gewalt ist nicht an normative Verfahren gebunden und ihre Dezision ist auch ohne Normierung gültig. Der Dezisionismus lässt folglich den reinen Willen zum Grund staatlicher Existenz werden. Staat und Recht werden damit in völlige Abhängigkeit von der Macht gebracht.193 Die These, dass derjenige legitim handelt, welcher im Wege der Dezision entscheidet, führt zum Dogma der Macht des Stärkeren.194 Wenn man Demokratie funktional als Herrschaft legitimierende Identität zwischen Regierenden und Regierten begreift und die öffentliche Meinung als Akklamation195 deutet, dann trifft diese Definition faktisch auf jedes bestehende Gemeinwesen zu. Damit wird nur die Abwesenheit einer bürgerkriegsähnlichen Lage bezeichnet.196 Eine derartig extrem voluntaristische Akzentuierung des Legitimitätsprinzips zeigt offenkundige Schwächen und manipulative Missbrauchsmöglichkeiten bis hin zu einer „Diktatur des Volkes“ oder einer rassistisch begründeten „Volksgemeinschaft“.197 In der Demokratie bei Carl Schmitt zählt folglich auch nur der Wille derjenigen, die an der substantiellen Homogenität teilhaben.198 Die Unterscheidung von Freund und Feind bildet den Bezugspunkt für die Identität der politischen Einheit199 und das Kriterium für die Abgrenzung dieser Einheit nach innen und außen.200 Dies ist die spezifisch politische Entschei192
Siehe ausführlich dazu oben, S. 91 f. Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 194 Hier findet inkonsequenterweise eine Annäherung Carl Schmitts an den von ihm so vehement bekämpften Rechtspositivismus statt. Die Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus mündet bei Carl Schmitt in einen soziologischen Positivismus, der das wissenschaftliche System des Rechtspositivismus lediglich durch den lebendigen Willen der verfassungsgebenden Gewalt ersetzt. Dies wird besonders deutlich in seiner Schrift „Legalität und Legitimität“; vgl. Robbers, Jura 1993, S. 69 (71); Geis, JuS 1989, S. 91 (94). 195 Schmitt, Verfassungslehre, S. 82 ff., S. 91. 196 Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 79. 197 Guggenberger, in: Mickel/Zitzlaff (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, S. 267 (270). 198 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 19. 199 „Die reale Möglichkeit der Gruppierung von Freund und Feind genügt, um über das bloß Gesellschaftlich-Assoziative hinaus eine maßgebende Einheit zu schaffen, die etwas spezifisch anderes und gegenüber den übrigen Assoziationen etwas Entscheidendes ist. Entfällt diese Einheit selbst in der Eventualität, so entfällt auch das Politische selbst.“ Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 45. 200 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 93. 193
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dung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen.201 Das gesamte Wesen der politischen Existenz eines Volkes soll demzufolge in dieser Unterscheidung und tatsächlichen Durchführung der Differenzierung zwischen Freund und Feind liegen.202 Diese Unterscheidung ist aber nicht vom Individuum je für sich vorzunehmen, sondern vom politischen Kollektiv.203 Auch mit der Kategorie des Feindes wird eine kollektive Größe bezeichnet. Der Feind wird bei Carl Schmitt als der existentiell andere, der Fremde, definiert, mit dem im Extremfall Konflikte möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines unparteiischen Dritten entschieden werden können.204 Damit ist die Freund-Feind-Differenzierung zunächst inhaltsneutral,205 denn es handelt sich im Wesentlichen um eine formale Unterscheidung.206 Allerdings sind die Konsequenzen, die Schmitt aus der Differenzierung zwischen Freund und Feind zieht, höchst bedenklich. Die Gefahr einer Homogenisierung mit inakzeptablen Mitteln ist nicht von der Hand zu weisen. Denn mit dem ethnischen Homogenitätsverständnis wird ein essentialistisches Volksverständnis provoziert, das eine Vermischung des Volkes mit anderen aus normativer Sicht nicht vertrage und darum gegen „Fremdes“ abgeschirmt werden müsse.207 Carl Schmitt spricht nicht nur von „Abschirmung“ des homogenen Kollektivs gegen Fremde, er geht weit darüber hinaus. Seiner Meinung zufolge gehört zur Demokratie notwendig erstens Homogenität und zweitens sogar nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.208 Korrelat der 201 Schmitt, Verfassungslehre, S. 214; Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 f. Siehe dazu Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 80. 202 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 50. Es ist nach wie vor umstritten, ob der Begriff des Politischen bei Carl Schmitt einen normativen oder deskriptiven Charakter hat. Siehe dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 94 f. m.w. N., der davon ausgeht, dass für das staats- und verfassungstheoretische Werk von Carl Schmitt dem Begriff des Politischen ein normativer Status zukommt. 203 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 29; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 92. 204 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 27. 205 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 92; Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 83. 206 Das Politische verläuft durch alle sozialen Schichten hindurch. Carl Schmitt hält auch ausdrücklich fest, dass es ihm nicht um eine erschöpfende Definition geht und er bestimmt das Politische nicht im Hinblick auf irgendwelche bestimmten Inhalte, Gegenstände und Bereiche. Der Begriff des Politischen ist bei Schmitt vielmehr ein Intensitätsgrad von Zusammenschlüssen oder Konflikten; Bolsinger, in: Lietzmann (Hrsg.), Moderne Politik, S. 103 (112). 207 Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, S. 221. 208 Carl Schmitt begründet dies damit, dass jede wirkliche Demokratie darauf beruht, dass nicht nur Gleiches gleich, sondern mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche auch nicht gleich behandelt wird; Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 13 f. Siehe dazu Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 25.
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1. Teil: Kollektive Identität
Homogenitätsforderung ist dementsprechend nicht nur die Hervorhebung und Förderung von Distanz und Differenz nach außen, wie die zunächst formale Unterscheidung zwischen Freund und Feind es vermuten lässt. Vielmehr soll die Homogenität erzwungen werden. Diese von Carl Schmitt geforderte Ausmerzung und Vernichtung andersartiger Individuen stellt einen immensen Verstoß gegen ihre Menschenwürde dar209 und steht in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip des Pluralismus. Dieses Legitimationskonzept ist infolgedessen abzulehnen. d) Identität und Verfassung Carl Schmitt bezieht den Begriff der Identität zumeist auf äußere Gleichartigkeit210 und gebraucht ihn daher im Sinne der Einheit und des Vergleichs. Sein Identitätsbegriff gehört damit dem älteren Zweig der Wortfamilie von Identität an und beschreibt Objektbeziehungen. In dieser Verwendung des Identitätsbegriffes erscheint die identitäre Demokratie Carl Schmitts angesichts der zu untersuchenden Möglichkeit einer Anregung von Identifikationsprozessen bei den Bürgern nicht geeignet für die Untersuchung des Verfassungsvertrages. Teilweise verwendet Carl Schmitt aber den Identitätsbegriff auch als Ersatz für den Begriff Nation in der französischen Tradition. Damit scheinen wiederum subjektive Identifikationsprozesse angesprochen zu sein.211 Carl Schmitt ordnet damit die begriffliche Genauigkeit seines Homogenitätsbegriffes dem eigentlichen Ziel dieser Passagen, nämlich der Vorbereitung der Demokratie auf autoritäre Herrschaftsformen, unter.212 Damit verliert die Schmittsche Kategorie der Homogenität jegliche begriffliche Kontur. Carl Schmitt hat die Frage der Homogenität darüber hinaus aus dem rechtsnormativen Bereich in die Sphäre der vorrechtlichen Voraussetzungen ausgelagert.213 Er sah die staatliche Einheit als vorrechtliches, politisches Problem der existentiellen Identität durch Zuordnung und Abgrenzung zwischen Freund und Feind an.214 Für Schmitt ist die Verfassung die Entscheidung über Form und 209 Siehe ausführlich Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 704 f.; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 105. 210 So ausdrücklich Schmitt, Verfassungslehre, S. 205, 215, 229. 211 Diese irreführende Vermengung zeigt sich eindrücklich. Denn nach Carl Schmitt können folgende Elemente neben der Rasse zur Einheit der Nation beitragen: gemeinsame Sprache, gemeinsame geschichtliche Schicksale, Traditionen und Erinnerungen, gemeinsame politische Ziele und Hoffnungen; vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 231. Dies beweist die Unentschlossenheit Carl Schmitts zwischen einem subjektiven Prozess im Sinne einer kollektiven Identität und einem äußeren Vergleichstatbestand im Sinne der Homogenität. 212 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (161 Fn. 23). 213 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (50). 214 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (123).
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Inhalt der schon bestehenden politischen Einheit.215 Die politisch feststehende Einheit muss durch die Verfassung nur noch in Form gebracht werden.216 Dies bedeutet eine Faktisierung des Verfassungsbegriffes und dessen Verschiebung in den Bereich jenseits des geschriebenen Verfassungstextes.217 Folgerichtig thematisiert Carl Schmitt nicht die Integrationsfunktion von Verfassungen, wenn die Verfassung von der vorgegebenen politischen Einheit abweicht. Integration durch Recht ist für Schmitt zwar grundsätzlich möglich. Er sieht eine solche Einheitsbildung aber als einen defizitären Weg zur Einheit an.218 Es kommt bei Carl Schmitt aufgrund der Annahme vorher bestehender Homogenität und der Identität von Regierenden und Regierten nicht auf die Integrationsfunktion von Verfassungen zur Herstellung von staatlicher Einheit an. Die Verfassung ist für Schmitt keine Norm, sondern eine inhaltlich-substantielle Entscheidung, die jeder Normierung vorausgeht und sie inhaltlich determiniert.219 Die Aufgabe des Verfassungsgesetzes – mithin der rechtlich normierten Verfassung – ist daher lediglich, die staatliche Einheit in der Form, die sie durch die Dezision bekommen hat, zu erhalten. Mit der Verfassung wird nicht die politische Einheitsbildung normativ bestimmt, sondern die Einheitsbildung kommt mit der Verfassung normativ zum Abschluss.220 Weil es um einen nicht-normativen Integrationsmechanismus geht, lässt sich weder verfassungsrechtlich noch verfassungstheoretisch entscheiden, welcher Grad von Einheit erforderlich ist. Bei Carl Schmitt ist aus diesem Grund die Frage der Integration eines Gemeinwesens und die Möglichkeit der Identitätsstiftung kein Problem von Verfassungstheorie und -lehre.221 Integration wird als metajuristisches Phänomen angesehen, das verfassungsrechtlicher Klärung nicht zugänglich ist. Die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung beschäftigt sich aber gerade mit der Möglichkeit, mittels einer Verfassung identitätsstiftende Prozesse bei den europäischen Bürgern auszulösen. Mit der Stiftung kollektiver Identität durch Verfassungsrecht setzt sich Carl Schmitt nicht auseinander. Aufgrund des statischen Verfassungsverständnisses können im Ergebnis aus den Aussagen
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Schmitt, Verfassungslehre, S. 20. Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (855); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (44); Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (123). 217 Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 61 m.w. N. 218 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (123). 219 Schmitt, Verfassungslehre, S. 23. Dies steht im Gegensatz zur Theorie der Grundnorm bei Hans Kelsen; vgl. Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 103, 109. 220 Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (166). 221 Ähnlich Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (50). 216
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1. Teil: Kollektive Identität
Carl Schmitts keine Aussagen für den dynamischen Prozess der Integrationsverdichtung auf der Ebene der Europäischen Union gewonnen werden.222 e) Ergebnis Die Dynamik der europäischen Integration und ihre Rückwirkung auf die nationalen Verfassungen lassen sich mit den Kategorien Carl Schmitts nicht erfassen.223 II. National-kulturelle Homogenität Der Identitäts- und Homogenitätsbegriff Carl Schmitts wirkt bis heute in der Homogenitätsdebatte der deutschen Staats- und Verfassungslehre fort, denn er wurde nach 1949 von Teilen der Wissenschaft rezipiert. In der Tradition Carl Schmitts wird angenommen, dass Verfassung nicht ohne Staat zu verstehen sei, dieser also ihr Gegenstand und ihre Voraussetzung sei.224 Demzufolge wird die staatliche Einheit für eine voraussetzbare, faktisch gegebene Kategorie gehalten.225 Insoweit müsse Verfassungsgebung scheitern und eine Verfassung könne ihre Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie nicht gesellschaftlichen Sinn, historische Erfahrungen und existentielle Momente des Gemeinwesens in sich trage. Von Verfassung könne nur gesprochen werden, wo hinter der Verfassung die vorfindliche Geschichtlichkeit des Gemeinwesens stehe, wo die Verfassung Gedächtnis des Gemeinwesens sei. Damit sei der Versuch, ein Gemeinwesen und eine gemeinsame Identität durch Verfassung erst zu konstituieren, zum Scheitern verurteilt.226 Die staatliche Einheit wird nach dieser Theorierichtung als historisches Faktum vorgefunden.227 Dieses Einheitsmodell rekurriert auf eine Homogenität der Bevölkerung, die zwar zur Bildung eines verrechtlichten Verfassungsstaates führt, diesem aber zeitlich und systematisch vorausgeht.228 Demzufolge muss 222
Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (115). Ebenso Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (119). 224 Dies vertreten Böckenförde, in: ders., Staat Nation Europa, S. 127 (136); Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I § 19, Rn. 18; Kirchhof, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 63 (86); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I §13, Rn. 1, 9; Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (220 ff. m.w. N.). 225 Möllers, Staat als Argument, S. 231; Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162). 226 Siehe dazu Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1162). 227 Daher beschränkt sich der argumentative Aufwand zur Begründung der Homogenität meist auf die historische Analyse und ist dementsprechend gering; Möllers, Staat als Argument, S. 232. 228 Siehe ausführlich zum Folgenden Möllers, Staat als Argument, S. 233 f. 223
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit zeitlich vor der freiheitlichen Demokratie liegen.229 In dieser Verwendung weist der Homogenitätsbegriff einen starken Bezug zu den historischen und den genetischen intersubjektiven Anknüpfungspunkten für die Ausbildung einer kollektiven Identität auf. Nach einem Teil der Staats- und Verfassungsrechtswissenschaft230 ist demnach eine wichtige Voraussetzung des demokratisch verfassten Staates die politische oder nationale Homogenität der Staatsbürger. 1. Die Konzeption Ernst Wolfgang Böckenfördes Von dieser Theorietradition wurde die Frage nach den bindenden Kräften des freiheitlichen Staates aufgeworfen. Ernst-Wolfgang Böckenförde prägte in diesem Zusammenhang den Begriff von den ungarantierbaren Voraussetzungen des Staates.231 Der freiheitliche Staat würde demnach von Voraussetzungen leben, die er selbst nicht garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit zu verlieren. Einerseits könne der Staat nur durch eine Regulierung der Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, bestehen. Diese Regulierung resultiert aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft. Andererseits ist eine Garantie dieser inneren Regulierungskräfte mit den Mitteln des Rechtszwanges und des autoritativen Gebots nicht möglich. Die vorrechtliche substantielle Gleichartigkeit der Bürger begründet nach der Ansicht Böckenfördes eine relative Homogenität. Auf diesem Fundament werde eine demokratische Staatsorganisation, die auf gleichen Mitwirkungsrechten aufbaut, erst möglich und die Bürger seien nur so zu Kompromissen und loyaler Hinnahme der Mehrheitsentscheidungen bereit.232 In dieser Konstruktion hat das Volk die Funktion einer homogenen Kultur- und Verantwortungsgemeinschaft, die das eigentliche Subjekt eines noch nicht verfassten vorrechtlichen Gemeinwesens sichtbar machen soll.233
229 Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 14, 16. Siehe dazu von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (175). 230 Böckenförde, in: ders., Staat Verfassung Demokratie, S. 289 (332 f.); Böckenförde, in: ders., Staat Nation Europa, S. 103 (111); Isensee, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 103 (122); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I §13, Rn. 111; Kirchhof, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 63 (79); Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII § 183, Rn. 25. 231 Siehe detailliert zum Folgenden Böckenförde, in: ders., Recht Staat Freiheit, S. 92 (112 f.), der eine liberale Rezeption Carl Schmitts vornimmt. Vgl. dazu Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 20; Hofmann, JZ 1999, S. 1065 (1066 Fn. 18). 232 Böckenförde, in: ders., Staat Verfassung Demokratie, S. 289 (332 f.); Böckenförde, in: ders., Staat Nation Europa, S. 103 (111). 233 Möllers, Staat als Argument, S. 232.
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1. Teil: Kollektive Identität
2. Die Ansicht Paul Kirchhofs Auch Paul Kirchhof geht davon aus, dass sich die europäischen Staaten der Gegenwart ihre Autonomie aufgrund eines durch Geburt und Herkunft verwandten Staatsvolkes, eines eigenen Raumes und der kulturellen Gemeinsamkeit von Sprache, Religion, Kunst und geschichtlicher Erfahrung bewahren.234 Ohne ein gewisses Maß an Homogenität könne demzufolge kein Staat bestehen.235 Der Wille zur politischen Einheit eines Staatsvolkes beruhe auf bestimmten objektiven Vorgegebenheiten.236 Dies formuliert Kirchhof unter anderem als „Mehr an gesellschaftlicher Gemeinsamkeit“237, als „innere Gebundenheit“238 und „innere Bindung“.239 In der Terminologie der vorliegenden Untersuchung wird hier das Thema kollektiver Identität angesprochen. Dies beruht auf der Annahme, dass auch eine pluralistische Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn sie sich im Kern auf einen als allgemein gültig postulierten Wertekodex stützt, der als Gemeinwohl anerkannt wird.240 Der normative Ausgangspunkt der Konzeption Paul Kirchhofs liegt in dem Verständnis der Grundrechte, die Kernelemente eines „guten und richtigen Lebens“ enthalten sollen.241 So erkennt Paul Kirchhof zwar den Abwehrcharakter der Grundrechte an. Nach seiner Auffassung kann aber das Prinzip der Freiheit für jedermann nur aufrechterhalten werden, wenn die Freiheitsberechtigten aufgrund anderweitiger nichtstaatlicher Bindungen ähnliche Verhaltensweisen pflegen, die in ihrem Zusammenwirken das Gemeinwohl stützen.242 Dieser Auffassung zufolge habe der Staat die Bereitschaft der Bürger zu fördern, sich die mit den Grund234 Kirchhof, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 63 (79); Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII § 183, Rn. 25. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Erfordernis der Homogenität findet sich bei Weiler, FS für Everling II, S. 1651 (1656 ff.). 235 Siehe ausführlich zu dieser Ansicht von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (175). 236 Ebenso Isensee, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 103 (122); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I §13, Rn. 111. 237 Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 6. 238 Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 65. 239 Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 89. 240 Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 22. 241 Allerdings entnimmt Kirchhof aufgrund der starken Privat- und Familienorientierung der Verfassung keinen Gesamtentwurf eines guten Lebens. Es geht nur um die Anfangsbedingungen individueller Entfaltung, sinnvoller Existenz und persönlichen Glücks; vgl. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 64. Siehe zu einer ausführlichen Darstellung dieser Ansicht von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (175 f.).
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rechten vorgegebenen Lebensvollzüge zu eigen zu machen. In rechtlicher Hinsicht führt dies zu substantiierten Identitätserwartungen des Staates an seine Bürger.243 Eine Verfassungsidentität in dieser Konzeption dient der Wahrung von Bewährtem. Denn die Grundentscheidungen der Verfassung – wie die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG244 – bestimme die Identität eines Gemeinwesens unabänderlich.245 Dabei handelt es sich um den Versuch, einen gemeinsamen Grundwertebestand als indiskutablen Bereich den Interpretationskämpfen der „offenen Gesellschaft“ zu entziehen.246 Kirchhof bezeichnet die Europäische Union aus diesem Grund mit dem Begriff des „Staatenverbundes“. Damit soll der Standort der „Organisation Europas zwischen Staatenbund und Entstaatlichung der Mitgliedstaaten“ verdeutlicht werden.247 3. Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts Im Maastricht-Urteil hat auch das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Homogenität mit deutlichen Bezügen zu ethnisch-kulturellen Einheitsvorstellungen bestimmt. Danach sei Demokratie vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig.248 In seiner nationalstaatlichen Sicht geht das Bundesverfassungsgericht außerdem von bedeutsamen eigenen Aufgabenfeldern der europäischen Mitgliedstaaten aus, „auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbil242
Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 13. 243 Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 60. 244 Dieser Gedanke des Art. 79 Abs. 3 GG geht auf die Unterscheidung zwischen der unantastbaren, weil die Identität enthaltende Verfassung und dem jederzeit im formellen Verfahren änderbaren Verfassungsgesetz bei Carl Schmitt zurück; Robbers, Jura 1993, S. 69 (70). 245 Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I § 19, Rn. 1 f.; 38 ff. 246 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (41). Es wird sogar argumentiert, dass mit der Ewigkeitsklausel auch ein bestimmter Staatstypus bzw. die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland überhaupt geschützt sei; vgl. Kirchhof, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 63 (95). Nicht gesehen wird, dass auch Art. 79 Abs. 3 GG und Art. 20 GG ebenfalls Teil der von Art. 23 GG mitgeprägten, als Einheit zu betrachtenden Verfassung sind. Damit sind diese Normen inhaltlich dem Integrationsziel verbunden und unterliegen seiner Dynamik entsprechend dem Wandel, so dass ihnen ein ganz bestimmtes, vorgefasstes Staatsbild nicht unterstellt werden kann; vgl. Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (116). 247 Siehe zu dem Begriff Kirchhof, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 63 (92 ff.); Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII § 183, Rn. 50 ff. Siehe dazu auch Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (100). 248 BVerfGE 89, 155 (185).
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dung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet (. . .), rechtlichen Ausdruck zu geben.“249 Das Bundesverfassungsgericht250 zitiert an dieser Stelle zwar Hermann Heller251 und dessen Konzept der sozialen Homogenität als Urheber dieses Homogenitätsverständnisses. Damit wird es aber Hellers intensiven Bemühungen um den Begriff der staatlichen Einheit nicht gerecht.252 Für Heller ist die staatliche Einheit gerade nicht das gegebene Ergebnis eines historischen Vorgangs.253 Er knüpft sein Erfordernis der sozialen Homogenität an gänzlich andere Einheitsvoraussetzungen. Vor allem macht Heller die soziale Homogenität nicht am Erfordernis der völkischen Einheit fest. Die auf nationale und kulturelle Homogenität abzielende Interpretation des Bundesverfassungsgerichts verkennt, dass Heller in erster Linie für die Begrenzung sozio-ökonomischer Ungleichheiten in einem Gemeinwesen argumentiert.254 Nach Heller ist soziale Homogenität ein sozialpsychologischer Zustand, in dem die stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessenkämpfe durch ein Wir-Bewusstsein und ein Wir-Gefühl in Form eines sich aktualisierenden Gemeinschaftswillens gebunden sind.255 Demnach knüpft Heller hier an subjektive Gegebenheiten bei den Bürgern an. Er stellt in seiner Staatslehre fest, dass weder das Volk256 noch die Nation257 als gleichsam natürliche Einheit angesehen werden dürfen, die der staatlichen Einheit vorgegeben wären und sie selbständig konstituierten.258 Gesellschaftliche Einheit ist für Heller keine monolithische Entität und auch keine Voraussetzung für den Staat.259 Er lehnt die Annahme einer dem Staat vorgehenden und ihn konstituierenden Volkseinheit ab.260 Die Einheit des Staates ist demgemäß immer nur als das Ergebnis bewusster menschlicher Einheitsbildung, als Organisa249
BVerfGE 89, 155 (186) (Hervorhebungen von der Verfasserin). Die Terminologie des Bundesverfassungsgerichts geht dabei auf den Berichterstatter im Maastricht-Urteil, Paul Kirchhof, zurück. 251 Auch Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I §13, Rn. 58 Fn. 92 weist im Rahmen seiner Konstruktion von Homogenität auf die Staatstheorie Hermann Hellers hin. 252 Möllers, Staat als Argument, S. 234. 253 Siehe zum Folgenden Möllers, Staat als Argument, S. 234. 254 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 113 Fn. 66. 255 Vgl. ausführlich dazu Heller, Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (428 f.). 256 Das Volk ist nicht als substantielle Einheit zu sehen, sondern als eine von historischen Interessen geprägt Vielheit; es ist das Produkt kultureller historisch gewachsener Bindungen. Träger und Vermittler kultureller Gemeinsamkeit ist bei Heller nicht nur der Einzelne; vgl. Heller, Staatslehre, S. 262 f.; Fiedler, JZ 1984, S. 201 (207). Möllers, Staat als Argument, S. 87 m.w. N. 257 Nach Heller kann man erst von einer Nation sprechen, wenn ein Volk seine Eigenart durch einen relativ einheitlichen politischen Willen zu erhalten und auszubreiten strebt; dabei muss dieser politische Wille nicht auf die Vereinigung in einem gemeinsamen Staat gerichtet zu sein; Heller, Staatslehre, S. 261 f. 258 Siehe ausführlich dazu Heller, Staatslehre, S. 266. 250
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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tion zu begreifen.261 Gesellschaft und Staat sind nämlich als politische Einheit das Ergebnis eines geistig-schöpferischen Handels und keine naturhaften Vorgegebenheiten.262 Denn es war oft genug umgekehrt, dass erst die staatliche Einheit die Nation und die „natürliche“ Einheit des Volkes „gezüchtet“ hat.263 Nach Hermann Heller konstituiert sich ein Wir-Bewusstsein vor allem durch zahlreiche von einer Gruppe gemeinsam bewältigte Schicksale und durch eine umfassende Ausbildung gemeinsamer Lebensformen. Also sind gemeinsam erlebte staatliche Schicksale für die Entstehung eines kollektiven Bewusstseins und erst recht für die Ausbildung eines nationalen Willens von entscheidender Bedeutung. Heller hält folglich entgegen der in dem Urteil zu belegenden Notwendigkeit einer ethnisch-kulturellen Homogenität die politisch-integrative Funktion von Nation und substantieller Gemeinsamkeit für nicht bedeutend. Die Integrationsfaktoren und Identitätsgehalte der gemeinsamen Sprache, Geschichte und Kultur, die das Bundesverfassungsgericht als wichtig heraushebt, lässt Heller sogar als Phänomene der Vergangenheit im Plusquamperfekt dahingestellt.264 Hermann Heller zielt primär auf sozialen Ausgleich ab und nicht auf das, wofür das Bundesverfassungsgericht ihn in Anspruch nimmt, nämlich Homogenität eines Volkes als Bedingung des Staates.265 Die Einführung der Homogenität als rechtliche Demokratiebedingung in die Argumentation war also weder geboten noch wegen ihrer negativen Verflechtung nützlich.266 Außerdem setzt sich Hermann Heller in dem zitierten Ausschnitt267 explizit mit Carl Schmitt auseinander. Als Urheber für ein ethnisch-kulturelles Homogenitätsverständnis wäre also eher Carl Schmitt anzugeben gewesen. Wenn man das Erfordernis einer relativen Homogenität auf die Europäische Union überträgt, dann wären bestimmte politische, ethnisch-kulturelle Voraus259 Heller hat im Vergleich zu den anderen hier genannten Weimarer Staatsrechtlern eine differenziertere Gesellschaftstheorie, um sich dem Begriff der staatlichen Einheit zu nähern; vgl. Möllers, Staat als Argument, S. 87. 260 Möllers, Staat als Argument, S. 87. 261 Heller, Staatslehre, 341. 262 Heller, Staatslehre, S. 259 ff.; 341; Fiedler, JZ 1984, S. 201 (206). 263 Siehe ausführlich dazu Heller, Staatslehre, S. 266. 264 „In der europäischen Neuzeit (. . .) waren gemeinsame Sprache, gemeinsame Kultur und politische Geschichte die wichtigsten Faktoren der sozialpsychologischen Angleichung gewesen.“ Heller, Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (429) (Hervorhebungen von der Verfasserin); von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (173 Fn. 74). 265 Heller, Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (430 ff.). 266 Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (106 f.). Derartige negative Verflechtungen des vom Bundesverfassungsgerichts verwendeten Homogenitätsbegriffes werden zum Beispiel in der Interpretation der Entscheidung durch Weiler deutlich. Er unterstellt dem Bundesverfassungsgericht, dass sein Homogenitätsbegriff an eine ethnisch definierte Nation gebunden sei, vgl. Weiler, FS für Everling II, S. 1651 (1654 f.). 267 Zitiert wurde Heller, Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (427 ff.).
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setzungen maßgeblich für die Legitimität ihrer Hoheitsgewalt. Die Europäische Union wäre demzufolge dann legitimiert, wenn ihr Handeln als Ausdruck ethischer Selbstverständigung der sich als Kollektiv wahrnehmenden Europäer begriffen werden kann.268 Dieser Sichtweise zufolge muss die Europäische Union die relative Homogenität ihrer Bürger durch identitätsbildende Maßnahmen269 fördern und so ein europäisches Volk zum Entstehen bringen. Sie muss das Bild einer historischen Gemeinschaft konstruieren, an dem sich die Bürger orientieren können und dass den Sinn der Gemeinschaft vermittelt. Nach dieser Theorierichtung können auch die religiösen Wurzeln einer europäischen Kultur zur Basis und zum Anknüpfungspunkt einer europäischen Identität gemacht werden. Wer diese Ansicht teilt, wird sich gegen die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union wenden. 4. Kritik Das von Teilen der Staats- und Verfassungsrechtswissenschaft rezipierte national-kulturelle Homogenitätsverständnis ist wegen seiner negativen Verflechtung auf erbitterte Kritik gestoßen. Der Ausdruck des Staatenverbundes für die Europäische Union kann nur für den passend erscheinen, der vom Staat und nicht von der Verfassung her denkt.270 Eine europäische Verfassungsgebung würde in dieser Tradition die Freilegung allgemeingültiger Werte als Grundlage eines europäischen Gemeinwesens voraussetzen.271 a) National-kulturelle Homogenität Eine national-kulturelle Homogenität ist in der heutigen globalisierten Welt mit ihren vielfältigen zwischenstaatlichen Interpendenzen nicht realistisch.272 Ein weiteres Problem von Homogenität als demokratische Rechtfertigungsvoraussetzung ist ihre Kontextabhängigkeit. Homogenität liegt immer nur hinsichtlich derjenigen Merkmale vor, die zu ihrer Bestimmung als wesentlich herausgegriffen werden.273 Darüber hinaus ist das Homogenitätskriterium abhängig von der jeweiligen Abstraktionshöhe. Bei einem sehr abstrakten Vergleich einer 268
Siehe ausführlich zum Folgenden Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (201 f.). Beispielsweise in der Kultur- und Bildungspolitik. 270 Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (30 f.). 271 Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 22 f. Siehe dazu von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (175). 272 Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 180 ff., 361 ff.; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 97 ff.; Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interpendenz, S. 137 ff., S. 183 ff., S. 330 ff. Hobe, Der Staat 37 (1998), S. 521 (523 ff. m.w. N.). 269
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Bevölkerung mit anderen kann diese in sich homogen erscheinen, wie zum Beispiel die europäische Bevölkerung im Verhältnis zu den Bewohnern Asiens. Bei einer konkreteren Betrachtungsweise der Bevölkerung Europas werden aber sehr schnell Inhomogenitäten und Unterschiede zwischen den einzelnen mitgliedstaatlichen Völkern deutlich. Übereinstimmende vorrechtliche objektive Gegebenheiten einer Gesellschaft können zwar zu gleichartigen Kategorisierungsprozessen bei den Bürgern führen, die gleichgerichtete soziale Identitäten zur Folge haben. Dadurch erleichtern objektive homogene Vorbedingungen auch die Ausbildung einer kollektiven Identität und begründen subjektiv das Gefühl des sozialen Zusammenhangs und des gemeinsamen Schicksals.274 Auf diese Weise verstärken übereinstimmende vorrechtliche Elemente aber lediglich die Chancen der Bildung und Stabilität einer gesellschaftlichen Ordnung. Daher kann Homogenität höchstens ein tatsächlicher Faktor sein, der die Funktionsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft erleichtert. b) Identität und Verfassung Aus der angenommenen Angewiesenheit der Verfassung auf eine staatstragende Identität der Bürger werden zwar verfassungsrechtliche Konsequenzen gezogen.275 Diese Theorierichtung verweist den Prozess der Identitätsstiftung und -bildung aber ebenfalls in den vorrechtlichen Bereich. Auch hier ist die Verfassung das Ergebnis vorheriger gelungener Einheitsbildung. Die Verfassung wird folgerichtig nicht als Instrument zur Identitätsstiftung für ein sehr hetero273 Siehe zu einer umfassenden Darstellung der folgenden Kritik Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 704 f. 274 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (136). 275 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (174 f.). Siehe zu den verfassungsrechtlichen Folgerungen Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I §13, Rn. 115 f.; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX § 221, Rn. 1 ff.; Rn. 8. Außerdem zieht BVerfGE 12, 45 (51) die verfassungsrechtliche Konsequenz der Zulässigkeit der Wehrpflicht. BVerfGE 28, 36 (48) begrenzt das Feld freier politischer Meinungsäußerung für Soldaten. In BVerfGE 39, 334 (346 ff.) wird gefolgert, dass von Beamten und Richtern ein Eintreten für die Verfassungsordnung gefordert werden kann und nimmt eine Treuepflicht an. BVerfGE 40, 237 (251) entnimmt aus der Bedeutung des „Einverstandenseins“ des Bürgers mit dem Staat eine Chance zur Identifikation, ohne die eine Demokratie nicht dauerhaft bestehen könne. Als Konsequenz müsse der Bürger im Fall des Konflikts mit der Staatsgewalt „seinen“ Richter finden und von ihm in fairer Weise zur Sache gehört werden. Siehe zur effektiven Integration des Staatsvolkes als Grundlage des Wahlverfahrens BVerfGE 95, 408 (420 ff.). Zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage zur Etablierung einer Dienstpflicht für Lehrer, auf Erkennungsmerkmale ihrer Religionszugehörigkeit in Schule und Unterricht zu verzichten, siehe die so genannte „Kopftuch-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts BVerfG NJW 2003, S. 3111 (3113, 3116).
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1. Teil: Kollektive Identität
genes Gemeinwesen, in dem eine kollektive Identität der Bürger noch nicht besteht, angesehen. Aufgrund ihres starren Verfassungsbegriffes geht diese Auffassung am eigentlichen Kernproblem der Dynamik der Europäischen Integration vorbei.276 c) Ergebnis Durch die Annahme, dass eine kollektive Identität der Verfassung vorgelagert sei, kann diese Traditionslinie nicht das Instrumentarium zur Untersuchung der identitätsstiftenden Ansatzpunkte des Europäischen Verfassungsvertrages liefern. Eine national-kulturelle Homogenität der Bürger als objektive Seite einer subjektiven kollektiven Identität kann im Ergebnis nicht als vorrechtliche normative Legitimationsbedingung oder als Rechtfertigungsvoraussetzung von Demokratie angesehen werden. III. Hermann Heller Hermann Heller277 (1891–1933) lehnt die Trennung der juristischen Begrifflichkeiten von ihrer jeweiligen kulturellen Realität ab.278 Er will die juristischen Begriffe an reale gesellschaftliche Vorgänge knüpfen und das vorhandene „vorwissenschaftliche“ Material in präzise und praktikable Rechtsbegriffe umprägen.279 Der Vorgang der Einheitsbildung ist bei Heller nicht nur ein organisatorischer und soziologisch beobachtbarer Vorgang.280 1. Einheitskonzeption: Soziale Homogenität Hermann Heller koppelt die Demokratie an die Voraussetzung der sozialen Homogenität. Ohne ein bestimmtes Mindestmaß an sozialer Homogenität sei demzufolge eine demokratische Einheitsbildung nicht möglich.281 Die soziale 276
Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13
(29). 277 Zur Literatur über Hermann Heller siehe Fiedler, JZ 1984, S. 201 (201 ff.) sowie die einzelnen Beiträge in Müller, GS für Hermann Heller. Siehe zur Konzeption der Einheit Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 167 ff.; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 183 ff.; Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, S. 67 ff. 278 Fiedler, JZ 1984, S. 201 (209). 279 Heller, Die Souveränität, S. 31 (120); Fiedler, JZ 1984, S. 201 (203). 280 Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (173). 281 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (427); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 175; Robbers, Jura 1993, S. 69 (71); Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (172).
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Homogenität soll es ermöglichen, die innerhalb einer Gemeinschaft stets vorhandenen Interessengegensätze auszuhalten und die politische Einheit nicht zu sprengen.282 Denn nur solange an die Existenz einer derartigen Homogenität geglaubt werde und angenommen werde, dass es eine Möglichkeit zur Einigung mit dem politischen Gegner gebe, solange nur werde auf Unterdrückung durch physische Gewalt verzichtet.283 Diese für die Erhaltung der Demokratie notwendige soziale Homogenität ist nach der Ansicht Hellers gefährdet, wenn benachteiligte Bevölkerungsgruppen soziales Ungleichheitsbewusstsein und politisches Machtbewusstsein ausbilden. Eine Demokratie könne daher nur bestehen bleiben, wenn die sozialen Disparitäten in der Gesellschaft nicht zu groß würden.284 Die Einheitsbildung hört nach Heller also dort auf, wo sich die politisch relevanten Volksteile in der politischen Einheit in keiner Weise mehr wieder erkennen können, wo sie sich mit den staatlichen Symbolen und Repräsentanten in keiner Weise mehr zu identifizieren vermögen.285 Ohne einen entsprechenden Grundkonsens verlieren der Ansicht Hellers zufolge die Spielregeln der Demokratie – wie der Majoritätsentscheid – ihre integrierende und legitimierende Wirkung.286 Soziale Homogenität im Sinne Hellers ist aber nicht gleichzusetzen mit einer absoluten gesellschaftlichen Harmonie der Interessen und Willensrichtungen.287 Daher bedeutet soziale Homogenität nach Heller niemals die Aufhebung der notwendig antagonistischen Gesellschaftsstruktur.288 Für Heller steht fest, dass 282
Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 175. Aus diesem Grund könnte man eine Einordnung Hermann Hellers als republikanischen Kommunitaristen vornehmen, da er die materielle politische Befindlichkeit der Gesellschaft in seine Theorie einbezog. Siehe dazu die Deutung bei Llanque, in: Lietzmann (Hrsg.), Moderne Politik, S. 37 (38 f.); Kersting, in: Carstens/Schlüter-Knauer (Hrsg.), Der Wille zur Demokratie, S. 195 (210 ff.); Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (419). 283 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (427). 284 Denn wenn dem Proletariat die Diskrepanz der Klassen zu Bewusstsein komme, dann würde es nur unter zwei Bedingungen die demokratische Form des Klassenkampfes respektieren: nämlich dann, wenn sie ihm irgendwelche Aussichten auf Erfolg gewährt, und wenn es imstande ist, eine geistig-sittliche Fundierung und historische Notwendigkeit der gegenwärtigen Herrschaftssituation zu entdecken. Demzufolge greift das Proletariat erst dann zur Diktatur, wenn es zu dem Glauben gelangt, dass die demokratische Gleichberechtigung seines übermächtigen Gegners den Klassenkampf in demokratischen Formen zur Aussichtslosigkeit verdammt; Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (430 f.). Siehe dazu Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 113. 285 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (428); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 175. 286 Hier sah sich Hermann Heller in einem wesentlichen Gegensatz zu Carl Schmitt. Diesem warf er nämlich vor mit seiner Freund-Feind-Unterscheidung die Sphäre der innerstaatlichen Einheitsbildung als Politik überhaupt nicht gesehen zu haben; Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (425). 287 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 175. 288 Vgl. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (428).
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es gesellschaftliche Interessen- und Machtkonflikte immer geben wird. Die soziale Homogenität bewirkt nach Hellers Ansicht aber, dass die unvermeidlichen Konflikte auf einer gemeinsamen Grundlage ausgetragen werden können.289 Denn die geistesgeschichtliche Basis im Parlamentarismus sei nicht die Existenz öffentlicher Diskussion als solcher, sondern vielmehr der Glaube an die Existenz einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage und damit der Glaube an die Möglichkeit eines „fair play“ für den innenpolitischen Gegner.290 Hermann Heller verfolgt das Konzept der relativen Ausgeglichenheit des politischen Bewusstseins, welches ungeheure Spannungsgegensätze in sich verarbeiten könne.291 Soziale Homogenität soll bei Heller also kein substantielles Substrat sein, das die politische Einheitsbildung als Aufgabe ersetzen soll, sondern die soziale Homogenität soll erst die Voraussetzungen der politischen Einheitsbildung als willentlichen Vorgang ermöglichen.292 Denn nach Heller ist die Betätigung von Freiheit und Gleichheit ohne ein gewisses Maß an sozialer Homogenität nicht möglich.293 Dabei kann relative Homogenität zwar eine der Ursachen für die Einheit des Staates bilden; sie kann aber auch umgekehrt die Folge der staatlichen Einheit sein.294 Soziale Homogenität soll als Demokratievoraussetzung der Stärkung und Kräftigung der repräsentativen Demokratie dienen;295 die Überlegungen zum Erfordernis der sozialen Homogenität beruhen also auf dem Argument der Stabilität.296 2. Verfassung In seinem Rechts- und Verfassungsverständnis spiegelt sich Hellers kulturwissenschaftliche Sicht297 auf die Staatslehre wider, welche das „gesamte Natur289
Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 175. Vgl. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (427). Siehe dazu auch Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (174). 291 Vgl. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (428). 292 Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (174). 293 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (430); dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 181. 294 Heller, Staatslehre, S. 341. 295 Vgl. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (427). Vgl. auch die ausdrücklich eingeräumten Gemeinsamkeiten mit Carl Schmitt in Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (424 f.). 296 Dieser Gedanke Hellers entspricht dem Grundgedanken der „gehegten Konflikte“, der sich schon bei Simmel, Soziologie, S. 186 ff. findet. Siehe dazu Dubiel, in: Heitmeyer (Hrsg.) Was hält die Gesellschaft zusammen? Band 2, S. 425 (425, 428). 297 Hellers Verständnis der Staatslehre war kulturwissenschaftlich ausgerichtet. Aus diesem Grund grenzte er die Staatslehre zur Geisteswissenschaft ab und bezeichnete 290
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und Kulturmilieu“ einbeziehen soll.298 Daraus resultiert ein Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen, also zwischen Normativität und Faktizität.299 Heller zufolge besteht eine Wechselbezüglichkeit von Staat und Recht sowie von Macht und Recht.300 Das Recht sei die notwendige Erscheinungsform jeder dauerhaften Herrschaft, denn jedenfalls unter den Bedingungen des modernen Staates ist politische Macht immer auch rechtlich organisierte Macht.301 Die Einheitsbildung erfolgt in einer entwickelten Gesellschaft aufgrund einer Normativität, die in der Verfassung zum Ausdruck gelangt. Nur durch die normative Projektion der in der Verfassung angestrebten Zielvorstellung der Einheit kann nach Heller das Verhalten der Bürger zu einem mehr oder weniger einheitlichen Zusammenwirken organisiert werden.302 Damit ist das Recht der maßgebliche Integrationsfaktor eines Staates.303 Heller betont auch die integrierende Funktion der Grundrechte.304 Er versteht die Freiheits- und Gleichheitsrechte als materielle Verweisungen auf die überpositiven Rechtsprinzipien.305 Demnach komme in den Grundrechten das gesamte, den individuellen Staat legitimierende und deshalb auch integrierende, Kultursystem zum Ausdruck.306 Heller begreift also die Grundrechte als ein „Wertsystem“, als ein „integrierendes Kultursystem“, das für alle Staatsgewalten maßgeblich sei.307 sie als Wirklichkeitswissenschaft. Er ordnete die Staatslehre als Teil der politischen Wissenschaften, als Kulturwissenschaft, Soziologie und Strukturwissenschaft ein. Aus diesen sozialwissenschaftlichen empirischen Nachbardisziplinen gewann er Argumentationsmaterial für seine Überlegungen; Heller, Staatslehre, S. 124 ff.; 130 ff.; 142 ff.; 146 ff. Siehe dazu Fiedler, JZ 1984, S. 201 (207, 209); Möllers, Staat als Argument, S. 85; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 159. 298 Heller, Staatslehre, S. 255; Fiedler, JZ 1984, S. 201 (207). 299 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 161. 300 Möllers, Staat als Argument, S. 91. 301 Heller, Staatslehre, S. 298 f., 354; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 161. 302 Heller, Staatslehre, S. 378. 303 Daher kritisiert Heller an dieser Stelle Smend, weil dieser das Recht als Fremdkörper der Verfassung bezeichnet und aus dem Kreis der staatlichen Integrationsfaktoren ausschließt; Heller, Staatslehre, S. 300. 304 Heller, Europa und der Fascismus, S. 463 (545). 305 Heller, Staatslehre, S. 369 f.; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 178. 306 Heller, Europa und der Fascismus, S. 463 (545). 307 Heller, Europa und der Fascismus, S. 463 (545); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 178. Hier findet sich eine Übereinstimmung Hermann Hellers mit Smend bezüglich des Verständnisses der Grundrechte als Kulturwerte. Heller pflichtet Smend insofern bei, als Smend die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte, sondern auch als Aufbaurechte betrachtete. Allerdings war Hellers Verhältnis zu Smend ambivalent, denn trotz seiner Sympathie für Smends Grundrechtsverständnis stand er dessen Integrationslehre eher kritisch gegenüber. Heller kritisierte in diesem Zusammenhang scharf, dass Smend ein irrationales Element in die Politik eingeführt
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3. Legitimität Der Gedanke der Kultur als der Gesamtheit der überkommenen Werte308 ist für die Legitimität eines Gemeinwesens von entscheidender Bedeutung. Ganz allgemein ist der Staat bei Heller gerechtfertigt, wenn er die zur Sicherung des Rechts nötige Organisation darstellt.309 Die Existenz einer politischen Wertegemeinschaft ist die maßgebliche Voraussetzung politischer Einheit, ohne die könne es weder eine politische Willensgemeinschaft noch eine Rechtsgemeinschaft geben.310 Die bloße Übereinstimmung eines staatlichen Aktes mit dem Gesetz könne immer nur Legalität, niemals rechtfertigende Legitimität begründen.311 Legitim ist die organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit nach Hellers Theorie nur dann, wenn sie der Anwendung und Durchsetzung der vorfindlichen überpositiven Rechtsgrundsätze312 in positives Recht dient.313 Überpositive Rechtsgrundsätze fungieren damit als Maßstab für die Legitimität eines Gemeinwesens.314 4. Tauglichkeit des Ansatzes zur Identitätsstiftung durch europäisches Verfassungsrecht Für die juristische Adaptionsfähigkeit der Theorie Hermann Hellers auf den Prozess der europäischen Integration spricht zunächst, dass sich Hermann Heller vor allem um die Verallgemeinerbarkeit seines theoretischen Ansatzes bemühte. Denn er nahm die aktuellen Zeitprobleme lediglich zum Anlass, seine Gedankengänge praktisch-politisch zu belegen.315 Hermann Heller hatte im Gegensatz zu Carl Schmitt kein statisches Staatsverständnis. Seiner Ansicht zufolge ist die politische Einheit „Staat“ notwendig
habe, indem er die Politik als Teil des geistigen Lebens verstehe. Vgl. dazu Koga, FS für Quaritsch, S. 609 (619 ff.). 308 Geis, JuS 1989, S. 91 (95). 309 Der Staat ist bei Heller nur gerechtfertigt, sofern er eine gerechte Ordnung erstrebt. Eine Rechtfertigung des Staates ist nur durch die Beziehung der Staatsfunktion zur Rechtsfunktion möglich; Heller, Staatslehre, S. 327, 332; Möllers, Staat als Argument, S. 90. 310 Heller, Europa und der Fascismus, S. 463 (476). 311 Heller, Staatslehre, S. 331. 312 Diese sind nach Heller, Staatslehre, S. 369 f. kulturell entstandene außerrechtliche Elemente, die in den Rechtsüberzeugungen der Menschen gelten. Siehe dazu Robbers, Jura 1993, S. 69 (71); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 164. 313 Heller, Staatslehre, S. 333; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 163. 314 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 168. 315 Fiedler, JZ 1984, S. 201 (203).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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eine organisierte Einheit, die durch die entsprechenden Institutionen ihre Gestalt erhält und handlungsfähig wird.316 Diesbezüglich sei das Gesetz der Organisation das grundlegendste Bildungsgesetz des Staates.317 Der Staat ist auf Veränderung angelegt und wird als Prozess politischer Einheitsbildung verstanden.318 Bei Heller befinden sich Staat, Verfassung und positives Recht in einer beständigen Abhängigkeit von der jeweiligen Wirklichkeit. Sie sind folglich durch eine spezifische Dynamik gekennzeichnet.319 Politik ist bei Heller eine Organisation von Willensgegensätzen auf Grund einer Willensgemeinschaft.320 Er definiert damit auch die Politik als dynamisch integrierenden Prozess.321 Allerdings liefert Heller keine eindeutige Definition des Politischen.322 Die Politik steht in einem ungeklärten, aber offenbar sehr engen Verhältnis zum Staat. Aus diesem Grund bleibt für den Juristen nur die Einsicht, dass verfassungsrechtliche Normen in einem bestimmten politischen Kontext stehen, der zu ihrem Verständnis nicht hinweggedacht werden kann.323 Dabei ist die Funktion der Politik die Umsetzung gesellschaftlicher Entwicklungen in Rechtsform.324 Für Heller ist der Begriff der Politik weiter als der des Staates. Politische Tätigkeiten habe es gegeben, bevor es Staaten gab. Ebenso gibt es auch politische Verbände innerhalb und zwischen den Staaten.325 Damit kann sich politische Macht nach seinem Theorieansatz auch außerstaatlich konstituieren.326 Dies spricht zunächst für eine Ablösbarkeit seiner Lehre vom Nationalstaat.
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Fiedler, JZ 1984, S. 201 (205). Heller, Staatslehre, S. 287 ff., 341. 318 Fiedler, JZ 1984, S. 201 (206). 319 Fiedler, JZ 1984, S. 201 (205). 320 Heller, Europa und der Fascismus, S. 463 (467); Llanque, in: Göbel/van Laak/ Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (173). 321 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (425); Koga, FS für Quaritsch, S. 609 (620). Hier kommt eine Rückbesinnung Hellers auf Smend zum Ausdruck; vgl. Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (172). 322 Politik und Staat sind nach Heller zwar dem Begriff und der Wirklichkeit nach immer aufeinander bezogen, sie sind aber nicht identisch miteinander. Denn nicht jede politische Macht ist Staatsmacht, aber jede will es werden; Heller, Staatslehre, S. 312 f. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 91 Fn. 57. 323 Möllers, Staat als Argument, S. 121. 324 Heller definiert die Politik als „die Kunst, gesellschaftliche Tendenzen in rechtliche Formen umzusetzen.“ Vgl. Heller, Staatslehre, S. 313. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 91. 325 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 311. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 91. 326 Möllers, Staat als Argument, S. 91. 317
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a) Europäischer Bundesstaat Heller hat sogar die Idee eines souveränen europäischen Bundesstaates formuliert.327 Demzufolge nimmt er für die „Vereinigten Staaten von Europa“ eine „uralte geistige Tradition“ an, die in die Tat umgesetzt das „müde Europa verjüngen“ könnte.328 Heller stellt die Frage, ob angesichts der engen Verflechtung der europäischen Staaten die Nationalidee nicht ergänzt werden muss durch ein „umfassenderes Substrat Europa“.329 Damit könnte Heller den Gedanken der europäischen Integration vorweg genommen haben. Hermann Heller müsste in diesem Fall eine Einordnung der nationalstaatlichen Souveränität in einen „umfassenderen souveränen Staat“ für rechtlich möglich halten.330 Heller hat im Zusammenhang mit der Entwicklung seines Souveränitätsbegriffes Äußerungen zu einem föderalistischen Bundesstaatskonzept getroffen.331 Für die Adaption dieses Konzepts auf die europäische Integration ist problematisch, dass Hermann Heller von einem absoluten nationalstaatlichen Souveränitätsbegriff ausgeht.332 Kennzeichnend für sein Souveränitätsverständnis ist die vollständige Integrierung des Souveränitätsmerkmals in seinen Staatsbegriff.333 Die Organisationseinheit Staat habe als einzige Wirkungseinheit Zugriff auf das Recht. Diese Zugriffsmöglichkeit begründe die Souveränität des Staates334 und rechtfertige die Definition des Staates als politische Wirkungs-335 und Entscheidungseinheit.336 Demzufolge definiert Heller Souveränität als die Möglichkeit, „jeden die Einheit des gebietsgesellschaftlichen Zusammenwirkens betreffenden Konflikt, gegebenenfalls sogar gegen das positive Recht, endgültig und wirksam entscheiden zu können und diese Entscheidung jedermann, nicht nur den Mitgliedern des Staates, sondern grundsätzlich allen Gebietsbewohnern auferlegen zu können“.337 Demzufolge sei Souveränität die Eigenschaft einer universalen Gebietsentscheidungs- und Wirkungseinheit, aufgrund der sich diese 327 Heller warf damit die Frage auf, ob der Kulturindividualismus der europäischen Nationen gerade durch ihren politischen Individualismus bedroht ist und allein durch einen europäischen Bundesstaat gerettet werden kann; vgl. Heller, Die Souveränität, S. 31 (201). 328 Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, S. 267 (409). 329 Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, S. 267 (374). 330 Bejahend Fiedler, JZ 1984, S. 201 (210); wohl eher verneinend Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1163). 331 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 179. 332 Zu Hellers Konzeption der Souveränität als Wesensmerkmal des Staates siehe Heller, Die Souveränität, S. 31 (133 ff., v. a. 185). 333 Fiedler, JZ 1984, S. 201 (209). 334 Heller, Staatslehre, S. 348. 335 Heller, Staatslehre, S. 341. 336 Heller, Staatslehre, S. 347; Heller, Die Souveränität, S. 31 (133); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 160. 337 Heller, Staatslehre, S. 356 (Hervorhebungen von der Verfasserin).
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um des Rechts willen, gegebenenfalls auch gegen das Recht, absolut behaupten kann.338 Nach den Äußerungen Hellers zur Bundesstaatlichkeit ist eine bundesstaatliche Aufteilung des Staatsgebietes zwar nicht ausgeschlossen, sie dürfe aber die gesamtstaatliche Souveränität nicht antasten.339 Folglich dürfe sich der Bundesstaat nur aus „Ländern“, nicht aber aus eigenständigen „Staaten“ zusammensetzen. Denn nur der Gesamtstaat könne und dürfe als universale Entscheidungseinheit gelten.340 Den Ländern dürfe deshalb auch keine Verfassungsautonomie zukommen.341 Heller lehnt also den Staatscharakter der Bundesländer ab.342 Diese Auswirkung der Souveränität überträgt Heller auf das Völkerrecht343 und betont die Souveränität des Einzelstaates gegenüber völkerrechtlichen Bindungen.344 Eine Beschränkung der staatlichen Souveränität durch das Völkerrecht verneint Heller mit dem Hinweis, dass die Staaten das Völkerrecht geformt haben und nicht umgekehrt.345 Zwar erkennt Heller an, dass Staaten gewisse Kompetenzen an eine internationale bzw. supranationale Organisation346 delegieren können.347 Aus der Universalität der Gebietsentscheidung folge aber trotzdem das „Zuhöchst- und das Unabhängigsein“ des Staates.348 Damit ist der Bestimmungsgrund für die Souveränität im Einzelfall nicht nur die Rechts- sondern auch die Machtlage.349 Der Staat kann nach Hellers Ansicht letztverbindlich und prinzipiell allzuständig entscheiden und handeln.350 Demzufolge entfalte der Staat seine Souveränität begriffsnotwendig nach innen und nach außen, da er nur auf diese Weise seine wesentlichen Herrschafts- und Ordnungsfunktionen zu erfüllen vermag.351
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Heller, Die Souveränität, S. 31 (185); Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1163). Heller, Die Souveränität, S. 31 (134 ff.); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 179. 340 Heller, Die Souveränität, S. 31 (140). Siehe dazu Llanque, in: Göbel/van Laak/ Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (172); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 179. 341 Heller, Die Souveränität, S. 31 (134 f.); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 179. 342 Heller, Die Souveränität, S. 31 (140). 343 Siehe dazu Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1163 Fn. 101). 344 Heller, Die Souveränität, S. 31 (141 f., 176 f.). 345 Heller, Die Souveränität, S. 31 (143). Siehe dazu Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interpendenz, S. 80. 346 Heller nennt hier den Völkerbund als derartige Organisation. 347 Heller, Die Souveränität, S. 31 (183); Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interpendenz, S. 80. 348 Heller, Die Souveränität, S. 31 (141); Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1163). 349 Heller, Die Souveränität, S. 31 (170). 350 Robbers, Jura 1993, S. 69 (71). 351 Fiedler, JZ 1984, S. 201 (209). 339
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Heller gelingt es zwar von diesem Ansatz aus, die politische Einheit „Staat“ von vorneherein auch in ihrer Außenbeziehung zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnisse zu machen.352 Die Definition der Souveränität impliziert allerdings, dass staatliche Souveränität notwendigerweise unteilbar ist.353 Damit bleibt aber der souveräne Einzelstaat im Mittelpunkt der juristischen Grundeinstellungen Hellers, der trotz aller internationalen Verflechtungen nur im Wege des Vertragsschlusses übergeordnete völkerrechtliche Normen zu dulden hat.354 Unter Umständen könnte man aber die Reflexionen Hermann Hellers über einen europäischen Bundesstaat als Abgehen von seinem absoluten nationalstaatlichen Souveränitätsverständnis deuten. Einer Ansicht zufolge hat Heller mit der Souveränitätstheorie nicht die traditionelle Nationalsouveränität verteidigt, sondern sich mit der Konzeption des europäischen Bundesstaates gerade dagegen gewandt.355 Allerdings entspricht dies nicht Hellers Intention. Nach Heller ist die Auflösung der nationalstaatlichen Souveränität allein durch die Einordnung in einen umfassenden souveränen Staat möglich.356 Daher kann der europäische Bundesstaat im Sinne Hellers nur ein Staatenverbund oder ein Staat sein.357 Die Gedanken zu einem europäischen Bundesstaat beruhen auf den sich verstärkenden Zweifeln Hermann Hellers, ob der Schutz der Nation durch die europäischen Nationalstaaten überhaupt noch gewährleistet werden kann.358 Die Forderung nach einer „europäischen Internationale“ hat Heller ausdrücklich zum Schutz der Nationen erhoben.359 Heller geht mit dem Gedanken des europäischen Bundesstaates keineswegs auf Distanz zum Nationalstaat. Vielmehr bestehe gerade aufgrund der nachlassenden Schutz- und Integrationskraft der europäischen Nationalstaaten die Notwendigkeit der „Vereinigten Staaten von Europa“. Hermann Heller kann mit seiner Anregung zu einem europäischen Bundesstaat zwar als ein früher Anhänger der Europaidee bezeichnet werden. Dies gilt allerdings nur
352
Fiedler, JZ 1984, S. 201 (209). Aus diesem Grund wirken die Ausführungen Hellers über die Souveränität rigoros. Denn nach Heller muss in jeder Herrschaftsform und auch in der Demokratie ein „Herr“ als wirksame Entscheidungseinheit vorhanden sein; vgl. Heller, Die Souveränität, S. 31 (62, 169). Siehe dazu Fiedler, JZ 1984, S. 201 (206). Daher erblickten viele politische Weggefährten Hellers in dessen Schrift zur Souveränität eine reaktionäre Verabsolutierung des Staats und waren schockiert. Siehe dazu Fiedler, JZ 1984, S. 201 (206). 354 Fiedler, JZ 1984, S. 201 (209). 355 Drath/Müller, in: Heller, Gesammelte Schriften, Erster Band, S. IX (XVIII). 356 Heller, Die Souveränität, S. 31 (201). 357 So vertreten von Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interpendenz, S. 81. 358 Heller, Die Souveränität, S. 31 (201). 359 Dabei spielten auch wirtschaftliche Gesichtspunkte und die Opposition zum Nationalsozialismus eine Rolle. 353
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soweit es nicht um die Ersetzung des Nationalstaates geht, sondern um eine Ergänzung seiner geschwächten Funktionen.360 b) Souveränitätsverständnis und europäische Integration Hellers Konzeption ist gerade für eine Beschreibung der Verschränkung des Staates mit internationalen und supranationalen Organisationen und der daraus folgenden wechselseitigen Abhängigkeiten problematisch, weil die von ihm vorausgesetzten Kompetenzzuordnungen auf diesen Ebenen gerade nicht eindeutig zu treffen sind.361 Heller thematisiert nicht den Wechselbezug von Staaten mit internationalen bzw. supranationalen Organisationen. Er kann die Wirkungsund Entscheidungseinheit nur entweder beim Staat oder aber – was nach dieser Konzeption ebenfalls vorstellbar wäre – im internationalen Bereich, etwa einer supranationalen Organisation ansiedeln.362 Überträgt man Hellers absolutes Souveränitätsverständnis auf den Prozess der europäischen Integration, dann verfügt die Europäische Union in ihrer derzeitigen Form nicht über Souveränität.363 Im bestehenden Institutionensystem der Europäischen Union lassen sich Ansätze einer Souveränitätsteilung feststellen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssten die Kompetenz-Kompetenz und die Fähigkeit zur Verteilung von Zuständigkeiten im europäischen Mehrebenensystem insgesamt auf die Europäische Union transferieren. Dann wäre das Prinzip der absoluten Souveränität im Sinne Hellers auf europäischer Ebene verwirklicht. Die Mitgliedstaaten würden dadurch sowohl ihre Rolle als „Herren der Verträge“ als auch die alleinige Kompetenz-Kompetenz einbüßen. Die Kompetenz-Kompetenz kann nach dem Verständnis Hellers wegen der Unteilbarkeit von Souveränität nicht zugleich bei der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten liegen. Damit hätte die Anwendung des absoluten Souveränitätsverständnisses zwingend die Aufhebung der mitgliedstaatlichen Souveränität zur Folge. Allerdings ist ein derartiges absolutes Souveränitätsverständnis angesichts der Befunde der Soziologie schon auf nationalstaatlicher Ebene nicht haltbar. Damit würde jeder Form von Föderalismus grundsätzlich die Legitimität abgesprochen.364 Die Vorstellung einer unteilbaren Souveränität ist schon für die Beschreibung der bestehenden Staatenwelt inadäquat.365 Staatliche Souveränität ist 360 361
Fiedler, JZ 1984, S. 201 (210). Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interpendenz,
S. 81. 362 Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interpendenz, S. 81; Hobe, Der Staat 37 (1998), S. 521 (526). 363 Siehe ausführlich zum Folgenden Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 16 ff. 364 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 18 f. 365 Bryde, Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), S. 305 (307 ff.).
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1. Teil: Kollektive Identität
heute durch zunehmende internationale Bindungen im wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bereich vorherbestimmt. Innerstaatliche Politik ist in allen Dimensionen von grenzüberschreitenden wirtschaftlichen und sozialen Prozessen abhängig; kaum ein gesellschaftliches Problem lässt sich noch in den Grenzen des Nationalstaates lösen.366 Durch die faktische Interpendenz von nationalen und staatenübergreifenden Lebensbereichen kann staatliche Souveränität nicht mehr als die ausschließliche und umfassende Zuständigkeit des Staates zur autonomen hoheitlichen Regelung aller Sachverhalte und Lebensverhältnisse im Staatsgebiet bei gleichzeitiger vollständiger Unabhängigkeit von allen außerstaatlichen Einflüssen verstanden werden.367 Durch die Supra- und Internationalisierung der Rechtsordnungen, die auch die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Souveränität in Frage stellt, wird die staatliche Souveränität rechtlich und faktisch relativiert.368 Es entsteht – bedingt durch Globalisierungsprozesse – eine zunehmende Verflechtung der Staaten in weltweite oder regionale überstaatliche Problemlösungsverbände, denen die äußere und die innere Sicherheit, die Weltwirtschaft und der Binnenmarkt, der grenzüberschreitende Umweltschutz und die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer ganz oder teilweise übertragen werden.369 Grundlegende sicherheitspolitische Entscheidungen werden mittlerweile in der NATO oder im Rahmen der Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik getroffen, umfassende völkerrechtliche Menschenrechtsgarantien begrenzen den Handlungsspielraum des Staates von außen, internationale Konzerne entziehen sich unschwer nationaler Regulierung. Damit können immer mehr Probleme auf einzelstaatlicher Ebene nicht wirksam gelöst werden.370 Je stärker aber eine Internationalisierung von denjenigen Bedingungen gegeben ist, die notwendig sind, um staatliche Aufgaben zu erfüllen, desto abhängiger wird die Erfüllung dieser Aufgaben von den entsprechenden Integrationsschritten der Staaten. Damit wäre die Vergemeinschaftung einer solchen
366 Erinnert sei nur an die grenzüberschreitenden Probleme von Umweltbelastungen, die Problematik der Friedenssicherung und der kollektiven Selbstverteidigung (NATO, WEU) und die internationalen Wirtschaftskooperationen; vgl. Bryde, Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), S. 305 (307); Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interpendenz, S. 183 ff., 207 ff., 231 ff., 248 ff. 367 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1163); Tsatsos, EuGRZ 1995, S. 287 (290). 368 Ein ganzer Bereich der Forschung bemüht sich sogar, den Nachweis zu erbringen, dass die Durchsetzungsmacht des Staates durch Begriffe wie „Souveränität“ oder „Entscheidungseinheit“ schwerlich angemessen beschrieben werden kann; Möllers, Staat als Argument, S. 249. Siehe dazu Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 180 ff., 361 ff.; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 97 ff.; Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interpendenz, S. 137 ff., S. 183 ff. und bezogen auf die Europäische Union S. 330 ff. Hobe, Der Staat 37 (1998), S. 521 (523 ff. m.w. N.); Jacqué, EuGRZ 2004, S. 551 (554 f.). 369 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1163); Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (154 ff.). 370 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1163).
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Materie nicht als Souveränitätsverlust des Staates anzusehen, sondern im Gegenteil erst die Ermöglichung der Wahrnehmung und Wahrung seiner Souveränität.371 Der absolute Souveränitätsbegriff ist unter diesem Gesichtspunkt unhaltbar. c) Legitimitätskonzeption Heller behandelt die staatliche Einheit als Gegenstand der Realität und nicht als juristische Konstruktion.372 Denn die Bestimmung der überpositiven Rechtsgrundsätze wird bei Heller der Rechtphilosophie überantwortet.373 Damit bleibt Hellers These von der Rechtfertigung des Staates sehr allgemein und wenig anschlussfähig. Es fehlt bei Heller eine ausgeführte Theorie der Rechtfertigung staatlichen Handelns.374 Diese Unbestimmtheit der theoretischen Grundlegung Hellers führt auch zu der interpretatorischen Ungewissheit, wie sich Heller zum Erfordernis der demokratischen Homogenität verhält.375 Dies wurde bei der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich, die Hermann Heller als Urheber des Homogenitätsprinzips angab.376 Mit Hermann Heller könnte man annehmen, dass die Begrenzung sozio-ökonomischer Ungleichheiten in der Europäischen Union und die Vermeidung von Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnissen eine Bedingung für die Entstehung einer kollektiven europäischen Identität sein könnte.377 Man könnte allerdings umgekehrt auch argumentieren, dass gerade das Vorhandensein einer kollektiven Identität die Formen sozio-ökonomischer Ungleichheit in einer Gesellschaft erst erträglich macht und daraus resultierende Spannungen ausgleicht und somit die notwendige Akzeptanz einer Verfassungsordnung in der Bevölkerung garantieren kann.378 Auch Hermann Heller ging nämlich davon aus, dass die Homogenität von Alltagskonventionen zumindest vorübergehend die Ungleichheit im Ökonomischen mindern könne.379 Die Annahme eines Mindestmaßes an sozialer Homogenität als Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Demokratie weist darüber hinaus bei Hermann Heller eine erhebliche normative Ambivalenz auf. Nach Heller soll sich das Volk als Vielheit selbst bewusst als Ein371
Tsatsos, EuGRZ 1995, S. 287 (290 f.). Möllers, Staat als Argument, S. 87 f. Diesbezüglich übt Heller massive Kritik an Kelsen, vgl. Heller, Die Souveränität, S. 31 (74 ff.). 373 Heller, Staatslehre, S. 334. 374 Möllers, Staat als Argument, S. 90. 375 Möllers, Staat als Argument, S. 87 Fn. 32. 376 BVerfGE 89, 155 (186). Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 407. 377 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 132 Fn. 73. 378 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 132 f. 379 Heller, Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (431). Siehe dazu Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 133. 372
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heit bilden.380 Daher besteht alle Politik in der Gestaltung und Erhaltung der Einheit. Heller zufolge wäre also eine weitere Voraussetzung für ein Mindestmaß an sozialer Homogenität, dass sich alle Bürger als gleichberechtigte Mitglieder ein und derselben Gesellschaft fühlen und im Interesse dieser Gesellschaft bereit sind, politische Entscheidungen auch dann zu akzeptieren, wenn sie den eigenen Wünschen zuwiderlaufen.381 In der Realität demokratischer Verfassungsstaaten dürften aber kaum alle Bürger der Ansicht sein, Bemühungen um einen Ausgleich der ungleichen Verteilung der in der Gesellschaft verfügbaren Güter seien für die gesamte Bevölkerung gleichermaßen von Nutzen. Vielmehr unterstützen privilegierte gesellschaftliche Gruppen das System gerade aufgrund der eigenen Privilegierung. Sie würden auf einen Abbau dieser Privilegien folglich mit einem Entzug von Unterstützung reagieren. Daher kann das Konzept der sozialen Homogenität im Sinne Hellers auch dazu dienen, den Klassenkonflikt latent zu halten und benachteiligte Gruppen durch Entschädigungen in Form von Geld, arbeitsfreier Zeit und Sicherheit ruhig zu halten. Auf diese Weise können benachteiligte Bevölkerungsgruppen dazu gebracht werden, Unterstützung für ein Gemeinwesen auszubilden, das den Anforderungen der Demokratie nicht entspricht. Nach einer Aussage Hellers muss die Politik darüber hinaus im Ernstfall einen Angriff auf diese Einheit sogar durch „physische Vernichtung des Angreifers“ beantworten.382 Man könnte diese Aussage als einen Beleg für ein ausgeprägtes Machtstaatsdenken interpretieren und Hellers Legitimitätskonzeption ablehnen. Allerdings wird der Vorwurf eines übertriebenen Machtdenkens oder des Dezisionismus durch die institutionellen rechtsstaatlichen und demokratischen Kontrollinstanzen, die den Staat im Übrigen ausmachen, relativiert. Hermann Heller befürwortete dezidiert den Rechtsstaat.383 Außerdem können nach Hellers Ansicht die staatlichen Organe nicht auf Dauer gegen den Willen des Volkes regieren, ansonsten würde es einen Aufstand des Volkes geben. Schon in der technischen Konstruktion des Staates ist demzufolge bei Heller die Notwendigkeit der Demokratie angelegt.384 d) Identitätsstiftung und Verfassung Zwar sieht Hermann Heller die Grundrechte einer Verfassung als Integrationssystem an. Rechtsfragen stehen aber bei Heller nur am Rand eines politik380
Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (427). Siehe ausführlich zum Folgenden Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 115 f. 382 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (424). Siehe dazu Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 102. 383 Siehe dazu Fiedler, JZ 1984, S. 201 (206); Koga, FS für Quaritsch, S. 609 (619 f.). 384 Robbers, Jura 1993, S. 69 (71). 381
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wissenschaftlich-soziologisch vorgehenden Gedankengangs.385 Auch die Verfassungsauslegung ist für ihn kein Thema.386 Daher ist ein Hauptproblem der Lehre Hermann Hellers, dass sie nur sehr allgemeine Aussagen trifft. Es gelingt ihm nicht, seine Theorie juristisch zu operationalisieren, obwohl er dies anstrebt.387 Denn in Hellers Werk fehlen die konkrete dogmatische Aufbereitung politischer Konflikte und damit die hermeneutische Kopplung von Politik und Recht.388 Heller versucht, die Einheit auf einen empirisch gegebenen, in der Realität des sozialen Lebens vorfindlichen einheitlichen Willen zu gründen.389 Es gelingt Heller aber nicht – im Gegensatz zu Schmitt und Smend –, seine Überzeugungen auf den verfassungsrechtlichen Begriff zu bringen.390 Durch die Behauptung des Vorliegens eines einheitlichen Willens gerät Heller in Argumentationsschwierigkeiten. Denn die politische und soziale Homogenität ist in der Weimarer Zeit ein ständig virulentes Problem.391 Daher erscheint die bloße Behauptung der Existenz eines einheitlichen Willens angesichts der realen tiefreichenden Gegensätze der Weimarer Demokratie nicht ausreichend.392 Heller trennt rechtliche und politische Fragestellungen voneinander und stellt das Verfassungsrecht als normative Disziplin von der politischen Wirklichkeitsbetrachtung frei.393 Daher können die Aussagen Hermann Hellers eher als Stel385
Möllers, Staat als Argument, S. 85. Das notorische Desinteresse von Hermann Heller an Fragen der Verfassungsauslegung schlug sich folgerichtig in seinem negativen Rezeptionserfolg nieder. Er blieb in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik Deutschland deshalb weitgehend im Abseits. Seine Vernachlässigung von Interpretationsfragen konnte die Verfassungsdogmatik des Grundgesetzes nicht weiterbringen; Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (421 f.); a. A. Fiedler, JZ 1984, S. 201 (201). 387 Vgl. Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (418). 388 Fiedler, JZ 1984, S. 201 (209); Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (421). 389 Damit ist der Versuch der Konstruktion einer rein soziologischen Theorie des Staates der zentrale Unterschied zum Vorgehen Hellers gegenüber dem seiner Zeitgenossen Schmitt und Smend. Siehe dazu Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 168; Möllers, Staat als Argument, S. 99. 390 Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (421 f.). 391 Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 169. 392 Heller umgeht diese Kongruenz zwischen soziologischer Theorie und realpolitischer Lage auch nicht. Er versucht vielmehr aufzuzeigen, dass die Annahme eines „unzweifelhaft gegebenen“ real existierenden einheitlichen Willens der Bejahung politischer und sozialer Heterogenität nicht entgegensteht. Siehe dazu Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 169. 393 Aus diesem Grund ist es paradoxerweise Heller, der – wenn auch unfreiwillig – professionelle Praxis und politische Überzeugung am deutlichsten trennt. Diese Tatsache dürfte auch erklären, warum Heller gleichzeitig der politisch meistgeliebte und der juristisch-praktisch einflussloseste Weimarer Staatsrechtslehrer in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik Deutschland ist. Diese Deutung ist aber sehr umstritten. Siehe dazu Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (422); Möllers, Staat als Argument, S. 86, 94, 124 f. Fn. 26. 386
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1. Teil: Kollektive Identität
lungnahmen soziologischer Art, nicht aber als Stellungnahmen verfassungsrechtlicher Art, angesehen werden.394 Hellers Theorie ist konsequent sozialwissenschaftlich ausgerichtet.395 Heller sieht vor allem außerhalb der Verfassung liegende Faktoren als maßgeblich für die Einheitsbildung an. Zum einen soll die Rechtsverfassung als normatives Element der politischen Gesamtverfassung auch gegenüber den staatlichen Autoritäten gelten, daher dürfen die Entscheidungen der staatlichen Instanzen nicht in einem Widerspruch zur Rechtsverfassung stehen.396 Auf der anderen Seite ist die Geltungskraft der Rechtsverfassung aber abhängig davon, inwieweit sie die jeweiligen überpositiven Rechtsgrundsätze realisiert.397 Denn Recht ist nach Heller zwar eine soziale Funktion der Gruppe und dient deren Ordnung; insofern ist das Recht durch die Gestalt der Gruppe determiniert.398 Allerdings muss Recht im Sinne Hellers immer auch einen Bezug den in der Kulturgemeinschaft herausgebildeten überpositiven, logischen und sittlichen Prinzipien aufweisen.399 Diese sieht Heller als kulturell entstandene außerrechtliche Elemente an, die in den Rechtsüberzeugungen der Menschen gelten.400 Erst ihre Erfüllung führt dazu, dass die gesetzte Norm zu Recht wird. Die überpositiven Rechtsgrundsätze bieten zugleich eine notwendige Auslegungshilfe für das positive Recht.401 Die juristische Norm kann sich demzufolge vom historisch-soziologischen Sein und von Wertegesichtspunkten nicht vollständig lösen, ohne sinn- und gehaltlos zu werden.402 Nach Hellers Theorie 394 Möllers, Staat als Argument, S. 85. Außerdem war Hellers Werk tief verankert in der wissenschaftlichen Gesamtdiskussion während der Weimarer Republik und blieb von der historischen Ausgangslage mit ihren spezifischen Konfrontationen vor allem auch wegen seines frühen Todes dauernd geprägt. Daher erfolgte die Rezeption Hellers nach dem Zweiten Weltkrieg nur schwerpunktartig und selektiv, so dass die Thematik der Schaffung und Erhaltung staatlicher Einheit nicht voll gewürdigt wurde; vgl. Fiedler, JZ 1984, S. 201 (210). 395 Möllers, Staat als Argument, S. 121. 396 Heller, Staatslehre, S. 367 f.; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 169. 397 Die rechtlich normierte Verfassung besteht nach Heller niemals bloß aus staatlich autorisierten Rechtssätzen, sondern sie bedarf zu ihrer Geltung immer der Ergänzung durch die nicht normierten außerrechtlichen Verfassungselemente. Denn nach Heller sind die außerrechtlichen Normativitäten als Rechtsgrundsätze für die Geltung und den Inhalt der Verfassungsnormen entscheidend; diese haben für die Staatsverfassung die allergrößte Bedeutung; vgl. Heller, Staatslehre, S. 370 f.; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 169. 398 Geis, JuS 1989, S. 91 (95). 399 Möllers, Staat als Argument, S. 92; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 184; Geis, JuS 1989, S. 91 (95). 400 Heller, Staatslehre, S. 369 f.; Robbers, Jura 1993, S. 69 (71); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 164. 401 Heller, Staatslehre, S. 370; Möllers, Staat als Argument, S. 92. 402 Heller, Staatslehre, S. 294 ff.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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konstituiert damit eine historisch-soziologische Größe die Einheit des Rechtssystems. Demnach bilden die grundsätzlich im Wandel befindlichen Rechtsgrundsätze das Einfallstor, durch welches die positiv zu bewertende gesellschaftliche Wirklichkeit in die Normativität der Verfassung eindringt.403 Denn die Verfassung ist abhängig von den tatsächlichen Gegebenheiten, deren Gesamtheit Heller auch mit dem Begriff „ambiance“ zu fassen versucht.404 Bei den überpositiven Rechtsgrundsätzen, die kulturell in den Rechtsüberzeugungen der Menschen entstanden sind, handelt es sich folglich um extrakonstitutionelle Faktoren. Sie unterliegen nicht der Gestaltung durch die Verfassung, sondern die Beachtung dieser überpositiven Rechtsgrundsätze begründet erst die Geltung der Verfassung. Auch die Grundrechte erfahren ihre Legitimität aus den überpositiven Rechtsgrundsätzen. Darüber hinaus sind Hellers Theorie zufolge die Prozesse politischer Einheitsbildung von einer Reihe weiterer kultureller und ökonomischer Faktoren abhängig. Diese müssen ebenfalls der Demokratie vorgegeben sein, wenn politische Einheit aus offenen Verfahren hervorgehen soll.405 Heller erkennt zwar die integrative Wirkung der Grundrechte. Er sieht aber ihre integrative Wirkung nicht als einen verfassungsmäßig gestaltbaren Faktor an, sondern er leitet deren Integrationsfunktion aus den überpositiven Rechtsgrundsätzen ab. Die durch eine Verfassung angeregte kollektive Identitätsstiftung wird bei Hermann Heller nicht thematisiert. Er macht vielmehr die Einheitsbildung als Prozess von den außerhalb der Verfassung liegenden überpositiven Rechtsprinzipien abhängig. Denn die Übereinstimmung der Bürger anhand der überpositiven Rechtsgrundsätze besteht schon vorrechtlich. Der Aussagegehalt der Theorie Hermann Hellers bezüglich einer sozialpsychologischen Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht ist gering. Seiner Theorie sind keine Aussagen über die Möglichkeiten einer kollektiven Identitätsstiftung durch Recht zu entnehmen. IV. Sprachliche Homogenität Abschließend soll eine sprachliche Homogenität406 als Voraussetzung für die Legitimität eines demokratisch verfassten Gemeinwesens diskutiert werden. Information, Kommunikation und Partizipation der Bürger am öffentlichen Geschehen sind Voraussetzungen für das Funktionieren von demokratischen Ge403 Heller, Staatslehre, S. 371; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 169. 404 Darunter fallen im Einzelnen das gesamte Natur- und Kulturmilieu, die anthropologischen, geographischen, volklichen, wirtschaftlichen und sozialen Normalitäten und andere außerrechtliche Normalitäten; Heller, Staatslehre, S. 369; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 169; Fiedler, JZ 1984, S. 201 (207). 405 Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, S. 86. 406 Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (245 ff.).
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1. Teil: Kollektive Identität
meinwesen. Ausgleich und Einigung sind maßgeblich für Integration und Demokratie, wobei Kompromissfähigkeit Verständigung voraussetzt.407 Dies könnte man so auslegen, dass die Spracheinheit eines Volkes als Voraussetzung für seine Verständigung angesehen werden muss. Nach dieser Ansicht wäre das Fehlen einer sprachlichen Homogenität in der Europäischen Union ein Hindernis für ihre Legitimität. Eine einheitliche Sprache ist keine conditio sine qua non für die Errichtung eines demokratischen Gemeinwesens. Dagegen spricht die langjährige Existenz mehrsprachiger Demokratien, wie zum Beispiel der Schweiz oder Belgiens.408 Das Funktionieren multilingualer Demokratien zeigt, dass zumindest prinzipiell Vermittlungs- und Übersetzungsinstanzen Sprachbarrieren überwinden können. Wenn im Netzwerk der politischen Öffentlichkeit einer Gesellschaft solche Übersetzungs- und Vermittlungsinstanzen existieren, die es allen Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, in ihrer jeweiligen Muttersprache an der öffentlichen Kommunikation teilzunehmen, erscheint die Forderung nach einer sprachlichen Homogenität verzichtbar.409 Denn mehrsprachige Demokratien verbinden je auf ihre Weise unterschiedliche Sprachen und Kulturen miteinander. Ihnen kann die Qualität einer funktionsfähigen Demokratie nicht abgesprochen werden.410 Die gemeinsame Sprache dient in erster Linie nicht einem Selbstzweck, sondern sie ist vor allem ein Verständigungsmittel. Es kommt daher primär auf einen einheitlichen Kommunikationsraum und nicht auf einen einheitlichen Sprachraum an. Sprach- und Kommunikationsraum sind dabei nicht notwendig deckungsgleich, da es innerhalb eines Sprachraumes mehrere Kommunikationsräume und voneinander getrennte Diskurse geben kann.411 Ein Kommunikationsraum kann auch mehrere Sprachen einschließen. Die öffentliche Kommunikation wird zwar durch eine gemeinsame Sprache erleichtert, eine sprachliche Homogenität ist aber keine zwingend notwendige Voraussetzung eines demokratisch verfassten Gemeinwesens. Insofern sind die vorgenannten theoretischen Modelle untaug407 Der Gedanke, dass gesellschaftlicher Diskurs und die Möglichkeit von Kommunikation und Verständigung grundlegende Voraussetzungen von Integration und Demokratie sind, findet sich schon bei Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 326. 408 Siehe ausführlich zum Folgenden Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 706 f. und Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1159). 409 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 120. 410 Pernice, Die Verwaltung 1993, S. 449 (479 f.). Ausführlich dazu Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 706 f. 411 Ein anschauliches Beispiel dazu findet sich bei Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 706 f.: Auch innerhalb eines Sprachraumes existiert nicht notwendig ein gemeinsamer Diskurs. Dies wird deutlich, wenn man an die verschiedenen Möglichkeiten der Berichterstattung und Information denkt. Der Leser der BildZeitung nimmt zum Beispiel an einem anderen öffentlichen Diskurs teil als der Leser der F.A.Z. Gleiches gilt für die unterschiedlichen Fernsehnachrichtenprogramme. Trotz der gemeinsamen deutschen Sprache sind diese unterschiedlichen öffentlichen Diskurse nicht zwangsläufig miteinander verbunden.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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lich zur Beschreibung einer identitätsstiftenden Funktion des Europäischen Verfassungsvertrages. Allerdings ist das Problem der Überwindung der Sprachbarrieren in der Europäischen Union wegen der ungeheuren Sprachenvielfalt nicht mehr mit dem anderer mehrsprachiger Demokratien vergleichbar.412 V. Ergebnis Der zutreffende Kern der verschiedenen dargestellten Homogenitätsfiktionen liegt in der Notwendigkeit, Mehrheitsentscheidungen in einem solchen Verfahren und mit solchem Inhalt zu treffen, dass sie auch für die Minderheit akzeptierbar sind und nicht als Fremdbestimmung erscheinen.413 Mehrheitsentscheide, die auch die Minderheit rechtlich verpflichten, werden von der unterlegenen Minderheit nur dann akzeptiert, wenn ihre Angehörigen darauf vertrauen können, bei einer anderen Gelegenheit selbst einmal zur Mehrheit zu zählen. Dies ist in einer repräsentativen Demokratie aber nur möglich, wenn die Loyalitäten der Wähler sich verändern können. Inhomogenität in Demokratien verbessert darüber hinaus den Minderheitenschutz.414 Je heterogener eine Gemeinschaft ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Mehrheit in den meisten Sachfragen durch ein gemeinsames Interesse geeint wird, wodurch dauerhaft eine bestimmte Gruppe in einer Minderheitenposition wäre. Auf diese Weise finden sich zu unterschiedlichen Themen verschiedene Mehrheiten zusammen. Dies verhindert eine dauerhafte Spaltung der Gesellschaft. Genau genommen ist also nicht Homogenität, sondern die Abwesenheit verfestigter Spaltungen für das Funktionieren und die Legitimität von Mehrheitsdemokratien notwendig. Homogenität und die Abwesenheit fest verankerter Spaltungen in einer Gesellschaft bezeichnen unterschiedliche Dinge.415 Mit der Abwesenheit fest verankerter Spaltungen ist nämlich die Reversibilitätsbedingung von repräsentativen Demokratien angesprochen, wonach einmal getroffene Entscheidungen wieder revidierbar sein müssen.416 Im Ergebnis ist damit weder eine ethnische, national-kulturelle, soziale oder eine sprachliche Homogenität notwendig als vorrechtliche Voraussetzung für die Legitimität demokratischer Gemeinwesen.417 Für die Europäische Union folgt daraus, dass eine wie auch immer geartete Homogenität der Unionsbürger keine Voraussetzung für ihre Hoheitsgewalt und Verfassung ist. Darüber hinaus lassen sich den verschiedenen Homogenitätskonzeptionen keine Aussagen bezüglich einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht entnehmen; die Aufgabe der Ein412 413 414 415 416 417
Siehe ausführlich dazu oben S. 69 ff. m.w. N. Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (131). Siehe zu diesem Gedankengang Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1159). Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 711 f. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 241 f. So auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 642.
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heitsstiftung wird in den vorrechtlichen Bereich verwiesen. Nach diesen Ansichten ist Identitätsstiftung keine Verfassungsfunktion.
D. Kollektive Identitätsstiftung zur Sicherung von Legitimität I. Rudolf Smend: Legitimität durch Integration Auf die Integrationslehre418 Rudolf Smends (1882–1975) beziehen sich in der Bundesrepublik Deutschland die meisten wissenschaftlichen Diskussionen, die sich mit dem Verhältnis von Integration und Verfassung auseinander setzen.419 Bei Smend ist der Integrationsbegriff der archimedische Punkt seines Systems und ersetzt den Begriff des Politischen.420 Seine Integrationslehre beschäftigt sich mit den grundsätzlichen Voraussetzungen für das Funktionieren eines politischen Gemeinwesens. 1. Integration als Prozess Der Hauptzweck des Staates liegt bei Rudolf Smend in seinem Integrationswert, also in der Zusammenfassung der Staatsangehörigen. Durch den Vorgang 418 Die umfassendste und systematischste Darstellung von Rudolf Smends Integrationslehre findet sich in seiner Abhandlung „Verfassung und Verfassungsrecht“, die 1928 als Beitrag zur Weimarer Grundlagendebatte in der Staats- und Verfassungstheorie veröffentlicht wurde, vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (119 ff.). 419 Die Bedeutung der Integrationslehre zeigt sich daran, dass sie fast achtzig Jahre nach ihrer Konzeption noch nicht zu einem abgeschlossenen Gegenstand dogmengeschichtlicher Forschung geworden ist. Siehe dazu beispielsweise die einzelnen Beiträge in Vorländer, Integration durch Verfassung. Der Einfluss Smends ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Smend in der NS-Zeit anders als viele seiner Kollegen Distanz zu den Nationalsozialisten bewahrte. Außerdem modifizierte er seine Integrationslehre nach 1945 in wichtigen Einzelfragen und baute eine einflussreiche rechtswissenschaftliche Schule auf; vgl. Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 137. Siehe außerdem aus der umfangreichen Literatur: Zu Smends Einheitskonzeption Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 173; allgemein Friedrich, AöR 1987, S. 1 (1 ff.); Hennis, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 267 (267 ff.); Kelsen, Der Staat als Integration; Korioth, Integration und Bundesstaat; Lhotta, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 286 (286 ff.); Lhotta, Die Integration des modernen Staates; Llanque, in: Göbel/van Laak/ Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (157 ff.); Llanque, in: Brodocz/Schaal (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart I, S. 317 (317 ff.); Mehring, Politisches Denken 1994, S. 19 (19 ff.); Mols, Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie; Mols, AöR 1969, S. 513 (513 ff.); Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (200 ff.); Poeschel, Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland III, S. 174 ff. 420 Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (161).
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der Integration werde der Staat zu einem „politischen Körper“.421 Smend übersetzt Integration zunächst mit „einigender Zusammenschluss“.422 Der Begriff bedeutet bei Smend jedoch mehr. Zum einen gehört nach Smend die Integration in den Bereich der Politik, so dass nach der Integrationslehre Staat und Politik zusammenfallen.423 Zum anderen ist Integration das, was die Wirklichkeit des Gruppenlebens im Staat mit dessen überempirisch aufgegebenem Sinnzusammenhang verbindet.424 Smend sieht ein substantielles Kohärenzerfordernis nicht als Voraussetzung von Demokratie an. Die Integrationslehre konzipiert Integration ausdrücklich als einen Prozess, in dem sich der Staat in und aus den Einzelnen aufbaut.425 Die Legitimität des Staates entspricht für Smend seinem integrativen Sachgehalt; sein Sinn liegt darin, lebendige Menschen zu einem politischen Gemeinwesen zusammen zu ordnen.426 Die Integrationslehre will also die Zentripetalkräfte eines Gemeinwesens stärken. Dadurch sollen Kompromisse ermöglicht werden, um die Einheit der Gesellschaft und somit des Staates durch eine andauernde Annäherung der einzelnen Gegensätze zu stützen.427 Smends Einheitskonzeption geht von einer Vielgestaltigkeit der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse aus.428 Demnach sei der Staat eine soziale Realität und zugleich rechtlich normiert.429 Der eigentliche Gegenstand seiner Integrationslehre ist die faktische Seite des Staatsbegriffs.430 Smends Integrationslehre hat keine eigenständige geisteswissenschaftliche Methode zur Erfassung des Phänomens Staat.431 Daher gründet sich Smends Betrachtungsweise des Staa421 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (177); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 130. 422 Dies ist ein Pleonasmus, denn jeder Zusammenschluss wirkt einigend oder setzt eine Einigung voraus. Siehe dazu und ausführlich zum Smendschen Begriff der Integration Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 125 ff. 423 So Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 139; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 139. Dieses Phänomen wird von Möllers, Der Staat 43 (2004), S. 399 (413) als „Ent-Differenzierung“ beschrieben. 424 Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 130. 425 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (138). 426 Smend, Bürger und Bourgeois, S. 309 (319 f. Fn. 15); Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (166). Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 105. 427 Tsatsos, EuGRZ 1995, S. 287 (288). 428 Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 121 f.; Möllers, Staat als Argument, S. 101. 429 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (134 f.). 430 Smend kritisiert wie Hermann Heller die Zerrissenheit der Staatslehre von Georg Jellinek in zwei nicht wirklich verbundene Teile, er lehnt aber einen Methodensynkretismus im Sinne Hellers ab; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (183 f., 199). Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 101. 431 Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik S. 151 ff. moniert, dass unmittelbare Äußerungen Smends zur Methode der Geisteswissenschaften nicht vorliegen. Siehe auch Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 134.
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1. Teil: Kollektive Identität
tes432 auf die Kulturphilosophie Theodor Litts.433 Er überträgt die Konzeption von Theodor Litt434 auf den Staat und macht dabei das „Erlebnis“ zur Zentralkategorie seiner Theorie.435 Smend nimmt an, dass Individuum und Gemeinschaft in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen.436 Er interpretiert 432 Siehe zu Smends Theorie des Staates ausführlich Mols, Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie, S. 180 ff., 206 ff.; Mols, AöR 1969, S. 513 (520 ff.); Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 230 ff.; Poeschel, Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends; Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (202 ff.); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 117 ff.; S. 123 ff. 433 Die Bejahung eines derartigen Einflusses von Theodor Litt auf die Integrationslehre Smends ist nicht ganz unumstritten. So verneint Hennis anhand einer Anekdote von Smends Sohn hinsichtlich einer vermiedenen Begegnung mit Theodor Litt und einer darauf folgenden Bemerkung Smends, dass ihn Litt wohl nie so richtig interessiert habe, die Bedeutung des Ansatzes von Litt für Smend; vgl. Hennis, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 267 (286 f.). Für einen nicht unerheblichen Einfluss des Ansatzes von Theodor Litt auf die Integrationslehre spricht allerdings Smends ausdrückliche Bezugnahme auf Litt, vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (119). Einen Einfluss Litts auf die Integrationslehre bejahen Poeschel, Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends, S. 42 ff.; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 134; Geis, JuS 1989, S. 91 (93, 95); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (169); ders., Verfassung und Integration in Europa, S. 137; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 113 ff.; Mols, Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie, S. 142 ff.; Lhotta, in: ders. (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 91 (91 ff.). 434 Dem Kultur- und Sozialphilosophen Theodor Litt ging es unter starker Beeinflussung durch den Neuhegelianismus um eine Restauration der Dialektik als Denkstruktur. Er formuliert eine geisteswissenschaftliche „verstehende“ Soziologie, die nicht nur reine Fakten untersucht, sondern das Wesen des einzelnen Individuums und das der Gemeinschaft aus ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu deuten versucht. Litt wird für die Entwicklung der antipositivistischen Richtung wegweisend. Vgl. zu Litts Konzept des geschlossenen Kreises Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 234 ff.; Geis, JuS 1989, S. 91 (93 Fn. 50, S. 94). Für Litt ist die Gemeinschaft ein System der „sozialen Verschränkung“ der Einzelerlebnisse zu einem Einheitsgefüge. Auf diese Weise sollen Kollektivismus und Individualismus versöhnt werden; vgl. Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 119. Dabei deutet schon der Bezug des Einheitsgefüges auf die Einzelerlebnisse bei Litt an, dass es sich hier nicht um ein statisches Gebilde handeln kann; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 135. Dieses dynamische Element findet sich auch in Smends Sicht des Staates wieder. 435 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (127 ff.); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (169); ders., Verfassung und Integration in Europa, S. 137 f. Die Zentralstellung des Erlebniskonzepts in der Integrationslehre spricht auch gegen die Auffassung von Wilhelm Hennis, dass die Anlehnung an Theodor Litt für die Integrationslehre ein letztlich „überflüssiges philosophisches Vorspiel“ sei; Hennis, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 267 (286 f.). Allerdings kritisiert Rudolf Smend selbst in späteren Aufsätzen seine Bezugnahme auf Litt als unangemessen; Smend, Integrationslehre, S. 475 (480 f.). 436 Die Einzelnen sind nicht unabhängig vom über-individuellen Gemeinschaftsleben. Allerdings entsteht durch das Einheitsgefüge der einzelnen Sinnerlebnisse auch kein Kollektiv-Ich, das den Individuen als äußerlich-heteronomes Phänomen gegen-
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den Staat als einen „Erlebniszusammenhang für die ihm Angehörenden“, der zum „verbindenden Gesamterlebnis“ für die Staatsangehörigen wird.437 Daher sei der Staat ein „geschlossener Kreis“ im Sinne Litts438, in dem „jeder mit jedem in wesensgestaltendem Zusammenhang“ steht.439 Der Staat existiert laut der Integrationslehre nur in einem „Prozess beständiger Erneuerung und dauernden Neuerlebtwerdens“ im Sinne von Renans „plébiscite de tous les jours“.440 Der Staat wird ähnlich wie bei Hermann Heller – aber unter sehr viel zurückhaltenderer Verwendung der Kategorie der staatlichen Einheit441 – als ein in ständiger Bewegung befindliches Gebilde qualifiziert.442 Aus diesem Grund ist der Staat auch nicht als eine vorgegebene ruhende Größe der Verfassung vorgelagert. Der Prozess der beständigen Integration macht nach Smend das Wesen des Staates aus.443 übertritt. Einzelerscheinungen wie das einzelne Individuum sind nur aus diesem Zusammenhang heraus zu deuten. Konsequenterweise lehnt Theodor Litt daher den Individualismus und den Kollektivismus als Extreme gleichermaßen ab, der Einzelne und die Gemeinschaft sind bei ihm grundsätzlich gleichrangig. Allerdings macht Litt in Anlehnung an Hegel seinen Ansatz wieder zunichte, indem er in dem geschlossenen Kreis den Ausdruck des „Geistes“ erblickt. Damit gibt er dem Kollektiv gegenüber der Stellung des Individuums letztendlich doch den entscheidenden Vorzug; Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 241 ff.; 257 ff. Zu diesem Gedankengang siehe Geis, JuS 1989, S. 91 (94); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 135. 437 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (131 f.). Siehe dazu auch Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 135; Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 138. 438 Theodor Litt hat menschliche Kollektive als „geschlossene Kreise“, als „Gesamterlebnis“ konzipiert. Demzufolge besteht ein „geschlossener Kreis“ nur, wenn er von den ihm angehörenden Personen individuell „erlebt“ wird. Umgekehrt sind nur diejenigen Individuen Teil eines „geschlossenen Kreises“, die an dem auf ihn bezogenen „Gesamterlebnis“ teilhaben. Der wesentliche Aspekt der Philosophie von Theodor Litt besteht damit in der Auflösung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gemeinschaft im so genannten Gesamterlebnis. Siehe zur Konzeption des Gesamterlebnisses Litt, Individuum und Gemeinschaft, S. 241 ff. Zur Analyse der Theorie Litts bei Smend vgl. die Ausführungen von Kelsen, Der Staat als Integration, S. 35 ff.; Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (169); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 134. 439 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (131 f.); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 135; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 122 f. 440 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (136). Siehe dazu auch Robbers, Jura 1993, S. 69 (71); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (113); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 136; Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (165, 169); ders., Verfassung und Integration in Europa, S. 138; Geis, JuS 1989, S. 91 (94). 441 Allerdings zitiert Smend Hermann Heller, vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (196 Fn. 32). Auch Heller übt Kritik an Smends Auffassung der staatlichen Einheit, vgl. Heller, Staatslehre, S. 267, 340 f. 442 Möllers, Staat als Argument, S. 102. 443 Der Begriff der Integration wird ausführlich dargestellt bei Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 126 ff.; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz,
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1. Teil: Kollektive Identität
2. Integrationsfaktoren Die empirische Betrachtung des Integrationsvorganges führt bei Smend zu der Unterscheidung von drei Integrationsfaktoren. Er nennt die persönliche, die funktionelle und die sachliche Integration. Es handelt sich dabei um bloße Idealtypen, denn Smend will den einheitlichen Prozess der Integration lediglich aus Gründen der Darstellbarkeit analytisch aufspalten.444 Anhand der drei Integrationsfaktoren beschreibt Smend diejenigen Prozesse und Mechanismen, mittels derer Individuen in ein soziales Kollektiv eingebunden werden.445 Gemeinsam ist allen Formen der Integration, dass der Integrationsvorgang den Beteiligten – selbst den Verfassungsgebern – in aller Regel nicht bewusst ist.446 a) Persönliche Integration Die persönliche und die funktionelle Integration gehören zur Gruppe der formalen Integrationsfaktoren.447 Die persönliche Integration umfasst alle politischen Phänomene der Führung, Repräsentation und Willensbildung.448 Sie verläuft hauptsächlich über die integrierende Wirkung herausragender Persönlichkeiten für den einzelnen Bürger. Solche sind zum Beispiel das Staatsoberhaupt449 und die sonstigen Staatsorgane, die Bürokratie und die Justiz.450 Herausragende Persönlichkeiten sollen die Einheit des Staatsvolks repräsentieren und dadurch die Geführten zum Gruppenleben anregen.451 Deshalb existiert der S. 136; Möllers, Staat als Argument, S. 101; Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 138; Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (160). 444 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (142). Siehe dazu Poeschel, Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends, S. 46; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 137; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 134. 445 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (165); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 134 f. 446 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (141, 190); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 140. 447 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 137. 448 Mols, AöR 1969, S. 513 (519). 449 An dieser Stelle setzt sich Smend vor allem von Max Weber ab, wenn er die monarchische Integration hervorhebt; vgl. dazu Mehring, Politisches Denken 1994, S. 19 (30). 450 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (142 ff.); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (118). 451 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (142 ff.); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (169). Kritisch gegenüber einer integrierenden Wirkung von Personen im Sinne Smends äußert sich Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 102 ff. Er führt an, dass umstrittene Personen gerade auch desintegrierende Wirkung haben könnten.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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Staat nach der Integrationslehre vor allem durch die Bildung der Organe, deren Dasein und ihrer Tätigkeit und werde dadurch persönlich integriert.452 Die Eignung der Persönlichkeiten an der Staatsspitze zur Ingangsetzung von Integrationsprozessen hängt dabei nicht in erster Linie von ihrer Kompetenz zur Führung der Regierungsgeschäfte ab. Wichtiger für eine Integration im Sinne Smends ist die Fähigkeit der Führungspersönlichkeiten zur symbolischen Verkörperung der Einheit des Staatsvolkes. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich mit den Repräsentanten ihres Staates identifizieren können.453 b) Funktionelle Integration Die funktionelle Integration im Sinne Smends entsteht in den jeweiligen Verfahren der Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung. Sie beruht darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger in politische Verfahren wie Wahlen oder Volksabstimmungen einbezogen werden und auf diese Weise die Möglichkeit eines „gemeinsamen Erlebnisses“ geschaffen wird.454 Die funktionelle Integration beschreibt also im Wesentlichen die Integration über kollektivierende Lebensformen, deren Sinn eine soziale Synthese ist.455 Smend umschreibt damit die verfahrenstechnische Seite der Integration im politischen Prozess.456 Als ersten Fall der funktionellen Integration hat Smend die verfassungsmäßig vorgesehenen politischen Auseinandersetzungen beschrieben. Allerdings kommt es auch im Bereich der funktionellen Integration weniger auf die sachlichen Ergebnisse der betreffenden Verfahren an. Teil der funktionellen Integration ist zwar der parlamentarische Vorgang, also der Prozess der politischen Willensbildung.457 Die Bedeutung der funktionellen Integration kann aber Smend zufolge 452 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (198); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (118). 453 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (142 ff.); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (169); ders., Verfassung und Integration in Europa, S. 138 f. 454 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (148 ff., 154). Siehe dazu auch Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (169); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (118); Möllers, Staat als Argument, S. 103. Dem italienischen Faschismus hält Smend sogar zugute, dass er die Notwendigkeit allseitiger Integration mit großer Klarheit gesehen habe und die Technik der funktionellen Integration mit Meisterschaft handhabe, vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (157). 455 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (148 f.); Smend, Integrationslehre, S. 475 (476 f.). Siehe dazu Mols, AöR 1969, S. 513 (519); Poeschel, Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends, S. 46; Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 104 f.; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 137. 456 Möllers, Staat als Argument, S. 103. 457 Konkret stellt sich Smend bei der funktionellen Integration vor allem Wahlen, parlamentarische Verhandlungen, Kabinettsbildungen und Volksabstimmungen vor;
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1. Teil: Kollektive Identität
nicht auf die verfahrenstechnische Willensbildung reduziert werden. Vielmehr sollen die Verfahren ein integriertes Gemeinwesen ermöglichen.458 Im Vordergrund steht in Smends Integrationslehre also vor allem das Potential dieser Verfahren zur Einbeziehung möglichst der gesamten Bevölkerung.459 Neben die Integration durch verfassungsmäßig vorgesehene politische Auseinandersetzung stellt Smend als zweite Form funktioneller Integration die Herrschaft. Sie ist damit ein Unterfall einer der drei Integrationsfaktoren und soll integrierend wirken.460 Smend setzt folglich begrifflich-systematisch Herrschaft und politischen Auseinandersetzungsprozess unter dem Dach der funktionellen Integration gleich.461 c) Sachliche Integration Die beiden formellen Integrationsformen vermögen für sich allein noch nicht hinreichend zu begründen, worin die Bedeutung der „sozialen Synthese“ oder einer auf Konsens und Aktivierung der Herrschaftsunterworfenen gerichteten politischen Führung besteht.462 Deren Sinn liegt für Smend in der sachlichen Integration, so dass ein Verzicht auf diese Integrationsform ausgeschlossen ist.463 Sie ist das materielle Gegenstück zur verfahrensbezogenen funktionellen Integration.464 Maßgeblich für die sachliche Integration sind nicht formale Momente, sondern ideelle Sinngehalte unter dem Gesichtspunkt der Wertverwirklichung in einem Gemeinwesen. Demzufolge resultiert die sachliche Integration aus einer Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit den in der Verfassung festgeschriebenen Inhalten, Werten und Symbolen.465 Zu den sachlichen InteSmend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (154). Siehe dazu Mols, AöR 1969, S. 513 (519); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 149; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 140 f. 458 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (154 f., 159). Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 103; Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 139. 459 Smend erörtert damit den Parlamentarismus idealtypisch als eine Weise funktioneller Integration ohne Zweck, geradezu als Ritual symbolischer Politik, das den Sinn der Sichtbarmachung der politischen Einheit hat; vgl. Mehring, Politisches Denken 1994, S. 19 (31). 460 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (157 f.); Möllers, Staat als Argument, S. 103. 461 Vgl. Haverkate, Verfassungslehre, S. 93 f. 462 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (155). Siehe dazu Mols, AöR 1969, S. 513 (519 f.); Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 105 ff. 463 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (159); Möllers, Staat als Argument, S. 104. 464 Möllers, Staat als Argument, S. 103. 465 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (160 ff., 215 ff., 260 ff.); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (169).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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grationsfaktoren gehören die Grundrechte – aufgefasst als Wert- oder Kultursystem466 – aber auch andere Sachgehalte wie die Präambel467, das Staatsgebiet468, die Staatsform und die Nationalflagge,469 die in den Normen des jeweils geltenden Verfassungsrechts zum Ausdruck kommen.470 Die sachlichen Integrationsfaktoren wirken laut Smend als Festlegung des Legitimitätstypus des Staates.471 Sie sind legitimitätsstiftend. Demzufolge fallen nach der Integrationslehre Legitimierung der positiven Staats- und Rechtsordnung und sachliche Integrationsabsicht zusammen.472 3. Einheitsstiftung durch Verfassung Die Verfassung ist nach Smend die Rechtsordnung des staatlichen Integrationsprozesses und auf eine „überempirisch aufgegebene“ Integrationsfunktion ausgerichtet.473 Integration wird als Sinnprinzip der Verfassung und als Verfassungsgebot verstanden.474 Die Verfassung ist die normative Bündelung einzelner Seiten des Integrationsprozesses.475 Aus diesem Grund ist die Integrationslehre keine soziologische Theorie, sondern eine juristische Theorie richtiger und vollständiger Auslegung der Verfassung. Denn Integration wird nicht nur tatsächlich
466 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (260 ff.); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87. 467 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (216 f.). 468 Nach Smend ist das Staatsgebiet die wichtigste Symbolisierung des Wertbesitzes eines Volkes; vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (170); dazu Poeschel, Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends, S. 47. 469 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (162 f., 217). Siehe dazu Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (118); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87. 470 Mols, AöR 1969, S. 513 (520). 471 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (262); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87. 472 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (217, 265); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 86. 473 Vgl. zur „überempirischen Aufgegebenheit“ ausführlich Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 218 ff., 246 ff. 474 Siehe dazu Mols, Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie, S. 190; Möllers, Staat als Argument, S. 110; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 213; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 251 f., 303; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 142; Poeschel, Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends, S. 52. 475 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (189). Siehe dazu auch Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (116); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 141; Möllers, Staat als Argument, S. 105 und Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 211 ff.
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1. Teil: Kollektive Identität
bewirkt, sondern normativ durch die Verfassung bestimmt.476 In der Gewährleistung der Integration des Staates liegt ihre wesentliche Aufgabe.477 Die Verfassung ist der Inbegriff aller den prozessualen Integrationsablauf stabilisierenden Momente; sie wird damit zum institutionalisierten Integrationsvorgang.478 Sie ist flexibel und elastisch, denn sie ist nach der Integrationslehre ein Stück „dynamisch integrierende Wirklichkeit“.479 Die Verfassung gewinnt nach Smend ihre Legitimation daraus, in welchem Maß sie die Integration zu realisieren vermag.480 Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Verfassungsgeber selbst die Integrationsfunktion der Verfassung erkennen.481 Wesentliche Teile der Verfassung sind daher als Faktoren der persönlichen, sachlichen und funktionellen Integration anzusehen.482 4. Drei Funktionsweisen sachlicher Integration durch Verfassung Smend diskutiert vor allem drei Funktionsweisen einer sachlichen Integration durch Verfassung. Diese sind das System des Föderalismus, das System der Grundrechte sowie die staatlichen Symbole, zu denen Smend Fahnen, Wappen, Zeremonien und Feiertage zählt.
476 Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (162). 477 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (197); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 138; Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (202); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 141 f. 478 Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (210); Mols, AöR 1969, S. 513 (527). 479 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (192); Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (206); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (116). 480 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (139); Geis, JuS 1989, S. 91 (94). Angesichts der vorgefundenen territorialen Zersplitterung der deutschen Staaten bezeichnet Smend die Verfassung sogar als einen besonders eindrücklichen „Fall der unzweifelhaften Integrationswirkung jeder Rechtsgemeinschaft“. Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (192). Siehe dazu auch Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (116). 481 Denn nach Smend braucht dem Verfassungsgeber der geistesgesetzliche Sinn einer Verfassung ebenso wenig zum Bewusstsein zu kommen, wie dem Einzelnen der Sinnzusammenhang seines geistigen Lebens. Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (190). Vgl. dazu Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (174). 482 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (198 ff.); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (116).
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a) Grundrechte Rudolf Smend hat das Staat und Gesellschaft zusammenführende Integrationsprojekt auf seine Grundrechtstheorie übertragen. In der Integrationslehre hat die sachlich-integrative Funktion von Grundrechtskatalogen zentrale Bedeutung.483 Zum einen werde mit einem derartigen Grundrechtskatalog ein „Wert-, Güter- oder ein Kultursystem“ geschaffen, welches dem staatlichen Leben eine „sachliche Legitimationsgrundlage“ liefere.484 Denn der demokratische Staat gründe sich auf die durch die Grundrechte zu bewahrende sachliche Wertegemeinschaft.485 Zum anderen werden nach der Ansicht Smends mit den jeweiligen Grundrechten allgemeinere Werte national positiviert. Ein Grundrechtskatalog schaffe dadurch für die Staatsangehörigen einen materialen Status, durch den sie sachlich ein Volk, untereinander und gegen andere, sein sollen. Auf diese Weise werde die sachliche Integration eines Volkes in seiner historischnationalen Eigenart im Sinne einer „Volksintegration“ ermöglicht.486 b) Symbole Im Unterschied zu den Grundrechten werden in den staatlichen Symbolen die staatlichen Werte nicht unmittelbar fest geschrieben. Allerdings avancieren Bestimmungen der Verfassung von scheinbarer Belanglosigkeit – wie zum Beispiel die verfassungsrechtlichen Bestimmungen zur Festlegung der Nationalfarben der Fahne – zum Symbol politischer Einheit und erhalten dadurch ihren Sinn.487 Bei der Staatssymbolik geht es folglich um eine identitätsstiftende Repräsentation der staatlichen Werte. Denn im modernen Staat könne der Einzelne die Wertfülle nicht mehr über- und durchschauen. Daher müssen die Werte sich in komprimierter Form präsentieren, um von den Bürgern wahrgenommen und erlebt zu werden. Ansonsten sei die integrierende Funktion des Wertgehalts behindert. Für die sachliche Integration sind daher nach Smend symbolische Reprä-
483 Vgl. zur Theorie der Grundrechte Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (260 ff.); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 152; Llanque, in: Brodocz/Schaal (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart I, S. 317 (326 ff.); Möllers, Staat als Argument, S. 112. 484 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (264). 485 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 89 (91). Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 112. 486 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (264); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (170); Mehring, Politisches Denken 1994, S. 19 (34); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 153. 487 Dieser Sinn erst rechtfertigt nach Smend die Strafandrohung bei Verunglimpfung dieser Symbole; vgl. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 89 (97). Siehe dazu Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (162).
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1. Teil: Kollektive Identität
sentationsmittel von besonderer Bedeutung.488 Ihr Sinn liege darin, dass das Staatsvolk als solches in diesem Symbol und in den von diesem Symbol repräsentierten Werten von Verfassungs wegen eins sein soll.489 Den Vorteil der Repräsentation staatlicher Wertgehalte in Symbolen sieht Smend in der besonderen „Wirksamkeit“ und „Elastizität“ des individuellen Erlebnisses. Denn einen symbolisierten Wertgehalt könne jeder so erleben, wie er ihn verstehe. Rechtliche Formulierungen rufen dagegen unvermeidlich Spannungen und Widersprüche hervor. Daher erlebt der Bürger nach der Ansicht Smends nur den symbolisierten Wertgehalt als „totale Fülle“. Dies sei auf keinem anderen Wege zu erreichen.490 Daher liege die Bedeutung der die Symbolik regelnden Verfassungsnormen in ihrer die Einheit konstituierenden und integrierenden Funktion.491 c) Bundesstaatskonzept Smend begreift den Föderalismus als ein Integrationssystem besonderer Art. Seiner Ansicht zufolge überlagern sich darin zwei Integrationssysteme. Das erste Integrationssystem ist der Aufbau des Staates aus den einzelnen Staatsangehörigen. Der zweite Integrationsmodus ist der föderalistische Aufbau aus der Zusammenordnung von Gesamtstaat und Einzelstaat.492 In ähnlicher Weise wie bei den staatlichen Symbolen weist Rudolf Smend dem föderalen Staatsaufbau eine sachliche integrierende Wirkung zu.493 Der Bundesstaat ist aus integrationstheoretischer Sicht dann ein sinnvolles System, wenn und soweit die Einzelstaaten nicht nur „Integrationsobjekt“, sondern vor allem auch „Integrationsmittel“ sind.494 Diesbezüglich erkenne die Bundesstaatsverfassung den Einzelstaat als ein in sich geschlossenes Integrationssystem an und sie konstituiere auch den Gesamtstaat als ein Integrationssystem.495 Die gelungene Integration 488
Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (162 f.). Vgl. dazu Möllers, Staat als Argument, S. 103; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 137 f. 489 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 89 (94); Llanque, in: Göbel/ van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (162). 490 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (164); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 140. 491 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 89 (94). Vgl. dazu Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (162). 492 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (223); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 94 f.; 137. 493 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (226 ff.); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 140. 494 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (225). Siehe grundlegend dazu Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (113); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 155 ff. 495 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (270).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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vollzieht sich nach der Integrationslehre im funktionierenden Zusammenspiel zwischen Einzelstaaten und Gesamtstaat sowie der Einzelstaaten untereinander.496 Die Bedeutung der Länder liegt nach Smend in ihrer Integrationsleistung. Der integrative Eigenwert der Einzelstaaten bestehe darin, den Zusammenhalt bestimmter Identifikationsmomente etwa territorialstaatlicher oder konfessioneller Art für partikulare Bevölkerungseinheiten zu ermöglichen. Denn die Einzelstaaten haben Smend zufolge eine sichtbare Rolle im Bund und durch ihre jeweiligen Eigenheiten werde eine große Wertediversität abgebildet. Durch die regionalen Besonderheiten werde die politische Erfassbarkeit des Staates für die Bürger vergrößert.497 So stellen die Einzelstaaten nach der Smendschen Konzeption in ihrer Selbständigkeit eine „Kraftquelle“ und „Integrationshilfe“ für den Gesamtstaat dar. Der Erhalt regionaler Identitäten ist also aus integrationstheoretischer Sicht erwünscht. Dementsprechend geraten regionale Identitäten der Bürger nach der Integrationslehre nicht in ein antagonistisches Verhältnis zum bundesstaatlichen Zusammengehörigkeitsbewusstsein. Vielmehr werden die regional in den einzelnen Ländern ausgeprägten kollektiven Identitäten auf den Gesamtstaat übertragen und dienen seiner Legitimation.498 Auf diese Weise integriere eine föderale Verfassung die Länder und deren Angehörige. Sie kann dementsprechend die Länder und deren Angehörige vollständiger erfassen und integrieren, als dies ohne das Dasein der Länder möglich wäre. Daher bezeichnet Smend es als falsch, sich Union und Einzelstaaten als Rivalen und Feinde vorzustellen.499 Hier gelingt Smend die Verbindung der bundesstaatlichen Idee mit dem praktischen Anliegen der Integrationslehre, den Einzelnen wirkungsvoll als Staatsbürger einzubeziehen. Die sich überlagernden Staaten binden den Bürger in zweifacher Weise, durch die regionale, leichter überschaubare Staatlichkeit des Gliedstaates und die gleichzeitige Einbeziehung in den Oberstaat.500 5. Tauglichkeit des Ansatzes zur Identitätsstiftung durch europäisches Verfassungsrecht Die durch eine Verfassung vermittelte Einheitsbildung ist der hauptsächliche Gegenstand der Integrationslehre. Diese Thematik steht auch im Mittelpunkt der 496
Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 154. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (231); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (113); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (171); ders., Verfassung und Integration in Europa, S. 140; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 154. 498 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (171); ders., Verfassung und Integration in Europa, S. 140. 499 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (271). 500 Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 166. 497
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1. Teil: Kollektive Identität
akademischen und politischen Diskussionen um die Europäische Union.501 Eine Bezugnahme auf die Integrationslehre zur Erfassung der Möglichkeiten konstitutioneller Identitätsstiftung auf der Ebene der Europäischen Union hat daher auf den ersten Blick eine hohe Plausibilität.502 a) Ablösung vom Nationalstaat Teilweise wird vertreten, dass Smends Integrationslehre wegen ihrer Fixierung auf den Nationalstaat nicht ohne weiteres auf die europäische Integration übertragbar sei.503 Richtig ist, dass Smend seine Theorien zunächst für einen existierenden monarchischen Staat und dann für die nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandene Weimarer Republik mit ihren massiven sozialen Spannungen entwickelte.504 Smend nahm ursprünglich an, dass ausschließlich die Staatsverfassung eine „Integrationsordnung“ sei und eine „Orientierung nach dem Integrationswert“ habe.505 Die politische Einheit der Integrationslehre ist daher zunächst mit dem Nationalstaat europäischer Prägung verbunden. Es geht aber bei der europäischen Integration nicht um die Herstellung der politischen Einheit eines Staates. Die Verlagerung des Integrationsbegriffes vom Staat auf den Sachverhalt Europa zur Erfassung des europäischen Integrationsprozesses ist nicht ohne weiteres möglich. Der Integrationsbegriff muss an den europäischen Kontext angepasst werden.506 Bei Smend sind soziale, ökonomische oder kulturelle Faktoren keine Voraussetzung für einen Staat.507 Der Staat beruht nicht auf Rasse, Volk, Sprache, Religion, Geographie oder einer sonstigen Substanz. Staat, Bundesstaat und andere Formen der staatlichen Integration existieren in dem Umfang, wie Integration auf der betreffenden Handlungsebene tatsächlich gewollt ist und auch erfolgt.508 Smend bezieht sich in seiner Integrationslehre ausdrücklich auf ideologisch und territorial zersplitterte Gebilde und nimmt an, dass Individuen über die Integration ihrer Staaten in die übergeordnete Einheit integriert werden könnten.509 Es 501
Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163
(164). 502
Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13
(29). 503 504
Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 199. Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13
(29). 505 506 507
Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87. Tsatsos, EuGRZ 1995, S. 287 (288). Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163
(167). 508
Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 88. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (270); dazu Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 88. 509
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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zählt allein der Wille der Menschen zum gemeinsamen Staat und seiner Verfassung.510 Der Zusammenhalt der Staatsangehörigen erwächst für Smend aus den Integrationswirkungen der Verfassung.511 Darüber hinaus hat Smend nach dem Zweiten Weltkrieg seine Integrationstheorie auf internationale Zusammenschlüsse, ausdrücklich auch auf die EWG für anwendbar erklärt.512 Smend machte an diesem Beispiel deutlich, dass Integration nach seinem Verständnis „nicht Addition, Anschluss aneinander, sondern Bildung eines neuen Ganzen durch ein neues Zusammenspiel der bisher vereinzelten Glieder“ bedeutet. Dabei müssen diese Glieder nach Smend zugleich aufgrund gegenseitiger Beeinflussung ihre tatsächliche Art und ihren rechtlichen Status ändern.513 Denn als Recht werden nach der Integrationslehre nicht nur die durch den Staat gesetzten Normen angesehen, sondern Recht ist auch ohne die vorherige Selbstbindung des Machtstaates möglich.514 Der Begriff der Verfassung ist nach Smends Integrationslehre nicht an den Staat gebunden.515 Dies ermöglicht es, auch vorstaatliches Recht als Recht anzuerkennen.516 Dementsprechend ist aus der Sicht der Integrationslehre eine nichtstaatliche Verfassung durchaus möglich.517 Die Ablösung der Integrationslehre Smends vom Nationalstaat und ihre Anwendung auf ein supranationales Gemeinwesen sind nicht von vornherein ausgeschlossen.518 b) Wertegemeinschaft als Voraussetzung von Integration Natürlich setzt auch dieses Konzept eine gewisse Übereinstimmung zwischen den individuellen Willen der Staatsangehörigen voraus. Einerseits wird bei Smend Einheit durch die persönlichen, funktionellen und sachlichen Integrationsfaktoren immer wieder neu gestiftet; die Gemeinschaft der Bürger muss 510 511
Hennis, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 267 (281). Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163
(176). 512 Allerdings hat er die Bedingungen der Übertragbarkeit nicht näher ausgeführt, vgl. Smend, Integration, S. 482 (483). 513 Smend, Integration, S. 482 (483). Vgl. dazu Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (115). 514 Möllers, Staat als Argument, S. 107. 515 Denn die Integrationslehre liefere eine Theorie, die für alle Kultursysteme mit beliebigen Grundvariablen oder Primatfaktoren vermöge der Elastizität des Systems der Integrationsfaktoren Geltung beanspruchen könne; vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (186). Siehe dazu Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 102; Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (117). 516 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87. 517 Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (115; 117). 518 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (167); Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (30); a. A. Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 103 m.w. N.
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1. Teil: Kollektive Identität
stets neu begründet werden.519 Denn für Smend ist staatliche Einheit grundsätzlich nicht ein dem Recht vorgehendes und vorauszusetzendes Gebilde, sondern im Vorgang der Integration immer wieder herzustellen.520 Andererseits wird bei Smend eine bestehende, auf historisch-national bedingten Werten beruhende staatliche Gemeinschaft vorausgesetzt, der die Integration als Mittel zur Selbsterhaltung dient.521 Der Staat ist auf der einen Seite das Ergebnis der ständigen Leistung und Anteilnahme aller an ihm Beteiligten. Auf der anderen Seite ist das zur Integration Aufgegebene immer schon historisch vorhanden. Der Staat ist gleichzeitig voluntaristisch erzeugte soziale Wirklichkeit wie vorgegebene „geistige Gemeinschaft“, die dem manipulierenden Zugriff der Integration nur bedingt offen steht.522 Er ist trotz aller Aufgegebenheit immer der schon vorhandene geistigsoziale Raum.523 Damit ergibt sich das Problem, dass der Vorgang der Einheitsbildung immer nur mit Bezug auf die Einheit definiert werden kann. Denn Smend zufolge werden Werte nur vermöge der sie erlebenden und verwirklichenden Gemeinschaft realisiert. Umgekehrt lebt aber auch die Gemeinschaft von den ihr vorausliegenden Werten.524 Denn nach Smend kann es keine formelle Integration ohne Wertegemeinschaft geben.525 Auch die sachliche Integration verläuft über Werte, in deren Namen eine staatliche Gemeinschaft einig sein will.526 Ansonsten kann zum Beispiel die integrative Wirkung von Verfassungssymbolen ausbleiben, wenn diese nicht das Symbol überwältigender Wertegemeinschaft sind.527 Die drei Integrationsfaktoren allein können die von Smend intendierte erfolgreiche Integration der Bürger in ein Gemeinwesen nicht unter allen Umständen sicherstellen.528 So ist zum Beispiel die integrierende Wirkung politischer Auseinandersetzungen im Rahmen der funktionellen Integration allein nicht ausreichend. Der Parlamentarismus ist daher allein in seiner Eigenschaft als funktioneller In519
Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (113). Möllers, Staat als Argument, S. 105. 521 Siehe dazu Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 141, 151; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 251; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 139. 522 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (127 f., 160 ff.); dazu Mols, AöR 1969, S. 513 (518). 523 Mols, AöR 1969, S. 513 (524). 524 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (160). 525 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (159); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (118). 526 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (160 ff.); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 137. 527 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (217 f.); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (170). 528 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (159 ff., 215 ff.). 520
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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tegrationsfaktor unzureichend zur Ausbildung einer eigenständigen Staatsform.529 Parlamentarische Auseinandersetzungen können aber zugleich eine desintegrative Wirkung haben. Die Einbindung in konflikthafte Entscheidungsverfahren kann nämlich unter ungünstigen Bedingungen statt Verbundenheit auch Abneigungen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen erzeugen. Daher muss Smend auf Bedingungen für das Gelingen des Integrationsprozesses zurückgreifen.530 Aus diesem Grund entwickelt er auf der Basis des positiven Konfliktbegriffes von Simmel531 ein Modell, wonach die Austragung politischer Auseinandersetzungen „bei gesunden politischen Verhältnissen“ trotz der Entladung von Spannungen eine kathartische Wirkung haben kann. Er schränkt den politischen Kampf auf einen Kampf mit „Integrationstendenz“532 ein. Der Kampf könne seine Integrationsfunktion nur auf dem Boden einer vom Konsensus aller Staatsbürger getragenen „Wertegemeinschaft“ entwickeln, die nicht in Frage gestellt wird. Der Kampf werde vorbehaltlich dieser Wertegemeinschaft geführt; diese gebe dem Kampf selbst die Regeln und sei daher eine Funktion integrierenden Gruppenlebens.533 Der als integrativ gepriesene politische Kampf setzt damit das Bestehen einer konkreten Wertegemeinschaft immer schon voraus und darf bestimmte Grenzen nicht überschreiten.534 Also muss ein gewisses Zusammengehörigkeitsbewusstsein der Staatsangehörigen bereits bestehen.535 Integration im Sinne Smends baut damit ausdrücklich auf einem Zusammengehörigkeitsbewusstsein der Staatsangehörigen, also auf die in einem Kollektiv geteilten Wissensbestände, Werte und Identitäten auf.536 Die Existenz einer solchen Übereinstimmung wird aber von nicht ausdrücklich benannten gesellschaftlichen Faktoren abhängig gemacht.537 Legitimitätsbegründend sind demzufolge
529 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (218 ff., 222); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 149. 530 Siehe ausführlich zum Folgenden Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (164). 531 Als erster hat Georg Simmel auf das Phänomen aufmerksam gemacht, dass moderne Gesellschaften letztlich durch gehegte Konflikte zusammengehalten werden. Dies ist ein Typus von Konflikten, die in sich ein Potential der Selbstbegrenzung und Zivilisierung enthalten; Simmel, Soziologie, S. 186 ff. 532 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (151). 533 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (155); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (170). 534 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (155). Siehe dazu Lhotta, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 286 (308); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 150; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 141. 535 Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 141 ff. 536 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (169). 537 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (167); Möllers, Staat als Argument, S. 106 f.
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1. Teil: Kollektive Identität
die konkreten Werte, die die Geltung einer bestimmten Rechtsordnung einerseits fordern und andererseits tragen.538 Damit basiert der Integrationserfolg bei Smend auf Aspekten, die außerhalb der Staatsorganisation liegen, insbesondere auf dem Bestehen eines gesellschaftlichen Grundkonsenses in Form einer Wertegemeinschaft.539 Smend greift also auf eine vorauszusetzende Kategorie der Einheit zurück, wenn seine Theorie der Einheitsbildung versagt.540 Nach Smend müsste die Europäische Union also einen Wertekonsens aufweisen, ansonsten wäre eine Integration der Bürger nicht möglich und ihre Legitimität in Frage gestellt. c) Integration als geistiger Vorgang Smend verstand Integration als rein geistigen Vorgang und als einen weitgehend unbewusst ablaufenden Prozess bei den Bürgern.541 Die integrative Kraft der Verfassung liegt für Smend ausschließlich in ihren Auswirkungen auf die Bindekraft von Vorstellungen.542 Aus diesem Grund kann man davon ausgehen, dass Smend vor allem die sozialpsychologischen Aspekte einer Integration durch Verfassung im Blick hatte. Die Integration durch Verfassung soll das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürger stärken. Bei der gesellschaftlichen Integration durch die Anregung von inneren, sozialpsychologischen Vorgängen bei den Bürgern findet eine Integration durch Recht nicht nur in seiner Eigenschaft als Verhaltensregel, sondern auch als persönlicher Orientierungspunkt statt.543 Die Integrationslehre hat dadurch aber auch die Tendenz, Integration einseitig als Problem der gemeinsamen Vorstellungen zu definieren. Die einzige Maßnahme, die die Integrationslehre gegen Integrationsmängel fokussiert, ist eine durch konstitutionelle Bestimmungen bewirkte Stärkung des Zusammengehörigkeitsbewusstseins.544 Die Strategie einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht hat ihre Berechtigung. Man sollte aber nicht übersehen, dass es auch andere nicht-konstitutionelle Strategien einer Identitätsstiftung gibt.545 Allerdings 538 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (166); Möllers, Staat als Argument, S. 104. 539 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (155). Siehe auch Calliess, JZ 2004, S. 1033 (1044); Möllers, Staat als Argument, S. 103. 540 Möllers, Staat als Argument, S. 116; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 142. 541 Smend, Integrationslehre, S. 475 (476); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 142. 542 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 142. 543 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 88 f. 544 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (178). 545 Ein Beispiel nicht-konstitutioneller Identitätsstiftung ist die Bildungs- und Kulturpolitik.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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erscheint die Einseitigkeit der Integrationslehre zumindest für die vorliegende Analyse einer Integration durch Verfassung unschädlich. Denn die Untersuchung beschränkt sich auf die Untersuchung einer sozialpsychologischen Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht. d) Bundesstaatskonzept Es geht im Folgenden darum, wie die identitären Beziehungen der Bürger zum Gesamtgebilde und zu den Teilgebilden in der Integrationslehre dargestellt werden. Die Integrationslehre müsste auch die Beziehungen zwischen Staaten mit der Kategorie der Integration erfassen können. Mit dem Bundesstaatskonzept könnten die wesentlichen Bedingungen eines europäischen Fortschritts erfasst sein, ob am Ende in Europa nun ein Bundesstaat steht oder nicht.546 aa) Nebeneinander der Identitäten im Bund Anhand der Integrationslehre Rudolf Smends lässt sich ohne weiteres die Notwendigkeit des Nebeneinanderbestehens mitgliedstaatlicher und europäischer Identität annehmen. Demzufolge können in einem föderalistischen System verschiedene kollektive Identitäten existieren, ohne dass die eine die andere verdrängen muss. In einer starken regionalen Identität der Gliedstaaten wird sogar der Vorteil gesehen, dass die Erfassbarkeit des Bundes für die Bürger vergrößert werde. Überträgt man die Konzeption der Integrationslehre auf die Europäische Union, würde der Erhalt der Eigenarten der regionalen mitgliedstaatlichen Identitäten eine größere Vielfalt ermöglichen und die Bürger könnten Europa als Gemeinwesen besser erfassen. Wenn man den Gedankengang der Integrationslehre für die Europäische Union zugrunde legt, kann sich jeder Bürger aufgrund seiner regionalen Identität leicht in der Europäischen Union wieder finden. Denn nach der Integrationslehre würde sich der Einzelne über seine mitgliedstaatliche Identität und die Rolle seines Staates in der Europäischen Union mit dem großen Ganzen identifizieren. Auf diese Weise könnten die Bürger eine europäische Identität leichter ausbilden. Die föderale Struktur der Europäischen Union würde also durch die Mannigfaltigkeit und Individualität der Mitgliedstaaten gerechtfertigt. Demzufolge würden sich nach der Integrationslehre mitgliedstaatliche und europäische Identität ergänzen. Dadurch würde die Selbständigkeit der Mitgliedstaaten zu einer Integrationshilfe für die Europäische Union. Damit könnten nach dem Verständnis Smends die europäischen Bürger über den Erhalt ihrer regionalen Identität vollständig in das Gemeinwesen der Europäischen Union integriert werden. Im Ergebnis kann die Integrationslehre 546
So vertreten von Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (119).
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1. Teil: Kollektive Identität
also das Nebeneinander von europäischer und mitgliedstaatlicher kollektiver Identität erklären, ohne dass eine Rivalität zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten angenommen werden müsste. bb) Ausgleich innerer Spannungen im Bund Rudolf Smend zieht im Unterschied zu Hermann Heller547 die Möglichkeit eines europäischen Bundesstaates nicht in Erwägung.548 Er stellt vor allem auf die sachliche Integration ab. Regeln zur Abstimmung individueller und kollektiver Verhaltensweisen werden dagegen als für die Integration irrelevant abqualifiziert.549 Smend sieht in einer föderalistischen Problemlösung, die die Arbeitsteilung der Glieder sowie das Zusammenwirken und die Einheitlichkeit der Ausführung regelt, nichts als „objektivierende Mechanistik und Teleologie“, die den eigentlichen Schlüssel zum Verstehen „geistiger Wirklichkeit“ nicht liefere.550 Damit richtet die Integrationslehre ihr Augenmerk ausschließlich auf konstitutionelle Maßnahmen zur Homogenisierung einer Bevölkerung. Das Wesen des Verfassungsrechts besteht zwar grundsätzlich darin, Integration zu erzeugen oder selbst Ergebnis der Integration zu sein. Verfassungsrecht kann aber auf der anderen Seite auch gerade die Folgen nicht vorhandener Integration abmildern und Formen und Regeln schaffen, wo eine Integration nicht möglich ist.551 Ein Beispiel dafür sind Abstimmungsregeln, die bestimmte Mehrheitsverhältnisse als Entscheidungsvoraussetzung festlegen. Solche Regeln können enorme Effekte für den Ausgleich von Spannungen haben. Denn sie ermöglichen Entscheidungen, wenn keine Einigkeit der Mitgliedstaaten besteht. Der Beitrag des Föderalismus zum Zusammenhalt eines heterogenen Gemeinwesens beruht zudem häufig gerade auf einem System der Kompetenzverteilung. Dieses räumt regional konzentrierten Minderheitengruppen in bestimmten Politikbereichen Entscheidungsautonomie oder Vetomöglichkeiten ein und ermöglicht ihnen so, ihre Eigenständigkeit zu schützen.552 Föderalismus dient in diesem Fall nicht in erster Linie der Stärkung eines gesamtstaatlichen Zusammengehörigkeitsgefühls. Es geht in diesem Bereich vielmehr darum, die Regierbarkeit eines Gemeinwesens auch bei einem schwach ausgeprägten Zusammen547 548
Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (433). Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163
(167). 549
Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163
(171). 550 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (223); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (171). 551 Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 218 f. 552 Siehe ausführlich zum Folgenden Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (171 f.).
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gehörigkeitsbewusstsein zu gewährleisten. Durch Entscheidungsregeln zum Minderheitenschutz können regionale Fliehkräfte in ein Gemeinwesen eingebunden werden. Der Föderalismus reguliert in dieser Funktion die mangelnde Einbindung von territorial konzentrierten Bevölkerungsgruppen. Ohne bestimmte Abstimmungsregeln könnte ansonsten die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen der einzelnen Gliedstaaten behindert werden. Durch die Anpassung der Kompetenzverteilung an soziale Konfliktlinien können also die Folgen eines nicht stark ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühls in einem Gemeinwesen gemindert werden.553 Dies ist der Bereich des im Rahmen des genetischen Identitätsbegriffes angesprochenen Ausgleichs von Spannungen innerhalb einer Gruppe, der ebenfalls ein wichtiger Faktor im Bereich der Ausbildung kollektiver Identitäten ist.554 Nach Smends Konzeption soll die starke Rolle der Mitgliedstaaten allerdings eher die Erfassbarkeit des Bundes erhöhen, was einer Gesamtintegration förderlich sein soll. Die Integrationslehre nimmt vor allem sozialpsychologische Homogenisierungsprozesse bei den Bürgern in den Blick. Smend legt in seiner Föderalismuskonzeption den Schwerpunkt auf die Stiftung kollektiver Identität anstatt auf die Kompensation eines nicht vorhandenen Zusammengehörigkeitsgefühls. Daher kann die Integrationslehre den Gesichtspunkt des Ausgleichs innerer Spannungen, der für das Konzept des Föderalismus ebenfalls bedeutsam ist, nicht erfassen.555 Denn Smend setzt implizit die Einheit, die durch die Integration erst gestiftet werden soll, bereits in Form einer Wertegemeinschaft voraus. Somit kann die Integrationslehre föderale Konflikte nicht adäquat erfassen und einer Lösung zuführen.556 Allerdings lässt Smend in seinem Bundesstaatskonzept mögliche desintegrierende Momente nicht völlig außer Acht.557 Wichtig und auch aktuell für die gegenwärtige Europa-Diskussion ist sein Hinweis auf die möglicherweise desintegrierende und das Ganze schwächende Wirkung von unbedachten sachlichen Zuständigkeitserweiterungen des Bundes. Denn nach Smend wirkt die sachliche Zuständigkeitserweiterung im Bundesstaat nicht notwendig auch praktisch unitarisierend und damit integrierend. Bestimmte Kompetenzerweiterungen können auch desintegrierend wirken. Demzufolge gibt es Zuständigkeitsbestimmungen 553
Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163
(167). 554 Dieses Prinzip wird von Hurrelmann auch als „Heterogenitätskompensation“ bezeichnet; Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (172). 555 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (172). 556 Siehe ausführlich dazu Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 170. 557 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (165); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87.
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1. Teil: Kollektive Identität
im Bundesstaat, die unitarisch wirken sollen, aber durch „Überspannung“ das Gegenteil bewirken.558 Daher ergibt sich für Smend aus seiner integrationstheoretischen Grundlegung, dass gewisse Eigenkompetenzen bei den Einzelstaaten verbleiben müssen. Aus demselben Grund müssen sie an der Ausübung der Bundesgewalt beteiligt werden. Ebenso ergibt sich aus der Verpflichtung zum integrativen Zusammenwirken die Idee der beiderseitigen Bundestreue. Smend hat aber diejenigen Verfahrensbestimmungen der Verfassung, die gezielt die Regierbarkeit heterogener Gesellschaften erhöhen sollen, nicht ausdrücklich thematisiert.559 Damit entgehen der Integrationslehre wichtige Aspekte des föderalistischen Systems. e) Vereinnahmung Einzelner Die Integrationslehre weist starke Vereinnahmungstendenzen im Hinblick auf den Einzelnen und seine Individualität auf.560 Die von Smend vorausgesetzte Wertegemeinschaft lässt den Individuen keine freie Wahl zwischen einem aktiven Einfügen in die vorgefundene Wertegemeinschaft und der Möglichkeit einer vollständigen Abwendung von der Gemeinschaft. Theoretisch betont die Integrationslehre zwar die positive Beteiligung des Aktivbürgers an der Bildung des Staates. Nach der Integrationslehre ergibt sich aber eine Pflicht des Bürgers zur Teilnahme am Staatsleben. Denn Smend geht davon aus, dass es den Staatsangehörigen „überempirisch aufgegeben“ sei, am Staat mitzuwirken.561 Daher legitimiert die Integrationslehre in Wirklichkeit die kritiklose Integrierung des Einzelnen in den Staat.562 Für einen Zugriff des einzelnen Bürgers auf den Pro-
558 Eine derartige desintegrierende Wirkung wurde vor allem in der Weimarer Republik übersehen, denn Zuständigkeitsausdehnungen für das Reich wurden mit einer Stärkung des Reichs gleichgesetzt; vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (165). 559 Derartige Verfahrenbestimmungen lassen sich als Institutionen beschreiben, bei denen politische Strukturen den tatsächlichen oder vermeintlichen Konfliktlinien in der Gesellschaft angepasst werden. Sie sollen verhindern, dass Mehrheitsentscheidungen zustande kommen, für die die notwendige Unterstützung nicht besteht; Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 146. 560 Robbers, Jura 1993, S. 69 (71). Siehe zu einer Vereinnahmung der Individuen bei Smend auch ausführlich Lhotta, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 286 (311 ff.). 561 Der Bürger hat nach Smend Pflichten gegenüber dem Staat und soll positiv an der Gestaltung der politischen Ordnung teilnehmen. Der Begriff des Bürgers ist dem des Bourgeois gegenüber gestellt, worunter Smend einen „rechenhaften Egoisten der kapitalistischen Zeit (. . .) den Menschen der Vergangenheit, von dem für den schöpferischen Aufbau einer lebendigen neuen Welt nichts zu hoffen ist; Smend, Bürger und Bourgeois, S. 309 (311 f.). Die Kritik Smends am deutschen Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hängt mit seiner Liberalismuskritik zusammen; Koga, FS für Quaritsch, S. 609 (611). 562 Vgl. Koga, FS für Quaritsch, S. 609 (614).
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zess der Integration – insbesondere der wertbezogenen sachlichen Integration – bleibt wenig Spielraum.563 Vielmehr werden die Bürger in eine vorgegebene, in ihrer Ausgestaltung historisch bedingte Wertegemeinschaft integriert. Nicht der selbständig gestaltende, sondern der zur Integration „sittlich verpflichtete“ Bürger564 ist das dominierende Subjekt in der Integrationslehre. Die Integrationslehre offenbart damit eine Neigung zum Kollektivismus und zum reinen Machtstaatsdenken. Selbstgestaltung der Einzelnen bedeutet nicht autonome Selbstbestimmung, sondern Beteiligung am integrierenden staatlichen Leben.565 Der oberste Wert in der Verfassungstheorie Smends ist daher die Integration des Bürgers in ein Gemeinwesen und nicht seine Autonomie und Selbstbestimmung.566 Damit ist eine Abwertung des Individuums und seiner Selbstbestimmung verbunden. Im Grunde konterkariert Smend die Ausbildung und Formung eines selbständigen Staatsbürgers, der in positiver Weise politische Verantwortung tragen will.567 Daher wird von Teilen der Literatur in der Integrationslehre eine Öffnung der Staats- und Verfassungstheorie für antidemokratische Tendenzen gesehen.568 Denn nach Smend ist die Demokratie auch mit der Diktatur vereinbar. Er betont, dass „die Demokratie trotz ihres Mehrheitsprinzips in die Minderheit kommen und deshalb der Diktatur zu ihrer Durchsetzung bedürfen könne“.569 Aus der totalitären Vereinnahmung der Individuen wird teilweise sogar der Schluss gezogen, dass die Integrationslehre die Gefahr der Ausgrenzung Einzelner oder Andersartiger beinhalte.570 Denn nach Smend mache „der Gegensatz 563 Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 134; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 140. 564 Die Nähe Smends zu Hegel stellt Lhotta, in: ders. (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 91 (91 ff.) heraus. 565 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (132); Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 251; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 142. 566 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 142; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 254 ff.; Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (123). 567 Koga, FS für Quaritsch, S. 609 (621). 568 Diese Ansicht stützt sich zumeist auf Aussagen Smends, denen zufolge er in der Bismarck-Verfassung ein vollkommenes Beispiel einer integrierenden Verfassung sieht. Außerdem würdigt Smend den Faschismus aus integrationstheoretischer Sicht, vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (141, 157). Der Vorwurf der positiven Würdigung des Faschismus wurde im Jahr 1930 schon sehr früh und deutlich von Hans Kelsen in seiner Kritik an der Integrationslehre formuliert. Er unterstellt Smend auch ein unausgesprochenes Wohlwollen für die Diktatur; vgl. Kelsen, Der Staat als Integration. S. 58, 76. Siehe zum Ganzen Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 133. 569 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (221). Siehe dazu Kelsen, Der Staat als Integration. S. 83 f. 570 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87.
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1. Teil: Kollektive Identität
zu anderen Staaten den Wert und die Würde des eigenen Staates“ sowie die „persönliche Einbezogenheit in ihn“ für den Bürger erlebbar.571 Damit finden sich auch bei Smend zumindest abgrenzende Elemente. Man darf aber nicht den Unterschied zwischen Abgrenzung und Ausgrenzung verkennen. Eine Abgrenzung der Gruppe gegenüber anderen ist zunächst inhaltsneutral und konstitutiv für die Ausbildung kollektiver Identität, wie im Rahmen des genetischen Identitätsbegriffes deutlich wurde. Ob ein Verstoß gegen die Menschenwürde und gegen den Gleichheitsgrundsatz gegeben ist, hängt vielmehr davon ab, welche Konsequenzen aus dieser Abgrenzung folgen. Diesbezüglich finden sich bei Smend – anders als bei Carl Schmitt, der die Ausmerzung und Vernichtung des Heterogenen zur Aufrechterhaltung der Homogenität fordert – keinerlei Ansätze, die in ähnlich drastischer Weise die Einheit der Bürger herstellen wollen.572 Es lassen sich in der Integrationslehre über die Abgrenzung hinaus keine Hinweise zu einer gezielten Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsteile finden, die gegen die Menschenwürde oder den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Eine Klassifizierung der Integrationslehre als ausgrenzend erscheint daher nur schwer vertretbar. f) Normativität der Verfassung Die Integrationslehre wertet die Normativität der Verfassung ab.573 Sie relativiert den Geltungsanspruch der Verfassung gegenüber den staatlichen Interessen.574 Aus der integrativen Funktion der Verfassung als Einheit ergeben sich Auslegungsregeln für das Verfassungsrecht.575 Jede Verfassungsnorm ist demzufolge im Gesamtzusammenhang der Verfassung auszulegen. aa) Differenzierung zwischen Rechts- und Integrationswert Die Normativität der Verfassung wird zunächst durch ihre Integrationsfunktion begrenzt.576 Smend unterscheidet zwischen dem „Rechtswert“ und dem 571 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (163); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87. 572 Ähnlich Poeschel, Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends, S. 75, der hervorhebt, dass bei Smend anders als bei Carl Schmitt der politische Kampf nicht durch das Kriterium der physischen Bedrohung Andersartiger gekennzeichnet ist. 573 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 146 nimmt sogar an, dass die Integrationslehre den Vorrang und die Normativität der Verfassung vollständig auflöst. 574 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 141. 575 Möllers, Staat als Argument, S. 108. 576 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (195); Smend, Integration, S. 482 (484). Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 106.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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„Integrationswert“ von Normen.577 Der Rechtswert steht dabei mit der Integrationsfunktion der Verfassung im Widerspruch. Staatliche Integration und Rechtsform verhalten sich antagonistisch zueinander.578 Denn staatliche oder politische Integration und Rechtssystem arbeiten Smend zufolge nach verschiedenen Prinzipien.579 So soll die Justiz vor allem der Integration der Rechtsgemeinschaft und nicht der Integration des Staates dienen.580 Daher müsse das Recht vorfindbare Strukturen in der Gesellschaft behutsam behandeln und eine zu straffe Juridifizierung, wie es sich im Institut der Verfassungsgerichtsbarkeit manifestiert, verhindern.581 Damit lehnt die Integrationslehre die starke Stellung eines Verfassungsgerichts ab. Smend bezweifelt die integrative Fähigkeit des Rechts.582 Das geschriebene Verfassungsrecht sei nicht das letztlich maßgebliche.583 Ein Verfassungswandel muss dynamisch berücksichtigt werden.584 Die Dynamisierung der Verfassung birgt eine Gefahr für ihre Normativität.585 Hans Kelsen hat deshalb die Integrationslehre sogar als Aufruf zum Bruch der Weimarer Verfassung interpretiert. Er kritisiert, dass es der Integrationslehre gerade darauf ankäme, verfassungswidriges Geschehen unter gewissen Umständen zu rechtfertigen.586 Damit ver577 Er erkennt an, dass Verfassungen neben dem „Integrationswert“ auch einem „Rechtswert“ sowie einem „Verwaltungswert“ dienen. Der Verwaltungswert dient dem Ziel der Erfüllung bestimmter politischer Zwecke, unter Rechtswert versteht Smend die Positivierung, Sicherung und Anwendung rechtlicher Regeln. Smend versucht Rechts- und Integrationswert als zugleich eigengesetzliche und wechselseitig abhängige Formen des politischen Integrationsvorgangs und der rechtlichen Normierung zu beschreiben. Diese Abhängigkeit wird von Smend aber als Gegensatz begriffen; vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (205 ff.; 207 ff.). Siehe dazu ausführlich Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 300 ff.; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 215 ff.; Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 140 f.; Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (166); Möllers, Staat als Argument, S. 106. 578 Möllers, Staat als Argument, S. 115. 579 Die Integration der Rechtsgemeinschaft ist für Smend zumindest im Prinzip ein anderer Kreis; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (208). Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 106. 580 Siehe zum Folgenden Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (208); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 150. 581 Möllers, Staat als Argument, S. 114. 582 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (158, 175, 201); Möllers, Staat als Argument, S. 106 Fn. 58. 583 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 86. 584 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (239 ff., 241 f.); Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (116); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 147. 585 Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (211). 586 Kelsen kritisiert diesbezüglich vor allem, dass die Integrationslehre es wage, die Rechtfertigung der Verfassungsbrüche mit eben jener Verfassung vorzunehmen, um deren Verletzung es sich handelt; Kelsen, der Staat als Integration, S. 90. Rudolf
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1. Teil: Kollektive Identität
schiebt sich der Schwerpunkt der Integrationslehre von der Norm zur Wirklichkeit.587 Eine der juristisch folgenreichsten Konsequenzen ist Smends Ablehnung von Rationalität als Mittel der verfassungsrechtlichen Argumentation.588 Denn der integrative Sinn der Verfassung erlaube nicht nur die elastische, ergänzende und von aller sonstigen Rechtsauslegung weit abweichende Verfassungsauslegung, sondern fordere eine solche sogar.589 Die Verfassung wird damit zu einem elastischen Gebilde, das prinzipiell wandlungs- und ergänzungsfähig ist, sofern und soweit die Erfüllung der Integrationsaufgabe einen Wandel oder eine Ergänzung erfordert.590 Der Rechtswert muss aus integrationstheoretischer Sicht hinter dem Integrationswert zurücktreten, wenn die Erfüllung der Integrationsaufgabe dies notwendig macht. Die Integrationslehre geht also von einem Vorrang der Integration vor der Verfassung aus.591 Verfassungsbestimmungen, deren Hauptzweck nicht die Förderung des „Integrationswertes“ ist, werden von Smend sogar als „Fremdkörper in der Verfassung“ abqualifiziert.592 Die Integration besitzt Priorität gegenüber allen anderen Verfassungsfunktionen und drängt selbst explizite konstitutionelle Rechtsgarantien zurück.593 Insgesamt unterschätzt die Integrationslehre die Eigenbedeutung des Rechts.594 Die Verbindung der Verfassung mit dem staatlichen Integrationsvorgang führt zu einer eingeschränkten Normativität der Verfassung.595
Smend hat selbst die Inkompatibilität seiner Integrationslehre mit dem demokratischverfassungsstaatlichen Postulat des Vorrangs und der Normativität der Verfassung erkannt, ohne dieses Problem aber einer Lösung zuzuführen; Smend, Integrationslehre, S. 475 (480). Vgl. dazu Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 146. 587 Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 212. 588 Möllers, Staat als Argument, S. 105. Es wurde auch überspitzt von Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 210 formuliert, dass Verfassungsrecht bei Smend nicht Recht, sondern nur die bloße Rahmenordnung für die beteiligten Integrationsfaktoren sei. 589 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (190). 590 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 144. 591 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (190); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 218; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 303; Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 141; Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 144, 151. 592 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (208); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (174); ders., Verfassung und Integration in Europa, S. 141. 593 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (174). 594 Friedrich, AöR 1987, S. 1 (16). 595 Kein Staat ist demzufolge notwendig Rechtsstaat, denn die Rechtsstaatlichkeit ist nur ein möglicher Legitimitätstypus. Auf der anderen Seite ist der Staat bei Smend nicht unbedingt Rechtsstaat. Die Rechtsstaatlichkeit steht gewissermaßen unter dem Vorbehalt der andauernden Integrationskraft; vgl. Rennert, Die „geisteswissenschaft-
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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bb) Grundrechtsverständnis Die Relativierung der Normativität wird auch in Smends Grundrechtsverständnis deutlich. Nach der Integrationslehre berechtigt die primär integrativlegitimierende Funktion der Grundrechte nämlich dazu, von ihrer positiven Rechtsgeltung weitgehend abzusehen. Aus integrationstheoretischer Sicht handelt es sich bei den Grundrechten in erster Linie um „Berufsrechte“ des Staatsbürgers, die die sachliche Grundlage und das verfassungsrechtliche Instrumentarium für die von ihm erwartete politische Betätigung bereitstellen.596 Grundrechte schaffen nach der Integrationslehre also keinen staatsfreien gesellschaftlichen Raum.597 Der eigentliche Inhalt dieser Normen liegt für Smend nicht darin, dem staatlichen Leben zu Gunsten einer vermeintlichen Freiheitssphäre des Einzelnen die Grenzen aufzuzeigen. Die Grundrechte sollen nicht Schranken, sondern Verstärkungen der Hoheitsgewalt sein.598 Smend selbst hat seine Lehre nach 1945 als Versuch der Stärkung eines kranken Verfassungsstaates verteidigt und in späteren Aufsätzen teils ausdrücklich, teils stillschweigend einige Akzentverschiebungen vorgenommen. So gesteht er ein, dass er die Einordnung des Einzelnen in das staatliche Einheitsgefüge zu unproblematisch gesehen habe.599 Diesen Mangel seiner Integrationslehre hat Smend zwar damit selbst erkannt, er hat ihn jedoch in der Sache nicht korrigiert.600 Daher ist die Qualifizierung der Grundrechte als Abwehrrechte gegen die Hoheitsgewalt zweitrangig.601 Die Wertordnungsfunktion der Grundrechte steht in der Integrationslehre über der Abwehrfunktion.602 Ihre Bedeutung liegt für
liche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 303; Möllers, Staat als Argument, S. 106. 596 Smend, Bürger und Bourgeois S. 309 (318 f.); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 153. 597 Möllers, Staat als Argument, S. 112. 598 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 89 (93); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 152; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 209. Bei der Herausstellung der „sekundären, staatsbeschränkenden Funktion“ von Grundrechten gegenüber deren Integrations- und Legitimationsfunktion spricht Rudolf Smend sogar von einem „liberalen Missverständnis“; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (216). Siehe dazu Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (170); ders., Verfassung und Integration in Europa, S. 140. 599 Smend, Integrationslehre, S. 475 (480 f.); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 141. 600 Smend, Integrationslehre, S. 475 (480); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 141. 601 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 153. 602 Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 153 f.; Koga, FS für Quaritsch, S. 609 (613).
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1. Teil: Kollektive Identität
Smend nicht primär in der Garantie bestimmter Rechte.603 Durch dieses Grundrechtsverständnis verstärkt die Integrationslehre das totalitäre Element der umfassenden Vereinnahmung der Bürger.604 cc) Staatsorgane Die Abwertung der verfassungsrechtlichen Normativität zeigt sich auch an der integrativen Wirkungsweise der Staatsorgane. Denn integrative Wirkung sollen diese nur entfalten, wenn formale Einigkeit auch jenseits der die Organe betreffenden Kompetenz- und Verfahrensvorschriften erzielt wird.605 Smend formuliert, dass der „aufgegebene Erfolg“ der staatlichen Integration vom „politischen Lebensstrom“ vielfach in „nicht genau verfassungsmäßigen Bahnen“ erreicht werden mag. In einem solchen Fall aber werde die Erfüllung der Integrationsaufgabe trotz einzelner Abweichungen dem Sinn der Verfassung sogar eher entsprechen als ein paragraphentreueres, aber hinsichtlich des Integrationserfolges „mangelhafteres Verfassungsleben“.606 Bei Smend wird Integration vor allem durch tatsächliche Erlebniszusammenhänge und nicht notwendig durch das (Verfassungs-)Recht selbst ausgelöst. Solche integrativen Erlebnisse sind nach der Integrationslehre „gemeinsames Marschieren“607 sowie die „persönliche Führerschaft“, die den Führer zum Integrationsfaktor macht.608 g) Abwertung der Normativität und konstitutionelle Identitätsstiftung Die Unterschätzung der Eigenbedeutung des Rechts und der Normativität der Verfassung ist gerade im Hinblick auf die Stiftung einer europäischen Identität problematisch. Die Europäischen Gemeinschaften sind – wie bereits ausgeführt – in erster Linie Rechtsgemeinschaften. Dem Recht kommt daher einerseits eine besondere identitätsstiftende Wirkung zu. Die Beachtung der Normen des Gemeinschaftsrechts kann aber andererseits nur bedingt erzwungen werden. Aus diesem Grund ist jede bewusste Weigerung, die Normen der europäischen Ver603
Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 140. Vgl. Koga, FS für Quaritsch, S. 609 (617). 605 Möllers, Staat als Argument, S. 110. 606 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (190); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (174); ders., Verfassung und Integration in Europa, S. 141. 607 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (149); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87. 608 Smend geht sogar soweit, den italienischen Faschismus als eine besonders gelungene Form der persönlichen Integration zu bezeichnen; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (141). Vgl. dazu Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 87. 604
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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träge zu beachten, für den Zusammenhalt der Europäischen Union gefährlich.609 Durch die Nichtbefolgung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes würde ein Präzedenzfall geschaffen, der die Hilflosigkeit der Europäischen Union hinsichtlich der Einhaltung von Vertragsvorschriften unterstreicht. Wenn man die Eigenbedeutung des Rechts relativiert, kann man daher dessen integratives Potential für die Stiftung einer europäischen verfassungszentrierten Identität kaum nutzen. Die große Bedeutung, die eine unverbrüchliche Normativität der Verfassung auf Identitätsprozesse hat, wird vor allem am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 deutlich. In der Bundesrepublik ermöglichte vor allem die Verrechtlichung der Politik die Integration durch das Grundgesetz.610 Die juristischen Kriterien bestimmten die Rationalität des politischen Verhaltens von Organisationen und Individuen. Dadurch ist die politische Kultur der Bundesrepublik in hohem Maße rechtsgebunden und juristisch reflektiert.611 Das Grundgesetz wurde und wird keineswegs normativ abgewertet. Politische Auseinandersetzungen wurden und werden im Gegenteil hauptsächlich mit Bezug auf und um die Verfassung geführt; die Auslegung und Wertung der Normen des Grundgesetzes sind der Fokus der politischen Auseinandersetzungen. Über die Verrechtlichung werden politische Kontroversen neutralisiert.612 Die materielle Verrechtlichung des politischen Prozesses durch die Grundrechte und ihre prozessuale Sicherung durch das Bundesverfassungsgericht schaffen die institutionelle Grundlage für eine normativ ausgerichtete Integration.613 Die unverbrüchliche Normativität der Verfassung und ihre ausgeprägte Justiziabilität tragen zur Ausbildung starker verfassungsbezogener Kategorien bei. Diese waren und sind der Bezugspunkt, an dem sich eine kollektive, auf die Verfassung bezogene Identität der Bürger orientieren kann. Eine Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht muss also vor allem die Verrechtlichung der Politik im Blick haben. Insofern erscheint eine Relativierung der Verfassung im Sinne Smends als kontraproduktiv für die Stiftung verfassungszentrierter kollektiver Identität bei den europäischen Bürgern. 609
Siehe ausführlich dazu Ehlermann, FS für Carstens I, S. 81 (83 f.). Die wesentliche institutionelle Neuerung des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Reichsverfassung bestand in der Bindung des Gesetzgebers an die seiner Verfügung entzogenen Grundrechte und in der Einrichtung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit zur Sicherung des Verfassungsrechts; vgl. Lepsius, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, S. 63 (77). 611 Lepsius, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, S. 63 (81). 612 Daneben haben vor allem die Rechtsbehelfe eine besondere Bedeutung für die Verrechtlichung der politischen Kultur. Denn diese ermöglichen den Bürgern und sonstigen am politischen Prozess Beteiligten erst die Möglichkeiten zur Wahrung und Durchsetzung ihrer Rechte; Lepsius, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, S. 63 (78 f.). 613 Lepsius, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, S. 63 (77). 610
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1. Teil: Kollektive Identität
Dies wird durch die Erkenntnisse der Sozialpsychologie bestätigt. Der Kategorisierungsprozess der Individuen, der zur Ausbildung einer kollektiven Identität führt, wird durch die Normen eines Gemeinwesens maßgeblich geprägt.614 Die Kategorien, an denen sich eine kollektive Identität ausbilden soll, müssen daher eindeutig bestimmbar sein und über einen gewissen Zeitraum bestehen bleiben. Nur so wird die Orientierung der Einzelnen in einer sonst diffusen Welt durch Normen vereinfacht615 und können verfassungsrechtliche Kategorien als Ordnungsrahmen für die eingehenden Informationen wirken.616 Ist dies nicht der Fall, etwa weil die rechtlichen Kategorien einer Verfassung infolge ihrer Elastizität zu unbestimmt sind, dann kann die Ausbildung kollektiver Identität durch ein Verfassungsdokument behindert werden. Deshalb ist eine zu hohe Elastizität und Dynamik der Verfassung für die Ausbildung kollektiver Identität problematisch. In diesem Fall ist nämlich für die Bürger nicht eindeutig, welche Kategorien durch eine Verfassung etabliert werden sollen. Die Elastizität der Verfassung hat zwar den Vorteil, dass damit die Dynamik des europäischen Integrationsprozesses überhaupt nur adäquat erfasst werden kann. Ein zu elastischer Verfassungsbegriff hat aus integrationstheoretischer Sicht aber auch den Nachteil – neben der Abwertung der Normativität der Verfassung und den dadurch entstehenden Missbrauchsmöglichkeiten –, dass die Normen der Verfassung von den Bürgern zu unbestimmt wahrgenommen werden, um dadurch verbindliche Orientierungspunkte für die Ausbildung kollektiver Identität zu schaffen. h) Unvollständigkeit der Integrationslehre Darüber hinaus lassen sich mittels der Integrationslehre von Rudolf Smend die Prozesse einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht nur unvollständig erfassen. Smend benennt nicht, auf welche Weise sich die Herstellung staatlicher Einheit vollzieht.617 Deshalb können mit der Integrationslehre auch Defizite bei der Einheitsbildung theoretisch nicht beschrieben und konkrete Probleme des Verfassungsgefüges nicht erfasst werden.618 Smends Orientierung am Modell des
614 Zum Folgenden siehe Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 38 f. 615 Vgl. Tajfel/Forgas, in: Forgas (ed.), Social Cognition, S. 113 (113 ff.). 616 Weidenfeld, in: ders./Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Identität, S. 376. 617 Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (214); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 138. 618 Möllers, Staat als Argument, S. 105.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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harmonischen Normalfalles überschätzt die Möglichkeit, Integration durch die bewusste Einordnung des Einzelnen in ein Gemeinwesen zu ermöglichen.619 Smend löst nicht das Problem, wie eine Verfassung das Fehlen einer kollektiven Identität durch Auffangtatbestände kompensieren kann. Die Integrationslehre kann aufgrund des Fehlens eines entwickelten Gesellschaftskonzepts schon keine Aussagen darüber treffen, welcher Art das von Smend angenommene „vorkonstitutionelle“ Zusammengehörigkeitsbewusstsein sein muss und auf welche Quellen es sich stützt.620 Der Zusammenhalt der Staatsangehörigen, der für Smend aus der Integrationswirkung der Verfassung erwächst, gilt darüber hinaus nicht in unbegrenztem Ausmaß. Die Verfassung kann auch nach Smends Auffassung eine staatsbürgerliche Kollektividentität nicht aus dem Nichts kreieren. Sie kann für sich allein nichts bewirken, sondern nur eine Aufgabe stellen. Die Verfassung ist als tätige Kraft „in der individuellen Beschaffenheit der Gegenwart angelegt“.621 Denn bei Rudolf Smend soll der schon existierende Gesamtzusammenhang die Selbstbegründung für die Einheit liefern.622 Smends Begriffsbildung ist daher nicht geeignet, eine nicht vorhandene kollektive Identität als herstellbar beschreiben zu können. Er geht von einer ursprünglich vorhandenen Einheit aus, die durch Integration wieder herzustellen ist und wiederhergestellt werden kann. Weil die Integrationslehre nicht das Mindestmaß an Übereinstimmung für eine erfolgreiche Integrationswirkung kennzeichnet, kann sie auch nicht die Grenzen einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht benennen. Sie trifft keine Aussagen über die konstitutionell nicht mehr zu gewährleistenden Bedingungen einer Integration durch Verfassung.623 Es wird lediglich deutlich, dass mit Integration nicht ein Kampf oder die Unterscheidung von Freund und Feind gemeint ist, sondern Sinnerfahrung in der Gemeinschaft.624 Die Integrationslehre kennt damit keine verfassungsimmanente Kompensation von Integrationsdefiziten. Die Integrationslehre Rudolf Smends enthält trotz ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Prozessen der Integration auch keine Hinweise, ob und vor al619 Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (214). 620 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (170). 621 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 3 (9); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 176. 622 Siehe ausführlich zum Folgenden Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 109. 623 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (176 f.). 624 Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (214).
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1. Teil: Kollektive Identität
lem wie konstitutionelle Bestimmungen selbstreflexive Formen der Kommunikation der Bürger mit- und untereinander gewährleisten oder fördern können.625 Die juristischen Staatstheorien leiden insgesamt durch ihren fortgesetzten Bezug auf die Rechtsgeltung daran, dass es ihnen nicht möglich ist, verschiedene Grade der Verstaatlichung oder der staatlichen Einheitsbildung zu unterscheiden.626 Es gibt demzufolge auch im Rahmen der Integrationslehre keine Abstufungen von Integration.627 Die Frage der Einheitsbildung kann anhand der Integrationslehre nur mit Ja oder Nein beantwortet werden.628 Aus diesem Grund kommt Smend nicht über eine Übersicht der verschiedenen Identitätsstiftungsmöglichkeiten hinaus; er kann nur Strukturtypen von Integration nebeneinander stellen.629 Daher kann die Integrationslehre nicht „echte“ Integration von manipulierter oder politisch gesteuerter Integration differenzieren. Die Integrationslehre kann keine Aussage darüber treffen, ob gegenwärtig die Wertegemeinschaft in Europa ausreicht, um eine europäische Identität durch ein Verfassungsdokument zu stiften. Ungeklärt bleibt, inwieweit die Integrationslehre auf Zusammenhänge und Strukturen übertragbar ist, die einer Einheit im Sinne Smends entbehren.630 i) Identitätsstiftung durch Verfassung Smend geht es aber um eine juristische Operationalisierung seiner Integrationslehre.631 Die Integrationslehre macht deutlich, dass aus mangelnder Integration nicht zwingend der häufig gezogene Schluss folgen muss, es sei müßig, mit Entwürfen einer demokratischen Verfassung Europas aufzuwarten, weil die Voraussetzung der Einheit einer solchen Verfassung nicht gegeben sei.632 Sie
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Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163
(175). 626 Denn ansonsten würde die Rechtsgeltung insgesamt in Frage gestellt; Möllers, Staat als Argument, S. 116. 627 Siehe dazu auch Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 142; Möllers, Staat als Argument, S. 105. 628 Dies ist der entscheidende Unterschied zu den soziologischen Theorien, die unterschiedliche Integrationsformen ausgehend von den drei Arten legitimer Herrschaft, die Max Weber entwickelt hat, quantitativ bestimmen können. Siehe dazu unten S. 199 f. 629 Siehe ausführlich dazu Llanque, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 157 (164 f.). 630 Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (30). 631 Möllers, Staat als Argument, S. 107. 632 So vertreten zum Beispiel von Böckenförde, in: ders., Staat Nation Europa, S. 68 (93); Koenig, DÖV 1998, S. 268 (275).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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zeigt auf, dass Verfassungsinstitutionen selbst einen Beitrag zur Integration eines Gemeinwesens leisten können.633 Die Integration erfolgt nach Smend nicht von außen in Form substantieller extrakonstitutioneller Faktoren – wie zum Beispiel Homogenität oder überpositiver Rechtsgrundsätze –, sondern die Legitimation der Verfassung erfolgt „immanent in dem frei schwebenden System ihrer Integrationsfaktoren“.634 Indem Smend die integrative Funktion einer Verfassung unterstreicht, werden Faktoren, die in anderen Theorien als extrakonstitutionelle Bedingungen für die Legitimität eines Gemeinwesens gelten, „endogenisiert“ und zu konstitutionell gestaltbaren Faktoren erklärt.635 Dadurch relativiert sich das Erfordernis der Einheit vor der Verfassung. Das von Smend entwickelte lebendige Verfassungsbild kann die europäischen Entwicklungen vor allem durch die Einsicht in die Notwendigkeit, Integration als ständig zu förderndes Ziel zu begreifen, voranbringen.636 Darüber hinaus ist die Integrationslehre extrem anpassungsfähig. Sie benennt lediglich das Grundproblem, welches in je verschiedener Form dann zu lösen ist. Paradoxerweise ergibt sich also ein Argument für die Übertragbarkeit der Integrationslehre auf Europa gerade daraus, dass der Integrationsbegriff offen für die verschiedensten Inhalte ist. Der kleinste gemeinsame Nenner des von Smend geforderten Zusammengehörigkeitsgefühls dürfte dabei eine positive Grundhaltung zu politischer Einheit und die Einbeziehung der wirklich vorliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse sein. Die Integrationslehre gibt im Ergebnis eher eine bestimmte Haltung gegenüber dem Verfassungsrecht vor, als dass sie zu konkreten Ergebnissen führt.637 j) Fazit Für die Frage der Anwendbarkeit der Integrationslehre auf die europäische Integration ergibt sich insgesamt ein differenziertes Ergebnis.638 Die Überlegungen zur Abstraktheit der Integrationslehre haben gezeigt, dass sich die Katego633 Siehe ausführlich zum Folgenden Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (176). 634 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (196) (Hervorhebungen von der Verfasserin). Siehe dazu Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (116). 635 Hier liegt ein ganz wesentlicher Unterschied zu der Lehre Hermann Hellers, der im Hinblick auf die Rechtsgeltung an den überpositiven Rechtsgrundsätzen festhält. Diese sind aber nicht durch eine Verfassung gestaltbar, sondern werden nur durch die wechselnden Kulturerrungenschaften der Menschen dynamisiert. Siehe dazu Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (176). 636 Siehe ausführlich dazu Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (30 f.). 637 Möllers, Staat als Argument, S. 121. 638 Siehe ausführlich zum Folgenden Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (185).
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1. Teil: Kollektive Identität
rien Smends prinzipiell auf supranationale Kontexte vor allem infolge ihrer Unbestimmtheit übertragen lassen könnten. Smends Integrationskonzept ist jedoch zu einseitig und weist zu viele systematische Lücken auf. Daher kann die Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht mit dem Instrumentarium der Integrationslehre nicht vollständig beschrieben werden. Dies liegt einerseits an der demokratietheoretischen und rechtsstaatlichen Problematik durch die Abwertung der Normativität der Verfassung. Zum anderen sind wichtige Problemkonstellationen, auf die eine europäische Verfassung Antworten finden muss, dem systematischen Zugriff der Integrationslehre entzogen. Insgesamt leidet die Integrationslehre an dem Mangel, dass ihre Aussagen zur Integration dort abbrechen, wo es um die Organisation vielfältiger gesellschaftlicher Interessen geht und wo eine Bejahung des politischen Systems nur unter Vorbehalten vorhanden ist. Offen bleibt, wie eine politisch desintegrierende oder desintegrierte Gesellschaft integriert werden kann.639 Allerdings soll mit der Kritik an Smends Integrationslehre diese nicht pauschal abgewertet werden. Denn durch Smends Beschreibung der drei Integrationsfaktoren können wichtige Mechanismen erfasst werden, mittels derer sich eine Verfassung auf die gesellschaftliche Integration auswirkt. Sowohl für die Analyse des europäischen Verfassungsprozesses als auch für die institutionelle Gestaltung einer europäischen Verfassung lassen sich aus der Integrationslehre Anstöße gewinnen, die einen Beitrag zur Hinterfragung eingefahrener Argumentationsmuster leisten können. Mit den Begriffen der persönlichen, funktionellen und sachlichen Integration enthält die Integrationslehre ein Instrumentarium, das eine Darstellung der Einflüsse der Verfassung auf gesellschaftliche Vorstellungen erlaubt.640 Die Integrationslehre kann daher Ideen und Anregungen für die Möglichkeiten einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht auf europäischer Ebene geben.641 II. Die Rezeption der Integrationslehre Rudolf Smends Die Annäherung von Recht und Politik in der Integrationslehre korrespondiert mit der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Neigung zur Verrechtlichung politischer Fragen.642 Die bundesrepublikanische Rezeption Rudolf Smends kann in drei Phasen unterteilt werden.643 639
Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 152. Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 147. 641 Ebenso Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (185). 642 Korioth, in: Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, S. 200 (216). 643 Siehe dazu Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (28). 640
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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1. Grundrechte als Wertordnung Rudolf Smends Bestimmung der Grundrechte als ein bestimmtes Kultur- und Wertsystem ist nach dem Zweiten Weltkrieg besonders einflussreich geworden.644 Grundrechte bilden demzufolge nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat zum Schutz der individuellen Freiheit, sondern sie enthalten darüber hinaus auch eine Sphäre objektiven Rechts, die die Identität des Staatswesens kennzeichnet, auf die hin und vermittels derer die Bürger zur Gemeinschaft integriert werden.645 Dieser Gedanke Smends wurde bereits in der Anfangszeit der Bundesrepublik vom Bundesverfassungsgericht646 aufgenommen.647 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bilden die Grundrechte des Grundgesetzes eine objektive Wertordnung, die insoweit als Wertesystem auf Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ausstrahlt.648 Diese Werteordnung wird als konstitutiv für eine politische Gemeinschaft verstanden.649 Grundrechte dienen in dieser Auslegung nicht nur der Begrenzung der Staatsgewalt, sondern sie müssen als Aufträge an das gesamte Gemeinwesen verstanden werden, eine gute Ordnung zu errichten.650 Sie enthalten normative Leitbilder für die gesamte Rechts- und Gesellschaftsordnung.
644
Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 152. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (264); Robbers, Jura 1993, S. 69 (71). 646 Hennis bezeichnet hinsichtlich der Smend-Rezeption durch das Bundesverfassungsgericht Rudolf Smend sogar als dessen Hausgott. Die Schüler Carl Schmitts fanden dort in dieser Zeit kein Gehör und hatten damit auch keinen Einfluss auf die Urteile. Dies änderte sich erst als 1983 Wolfgang Böckenförde berufen wurde; vgl. Hennis, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 267 (269). 647 Das Bundesverfassungsgericht formuliert damit ein deutlich kommunitaristisches Menschenbild. Die kommunitaristische Wende des Bundesverfassungsgerichts setzte mit dem Bild der gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Person ein. „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums: das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne deren Eigenwert anzutasten; BVerfGE 4, 7 (15 f.) (stetige Rspr.). Siehe dazu Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie, S. 343; Bumke, Der gesellschaftliche Grundkonsens im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 204; Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (42); ebenso Böckenförde, in: ders., Recht Staat Freiheit, S. 67 (67 ff.). 648 BVerfGE 7, 198 (205) (Lüth-Urteil, stetige Rspr.). Durch die Etablierung einer Wertordnung konnte damit vom Bundesverfassungsgericht hinter jedem Grundrecht ein weiterer Wert-Baustein entdeckt und in die Verfassung integriert werden; vgl. dazu Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (42). 649 Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, S. 1. 650 Möllers, Staat als Argument, S. 240 f. 645
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1. Teil: Kollektive Identität
Diese Auffassung wurde heftig als „Tyrannei der Werte“ von Carl Schmitt in seinem gleichnamigen Aufsatz kritisiert.651 Demzufolge gehe es bei der Umdeutung der Grundrechte und der Verfassung in ein Wertesystem darum, dass der Verfassungsvollzug aus einem Normen- und Entscheidungsvollzug in einen „Wert-Vollzug“ verwandelt werden soll. Dies zerstöre aber den juristisch sinnvollen Vollzug, da dieser nur aufgrund von festen Entscheidungen und klaren Satzungen vor sich gehe. Werte und Wertlehren können nach der Auffassung Carl Schmitts daher keine Legitimität begründen; sie können nur „verwerten“. Demzufolge sei die „Wert-Freiheit“ die höchste Freiheit. Diese Kritik Carl Schmitts nahm Böckenförde auf und führte aus, dass eine Wertebegründung des Rechts nur einen Begründungsanschein gebe und lediglich die positiv vorhandenen subjektiven Wertauffassungen rationalisiere.652 Die Frage nach dem Grund und Maß des Rechts könne nicht durch Rückgriff auf Werte und den Wertbegriff zureichend beantwortet werden. Denn in der Rechtspraxis sei der Rückgriff auf Werte als Grundlage des Rechts – wegen des Fehlens einer rationalen Begründung der Werte – das Einfallstor für methodisch nicht kontrollierbare subjektive Meinungen von Richtern und Rechtslehrern sowie der jeweils momentan vorherrschenden Wertungen der Gesellschaft für die Auslegung, Anwendung und Fortbildung von Recht. 2. Einheitsstiftung als Verfassungsaufgabe An diese direkte Rezeption schloss sich die zweite Phase des Weiterwirkens der Integrationslehre an. Einige Staatsrechtslehrer653 nahmen und nehmen die Gedanken Rudolf Smends auf und verfolgen sie weiter.654 Diese Traditionslinie versteht Einheit nicht als vorausgesetzte, sondern als aufgegebene Größe.655 Demzufolge sei es die zentrale Aufgabe des Verfassungsrechts, politische Einheit zu stiften.656 Diese Einheit entstehe in einem alltäglichen, sich ständig erneuernden politischen Prozess, der niemals abgeschlossen ist und es deshalb 651 Siehe ausführlich dazu Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 37 (45, 51); vgl. dazu Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 139. 652 Siehe ausführlich dazu Böckenförde, in: ders., Recht Staat Freiheit, S. 67 (81 ff.). 653 Dazu zählen Konrad Hesse, Peter Häberle, Ulrich Scheuner, Horst Ehmke, Peter von Oertzen, Henning Zwirner, Wilhelm Hennis und Stefan Korioth. Siehe zur SmendSchule Günther, Denken vom Staat her, S. 159 ff. 654 Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (28). 655 Möllers, Staat als Argument, S. 237 ff. 656 Möllers, Staat als Argument, S. 237 m.w. N. Siehe dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 5 ff.; Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 3 (12). Dieser Gedanke findet sich auch bei Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 282 ff.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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ausschließt, Einheit schlicht vorauszusetzen. Der Verfassung komme diesbezüglich die besondere Aufgabe zu, diesen Prozess zu steuern und die immer wieder neu zu gestaltende Einheitsbildung zu fördern.657 Staatliche Einheit bezeichnet hier nicht den Staatsapparat, sondern der Begriff zielt auf die Integration des Gemeinwesens im Ganzen.658 Dies wird auch an der Feststellung Konrad Hesses deutlich, wonach Einheitsbildung von der Existenz eines „gegebenen einheitlichen Handlungs- und Wirkungszusammenhangs“ abhängt.659 Die Normen der Verfassung sollen der Integration des gesamten Gemeinwesens dienen.660 Nach dieser Lesart ist der Staat keine Voraussetzung des Verfassungsbegriffes. Damit wird die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft relativiert. Dies beeinflusst die politische Deutungskultur. Denn dieses Verfassungsverständnis ermöglicht bei der Auslegung grundrechtlicher Schutzbereiche eine Rücksichtnahme auf das Selbstverständnis der Grundrechtsträger. Damit wird die Gesellschaft – nicht der Staat wie in der Traditionslinie Carl Schmitts – zum eigentlichen Subjekt der Verfassungsauslegung. Dieser Ansatz findet sich in der Konzeption der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ von Peter Häberle.661 Seiner Ansicht nach ist die Verfassung ein öffentlicher Prozess. Deren Einheit soll aus der Bündelung der Verfahren und aus den Funktionen zahlreicher Verfassungsinterpreten662 entstehen.663 Denn nur dann würde eine Gesellschaft offen und frei, wenn alle potentiell und aktuell zur Verfassungsinterpretation Beiträge leisten (können).664 Demzufolge betrifft das Demokratieprinzip nicht mehr nur den Bereich der Staatsorganisation, sondern auch alle anderen Teile der Gesellschaft. Damit geht es in letzter Konsequenz um eine Demokratisierung der Gesellschaft.665 Dieses Konzept benennt als von der Verfassungsordnung zu förderndes Element den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Damit sind insbesondere die parlamentarischen Verfahren und die damit zusam657 Siehe ausführlich zum nachfolgenden Gedankengang Möllers, Staat als Argument, S. 237 ff. 658 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 5 ff. 659 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 10. Siehe dazu Möllers, Staat als Argument, S. 239. 660 Siehe zum Folgenden Möllers, Staat als Argument, S. 240. 661 Häberle, JZ 1975, S. 297 (297 ff.). 662 Als Verfassungsinterpreten sind nach diesem Verständnis von den staatlichen Institutionen das Bundesverfassungsgericht, die sonstige Rechtsprechung, die Legislative und die Exekutive bei der Formulierung öffentlicher Interessen zu qualifizieren. Als nicht-staatliche Verfahrensbeteiligte kommen als Verfassungsinterpreten die jeweiligen Verfahrensbeteiligten vor den Gerichten, Sachverständige, Lobbyisten, die demokratische Öffentlichkeit in Form der Medien und die Verfassungsrechtslehre in Betracht; Häberle, JZ 1975, S. 297 (299). 663 Häberle, JZ 1975, S. 297 (301). 664 Häberle, JZ 1975, S. 297 (303). 665 Möllers, Staat als Argument, S. 241.
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1. Teil: Kollektive Identität
menhängende Verfassungswirklichkeit das maßgebliche Moment für die immer wieder neu anzustrebende Sicherung von Integration.666 Allerdings ist auch diese Konzeption nicht unproblematisch. Eine Theorie, die die Einheit eines Gemeinwesens als Aufgabe versteht, lässt den Begriff der Einheit letztlich hinter sich. Die Einheit verflüchtigt sich zum Ideal. Nach Korioth ist folglich die im Smendschen Integrationsbegriff ursprünglich enthaltene Gewissheit der Herstellung der staatlichen Einheit durch die Smend-Rezeption verloren gegangen.667 Denn wenn man die staatliche Einheit als aufgegeben ansieht, ist sie eben nicht gegeben.668 3. Der Ansatz von Ingolf Pernice In der dritten Rezeptionsphase der Integrationslehre wird die Frage gestellt, ob die Gedanken Smends für die europäische Verfassungstheorie fruchtbar gemacht werden können; der Blick auf die europäische Integration dränge sich geradezu auf.669 Eine Weiterentwicklung der Smendschen Integrationslehre stellt der Ansatz von Pernice und der von Morlok/Schindler dar. Integration als Verfassungsprinzip der Europäischen Gemeinschaft mag dabei sachlich über den Smendschen Ansatz hinausgehen, der auf den Staat bezogen ist.670 Aufgrund dessen, dass Smend aber am Beispiel der EWG selbst die Möglichkeit einer Integration über den staatlichen Bereich hinaus formulierte, bejaht Pernice die Anwendbarkeit der Integrationslehre auf den europäischen Zusammenschluss. Denn Smend spreche weder davon, dass eine Verfassung eine bestimmte Form einzuhalten habe noch von bestimmten Trägern oder Verfahren der Verfassungsgebung. Die Verfassung werde bei Smend lediglich als die Ordnung eines Integrationsprozesses und selbst als Faktor der politischen Einheitsbildung qualifiziert. Demzufolge gebe die Öffnung des Staates Raum für eine supranationale Verfassung, in der sich eine neue Einheit bildet.671 Das zusammenwachsende Europa kann dieser Ansicht zufolge verfassungstheoretisch nur erklären, wer in der Tradition Rudolf Smends davon ausgeht, 666 Möllers, Staat als Argument, S. 238 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 131, 6. 667 Vgl. Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 286. 668 Möllers, Staat als Argument, S. 239. 669 So vertreten von Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (29). 670 Siehe ausführlich zum Folgenden Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (115). 671 Das Gemeinschaftsrecht ist zwar eine eigene Rechtsordnung, es ist aber zugleich auf vielfache Weise mit dem nationalen Verfassungsrecht „normativ verklammert“. Die nationale und europäische Rechtsordnung wirken wechselseitig aufeinander ein. Nationale Verfassung und Gemeinschaftsverfassung fügen sich tatsächlich ineinander, so dass sie eine materiale Einheit bilden; vgl. Pernice, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VIII § 191, Rn. 26.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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dass ein Gemeinwesen nur soweit und solange besteht, wie eine Verfassung es begründet und durch Integration zusammen hält.672 Dass ein Staatengebilde erst durch Recht in Form von Verträgen und Normen entsteht, zeige der kontinuierliche Prozess der europäischen Einigung in aller Deutlichkeit.673 Integration durch Verfassung funktioniere also auch jenseits des Staates.674 Nach dieser Ansicht ist die Staatsqualität der Europäischen Union irrelevant. Denn auch auf dieser Ebene müsse ein konkretes real existierendes politisches Gemeinwesen praktisch diszipliniert und theoretisch bewältigt werden. Die Integrationsprobleme im supranationalen Kontext mögen zwar anders gelagert sein als in einem bestehenden Staatsgebilde; sie bestehen aber dennoch.675 Pernice etabliert – in Anlehnung an die postnationale Konstellation von Habermas676 – sogar einen postnationalen Verfassungsbegriff, um die Abkehr vom etatistischen Verfassungsbegriff, der sich auf den Staat bezieht, deutlich zu machen.677 Demzufolge sei der Verfassungsbegriff ein funktionaler und offen für ergänzende, komplementäre, übergreifende Strukturen politischer Integration. Der Verfassungsbegriff sei nicht mehr auf den Staat und die Nation verengt, sondern auf die Selbstbestimmung der Einzelnen und somit postnational.678 Diese Begrifflichkeit ist aber nicht unproblematisch. Die Nationalstaaten bleiben weiterhin die „Herren der Verträge“ und gehen nicht in der Europäischen Union auf. Die europäische öffentliche Gewalt wird von den Mitgliedstaaten vermittelt.679 Ansonsten wäre ein Grundprinzip der bisherigen Supranationalität Europas in Frage gestellt.680 Die nationale, in den europäischen Verfassungsstaaten bewährte gemeinschaftsbildende Vielfalt Europas ist Teil seines kulturellen Erbes und stellt auch weiterhin seine Zukunft dar.681 Nach der Ansicht von Peter Häberle sollte die Begrifflichkeit der postnationalen Konstellation daher
672 Pernice, AöR 120 (1995), S. 100 (108 ff., v. a. 115 ff.); Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (30). 673 Siehe dazu Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1160). 674 Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (30). 675 Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (31). 676 Siehe dazu unten, S. 213 ff., 217 ff. 677 Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (154, 155). 678 Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 149 (160). 679 Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (236 m.w. N.). 680 Denn die Europäische Union hat keine Kompetenz-Kompetenz und verfügt insofern nicht über die umfassende Hoheitsgewalt eines Staates; Badura, VVDStRL 60 (2001), Aussprache, S. 350 (354); ähnlich Schneider, VVDStRL 60 (2001), Aussprache, S. 350 (367); Nicolaysen, Europarecht I, S. 70 f.; Ehlermann, FS für Carstens I, S. 81 (82); von Bogdandy, Integration 1993, S. 210 (210 ff.). Siehe dazu oben S. 59 Fn. 6. 681 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 192.
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1. Teil: Kollektive Identität
nicht verwendet werden. Aus den zahlreichen Fehlschlägen der europäischen Einigungsbemühungen der letzten Jahrhunderte kann richtigerweise nur die Lehre gezogen werden, dass die europäische Einigung nur mit, nicht gegen die Nationalstaaten vor sich gehen kann.682 Ohne deren Funktionsfähigkeit kann die Europäische Union nicht erfolgreich sein.683 Europäische Politik und Rechtsetzung sind das Ergebnis komplexer multilateraler Verhandlungen, deren Ergebnisse von keinem der Vertragspartner einseitig bestimmt werden können. Solange die Rechtserzeugung innerhalb der Europäischen Union anhand von internationalen Verhandlungen stattfindet, sind handelnde Staaten deren Voraussetzung.684 Demzufolge ist nach wie vor die Nation ein Pfeiler und Garant der Verfassungsgemeinschaft Europa.685 Die Europäische Union wird in der Tradition Rudolf Smends als „Verfassungsverbund“686 qualifiziert. Allerdings werden die zentralen Probleme der europäischen Integration nicht dadurch gelöst, dass die Europäische Union rechtlich in eine neue Schublade gesteckt wird.687 III. Die Bedeutung einer Verfassung für die kollektive Identitätsbildung aus der sozialpsychologischen Perspektive: Der Ansatz Armin von Bogdandys Von Bogdandy vertritt einen neuartigen Ansatz, der über die bisher erörterten Theorien hinausgeht.688 Dieser Ansatz regt ein sozialpsychologisches Verständnis einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht an. Demzufolge kann eine Verfassung Identität und Integration stiften, ohne dass die Aufgabe einer Identitätsstiftung ihr als normative Zielgröße zugewiesen wird. Es geht von Bogdandy nicht um die normative Bewertung einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht. Es wird lediglich die sozialpsychologische Sicht einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht beleuchtet. Dadurch wird die Beschreibung von kollek682
Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 339. Badura, Aussprache, VVDStRL 60 (2001), S. 350 (354); ebenso Schneider, Aussprache, VVDStRL 60 (2001), S. 350 (367). 684 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (151). 685 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 192; ebenso Tsatsos, FS für Häberle, S. 223 (242). 686 Siehe dazu Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (163 f.). 687 Ein juristischer Erkenntnisgewinn ist ebenso wenig von der Bezeichnung des Zusammenwirkens von nationalem und europäischem Recht als „Mehrebenensystem“ zu erwarten. Das Denken in verschiedenen Ebenen kann nicht hierarchisch im Sinne eines „oben“ oder „unten“ erfolgen, denn nicht einmal im vollendeten Bundesstaat seien die Länder „unten“ und der Bund „oben“. Der Begriff des Mehrebenensystems spiegelt auch nicht den Teilcharakter der Verfassung wider. Siehe dazu Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 199; Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (149, 152); Morlok/Schindler, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 13 (31). 688 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170). 683
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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tiver Identität als allgemeines Informationsmuster zur Selbstbestimmung der Individuen ermöglicht. Denn Identität ist eine allgemeine Form der Selbstdefinition eines Individuums oder einer Gruppe und das Ergebnis eines Selbstzuschreibungsprozesses.689 Sie ermöglicht die Erfassung von Kontinuität und Wandel des kollektiven Selbstbewusstseins. Wenn man annimmt, dass Rechtswissenschaft ein komplexer sozialer Interaktionsprozess ist, bei dem sich die Akteure anhand von Texten des geltenden Rechts über eine Hierarchie der sprachlichen Deutungs- und Regulierungsmuster der sozialen Wirklichkeit verständigen, dann ermöglichen diese Muster eine Orientierung von Politik und Gesellschaft.690 Daher muss im Folgenden der Wirkungszusammenhang zwischen dem Rechtstext und dem Selbstverständnis eines Menschen als Teil der Gesellschaft beschrieben werden. 1. Wirkungszusammenhang zwischen Rechtstext und sozialer Identität Soziale Identitäten der Bürger haben einen relationalen, vergleichenden und veränderlichen Charakter, da sie das Ergebnis eines sozialkonstruktivistischen Prozesses zwischen dem Subjekt und der sozialen Wirklichkeit sind.691 Eine soziale Identität beruht auf gleichgerichteten Zuordnungs- und Identifikationsprozessen, die anhand von kommunikativ vermittelten Gehalten erfolgen.692 Ihre gesellschaftliche Hervorbringung besteht in einem aktiven Prozess der ständigen Konstruktion und Rekonstruktion eines Selbstbewusstseins in konkreten Gemeinschaften. Die Konstruktion einer „Wir-Kategorie“ zielt durch die Erfindung und Betonung von Gemeinsamkeiten auf eine Homogenisierung nach innen und eine Abgrenzung nach außen ab.693 Wem es gelingt, die Salienz einer Kategorie mittels kommunikativer Vermittlung zu erhöhen, der prägt die soziale Identität der Individuen und wirkt auf diese Weise an der Gruppenbildung mit. So ist in der Vergangenheit eine hoheitliche identitätsstiftende Politik bei den Nationalstaatsprozessen erfolgreich gewesen.694 Ein Medium, das die gemeinsamen Vorstellungen einer Gesellschaft transportiert, sind im Falle großer Gesellschaften die staatlichen Gesetze.695 Denn Recht ist Teil des kulturellen Bedeu689 690
Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 178. So vertreten von Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland III,
S. 39. 691 Siehe zum Folgenden Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 166 f. 692 Siehe dazu oben S. 46 f. 693 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 83. 694 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (169). Siehe zu den nationalstaatlichen Identitätskonstruktionen oben S. 66 ff. 695 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozess und europäische Identität, S. 44.
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1. Teil: Kollektive Identität
tungs- und Symbolgewebes, in das der Mensch verstrickt ist.696 Um eine europäische Kategorisierung bei den Einzelnen zu erreichen, muss die Salienz einer europäischen Zugehörigkeit bei den europäischen Bürgern erhöht werden und es müssen gemeinsame Ziele und Inhalte festgelegt werden, um Europa als Kategorie klar zu definieren. 2. Kategorisierung durch Recht Eine entsprechende verfassungsrechtliche Institutionalisierung der Wertorientierungen der europäischen Bürger könnte dazu beitragen. Dadurch würden die gemeinsamen Inhalte, Bedeutungen und Grenzziehungen festgelegt, an denen sich dann die gemeinsame europäische Identität der Bürger ausbilden könnte. Im Rahmen zielgerichteter Verständigungsprozesse – etwa in gesellschaftlichen Identitäts- und Selbstverständnisdiskursen – wird häufig explizit oder implizit auf Identifikationsangebote und Rollendefinitionen Bezug genommen, die eine Verfassung entweder in ihren instrumentellen Bestimmungen oder in Form von ausdrücklich formulierten bzw. symbolisierten Leitideen enthält.697 Aus Sicht der Sozialpsychologie ist die Bedeutung einer europäischen Verfassung für die Festigung einer europäischen Identität immens. Die Formulierung einer europäischen Verfassung würde nach diesem Ansatz eine selektive Implementation kollektiver Werte beinhalten. Sie würde Europa durch Inhalte, Bedeutungen und Grenzziehungen für die Bürger definieren und damit auch die Darstellung Europas in der Öffentlichkeit stark beeinflussen. Dadurch würde die Salienz der Kategorie „Europa“ bei den europäischen Bürgern erhöht. Gemeinsame Inhalte von „Europa“ und dem „Europäer-Sein“, die der Europäische Verfassungsvertrag etabliert, könnten damit eine mögliche Stärkung der Selbstkategorisierung der Europäer als Europäer bewirken.698 Hinsichtlich der Etablierung gemeinsamer Kategorien für die Stiftung kollektiver Identität unterscheidet von Bogdandy zwischen unmittelbaren und mittelbaren Wirkungen einer Verfassung auf gesellschaftliche Vorstellungen.699 3. Unmittelbarer Wirkungsmodus einer Verfassung Von einer unmittelbaren Wirkung der Verfassung lässt sich sprechen, wenn sie als Ganzes oder einzelne Verfassungsbestimmungen selbst Kriterium der maßgeblichen Identifikationsprozesse – also Identifikationsobjekte – werden.700 In diesem Fall identifizieren sich die Bürgerinnen und Bürger persönlich mit 696 697 698 699
Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (813). Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 148. Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 167 f. von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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den bestehenden Verfassungsinstitutionen. Dies können Staatsorgane, Personen in Führungsämtern, Verfassungswerte, Grundprinzipien sowie Symbole sein. Dementsprechend muss sich die Untersuchung der Identitätsstiftungsmöglichkeiten durch Verfassungsrecht auch auf die Untersuchung von Recht als imaginiertes Bedeutungssystem konzentrieren, das sich in Symbolen materialisiert.701 Ebenso erlaubt eine starke Verfassungsgeprägtheit des öffentlichen Diskurses – wie zum Beispiel in den Verfassungsnationen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika – die Annahme, dass die Verfassung selbst unmittelbar identitätsbildend als soziale Repräsentation kollektiver Identität wirkt.702 Diese Form der Identitätsstiftung ist ohne ein einheitliches, transparentes und symbolisch aufladbares Verfassungsdokument kaum möglich, welches unmittelbar die Ausbildung der kollektiven Vorstellungsmuster und Identitäten der Bürger prägt.703 Die Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrages wäre für die unmittelbare Identitätsstiftung unabdingbar gewesen. 4. Mittelbarer Wirkungsmodus einer Verfassung Zahlreiche Rollen bzw. soziale Kategorien werden durch Recht stabilisiert und teilweise sogar erst geprägt. Daher liegt ein mittelbarer Weg der Identitätsbildung in der Durchdringung rollenprägenden Rechts.704 Mittelbare Wirkungen der Verfassung auf gesellschaftliche Vorstellungen liegen vor, wenn Verfassungsinstitutionen durch die Einbindung der Bevölkerung in konstitutionelle Verfahren „rollenprägend“ wirken. Die konstitutionellen Maßgaben veranlassen demzufolge die Bürgerinnen und Bürger zum Vollzug bestimmter Handlungen oder zur Einnahme bestimmter Positionen. Diese setzen dann ihrerseits Identifikationsprozesse in Gang.705 Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen können dann für bestimmte Rollen der Bürger maßgeblich werden.706 In diesem Kontext spielen alle verfassungsrechtlichen Normierungen von Gleichheit eine große Rolle. 700 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170). Siehe zu der Theorie von Bogdandys auch Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 147. 701 Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (813). 702 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170 f.). 703 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 147; Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (179 Fn. 72). 704 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (167). 705 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (S. 179 Fn. 72). 706 Als Beispiel für einen identitätsprägenden Einfluss verfassungsrechtlicher Bestimmungen führt von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170) die verfassungsrechtlich aufgegebene Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe an, die in der heutigen Zeit von großem Einfluss auf die soziale Identität der Partner in der Ehe sein dürfte.
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1. Teil: Kollektive Identität
Mittelbare Integrationswirkungen können sich auch im Prozess der Bildung von Verfassungsinstitutionen vollziehen.707 Als rollenprägende Prozesse für die Bürger sind Wahlen, Referenden und vor allem der Verfassungsgebungsprozess zu nennen. Eine weitere mittelbare Wirkungsweise von Verfassungsrecht auf eine kollektive Identität der Bürger kann sich auch aus dem demokratischen, effizienten, transparenten und rechtsstaatlichen Operieren eines politischen Systems ergeben, welches anhand dieser Qualitäten soziale Identitäten formt.708 Auch die Ausübung von verfassungsrechtlich gegebener Hoheitsgewalt gegenüber dem rechtsunterworfenen Bürger sowie die verfassungsrechtliche Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts haben eine immense Bedeutung für eine mittelbare Identitätsbildung durch Verfassungsrecht.709 Darüber hinaus wirken die Rechtschutzgarantien für die Selbstverantwortung des Bürgers rollenprägend. Dieser Mechanismus der mittelbaren Identitätsstiftung setzt nicht zwingend ein einheitliches Verfassungsdokument voraus.710 Daher ist eine erfolgreiche Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrages nicht notwendig für diesen Modus der mittelbaren Stiftung kollektiver Identität. Legt man die Unterscheidung von Bogdandys zwischen mittelbarer und unmittelbarer Identitätsstiftung an Smends Integrationsformen an, so zeigt sich, dass die sachliche Integration im Sinne Smends den unmittelbaren Identifikationsprozess bei den Bürgern beschreibt. Die funktionelle Integration thematisiert dagegen mittelbare Identifikationsprozesse.711 Die Kategorie der persönlichen Integration Smends lässt sich schwerer zuordnen. Smend beschreibt zum einen unmittelbare Prozesse, wenn er den Staatsführer als Symbol für das Staatsvolk qualifiziert.712 Auf der anderen Seite thematisiert Smend auch mittelbare Prozesse. Denn der Staatsführer soll die Bevölkerung zum „Gruppenleben anregen“.713 Die Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Wirkungen einer Verfassung ist aufgrund ihres höheren Abstraktionsgrads der Kategorisierung Smends in persönliche, funktionelle und sachliche Integrationsfaktoren überlegen. Aufgrund ihrer Abstraktheit kann nämlich die Liste möglicher Identifikationsobjekte und Einbindungsformen prinzipiell über die von Smend beschriebenen Mechanismen hinaus erweitert werden.714 Weiterhin werden auch instrumentelle Bestimmungen einer Verfassung nicht außer Acht gelassen im 707
Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 148. von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170). 709 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170). 710 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 147. 711 Siehe ausführlich zum Folgenden Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (S. 179 Fn. 72). 712 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (145). 713 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (143). 714 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 148. 708
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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Gegensatz zu Smend, der Verfahrensbestimmungen aus integrationstheoretischer Sicht abwertet. Bei dem Ansatz von Bogdandys werden Verfahrensbestimmungen als rollenprägend für den Kategorisierungsprozess der Bürger in identitätsstiftender Hinsicht gewürdigt. 5. Kritik Von Bogdandy nimmt lediglich die sozialpsychologische Sichtweise einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht in den Blick. Eine Verfassung ist nur ein Moment in einem breiten gesellschaftlichen Evolutionsprozess, der insgesamt die Identitäten der Bürger prägt.715 Ob Verfassungsrecht Identität und damit auch Integration fördern kann, hängt aber auch von seinen Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten im Verhältnis zu anderen Integrationsmitteln ab.716 Dieser Ansatz thematisiert ebenso wenig wie die Integrationslehre Smends andere nicht-konstitutionelle Identitätsstiftungsmöglichkeiten.717 Auch beschäftigt sich von Bogdandy nicht mit der Problematik der Kompensation desintegrativer Elemente durch eine Verfassung. Die soziapsychologische Sichtweise hat allerdings gegenüber der Smendschen Integrationslehre den Vorteil, bezüglich der Integrationsfaktoren beliebig erweiterbar zu sein.718 Während Smend das Bestehen eines Wertekonsenses voraussetzt und damit eigentlich die Folgen kollektiver Identität für die Integration eines Gemeinwesens beschreibt, thematisiert von Bogdandy die Entstehungsweise kollektiver Identität durch Verfassungsrecht. Damit entwickelt er das Verständnis der identitätsstiftenden Wirkungsweise von Verfassungsrecht gegenüber der Integrationslehre entscheidend weiter. Auch können mit seiner Theorie die Möglichkeiten jedes beliebigen Verfassungsdokuments, auf eine kollektive Identität der Bürger Einfluss zu nehmen, beschrieben und auf ihre Erfolgschancen analysiert werden.
E. Kollektive Identität und Legitimität in ausgewählten Theorien der Soziologie und Politikwissenschaft Im Anschluss an die Sichtweise der Staats- und Verfassungsrechtswissenschaft sollen die soziologischen und politikwissenschaftlichen Konzeptionen des Verhältnisses von kollektiver Identität und Legitimität aus Gründen der Vollständigkeit dargestellt werden. 715
von Bogdandy JZ 2004, S. 53 (54). Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (120). 717 Siehe zu anderen nicht-konstitutionellen Möglichkeiten der Behebung von Integrationsproblemen bei Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 164. 718 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 148. 716
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1. Teil: Kollektive Identität
I. Entbehrlichkeit kollektiver Identität 1. Systemtheorie In der systemtheoretischen Behandlung von Niklas Luhmann719 findet eine Reduktion des Legitimationsproblems statt. In der Systemtheorie geht es vorwiegend um feststellbare Verhaltenskonformitäten. Legitimität ist demzufolge eine Art generalisierte Fügsamkeitsmotivation.720 Hier werden rechtspositivistische Ansätze mit einem faktischen Legitimitätsbegriff verknüpft,721 denn nach Luhmann entspricht es der Positivierung des Rechts, den Legitimitätsbegriff auf die Anerkennung von Entscheidungen als verbindlich festzulegen.722 Legitimität wird ausschließlich durch positiv normierte Verfahren ohne externen Bezugspunkt erzeugt. Bei der Legitimation durch Verfahren fällt Legalität mit Legitimität zusammen. Andererseits wird Legitimität als die generalisierte Bereitschaft der Bürger angesehen, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen. Insofern wird Legitimität rein faktisch bestimmt.723 Also zielen nach dieser Ansicht die Verfahren nicht auf Rechtfertigung ab, sondern sie sollen die Hoffnungen und Wünsche der Rechtsunterworfenen durch den im Verfahren stattfindenden faktischen Kommunikationsgrad umstrukturieren. Es geht um wirkliches Geschehen und nicht um eine normative Sinnbeziehung.724 Habermas argumentiert gegen die Funktionalisierung des Legitimitätsbegriffes und seine Einschränkung auf den Aspekt der Systemintegration bei Luhmann. Er betont die sozialintegrative Bedeutsamkeit von Legitimationsansprüchen. Denn wenn man legitime Macht mit politischer Herrschaft gleich setzen würde, dann müsste man annehmen, dass es keinem politischen System gelingen kann, Massenloyalität, das heißt Folgebereitschaft seiner Mitglieder hinreichend zu sichern, ohne auf Legitimationen zurückzugreifen.725 Gegen diese Ansicht wird außerdem vorgebracht, dass Verfahren keine Legitimitätserzeuger sind, sondern lediglich eine vermittelnde Funktion haben.726 Nach Luhmanns Systemtheorie hat die Gerechtigkeitsidee im juristischen Denken lediglich eine 719
Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Guggenberger, in: Mickel/Zitzlaff (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, S. 267 (271). 721 Ausführlich dazu Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 508 ff. 722 Luhmann, Legitimation durch Verfahren S. 31. 723 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 28. 724 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 37. 725 Habermas, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 39 (41). Siehe zu einer vertieften Auseinandersetzung von Jürgen Habermas mit Max Weber, Carl Schmitt und Niklas Luhmann bei Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 131 ff. 726 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 508 f. 720
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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operative Bedeutung. Damit geht ein Verlust ihrer Normativität einher. Demnach ist die Systemtheorie grundsätzlich anti-normativ ausgerichtet und folglich als juristische Leitvorstellung ungeeignet.727 2. Postmoderne Ansätze Die Postmoderne negiert das Legitimationskonzept und geht vom „Zerfall“ und sogar „Niedergang“ der großen „Legitimationserzählungen“ aus.728 In der von Lyotard als postmodern bezeichneten Ära sind die Legitimationserzählungen, die dazu gebraucht wurden, Institutionen sowie soziale und politische Praktiken zu legitimieren, überflüssig.729 Daher erscheint es weder ratsam noch möglich, das Problem der Legitimierung auf die Suche nach einem universellen Konsens auszurichten.730 Die Lösung des Sinnproblems moderner Gesellschaften soll demgemäß in der ironisch-postmodernen Reduktion des Bürgerstatus auf einen angeblich zeitgemäßen Konsumentenstatus liegen. Demzufolge definiert der Bürger seine Identität über seine Rolle als Konsument und Ästhet. Nach dieser Ansicht wäre Bürgerschaft eher eine Sache des Konsums als von Rechten und Pflichten.731 Auch nach der Ansicht Ulrich Halterns hat der Warenkonsum der Bürger die Ausübung traditioneller politischer Bürgerschaftsfunktionen als Hauptmodus zur Herstellung von kollektiver Identität ersetzt. Dieser Ansicht zufolge würde sich postmoderne kollektive Identität zu allererst in Shopping-Malls und nicht im politischen Raum einer Gesellschaft entfalten.732 Das europäische Gemeinwesen würde allein vom Prinzip des do-ut-des geleitet und eine Solidarität der Bürger untereinander wäre nach diesem Verständnis ein Tauschgeschäft am Markt.733 Eine kollektive politische Identität der Bürger, die sich auf die Europäische Union bezieht, wäre demnach nicht erforderlich für deren Legitimität. Eine Konsumidentität der europäischen Bürger als Marktbürger wäre ausreichend. Daher kritisiert Ulrich Haltern den Versuch, mittels des Verfassungsvertrages Identität zu stiften. Seiner Ansicht nach ist das Ziel der Identitätsstiftung, welches die Europäische Union verfolgt, nicht erreichbar.734 Daher sollte das Pro727
Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 512. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 54, 112. 729 Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 112 ff. 730 Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 188. 731 Calliess, JZ 2004, S. 1033 (1033). 732 So vertreten von Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (837 ff., v. a. 841); Calliess, JZ 2004, S. 1033 (1033). 733 Siehe dazu auch Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (198 f.). 734 Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (824 ff.). Siehe dazu Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (158). 728
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1. Teil: Kollektive Identität
jekt einer Identitätsstiftung nicht weiter verfolgt werden. Die Europäische Union sollte sich stattdessen zum Konsumenten und zur Konsumgesellschaft bekennen. Richtig ist, dass eine über Konsum und Lebensstil gewonnene Identität eine prägende Facette in der Identitätsstruktur der Europäer darstellt.735 Die politische Identität der Marktbürger wird damit von anderen identitätsbildenden Faktoren überlagert, denen eine größere Bedeutung als noch vor einem halben Jahrhundert zukommt. Allerdings sollte dieser Wandel nicht überschätzt werden, denn die politische Identität ist nicht vollständig bedeutungslos geworden. Das Vorhandensein einer europäischen Identität lässt sich zumindest bei einem bestimmten Prozentsatz der europäischen Bürger anhand der Eurobarometer-Umfragen empirisch nachweisen.736 Daher lässt sich die These, dass eine europäische Identitätsbildung gänzlich scheitern muss, empirisch widerlegen. Außerdem stellt sich in normativer Hinsicht die Frage, welche Konsequenzen aus der Tatsache starker Konsumidentitäten zu ziehen sind. Aus der Ansicht Haltens würde folgen, dass sich die Europäische Union ästhetisieren und als politische Marke anbieten müsste.737 Dies ist aber einem politischen Gemeinwesen nicht angemessen. Außerdem wären solche Konsumidentitäten massiv von der wirtschaftlichen Situation eines Gemeinwesens abhängig und überdies eindimensional kategorisiert.738 Dieses Konzept ist daher wegen seiner Eindimensionalität und der empirischen Widerlegbarkeit abzulehnen. II. Notwendigkeit kollektiver Identität für den Bestand von Gemeinwesen Teilweise wird angenommen, dass eine kollektive Identität Voraussetzung für den Bestand von Gemeinwesen ist. Der Legitimitätsbegriff in soziologischer und sozialpsychologischer Verwendung gibt das Motiv staatsbürgerlichen Gehorsams an.739 Durch die tatsächliche Wirksamkeit einer Ordnung entsteht danach Legitimität, wobei in der Regel auf die Wirksamkeit aufgrund freiwilliger Anerkennung und Akzeptanz abgestellt wird. In dieser Konzeption bestehen Bezüge zu den affektiven intersubjektiven Anknüpfungspunkten für die Ausbildung einer kollektiven Identität der Bürger.
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Siehe ausführlich zum Folgenden Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (199). Vgl. dazu die Umfrage von Eurobarometer 59, S. 36. 737 Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (199). 738 Siehe zu einer weitergehenden Kritik der Ansicht Halterns, die an dessen Identitätsbegriff ansetzt, auch Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (158). 739 Guggenberger, in: Mickel/Zitzlaff (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, S. 267 (271). 736
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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1. Max Weber Nach Max Weber sucht jede Herrschaft den Glauben an ihre Legitimität zu wecken und zu pflegen.740 Er hat in seiner oft rezipierten Typologie der Fügsamkeitsmotivationen drei Arten legitimer Herrschaft unterschieden:741 Zunächst kann Legitimität einen rationalen Charakter haben. In diesem Fall beruht sie auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und an das Anweisungsrecht der durch sie zur Ausübung Berufenen. Legitime Herrschaft kann aber auch traditionalen Charakter aufweisen. Dann beruht sie auf dem Alltagsglauben an die seit jeher geltenden Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen. Schließlich kann eine legitime Herrschaft auch charismatischen Charakter haben. Unter diesem Umstand fußt sie auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit, die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie geschaffenen Ordnungen. Der Legitimitätsbegriff bei Max Weber ermöglicht zwar eine Quantifizierung von Legitimität im Sinne der Messbarkeit von Regelmäßigkeiten der Gehorsamserfüllung. Insofern erfasst dieses Legitimitätskonzept auch die Abstufungen von Integration, die die juristischen Theorien wegen ihres Bezuges zur Rechtsgeltung gerade nicht erfassen können. Die Einteilung Max Webers in die drei Typen legitimer Herrschaft bewerkstelligt aber nicht die qualitative und kritischnormative Abgrenzung von Legitimität und Illegitimität.742 Insofern ist anhand des Weberschen Legitimitätsbegriffes lediglich das Vorliegen kollektiver Identität bei der Bevölkerung empirisch bestimmbar. Mittels dieses Legitimitätsverständnisses kann nur nachgewiesen werden, auf welchen Fügsamkeitsmotivationen kollektive Identität beruht und in welchem Ausmaß sie vorliegt. Damit können Integrationsgrade empirisch beschrieben werden. Aussagen über die Notwendigkeit kollektiver Identität für die Legitimität einer Gesellschaftsordnung werden dadurch aber nicht getroffen. Demnach hilft dieses Konzept bei der Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang von kollektiver Identität und Legitimität nicht weiter. 2. Generalisierte Unterstützungsbereitschaft Auch die Konzeption von Legitimität im Sinne generalisierter Unterstützungsbereitschaft verdient Beachtung. Hier wird Legitimität auf affirmative subjektive Anknüpfungspunkte reduziert, da die Legitimität eines demokratischen Systems nach dieser Ansicht nur durch die Zustimmung und Unterstützung der Bürger gesichert werden kann.743 Diese Argumentationslinie nimmt auf die tat740 741 742 743
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122. Siehe zum Folgenden Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124. Hennis, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 9 (15). Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 552, 554.
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1. Teil: Kollektive Identität
sächliche Anerkennung und Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger Bezug. Denn eine demokratische Legitimation impliziert, dass die Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen ein wichtiges Legitimitätskriterium ist.744 Wenn diese vorliegt, kann von der faktischen Akzeptanz der Verfassungsordnung und damit von deren Stabilität gesprochen werden.745 Wenn aber die Legitimität eines demokratischen Systems durch die Unterstützung der Bürger zu diesem System erzeugt wird, dann muss sie als variable Größe fortlaufend gesichert werden.746 Um sozial legitimiert werden zu können, muss ein politisches System zunächst formale Legitimation erreichen. Allerdings führt eine lediglich formal über Wahlen erlangte Legitimation nicht automatisch zu sozialer Legitimation. Um das Verhältnis von Legitimation und kollektiver Identität in diesem Kontext näher zu beleuchten, ist dieser Ansicht zufolge zwischen sozialer und formaler Legitimation zu unterscheiden.747 Formale Legitimität liegt nach diesem Verständnis vor, wenn die Institutionen und deren Machtbefugnisse auf rechtlich einwandfreiem Weg geschaffen werden. In Abgrenzung zur Legalität, welche die äußere Rechtmäßigkeit beschreibt, ist der einer formalen Legitimität zugrunde liegende Rechtsakt durch demokratische Verfahren und Institutionen entstanden. Die soziale Legitimität entsteht darüber hinaus erst durch die Bereitschaft der Bürger, den sozialen Geltungsanspruch der Institutionen und deren Entscheidungen als richtig anzuerkennen.748 Die soziale Legitimation ist maßgebend für die Funktionsfähigkeit und Dauerhaftigkeit eines demokratischen Systems, da dieses nur bei Anerkennung der bestehenden staatlichen Institutionen und deren Machtbefugnissen durch die Bürger langfristig funktionieren kann. Die soziale Legitimation ist also die Garantie für das Fortbestehen des gegenwärtigen Systems und beinhaltet die breite gesellschaftliche Akzeptanz eines Systems.749 In diesem Zusammenhang lassen sich verschiedene Formen einer solchen Akzeptanz unterscheiden.750 Die einflussreichste Differenzierung stammt von David Easton. Er unterschied zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung der Bürger für ein demokratisches System. Wenn das System Politikergebnisse hervorbringt, die den eigenen Interessen entsprechen, entsteht die spezifische Unterstützung der Bür744
Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 515. Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 104. 746 Hofrichter, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Grundwerte der Demokratie im internationalen Vergleich, S. 209 (209). 747 Siehe zu den Ausführungen im Folgenden Suski, Das Europäische Parlament, S. 105 f.; Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 52 f. 748 Steffani, ZfParl 1978, S. 233 (237). 749 Suski, Das Europäische Parlament, S. 105. 750 Siehe dazu Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 104. 745
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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ger.751 Die diffuse Unterstützung ist demgegenüber unabhängig von bestimmten Politikergebnissen und bleibt auch dann bestehen, wenn die jeweiligen eigenen Interessen der Bürger nicht zum Zuge kommen. Politische Systeme sind damit nicht nur auf eine spezifische, sondern auch auf eine unspezifische, von den Politikergebnissen unabhängige Unterstützung („diffuse support“) angewiesen. Dies ist nach Easton die Loyalitätsreserve zur Existenzsicherung eines politischen Systems in den Zeiträumen, in denen die Bürger mit den konkreten Leistungen nicht zufrieden sind. Die generalisierte Unterstützungsbereitschaft ist also eine Anhänglichkeit der Bürger an die Gesellschaftsordnung, die nicht auf der Erwartung spezifischer Leistungen basiert.752 Demzufolge wäre im Falle breiter gesellschaftlicher Akzeptanz der Europäischen Union ihre Legitimation gegeben. Die Akzeptanz der europäischen Bürger könnte in den EurobarometerUmfragen regelmäßig nachgeprüft werden. Legitimität kann aber nicht als deckungsgleich mit tatsächlicher Akzeptanz und Folgebereitschaft gesehen werden. Zwar beruht die von Easton angenommene diffuse Unterstützung gerade auf dem Legitimitätsglauben der Bürgerinnen und Bürger, also auf dem Glauben an die Anerkennungswürdigkeit der Ordnung. Allgemeine Bejahung und Akzeptanz kann aber auch auf Autoritätsgläubigkeit, Traditionsbewusstsein oder auf Desinteresse beruhen.753 Der Grad der Unterstützung in einer Bevölkerung ist überdies eine relative Größe. Aus der genannten Konzeption wird nicht klar, bis zu welchem Grad an Unterstützung des Systems ein solches als legitimiert angesehen werden kann. Offen bleibt, ob eine generalisierte Unterstützung der Bürger schon bei allgemeinem Unmut, bei Massendemonstrationen oder erst bei offenen Revolten gegen ein System fehlt. Eine solche generalisierte Unterstützungsbereitschaft der Bevölkerung ist eine schwer feststellbare Größe. Daher kann sie zur Begründung einer normativen Legitimität kaum beitragen. Eine Verabsolutierung des Zustimmungskriteriums würde außerdem bedeuten, dass das Interesse des Einzelnen als Quelle und Geltungsgrund aller relevanten Entscheidungen angesehen wird.754 Dem einzelnen Bürger fehlt hierzu aber schon das Sachwissen. Also trägt die breite gesellschaftliche Akzeptanz und Zustimmung lediglich zur Legitimität einer Ordnung mit bei, weil sie als Ausdruck der menschlichen Selbstbestimmung positiv bewertet wird. Akzeptanz fungiert demnach nur als Indiz dafür, dass die betreffende Gesellschaftsordnung bestimmte inhaltliche Qualitäten besitzt. Kollektive Identität in Form der Zustimmung und Akzeptanz
751
Siehe zur Unterscheidung Easton, A System Analysis of Political Life, S. 267 ff. Easton, A System Analysis of Political Life, S. 273 f. Siehe dazu Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 52. 753 Siehe ausführlich zu dieser Argumentation Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 553 ff. 754 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 555 f. 752
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1. Teil: Kollektive Identität
zu einer Gesellschaftsordnung ist für sich allein dementsprechend nicht hinreichend als Voraussetzung von Legitimität.755 III. Grundkonsens zur Sicherung von Legitimität Teilweise wird Legitimität ausschließlich auf Konsens zurückgeführt. Auch hier besteht eine Parallele zu den affirmativen intersubjektiven Anknüpfungspunkten einer kollektiven Identitätsausbildung. Legitimität wird in diesem Kontext als Übereinstimmung mit den überwiegend im Volk bestehenden Wert-, Gerechtigkeits- und Sicherheitsvorstellungen definiert.756 Nach der entgegen gesetzten Ansicht wird sogar die Ermöglichung von integrierenden Konflikten als Grundlage der Gesellschaft angesehen757 und der gesellschaftliche Bedarf an kollektiver Identität als überschätzt erachtet.758 In den letzten Jahren gab es innerhalb der politischen Theorie eine Fülle von Erklärungsansätzen zur Integration von Gesellschaften. Aufgrund der überbordenden Menge an Argumentationen sollen im Rahmen der politischen Theorien zunächst die beiden wesentlichen entgegen gesetzten Theorierichtungen der politischen Philosophie herausgegriffen werden. In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden vor allem in der Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus Auseinandersetzungen über die moralischen Grundlagen der modernen Gesellschaft und über die vorpolitischen Legitimitätsgrundlagen zeitgenössischer Demokratien geführt.759 Der Kommunitarismus und der Liberalismus als politisch-philosophische Theorierichtungen sind Gattungsbezeichnungen für verschiedene Theorien mit partiell unterschiedlicher Ausprägung.760 Die Kontroverse zwischen den beiden Richtungen betrifft die grundsätzliche Fragestellung, ob bei der politischen Gestaltung von Menschengruppen dem Individuum (Liberalismus) oder der sozialen Gemeinschaft (Kommunitarismus) die entscheidende Stellung eingeräumt werden muss. Im Anschluss daran soll das Konzept des Verfassungspatriotismus und die diskurstheoretische Rechtfertigung von Herrschaft durch Jürgen Habermas vorgestellt werden.
755 So im Ergebnis auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 15; ebenso Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 104 f. 756 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 123. 757 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 364. 758 Bohle et al., in: Heitmeyer (Hrsg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander? Band 1, S. 29 (54 ff.). 759 Hirsch, in: Calliess/Mahlmann (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, S. 155 (159 f.). 760 Brugger, AöR 1998, S. 338 (342).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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1. Kommunitarismus In der Politikwissenschaft wird die Frage nach der Integration von Gesellschaften in der Regel damit beantwortet, dass Zusammenhalt durch die Heroder Bereitstellung von Konsens gestiftet wird.761 Demzufolge sind die Disziplinierung unerfüllbarer Ansprüche, die Regelung von Konflikten und die daraus resultierenden steuernden Eingriffe oft nicht aus sich selbst heraus begründbar, sondern sie rechtfertigen sich durch Verweis auf die gemeinsame Lebens- und Gestaltungsgrundlage. Dieses Gemeinschaftsbewusstsein ist demnach ein wesentliches Fundament politischer Problemlösung und basiert auf der Bejahung einer gemeinsamen Lebensform in Form eines Wertekonsenses.762 a) Gesellschaftlicher Konsens Die kommunitaristische Ansicht geht unter Bezugnahme auf Aristoteles,763 Rousseau764 und Hegel765 davon aus, dass Gerechtigkeitsvorstellungen primär 761 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (37). 762 Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (21 f.). 763 Einer der ältesten Rechtfertigungsversuche von Herrschaft findet sich bei Aristoteles. Hier war die Ausrichtung auf das Gemeinwohl im Gegensatz zur Ausrichtung auf den Privatnutzen der Herrschenden das Kriterium einer guten Verfassung, vgl. Aristoteles, Philosophische Schriften 4, 1323 b 35 ff. oder S. 238. 764 Siehe zu der Konzeption von Rousseau bereits oben die Erörterung im Rahmen des Dezisionismus von Carl Schmitt S. 87. 765 Seit Hegel ist der Begriff der Einheit die zentrale Kategorie der deutschen Staatstheorie. Hegel übernimmt aus der vorbürgerlich-klassischen Philosophie die Idee des Gemeinwesens als Ort der Sittlichkeit und analysiert die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft unter diesem Aspekt. Er will zeigen, wie sich durch die Egoismen und Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft der Staat als Ganzes herausbildet, in dem individuelle Freiheit und Sittlichkeit keine Gegensätze mehr bilden. Hegel hat von Rousseau den emphatischen Begriff der Gesellschaft übernommen. Er will die Begründung des emphatischen Staates durch seine substantielle Identität mit dem Volksgeist aufzeigen. Der Staat tritt als Volksgeist in die Rechtsphilosophie ein. Der Staat wird bei Hegel dabei als eine geschichtlich vorgefundene Gemeinschaft dargestellt. Das objektive Moment des Staates ist die Sitte, das lebendige Gute. Dies ist keine der Menschheit göttlich oder naturrechtlich vorgegebene Ordnung, sondern ein System von Willensbestimmungen. Hegels doppelter Begriff des Staates als Teil der Gesellschaft und als Verkörperung der Einheit der Gesellschaft imitiert eine politisch-religiöse Einheitswelt. Kollektive Identität bildet sich nach Hegel auf Grundlage der Vereinigung des Allgemeinen mit dem Besonderen, dem Staat als Sphäre sittlich-objektiver Freiheit und der bürgerlichen Gesellschaft als Sphäre der Sonderinteressen. Die kollektive Identität konstituiert sich im Prozess der Vereinigung. Die Vereinigung als solche ist nämlich selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck. Die Bestimmung der Individuen ist die Führung eines allgemeinen Lebens. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258. Vgl. ausführlich dazu die Erläuterungen von Kraiker, Oldenburger Vor-Drucke, Nr. 61 (1989), S. 1 (5); Hirsch, in: Calliess/Mahlmann (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, S. 155 (160, 158); von Bogdandy, Hegels Theorie des Gesetzes, S. 119 ff.
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1. Teil: Kollektive Identität
durch die Moral eines Gemeinwesens bestimmt werden. Ein gesellschaftlicher Grundkonsens setze demnach politische und vorpolitische Tugend bei den Bürgern voraus.766 Individualität und Sozialität der Menschen seien eng aufeinander bezogen. Zugehörigkeit, Mitgliedschaft in Gemeinschaften und die Möglichkeit zur Vergemeinschaftung sind konstitutive Merkmale des Kommunitarismus.767 Dieser Theorierichtung zufolge würde eine liberale Gesellschaft, die lediglich von einer individuellen Verpflichtung der Bürger auf die demokratische Willensbildung lebt, das Maß an Gemeinsinn zerstören, auf das sie lebensnotwendig angewiesen ist.768 Nach dem kommunitaristischen Verständnis sind also die Bürger in das politische Gemeinwesen dergestalt integriert, dass sie ihre persönliche und soziale Identität nur im Horizont gemeinsamer Überlieferungen ausbilden können.769 Kollektive Identität hat ihre Grundlage in der subjektiven Übereinstimmung verschiedener, als gemeinsam erlebter Eigenschaften der Bürger. Sie bildet also auch hier den Ausgangspunkt für die legitimatorische Rechtfertigung der Ausübung von Herrschaftsgewalt.770 Danach empfinden sich die Bürger in den Grundsatzfragen politischer Ordnung als einig und sind auf dieser Grundlage zu Kompromissen und loyaler Hinnahme von Mehrheitsentscheidungen bereit.771 Erst wenn sich alle Entscheidungsbetroffenen als an einer gemeinsamen, übergreifenden politischen Identität teilhabend begreifen, kann zwischen zustimmungsfähigem Entscheidungsrecht der Mehrheit und nicht zustimmungsfähiger Fremdherrschaft unterschieden werden.772 Kollektive Identität wird damit als gesellschaftlicher Grundkonsens charakterisiert. Dieser ist nach dem kommunitaristischen Modell die Voraussetzung einer lebensfähigen Demokratie. Die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Konsenses der Bürger bezieht sich innerhalb dieser Theorierichtung auf verschiedene Merkmale. Diese hängen von den jeweiligen konkreten Zwecken ab, denen der Konsens dienen soll, und richten sich danach, welches Demokratiekonzept und welche politische Philosophie der Argumentation zugrunde liegen. Teilweise wird ein Wertekonsens für unverzichtbar gehalten. Nach dieser Auffassung führen tradierte Werte der Gemeinschaft zu Integration und Identifikation.773 Dieses Erfordernis eines materiellen Konsenses überschneidet sich teil-
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Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 702. Brugger, AöR 1998, S. 338 (341). Eine übersichtliche Darstellung der Modelle des Kommunitarismus findet sich bei Honneth, Kommunitarismus. 768 Honneth, Kommunitarismus, S. 13. 769 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 640. 770 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1156). 771 Böckenförde, in: ders., Staat Verfassung Demokratie, S. 289 (332 f.). 772 Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (54); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 702. 773 Würtenberger, in: Guggenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, S. 57 (68). 767
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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weise mit dem Homogenitätskriterium. Andere treten zumindest für einen Grundkonsens ein, der sich nur auf Übereinstimmung der Bürger in grundlegenden Fragen bezieht.774 Nach dieser Theorierichtung wäre also eine Wertegemeinschaft oder ein gemeinsamer Grundkonsens notwendige Voraussetzung für die Legitimität der Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Europäische Union. b) Kritik Die kommunitaristische Sichtweise einer gesellschaftlichen Integration wurde eingehend kritisiert. Zwar ist zuzugeben, dass Einheitsbildung durch einen elitär gesetzten Wertekodex denkbar ist. Ein gravierendes Problem der Annahme eines Konsenses besteht allerdings darin, dass die Hypothese einer Konsenszunahme in Gemeinwesen empirisch unhaltbar ist,775 da sich Konsensansprüche nur begrenzt steigern lassen. Angesichts sich ständig weiter nach innen differenzierender und nach außen öffnender Gesellschaften wird ein gemeinsamer Konsens der Bürger immer unwahrscheinlicher.776 Moderne Gesellschaften machen sich mangels einer traditionalen Ordnung permanent selbst zum Thema. Das sich republikanisch-demokratisch verfassende Gemeinwesen verstetigt mit seiner Selbstthematisierung den Grundsatzkonflikt ebenso wie eine unbegrenzte Vielzahl von Kontroversen.777 Die Selbstthematisierung infolge ökonomischer, sozialer und kultureller Spaltungen führt immer weiter weg von dem Punkt der vom Kommunitarismus gehegten Sehnsucht nach einem, die gesamte Gesellschaft umgreifenden, ihrer kollektiven Identität entnommenen, konsensuellen Band.778 Der gesellschaftliche Bedarf an Konsens ist außerdem geringer als in den meisten Gesellschaftswissenschaften vertreten wird, da sich Konsens erstaunlicherweise durch den Glauben an Konsens austauschen lässt.779 Bei derartigen Konsensfiktionen tritt an die Stelle eines realen Konsenses eine Konsensunter774 Der Begriff des Grundkonsenses bezieht sich auf Übereinstimmung in grundlegenden Fragen, da zur Demokratie Pluralismus, Debatten und Mehrheitsentscheidungen gehören; Starck, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 227 (227). 775 Dubiel, in: Heitmeyer (Hrsg.) Was hält die Gesellschaft zusammen? Band 2, S. 425 (426). 776 Neidhardt, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 15 (16). 777 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens S. 31 (45). 778 Dubiel, in: Heitmeyer (Hrsg.) Was hält die Gesellschaft zusammen? Band 2, S. 425 (427). 779 Neidhardt, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 15 (20, 28).
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1. Teil: Kollektive Identität
stellung, die sich an die Existenz allgemein verbreiteter und verbindlicher Wertorientierungen der Bürger anlehnt. Diese Werte sind einerseits hinreichend verbindlich, um Übereinstimmungserfahrungen auszulösen und andererseits ausreichend abstrakt, um Dissens zu verbergen. Ein Dissens, der bei der Anwendung von Wertorientierungen im konkreten Fall entstehen könnte, tritt nämlich solange nicht hervor, wie der Gehalt abstrakter Konsensformeln nicht getestet werden muss.780 Eine Tendenz zu Konflikthaftigkeit und Desintegration scheinen in diesem Zusammenhang vor allem die Grundsatzfragen zu besitzen, die eine soziomoralische Konfliktlinie berühren.781 Als Beispiele für solche Grundsatzfragen sind aus der bundesdeutschen Geschichte nach 1949 die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch782 oder die Beschlussfassungen des Bundesverfassungsgerichts zum Kruzifix783 zu nennen. Ähnliches scheint für gesellschaftliche Kontroversen zu gelten, die in ein parteipolitisch polarisiertes Umfeld fallen.784 An diesen sehr kontrovers diskutierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wird deutlich, dass der Dissens einer pluralistischen Gesellschaft nur solange verborgen bleibt, wie Grundsatzfragen nicht kontrovers erörtert und entschieden werden. Ein weiterer Kritikpunkt an den Konsenstheorien ist ihre Unbestimmtheit.785 Es bleibt in der Regel unklar, ob der angenommene Konsens ein Minimal- oder Maximalkonsens, ein Mehrheitskonsens, ein substantieller oder prozeduraler Konsens sein soll und ob dieser Konsens präskriptiv postuliert oder deskriptiv eingeführt wird. Auf diese Fragen fehlen schlüssige Antworten. Vor allem aber lässt die Sichtweise des Kommunitarismus unberücksichtigt, dass gemeinsame Werte und verbindliche Orientierungen erst am Ende eines politischen Verfahrens und einer kontroversen Kommunikation stehen können. Sie sind nämlich das letzte und in der Regel vorläufige Ergebnis einer meist strittigen und konfliktreichen politischen Konstellation. Die Annahme politischer und sozialer Basiswerte erscheint also nicht von vorneherein und außerhalb der Prozesse politischer Verständigung möglich.786 Der Ansicht, dass Gesellschaften ein Konsens zugrunde liegen müsste, weil die Menschen sonst keine kollektive Identität aus780 Neidhardt, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 15 (28). 781 Vorländer/Schaal, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 343 (369). 782 BVerfGE 39, 1 (1 ff.); 88, 203 (203 ff.). 783 BVerfGE 85, 94 (94 ff.); 91, 1 (1 ff.). 784 Vorländer/Schaal, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 343 (369). 785 Siehe ausführlich dazu Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (37 f.). 786 Lietzmann, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 291 (305 f.).
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bilden könnten, lässt sich abschließend entgegenhalten, dass kollektive Identitäten auch in anderen Gruppierungen als politischen Gemeinwesen ausgebildet werden können.787 Durch die Theorie der Sozialen Identität wurde auch das Erfordernis positiver gefühlsmäßiger Bande als zentraler Faktor der Gruppenbildung relativiert.788 Im Ergebnis wird also aufgrund der empirischen Unschärfe und der dargestellten Missbrauchsmöglichkeiten nicht von einem Konsens als Legitimitätsvoraussetzung für demokratisch verfasste Gemeinwesen ausgegangen. 2. Liberalismus Die liberale Auffassung favorisiert im Anschluss an Thomas Hobbes789 und Immanuel Kant790 eine verfahrensbezogene Kanalisierung und Zuordnung des Interessenpluralismus. a) Entbehrlichkeit eines Konsenses Die Theorien des politischen Liberalismus lassen als Gegenmodell zum Kommunitarismus bestimmte Wertvorstellungen für die Legitimität von Gemeinwesen unberücksichtigt. Diese werden nicht als außerrechtliche Voraussetzungen der Organisation eines demokratisch verfassten politischen Gemeinwesens ange787
Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 364. Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 37; Brewer, in: Capoza/ Brown (eds.), Social Identity Processes, S. 117 (117 ff.). 789 Die von Thomas Hobbes vertretene Staats- und Gesellschaftstheorie beruht auf dem Naturrecht. Laut Hobbes ist der Mensch seiner Natur nach zu allem fähig, wobei die Menschen zu den größten Untaten neigen („Homo homini lupus“). Aufgrund einer weitgehenden Gleichheit ihrer natürlichen Fähigkeiten gebe es zwischen den Menschen zwangsläufig Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht. Da im Naturzustand alle Menschen also mit dem gleichen Recht auf alles ausgestattet sind, herrscht ein Krieg eines jeden gegen jeden („bellum omnium contra omnes“), vgl. Hobbes, Leviathan, 13. Kapitel, S. 112 ff., 115. Der Rechtsverzicht zugunsten des Staates („Leviathan“) dient deshalb der Sicherung des Friedens und der Rechtsgüter. Der Staat ist also die Grundlage des Gesellschaftsvertrages, vgl. Hobbes, Leviathan, 17. Kapitel, S. 151 ff. Siehe hierzu auch die Ausführungen von Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 123 ff.; Meyers Taschenlexikon, Hobbes, S. 269. 790 Der Staat ist bei Kant im Gegensatz zu Hegel alles andere als eine eigene religiöse oder sittliche Gemeinschaft. Er trennt scharf zwischen Politik und Ethik. Danach geht es im politischen Gemeinwesen um eine äußere Vereinigung und Ordnung nach Zwangsgesetzen, also um Legalität, im ethischen Gemeinwesen dagegen um das Kriterium der Moralität. Damit wurde Kants Philosophie grundlegend für den modernen liberaldemokratischen Normativismus. Er beschränkt den Staat auf eine tatsächliche instrumentelle Funktion. Damit unterscheidet sich die Konzeption Kants sowohl von Hegels emphatisch sittlichen Staatsbegriff als auch von Rousseaus ethisch anspruchsvollerem Republikanismus, der den Staat als einen Moral- und Kollektivkörper sieht; Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 753 ff. Siehe dazu ausführlich Hirsch, in: Calliess/Mahlmann (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, S. 155 (159 f.). 788
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sehen.791 Es gibt nämlich in pluralistischen Gesellschaftsordnungen immer Anomietendenzen, deshalb richten sich Gesellschaften im Laufe der Zeit mit ihren Konflikten ein,792 so dass die Bedeutung kollektiver Identitäten für die Legitimität von Gemeinwesen in dieser Theorierichtung als überbewertet gilt. Nach der grundlegenden These liberaler Theorien ist eine politische Ordnung dann legitim, wenn sie sich auf das rationale Einverständnis all derjenigen stützt oder stützen kann, die von dieser Ordnung substantiell tangiert werden.793 Es wird noch nicht einmal eine über rationale Überlegungen hinausgehende positive gefühlsmäßige Einstellung des Einzelnen als Handlungsmotivation verlangt. Im Gegensatz zum Kommunitarismus wird nicht auf affektive intersubjektive Anknüpfungspunkte Bezug genommen. Teilweise wird sogar die Ermöglichung von integrierenden Konflikten in einer vereinbarungsorientierten Konfliktgesellschaft als Grundlage für die Legitimität demokratisch verfasster Gemeinwesen angesehen. Der Konflikt ist danach der Dreh- und Angelpunkt der Vergesellschaftung,794 ohne jedoch eine kollektive Identität zu begründen. Im Folgenden soll näher ausgeführt werden, wie das konflikttheoretische Modell zur Einheit und Integration der Gesellschaft führen soll. Diese Ansicht stützt sich vor allem auf eine Aussage Immanuel Kants, wonach der Konflikt als Quelle des Fortschritts zur Zivilisation gesehen wird.795 Demgemäß will der Mensch zwar Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für die menschliche Gattung gut ist und will Zwietracht.796 Überall dort, wo menschliches Zusammenleben in Staat und Gesellschaft stattfindet, entstehen zwangsläufig auch Konflikte.797 Politische Einheit bedeutet also nicht die Herstellung eines harmonischen Zustandes allge-
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Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 364. Bohle et al., in: Heitmeyer (Hrsg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander? Band 1, S. 29 (54 ff.). 793 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 366 f. 794 Rödel et al., Die demokratische Frage, S. 108. 795 Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 282. 796 Nach Immanuel Kants Viertem Satz seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ ist der Antagonismus in der Gesellschaft das Mittel der Natur, um die Entwicklung aller menschlichen Anlagen zu ermöglichen. Denn ansonsten würden „in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; (. . .) Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“ (Hervorhebungen von der Verfasserin). Zitiert nach Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 325 ff. Siehe zum liberalen konflikttheoretischen Modell auch Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 48; Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 174. 797 Limbach, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 315 (320 f.). 792
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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meiner Übereinstimmung und die Aufhebung sozialer, politischer oder organisatorisch-institutioneller Differenzierungen.798 Nur Auseinandersetzungen, in denen die Gemeinsamkeiten ausgehandelt werden, bewahren ein Gemeinwesen als bewegende Kraft vor Erstarrung und einem Verharren in überlebten Formen. Wer politische Auseinandersetzungen vermeidet, gefährdet also die politische und soziale Einheit.799 Gesellschaften unterscheiden sich nämlich nicht darin, ob es Konflikte gibt, sondern in ihrem Umgang mit diesen. Der Unterschied besteht darin, wie intensiv die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sind und ob sie gewaltsam ausgetragen werden.800 Konflikte gewährleisten nach dieser Auffassung in erster Linie die Freiheit des Einzelnen, weil allein durch Auseinandersetzungen die Pluralität menschlicher Interessen und Wünsche verwirklicht werden kann. Das Gemeinwohl muss folglich als eine ständig neu zu bewältigende Aufgabe und als das jeweilige Ergebnis einer permanenten offenen politischen Auseinandersetzung verstanden werden.801 b) Konflikt als Modus der Integration Im Folgenden soll der Konflikt als Modus der Integration näher untersucht werden. Durch die Auseinandersetzung der politischen Akteure in strukturell bedingten Konfrontationen über die Ziele und Grundlagen ihres Gemeinwesens agieren sie auch als Mitglieder derselben Gemeinschaft. Dadurch begründen sie trotz ihrer Gegnerschaft einen sie integrierenden symbolischen gesellschaftlichen Raum.802 Konflikte können unter diesen Voraussetzungen für das Aktivieren und Bekräftigen von gesellschaftlichen Werten und die erforderliche Anpassung überkommener Normen integrierende Wirkung haben. Es gelten nach dieser Auffassung aber bestimmte gesellschaftliche Prämissen, um eine derartige Integration zu ermöglichen.803 Meinungsdivergenzen und Interessenpluralität müssen zunächst als unabwendbar in einer Gesellschaft begriffen werden. Wichtigste Voraussetzung zur integrierenden Wirkung von Auseinandersetzungen ist außerdem eine rationale Begegnung mit unvermeidlichen Konflikten. Daher sollte ein Gemeinwesen das Augenmerk primär auf die Form und nicht auf die Ursache von Konflikten richten und Institutionen schaffen, die den gegensätz798 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 11. 799 Limbach, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 315 (320 f.). 800 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 170 f. 801 Denninger, in: Benda et al. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 16, Rn. 73. 802 Dubiel, in: Heitmeyer (Hrsg.) Was hält die Gesellschaft zusammen? Band 2, S. 425 (428). 803 Siehe zum Folgenden ausführlich Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 170 f.
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1. Teil: Kollektive Identität
lichen Gruppen verbindliche Formen zur Auseinandersetzung bereitstellen. Die Form des Streitens ist vor allem durch diejenigen gesellschaftlichen Verfahren gekennzeichnet, anhand derer Antagonismen überwunden und in einen Kompromiss oder Konsens überführt werden können.804 Weiterhin haben nur solche Auseinandersetzungen eine sozial integrierende Wirkung, die Mechanismen der Selbstbegrenzung, der Schonung des Gegners und der gemeinsamen Unterwerfung unter bestimmte Spielregeln beinhalten. Eine Schlichtung des Streits muss im Prinzip also ermöglicht werden.805 Der Konflikt als solcher enthält noch nicht den gesellschaftlichen Kompromiss, sondern erst das Ergebnis, zu dem die Auseinandersetzung führt.806 Daher ist die Verbindlichkeit von Spielregeln, an die sich die Konfliktparteien halten können, von entscheidender Bedeutung. Denn Kontroversen wirken nur dann integrativ, wenn die streitenden Parteien noch gemeinsame Grundwerte teilen und soziale Strukturen bestehen, wonach soziale Konflikte toleriert und organisiert werden können.807 Dabei ist die wechselseitige Anerkennung der Gleichheit aller und die Verpflichtung zur öffentlichen Auseinandersetzung die wichtigste Voraussetzung für eine integrierende und zivilisatorische Wirkung des Konflikts.808 Gerade der eigentümliche Umgang mit Konflikten bildet folglich das eigentliche soziale und politische Bindemittel einer Gesellschaft.809 Auseinandersetzungen fördern nur in dem Fall die soziale Integration und Kohäsion, wenn sie die Individuen auf die Frage lenken, wie ihr Gemeinwesen geordnet werden soll, und die Bürger auf diese Weise für ihre Zugehörigkeit zum Ganzen der Gesellschaft sensibilisieren.810 Die eigentlich integrative Wirkung von Auseinandersetzungen geht letztlich von der repräsentativen Darstellung und distanzierten Austragung auf der Bühne der Politik aus.811 Nach dieser Auffassung wäre also die Einrichtung ziviler und rechtsförmiger Verfahren für eine Legitimation auf europäischer Ebene ausreichend. Ein Grund- oder Wertekonsens wäre nicht notwendig für die Legitimation der Hoheitsgewalt der Europäischen Union.
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Limbach, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 315 (320 f.). Vgl. Simmel, Soziologie, S. 186 ff.; Dubiel, in: Heitmeyer (Hrsg.) Was hält die Gesellschaft zusammen? Band 2, S. 425 (425, 428). 806 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 11. 807 Limbach, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 315 (320 f.). 808 Rödel et al., Die demokratische Frage, S. 108. 809 Dies geht auf Simmel, Soziologie, S. 186 ff. zurück. 810 Rödel et al., Die demokratische Frage, S. 108. 811 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (48). 805
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c) Kritik Der diskutierte Ansatz rekurriert zwar nicht auf eine positive Anthropologie des Menschen als das im Grunde friedliche, einsichtige Wesen, sondern geht das Risiko desintegrativer Konfrontationen ein.812 Allerdings setzen auch die Konflikttheorien einen normativen oder vernunftbezogenen Konsens voraus.813 Konflikthafte gesellschaftliche Auseinandersetzungen sind zwar eine empirische Tatsache, die Annahme ihrer integrierenden Wirkung beruht aber auch auf praktizierten normativen Überzeugungen. Denn diese Form der Vergesellschaftung kann nur gelingen, wenn sich die Konfliktgegner nicht gleichgültig sind, sich nicht ausschließlich strategisch zueinander verhalten und den Kontrahenten als bloßes Objekt der Verfügung, Verwaltung oder der Fürsorge behandeln.814 Demokratische Prozesse setzen nach dieser Ansicht voraus, dass die am Entscheidungsprozess beteiligten Personen insofern gleichgerichtete soziale Identitäten aufweisen, als sie neben der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen auch an der Förderung des Gemeinwohls interessiert sind und sich gegenseitig als autonome gleichberechtigte Akteure anerkennen. Wäre dies nicht der Fall, würde die Änderung der Interessen oder der Machtstellung Einzelner unmittelbar in geänderte Anspruchstellungen münden. Die Anerkennung der Prinzipien politischer Gerechtigkeit durch die Bürger wäre nur strategisch.815 Also kann auch eine gesellschaftlich integrierende Wirkung von Konflikten nur unter vernunfttheoretisch vorgegebenen Annahmen erfolgen. Ansonsten werden die Grundbedingungen der integrativen Wirkung von Konflikten in Frage gestellt. Auch dieses Konzept ist auf vernunftbezogene Bedingungen angewiesen. Es löst sich nicht in letzter Konsequenz von Konsensvorstellungen. Daher lassen die liberalen Modelle unberechtigterweise bestimmte Wertvorstellungen oder kollektive Identitäten für die Legitimität von Gemeinwesen unberücksichtigt. Im Ergebnis ist daher festzustellen, dass die Legitimität einer Hoheitsgewalt nicht ausschließlich anhand der Ermöglichung von Konflikten als Integrationsmodus und der Einhaltung bestimmter Regeln bestimmt werden kann. 3. Verfassungspatriotismus Es wird im Anschluss an die Gleichheitsgesellschaft von Alexis de Tocqueville816 vertreten, dass durch eine aktive Teilnahme an den demokratischen Verfahren die notwendige subjektive Einstellung der Einzelnen begründet und ge812 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (49). 813 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (139 f.). 814 Rödel et al., Die demokratische Frage, S. 108. 815 Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (198). 816 Tocqueville, Democracy in America, II, S. 33 ff., 287 ff.
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1. Teil: Kollektive Identität
fördert wird. Durch die Teilnahme an der Praxis wird die Demokratie für die Bürger erst sinnerfüllt; es findet eine Integration durch rationalen Konsens statt. Das tatsächliche Austauschen von politisch relevanten Informationen und Überzeugungen soll also dazu führen, dass die Menschen eine gemeinsame, politisch definierte Identität ausbilden können.817 Maßgeblich ist demzufolge die Sozialisation aller Bürger in einer gemeinsamen politischen Kultur. Damit wird die Bedeutung von selbstreflexiven Formen kollektiver Identität in den Konzepten des Verfassungspatriotismus betont.818 Der Verfassungspatriotismus ist ein theoretisches Konzept kollektiver Identität819, in dem eine Identifikation der Bürger mit der Verfassung stattfinden soll.820 Die Entstehung des Verfassungspatriotismus in der deutschen politischen Philosophie ist aufs engste verzahnt mit der symbolischen und institutionellen Ordnungsfunktion einer Verfassung.821 a) Die Konzeption Dolf Sternbergers 1979 wählte Dolf Sternberger für seinen Kommentar zum 30. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes den Titel „Verfassungspatriotismus“.822 Er unterstellt darin der Verfassung eine integrierende Kraft.823 Allerdings meinte Sternberger mit seiner ursprünglichen Konzeption des Verfassungspatriotismus nicht das juristische Dokument der Verfassung als solches. Er fokussierte vielmehr das Modell von Konsens und Konflikt, das er „lebende Verfassung“
817 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 367; Taylor, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, S. 103 (108). 818 Habermas, in: ders., Der gespaltene Westen, S. 68 (77 ff.). 819 Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (854); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (44). 820 Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (284). 821 Eine derartige Unterscheidung zwischen symbolischer und instrumenteller Funktion der Verfassung entstammt dem amerikanischen Verfassungsdiskurs aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Als Instrument normiert und reguliert die Verfassung den politischen Prozess und dient als Spielregelwerk des politischen Systems. Als Symbol verkörpert die Verfassung die legitimierende Leitidee des Gemeinwesens, die Ordnungslogik des politischen Zusammenlebens dank der Autorität eines höheren, transhistorisch und letztlich naturrechtlich begründeten Gesetzes, das jenseits menschlicher Willkür verpflichtende Richtschnur des bürgerschaftlichen Handelns ist. Diese Unterscheidung geht auf den amerikanischen Verfassungstheoretiker Corwin, in: The American Political Science Review 30 (1936), S. 1071 (1071 ff.) zurück. Siehe dazu Gebhardt, in: Kimmel (Hrsg.), Verfassungen als Fundament und Instrument der Politik, S. 9 (9); Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/93, S. 29 (34). 822 Siehe ausführlich zu Sternbergers politischer Philosophie Mehring, in: Göbel/ van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 233 (235 ff.). 823 Dies geht im deutschsprachigen Raum auf Rudolf Smend zurück und schließt an den Gedanken der Verfassung als Garant politischer Einheit an; vgl. dazu oben S. 159 ff.; Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 169; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 86.
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nannte.824 „Lebende Verfassung“ meint dabei den Gesamtkomplex der politischen Kultur, der Institutionen und Prozesse.825 Damit wollte Sternberger eine alteuropäische pränationale Tradition des Patriotismus in Erinnerung rufen. b) Die Konzeption von Jürgen Habermas Das zentrale Motiv des Verfassungspatriotismus wurde im Verlauf des so genannten Historikerstreites von Jürgen Habermas aufgenommen und in der folgenden und bis heute anhaltenden Diskussion auf eine ganz spezifische Art fortentwickelt.826 aa) Identitätsstiftung durch Verfassung Habermas bezeichnet das Ergebnis der politischen Sozialisation in einer gemeinsamen politischen Kultur und die daraus folgende innere Einstellung als Verfassungspatriotismus. Gemeint ist die Loyalität der Bürger gegenüber der gemeinsamen politischen Kultur. Demzufolge sollen sich die Bürger unabhängig von Politikergebnissen mit den in der Verfassung zum Ausdruck kommenden Prinzipien und Werten identifizieren.827 Der Begriff des Verfassungspatriotismus benennt also jenes Grundmuster der politischen Kultur, das die Identifikation der Individuen mit der gemeinschaftlichen Welt der soziopolitischen Ordnung ebenso umfasst wie die wechselseitigen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder untereinander.828 Danach kann ein nationaler Verfassungspatriotismus eine auf das Gemeinwesen bezogene patriotische kollektive Identität begründen.829 Politische Einheit soll rational durch Identifikation der Bürger mit ihrer Verfassung begründet werden.830 Die Verfassung als ganze oder einzelne ihrer Institutionen soll eine (minimale) Übereinstimmung der Bürger in politisch-gesellschaftlichen Fragen ermöglichen. Darüber hinaus soll ein inneres Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürger soweit ausgebildet und weiter entwickelt werden, dass eine politische Handlungseinheit ermöglicht wird.831 Dies wird bei 824 Sternberger, in: ders., Schriften Band X, S. 13 (24); Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/93, S. 29 (32). 825 Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/93, S. 29 (32). 826 Siehe dazu Habermas, in: ders., Die nachholende Revolution, S. 147 (152 ff.); Habermas, in: Habermas/Henrich, Zwei Reden, S. 23 (65 ff.); Habermas, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, S. 128 (142 ff.). 827 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 130. 828 Siehe dazu auch Lepsius, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, S. 63 (63 ff.); Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/93, S. 29 (32). 829 Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/93, S. 29 (36). 830 Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (854). 831 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 86.
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1. Teil: Kollektive Identität
Habermas mit Akzeptanz- und Stabilitätserwägungen begründet.832 Die Existenz eines Demos sei notwendig, damit eine freiheitlich-demokratische Verfassung unabhängig von partikularen Interessenkonstellationen und konkreten Politikergebnissen die für ihr Funktionieren notwendige Unterstützung in der Bevölkerung besitze. Zum einen könne die Existenz einer kollektiven Identität zu einer Entlastung der Institutionen eines Gemeinwesens führen, indem sie eine Solidarisierung der Gesellschaftsmitglieder bewirkt und zur Begrenzung und Zivilisierung gesellschaftlicher Konflikte beiträgt. Ferner könnten bestimmte denkbare Konflikte in der Gesellschaft nicht ausbrechen, wenn alle Bürgerinnen und Bürger gemeinsame Vorstellungen teilen. Beides entlaste ein Gemeinwesen, weil dieses aufgrund des Engagements einer solidarischen Bürgerschaft und wegen der Begrenzung gesellschaftlicher Konflikte bestimmte Steuerungsaufgaben nicht erbringen muss. Die Grundidee besteht darin, dass Menschen durch ihre Loyalität zur Verfassung zur aktiven Teilnahme am politischen Leben im institutionalisierten und nicht-institutionalisierten Bereich motiviert werden.833 Dadurch soll eine demokratisch-partizipatorische Wertegemeinschaft entstehen, die keine automatischen Ausgrenzungsmechanismen oder Feindbilder mehr kennt.834 bb) Diskurstheoretische Begründung von Legitimität Die verfassungspatriotische Konzeption von Habermas wird durch seine diskurstheoretische Begründung von Legitimität verdeutlicht.835 Die Diskurstheorie lässt sich dabei als die Mittelposition zwischen dem vorgestellten liberalistischen und kommunitaristischen Ansatz interpretieren. Das diskurstheoretische Konzept löst sich ebenfalls von der Zugehörigkeit des Bürgers zu einer vorpolitischen, durch Abstammung, geteilte Tradition und gemeinsame Sprache integrierten Gemeinschaft.836 Damit werden Fragen nach vorrechtlichen Gegebenheiten nicht gestellt.837 Habermas geht nicht davon aus, dass die konstitutionelle Demokratie notwendig auf homogene Nationen bzw. Nationalstaaten begrenzt bleiben muss. Allerdings gelten bei ihm gesellschaftsweit geteilte Vorstellungen als unverzichtbar, die die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger einerseits 832 Siehe ausführlich zum Folgenden Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 129. 833 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 362. 834 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 261. 835 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 642. Der Gedanke, dass Diskurs und Verständigung elementare Voraussetzung von Integration und Demokratie sind, findet sich bereits bei Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 324; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 65 f. 836 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 636, 642. 837 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (125).
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mit der Verfassung und andererseits mit der politischen Gemeinschaft gewährleisten.838 Das Selbstverständnis moderner Rechtsordnungen und ihre Legitimität werden anhand der Spannung von Faktizität und Geltung diskurstheoretisch nach dem Prinzip der Verfahrenslegitimation rekonstruiert.839 Nach Habermas kommt in differenzierten und fragmentierten Gesellschaften, in denen die argumentative Herstellung eines gemeinsamen Konsenses zunehmend unwahrscheinlich wird, dem demokratisch ausgestalteten Rechtssystem die Aufgabe zu, die Diskurse der Bürger so zu regulieren, dass deren staatsbürgerliche Selbstbestimmungspraxis nicht nur zu vernünftigen und fairen Ergebnissen, sondern auch zu einer wechselseitigen Anerkennung der Bürgerinnen und Bürger als Freie und Gleiche führt.840 Voraussetzung für die Demokratie ist demzufolge eine Form der Übereinstimmung von Vorstellungen. Diese kann als eine schwache Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der Ordnung eines Gemeinwesens qualifiziert werden.841 Legitimität ist nach Habermas die Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung.842 Die staatliche Gewalt muss als legitim anerkannt werden, wenn sie Bestand haben soll. Der Staat stellt zwar die kollektive Identität seiner Bürger nicht selbst her und er kann auch nicht die gesellschaftliche Integration über ihm nicht zur Disposition stehende Werte und Normen selbst verwirklichen. An der Garantieübernahme durch den Staat, soziale Desintegration durch bindende Entscheidungen zu verhindern, lässt sich aber die Legitimation staatlicher Gewalt messen. Damit ist auch ein Anspruch an die staatliche Gewaltausübung auf Erhaltung der Gesellschaft in ihrer jeweils normativ bestimmten Legitimität verknüpft.843 Der Legitimitätsanspruch bezieht sich auf die sozialintegrative Wahrung einer normativ bestimmten Identität der Gesellschaft. Legitimationen veranschaulichen nach diesem Konzept den Bürgern, wie und warum bestehende Institutionen geeignet sind, legitime Macht so einzusetzen, dass die für die Identität konstitutiven Werte verwirklicht werden. Legitimationen dienen damit der Einlösung des Legitimitätsanspruchs.844 Das linksweberianische Legitimationskonzept von Habermas stellt mit der Betonung der sozialintegrativen Bedeutung von Legitimationsansprüchen die Verbindung von Macht bzw. Herrschaft und kollektiver Identität her.845 Daraus 838 Siehe ausführlich zum Folgenden Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 129. 839 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 213 ff. 840 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 15 ff., 60. 841 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 129. 842 Habermas, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 39 (39 f.). 843 Habermas, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 39 (40). 844 Habermas, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 39 (42). 845 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 54.
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ergibt sich eine enge Verbindung von kollektiver Identität und Legitimität, die sich primär aus der Annahme ihrer Abwesenheit bzw. Schwächung ergibt. Denn nach Habermas ist eine Legitimationskrise unmittelbar auch eine Identitätskrise.846 Der Anwendungsbereich von Legitimität ist demzufolge die Sicherung der kollektiven Identität der Bürger.847 Nach der Konzeption von Jürgen Habermas reicht sogar die potentielle Zustimmung der Bürger für das Vorliegen von Legitimität und damit auch kollektiver Identität aus. Nach dem zur Legitimation entwickelten „Diskursprinzip D“ sind nämlich genau die Handlungsnormen gültig, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.848 In diesem Zusammenhang soll das Demokratieprinzip ein Verfahren legitimer Rechtsetzung festlegen, indem nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits rechtlich verfassten diskursiven Rechtsetzungsprozess die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können.849 Eine vernünftige politische Willensbildung ist nach dieser Konzeption nur möglich, wenn jedermann die gleichen Teilnahme- und Kommunikationsrechte selbstbestimmt ausüben kann.850 Eine politische Gemeinschaft findet ihre Identität demnach in der Beteiligung der Bürger, die ihre demokratischen Teilnahme- und Kommunikationsrechte aktiv ausüben. Nach dieser Ansicht wären also selbstbestimmte Diskurse der Unionsbürger für eine Legitimation der unionsrechtlichen Herrschaft ausreichend. Diese würde dann zur Herstellung einer kollektiven europäischen Identität durch die Erfüllung von Legitimationsansprüchen dienen. 4. Europäischer Verfassungspatriotismus Auf dem Modell des nationalen Verfassungspatriotismus basierend wird daher zurzeit eine Art „europäischer Verfassungspatriotismus“ als eine Möglichkeit diskutiert, um die Menschen in der Europäischen Union zusammen zu führen.851 Denn die Zeit geschlossener Staatlichkeit gehe unaufhaltsam ihrem Ende entgegen.852 Das Konzept des Verfassungspatriotismus könnte daher den großen Vorzug haben, den unaufhörlichen Funktionsverlust des Nationalstaates abzu-
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Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 68. Habermas, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 39 (39 f.). 848 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138 (Hervorhebung von der Verfasserin). 849 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 141. 850 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 142. 851 Siehe dazu Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 24. 852 So schon Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 10. Siehe dazu Vesting, in: Göbel/van Laak/Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, S. 191 (191). Nicht ganz so absolut Hobe, Der Staat 37 (1998), S. 521 (546), der ein Ende der Staatlichkeit erst annimmt, wenn die den Staat derzeit (noch) kennzeichnenden Funktionen nicht mehr von ihm wahrgenommen werden können. 847
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mildern.853 Dieses Modell wird teilweise als die einzig akzeptable Form einer Identifikation mit Europa angesehen.854 Durch die konkreten Ausformungen universaler Prinzipien in der Verfassung werde der Orientierungspunkt für die Ausbildung einer kollektiven Identität geschaffen.855 Die dafür notwendige Abgrenzung soll durch die je spezielle Ausformung der universalen Prinzipien – wie zum Beispiel des Demokratieprinzips – in der Verfassung erreicht werden, ohne andere Gemeinwesen dadurch abzuwerten. Damit soll die Identifizierung der Bürger mit ihrer spezifischen Rechtsordnung ermöglicht werden. Bezugspunkt der Ausbildung kollektiver Identität ist die freiheitliche Verfassung. Durch die inhaltliche Bestimmung der Bezugspunkte kollektiver Identität sollen diese universalisierbaren und damit freiheitlichen Grundsätzen entsprechen. In dieser Lesart ist eine der wichtigsten Herausforderungen an eine europäische Identität, ob sie in der Weise definiert werden kann, dass sie Europa ohne gemeinsame Feindbilder bestimmt.856 a) Dolf Sternbergers Ansatz Allerdings basiert Sternbergers Ansatz auf einer alteuropäischen pränationalen Tradition des Patriotismus. Sternberger wollte keinen Entwurf für eine zukünftige postnationale und posttraditionale Identität der modernen Industriegesellschaft liefern, sondern vielmehr eine alteuropäische Tradition des Patriotismus in Erinnerung rufen. Sternberger hat sein Plädoyer für einen Verfassungspatriotismus ausdrücklich als Ergänzung, nicht aber als Ersatz für einen zu überwindenden nationalen Patriotismus verstehen wollen.857 Sein Ansatz ist nicht auf eine zukünftige kollektive supranationale Identität anwendbar.858 b) Jürgen Habermas’ Ansatz Der Ansatz von Habermas könnte auf die europäische Integration anwendbar sein. Kollektive Identität jenseits des Nationalstaates ist nach Habermas als Le853 Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (856); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (46). 854 Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (284). 855 Siehe zum Folgenden ausführlich Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 181 f. 856 Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (285). 857 Demokratie kann nach Sternberger nur im Staat und im Ganzen einer Verfassung verwirklicht werden. Demokratie kann also nur ein Element oder Kennzeichen des Verfassungsstaates sein; Sternberger, in: ders., Schriften Band X, S. 13 (26 f., 30) (Hervorhebungen von der Verfasserin). 858 Ebenso Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 262.
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1. Teil: Kollektive Identität
gitimitätsbedingung für eine postnationale Demokratie denkbar.859 Er widerspricht der Deutung des Verfassungspatriotismus von Sternberger als pränational und deutet den Verfassungspatriotismus als Symptom einer generellen Formveränderung der nationalen Identitäten in den westlichen Industrieländern. Daher versteht Jürgen Habermas den Verfassungspatriotismus dementsprechend als Ausprägung einer postnationalen universalen Moral.860 Dabei würden die Identifikationen mit eigenen Lebensformen und Überlieferungen überlagert von einem abstrakter gewordenen Patriotismus, der sich nicht mehr auf das konkrete Ganze der Nation, sondern auf abstrakte Verfahren und Prinzipien bezieht.861 Damit soll gerade auch die Ausbildung einer staatenübergreifenden Moral möglich sein.862 Ihre kollektive Identität stehe den Einzelnen nicht mehr als ein Traditionsgehalt gegenüber, an dem die eigene Identität wie an einem fest stehenden Objekt gebildet werden kann; vielmehr würden sich die Individuen selbst an dem Bildungs- und Willensbildungsprozess einer gemeinsam erst zu entwerfenden Identität beteiligen.863 Der politische Bürgerstatus wird nach dieser Konzeption von einer nationalen Identität entkoppelt. Einer nationalen kollektiven Identität bedarf es nach Habermas nicht mehr, vielmehr ist die abstrakte Idee der Verallgemeinerung von Demokratie und Menschenrechten stattdessen der Punkt, an dem sich die nationalen Überlieferungen brechen.864 Seiner Ansicht nach ist eine kollektive Identität nur noch in reflexiver Gestalt möglich dadurch, dass sie im Bewusstsein allgemeiner und gleicher Chancen der Teilnahme an den öffentlichen Kommunikationsprozessen begründet ist, in denen Identitätsbildung als ein kontinuierlicher Lernprozess stattfindet.865 Demzufolge enthalte die Verfassung ein vernünftiges Identitätsangebot, wenn sie universalistische Gehalte positiviere und einen demokratischen Prozess, der gleiche Freiheit gewährt, organisiere.866 Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann könnte mit dem Verfassungspatriotismus eine kollektive Identität auf europäischer Ebene angemessen beschrieben werden.867 Habermas’ postnationale Identitätskonstruktion bietet sich aufgrund ihrer Loslösung von substantialisierten 859
Habermas, Faktizität und Geltung, S. 134, 136. Habermas, in: Habermas/Henrich, Zwei Reden, S. 23 (65 ff., 68). 861 Habermas, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, S. 159 (173). 862 Habermas, in: Habermas/Henrich, Zwei Reden, S. 23 (66); Habermas, in: ders., Die postnationale Konstellation, S. 91 (151 ff.). Siehe dazu auch Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 129. 863 Habermas, in: Habermas/Henrich, Zwei Reden, S. 23 (51 f., 65); von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (177). 864 Habermas, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, S. 159 (174). 865 Habermas, in: Habermas/Henrich, Zwei Reden, S. 23 (66). 866 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (177). 867 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (178). 860
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Gemeinsamkeiten der Menschen in besonderer Weise für ein europäisches Identitätsprojekt an.868 Dem normativen Ideal dieser Position zufolge sollten sich die Bürger Europas als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft begreifen, die sich deshalb zusammen gefunden hat, weil sie sich den universalistischen Prinzipien der Verfassung verpflichtet fühlt. c) Kritik Doch auch diese Konzeption weist erhebliche Schwächen hinsichtlich der Untersuchung identitätsstiftender Prozesse durch Verfassungsrecht auf. aa) Legitimitätskonzeption Die Verfahrenslegitimation von Habermas wurde sehr kontrovers diskutiert, denn bei jeder Verfahrenslegitimation muss der postulierte Zusammenhang zwischen Verfahren und Ergebnis gesichert sein.869 Dieser Zusammenhang kann bei Diskursen und ihren Ergebnissen nur empirisch festgestellt werden. Eine solche empirische Feststellung ist aber bei der von Habermas vertretenen diskurstheoretischen Legitimation nicht möglich: Ideale Diskurse existieren nicht und bezüglich realer Diskurse gibt es keine detaillierten empirischen Untersuchungsergebnisse. Also wurde der Zusammenhang zwischen Diskurs und Ergebnis bislang lediglich postuliert, nicht bewiesen.870 (1) Normative Vorbedingungen Weiterhin setzt sprachliche Kommunikation prinzipiell einen vernünftigen Willen wechselseitiger Anerkennung der Kommunikationsteilnehmer voraus. Dieser Willen steht wiederum unter einem normativen Anspruch, denn ohne eine gegenseitige Anerkennung der Diskursteilnehmer als vernünftige Subjekte ist ein diskursiv zu erzielender Konsens unmöglich. Auch ist der Wille der einzelnen Bürger zur demokratischen Teilnahme anhand von Verfahren und Institutionen einer Integration über Diskurse vorgelagert.871 Eine politische Aktivität der Bürger ist Voraussetzung einer gesellschaftlichen und staatlichen Einheit, 868 Allerdings kann der Verfassungspatriotismus, weil er eine Verfassung voraussetzt, nicht für die verfassungsgebende Gewalt verlangt werden; vgl. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 361. 869 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Diskurstheorie findet sich bei Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 540 ff., insbesondere S. 546 ff.; Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 213 ff., S. 217 ff. und Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 127 ff. 870 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 546. 871 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (139 f.).
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1. Teil: Kollektive Identität
die durch Assoziation der Bürger im demokratischen Entscheidungszusammenhang hergestellt wird. Ein ausschließlich an der tatsächlichen sprachlichen Kommunikationsfähigkeit von Menschen orientiertes Modell des praktischen Diskurses ist nicht ausreichend zur Begründung der Normativität einer Rechtsordnung.872 Habermas wollte mit der Beschränkung auf die Grundbedingungen der Verständigung die seiner Meinung nach zu voraussetzungsreiche praktische Vernunft zwar ersetzen. Jedoch ist die Argumentation nicht vollständig von moralischen und vernunftbezogenen Erwägungen losgelöst.873 Auch Habermas betrachtet gemeinwohlorientierte Einstellungen der Bürger als Bestandsbedingung der konstitutionellen Demokratie und als das integrierende Element einer kollektiven Identität.874 Habermas’ Theorie einer Bürgergesellschaft ist auf „die kooperative Anstrengung einer staatsbürgerlichen Praxis“ angewiesen.875 Denn rechtlich garantierte Anerkennungsverhältnisse reproduzieren sich nicht von selbst. Das Verfassungs- und Rechtssystem allein kann auch nach Habermas das stabile Funktionieren einer konstitutionellen Demokratie nicht gewährleisten. Damit ist die Diskurstheorie ebenfalls auf vorrechtliche Bedingungen angewiesen,876 die nach Habermas im „konsonanten Hintergrund [. . .] rechtlich nicht erzwingbarer Motive und Gesinnungen eines am Gemeinwohl orientierten Bürgers bestehen.“877 (2) Totalitarismusnähe Darüber hinaus kann man an dieser Konzeption deren Totalitarismusnähe kritisieren. Denn wenn eine vorpolitische Einheit theoretisch nicht gedacht werden kann, dann muss sie fortwährend neu geschaffen werden.878 Daraus ergibt sich, dass die Bürger erstens von den Grundsätzen der Verfassung Kenntnis haben und idealerweise die kritische Auseinandersetzung mit ihnen anstreben müssen. Darüber hinaus müssen sie die Verfassungsgrundsätze akzeptieren und schließlich aktiv am politischen Prozess teilnehmen. Aus der persönlichen Identifizierung der Gesellschaftsmitglieder mit dem politischen System folgt dann die wechselseitige Identifizierung der Individuen im politischen System.879 Die po872
Girndt, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 62 (63 f.). Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 220. 874 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 632, 641 f. Siehe dazu auch von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (178); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 127. 875 Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (857). 876 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (140). 877 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 641. 878 Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (856); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (46). 879 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 182. 873
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litische Aktivität der Bürger wird zur Bedingung der Einheit.880 Die Verantwortung des Bürgers für den Staat ist umfassend, tendenziell total. Habermas selbst erkennt, dass das ganzheitliche Modell eines Gemeinwesens „Staatsbürger mit Haut und Haaren einverleibt“. Denn er stellt fest, dass eine Rechtspflicht etwa zur aktiven Wahrnehmung demokratischer Rechte „etwas Totalitäres“ hat.881 (3) Möglichkeit der Zustimmung aller Bürger Die Annahme einer tatsächlichen oder potentiellen Zustimmung aller Bürger im Rahmen des diskurstheoretischen Verfahrens ist nicht möglich. Es wird nämlich immer Bürger geben, die einem Diskursergebnis nicht zustimmen und auch nicht zustimmen könnten aufgrund abweichender Einstellungen. Selbst wenn man sich auf die abstraktere Ebene eines konsonanten Hintergrundes von allgemeinen Motiven und Gesinnungen wie Habermas begibt,882 wird es auch auf dieser Ebene immer Bürger geben, die nicht am Gemeinwohl orientiert sind. Habermas überwindet mit seiner diskurstheoretischen Legitimitätskonzeption also nur scheinbar den Politikbegriff von Carl Schmitt, der in der Unterscheidung von Freund und Feind besteht.883 Tatsächlich verläuft bei Jürgen Habermas lediglich die Grenze des Politischen anders. Diejenigen,884 die an bestimmte Wahrheiten und nicht an die Durchführung von demokratischen Verfahren glauben, haben alle weder theoretisch noch tatsächlich einen Platz in einer Gesellschaft, die eine aktive Teilnahme der Bürger an demokratischen Verfahren voraussetzt. Zur staatsbürgerlichen Praxis kann zwar niemand durch rechtlichen Zwang genötigt werden. Die Institutionen der Freiheit sind aber nur soviel wert, wie eine an politische Freiheit gewöhnte, in die Wir-Perspektive der Selbstbestimmungspraxis eingewöhnte Bevölkerung aus ihnen macht. Daher muss eine Sozialisation der Staatsbürger in einer freiheitlichen politischen Kultur stattfinden.885 Wenn aber ein Bürger diese Sozialisationsvoraussetzung nicht erfüllt, muss man nach der Ansicht Depenheuers nach880 Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (856); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (46). 881 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 641. 882 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 641. 883 Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (858); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (48). 884 Zum Beispiel der Bourgeois und der Aussteiger, der Neonazi und der Rechtsradikale und die an Wahrheiten und nicht nur an Verfahren glaubenden Fundamentalisten jeglicher Art. Siehe dazu und zur folgenden Argumentation ausführlich Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (858 f.); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (48 f.). 885 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 641 f. Nach der Ansicht von Korioth geht es hier um das rationale Interessenkalkül ursprünglich isolierter Menschen, Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (140).
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fragen, welche Maßnahmen dann seitens der Habermasschen Gesellschaft zu ergreifen sind. Bei Untätigkeit der Bürger wäre ja ansonsten der Bestand dieses Gemeinwesens gefährdet. In Betracht kämen die Maßnahmen der Umerziehung886 oder Ausschaltung der „unzivilisierten Fremden“, die diese politische Kultur nicht teilen können oder wollen. Habermas benennt solche Maßnahmen zwar nicht ausdrücklich, sie ergeben sich nach der Ansicht Depenheuers aber aus der Logik des Politischen. Demnach werden nach der diskurstheoretischen Konzeption nur die Bezugspunkte für die Ausgrenzung bestimmter Gruppen ausgewechselt, die gesellschaftlichen Gegensätze bestehen aber entlang anderer Fronten weiter.887 Der Feind ist bei Habermas nicht der heterogene Fremde wie bei Carl Schmitt, sondern der Fundamentalist, der nicht an rationale Diskurse, sondern an seine eigenen Wahrheiten glaubt. Daher überwinde auch diese Konzeption nicht das Freund-Feind-Schema Carl Schmitts. Jedoch lässt sich diese Ansicht Depenheuers in ihrer Radikalität nicht aufrechterhalten. Grundsätzlich abstrahiert Habermas gerade von der Einbettung der Bürger in „natürliche“ Gruppen, wie Familie, Stamm oder Ethnie. Der Verfassungspatriotismus von Habermas ist auf die Verfassung bezogen und zielt auf die Verbindung von an sich Fremden unter demselben rechtlichen Dach. In der Sprache des genetischen Identitätsbegriffes ist der Verfassungspatriotismus daher grundsätzlich mit der Idee der Inklusion verbunden und zielt gerade nicht auf Ausgrenzung. Denn eine freiheitliche Verfassung ist gegenüber den Verfassungsunterworfenen neutral eingestellt und favorisiert nicht bestimmte Weltanschauungen oder Lebenskonzepte. Diskriminierungsverbote, Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit implizieren automatisch eine pluralistische Gesellschaft.888 (4) Fingierte Zustimmung Als weiteres Argument gegen diese Legitimationstheorie soll die Möglichkeit der fingierten Zustimmung angeführt werden. Zwar müssen nach der Konzep886 Ein beredtes Beispiel für derartige Maßnahmen stellen die derzeit angestrebten Fragebögen der einzelnen Bundesländer zur Einbürgerung von in Deutschland lebenden Ausländern dar. In diesen Fragebögen wird die Einstellung der Bürger zum Gemeinwohl und ihre Sozialisation hinsichtlich der Werte eines freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesens abgefragt. Die Brisanz derartiger Fragebögen liegt darin, dass die Einbürgerung von in Deutschland lebenden Ausländern gerade von ihrer erfolgreichen politischen Sozialisation als demokratische Bürger abhängig gemacht werden soll. 887 Siehe ausführlich dazu Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (858); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (48). 888 Deshalb ist es auch nicht in sich schlüssig oder gar konsistent, wenn Staaten, die sich in ihren Verfassungen zu einer pluralistischen Demokratie und zu den Pluralismus gewährleistenden Grund- oder Menschenrechten bekennen, für die Einbürgerung von Migranten ein Bekenntnis zu der vorherrschenden Kultur in ihrem Territorium verlangen; Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 372.
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tion von Habermas bestimmte Diskursregeln eingehalten werden; allerdings muss weder eine Zustimmung noch ein Diskurs tatsächlich stattfinden. Wenn man auf Zustimmung der Bürger als Legitimationsgrundlage abstellt, dann kann nur die tatsächliche Zustimmung der Betroffenen, nicht aber eine potentielle oder fingierte Zustimmung, die von Dritten festgestellt wird, maßgeblich sein.889 Ansonsten bestünde immer die Gefahr einer Manipulation durch bestimmte politische Interessengruppen. (5) Realitätsferne Gegen diese diskurstheoretische Lesart des demokratischen Rechtsstaates wird ferner das Argument der Realitätsferne angeführt. Die anthropologische Voraussetzung der Bürgergesellschaft entspricht weder der Wirklichkeit noch kann sie auch nur überzeugend postuliert werden. Die Prämisse vom politisch allzeit interessierten und vorrangig am Gemeinwohl orientierten Bürger entspringt der Phantasie „erfahrungsentwöhnter Theoretiker“; sie ist empirisch widerlegbar.890 Es wird immer Menschen geben, die nicht subjektiv wahrhaftig kommunizieren, sondern strategisch argumentieren.891 Denn politisches Handeln zielt nicht nur auf allgemeine Normen, sondern primär auf einen empirischen Erfolg ab.892 Dies stellt aber die Grundbedingungen der idealen Sprechsituation des Diskursprinzips in Frage. Insgesamt bleibt daher festzuhalten, dass Legitimität und kollektive Identität unabhängig vom Diskurs bestehen müssen.893 Die Diskurstheorie kann aufgrund der Gefahr des Partikularismus letztlich keine Begründung für die Legitimität von Normen und Gesellschaftsordnungen leisten. Eine diskursiv erzielte tatsächliche Zustimmung kann jedoch immerhin ein Indiz für die Legitimität einer Rechtsordnung sein. bb) Abgrenzung gegenüber dem Nationalismus Teilweise wird das Modell des Verfassungspatriotismus sogar als „negativer Nationalismus“ tituliert.894 An dieser Stelle stellt sich das Problem, ob es möglich ist, eine kollektive Identität ausschließlich aufgrund gemeinsamer kognitiver verfassungsbezogener Überzeugungen zu stiften, ohne dass ethnisch ausgrenzende Elemente relevant werden und die Bestandsgarantie kultureller Un889
Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 549. Depenheuer, DÖV 1995, S. 854 (858 m.w. N.); ders., in: Papalekas (Hrsg.), Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, S. 43 (48). 891 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 217. 892 Girndt, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 62 (70). 893 Siehe zum Folgenden Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 550 f. 894 So Wagner, Aussenpolitik 44 (1993), S. 243 (251). 890
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1. Teil: Kollektive Identität
terschiede gewahrt wird.895 Daher soll im Folgenden der Patriotismus vom Nationalismus abgegrenzt werden. Aus sozialpsychologischer Sicht werden Nationalismus und Patriotismus als nationsbejahende Einstellung angesehen, welche das Individuum gegenüber seiner Nation hat.896 Unter Nationalismus als individueller Einstellung versteht man die idealisierte Einstellung des Einzelnen gegenüber seiner Nation.897 Diese ist mit der Überzeugung der eigenen nationalen Überlegenheit und Bereitschaft zur unkritischen Akzeptanz der nationalen und politischen Autoritäten verbunden. Darüber hinaus kennzeichnet eine stereotype Abwertung innergesellschaftlicher Minderheiten und anderer Nationen den Nationalismus. Der Patriotismus als individuelle Einstellung ist demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass der Einzelne trotz Identifikation eine eher kritische Distanz zu seiner Nation aufweist und deshalb nicht zu ihrer Idealisierung neigt. Ein so verstandener Patriotismus ist nicht mit der Abwertung anderer Nationen und innergesellschaftlicher Minderheiten verknüpft. Allerdings beinhaltet die für die Ausbildung einer nationalen kollektiven Identität notwendige Abgrenzung gegenüber Anderen immer die Gefahr, dass diese in Ausgrenzung umschlägt. Dies erklärt sich aus dem Beurteilungsfehler von Individuen, die die Eigengruppe tendenziell besser bewerten als Fremdgruppen.898 Folglich ist eine exakte Grenzziehung zwischen Nationalismus und Patriotismus kaum möglich. cc) Begriffsbildung Der Begriff „Verfassungspatriotismus“ ist darüber hinaus wegen seiner suggestiven Nähe zum Begriff des Vaterlandes nicht besonders glücklich gewählt.899 Auch Sternberger bezeichnet die Verbindung von Patriotismus und Verfassung als ungewohnt, da der Patriotismus als vaterländische Gesinnung in der Vergangenheit vorwiegend mit der Nation verbunden war.900 Er gesteht auch zu, dass die Menschen den Patriotismus mit der Nation verbinden, kaum hingegen aber mit der Art der staatlichen Ordnung oder ihrer Verfassung.901
895
Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 258. Blank/Schmidt, in: Mummendey/Simon (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 127 (128). 897 Siehe ausführlich zum folgenden Gedankengang Blank/Schmidt, in: Mummendey/Simon (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 127 (132 f.). 898 Siehe zu diesem Beurteilungsfehler bereits oben im Rahmen des genetischen Identitätsbegriffes, S. 49 f. 899 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 362. 900 Sternberger, in: ders., Schriften Band X, S. 13 (17). 901 Sternberger, in: ders., Schriften Band X, S. 13 (20). 896
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dd) Fehlen institutioneller Voraussetzungen auf europäischer Ebene Schließlich fehlen innerhalb der Europäischen Union bislang die vorrechtlichen Voraussetzungen kollektiver Selbstbestimmung. Verfassungszentrierte Modelle kollektiver Identität sind immer auf einen gewissen Vorlauf der Institutionen angewiesen.902 Die verfassungsrechtliche europäische Institutionenbildung muss der Bewusstseinsbildung der Bevölkerung vorausgehen.903 Die Bildung einer politischen Kultur bedarf weit längerer Zeiträume als die Errichtung einer institutionellen Ordnung.904 Das Modell des europäischen Verfassungspatriotismus berücksichtigt nicht, dass sich in der Europäischen Union mitgliedstaatenübergreifende Parteien, Interessenverbände und Medien bislang kaum etabliert haben.905 Das Europäische Parlament ist tatsächlich national untergliedert, die Wahlkämpfe für die Wahlen zum Europaparlament werden mit nationalen Themen geführt und die Wahlbeteiligung der Bürger ist europaweit gering.906 Die Europäische Union hat daher noch keine eigenständige politische Kultur entwickelt.907 Denn solange alle wesentlichen Interessen über nationalstaatliche Verfahren, Regulierungen und Organisationen formiert und repräsentiert werden, besteht keine Notwendigkeit für eine den Nationalstaat übergreifende Identifizierung und Selbstbeschreibung von Kollektiven auf europäischer Ebene. Außerdem besteht die erforderliche einheitliche institutionelle Ordnung noch nicht; der Europäische Verfassungsvertrag ist im Ratifizierungsprozess gescheitert. Ein einheitliches Verfassungsdokument existiert bislang nicht. Auch Habermas erkennt, dass die nationalen Öffentlichkeiten innerhalb der Europäischen Union weitgehend gegeneinander abgeschottet sind und in Kontexten wurzeln, in denen politische Fragen nur vor dem Hintergrund der jeweils eigenen nationalen Geschichte Bedeutung gewinnen.908 Habermas nimmt aber an, dass sich für die Zukunft aus den verschiedenen nationalen Kulturen eine
902 In der Bundesrepublik Deutschland hatte zum Beispiel die Bildung der politischen Institutionen gegenüber der Bildung einer neuen politischen Kultur einen Vorlauf. Es wurde 1949 eine Demokratie gegründet, deren politische Eliten zwar weitgehend zur Demokratie entschlossen, deren Bürger aber noch nicht mehrheitlich in der politischen Kultur der Demokratie sozialisiert waren; vgl. Lepsius, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, S. 63 (63). 903 Lepsius, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 201 (206). 904 Lepsius, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, S. 63 (63). 905 Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (247 ff.); Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (151); Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (57 f.). 906 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (151). 907 Siehe ausführlich zum Folgenden Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozess und europäische Identität, S. 262. 908 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 650.
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gemeinsame politische europäische Öffentlichkeit ausdifferenzieren kann.909 Dabei wird den Eliten und den Massenmedien eine wichtige Rolle zufallen. Ein europäischer Verfassungspatriotismus muss aus der Sicht von Habermas – anders als der amerikanische – aus den verschiedenen nationalgeschichtlich imprägnierten Deutungen derselben universalistischen Rechtsprinzipien zusammenwachsen.910 Das Modell des Verfassungspatriotismus erscheint aber zu abstrakt für eine konkrete juristische Umsetzung. Diese Konzeption gibt eher eine Richtung an, in der der europäische Integrationsprozess weiter verlaufen könnte. Der Verfassungspatriotismus ist im Ergebnis eher verfassungspolitischer als verfassungsinterpretatorischer Natur.911
F. Ergebnis Selbst bei optimalen institutionellen Voraussetzungen und einem hohen Maß an Gemeinwohlorientierung bei allen Beteiligten erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass Deliberationsprozesse zum vollständigen Konsens der Bürger führen.912 Also müssen einmal getroffene Entscheidungen revidierbar sein. Dies ist nur dann Fall, wenn die Angehörigen der Minderheit bei anderer Gelegenheit selbst einmal zur Mehrheit zählen. Eine solche Möglichkeit ist in repräsentativen Demokratien aber nur gegeben, wenn die Wählerloyalitäten wechseln. Also dürfen Gruppenzugehörigkeiten ethnischer, religiöser oder wirtschaftlicher Art nicht so vorherrschend sein, dass sie die Wahlentscheidungen ihrer Wähler in allen Sachfragen determinieren.913 Das Bestehen eines gesellschaftlichen Konsenses erlaubt daher nur ein begrenztes Urteil über die Demokratiefähigkeit eines Gemeinwesens. Er ist in der Regel vage und oft lediglich negativer Art, indem man sich einig darüber ist, was nicht akzeptabel erscheint.914 Das Abstellen auf Kompetenz und Verfahren bedeutet dagegen, dass der Ausgang von Entscheidungen offen und nicht determiniert ist. Nur derart ergebnisoffene Kriterien sind einem offenen und pluralistischen Gemeinwesen angemessen. Auseinandersetzungen ermöglichen für sich allein aber noch nicht menschliches Zusammenleben. Deshalb ist von entscheidender Bedeutung, dass gesellschaftliche Auseinandersetzungen weder um der politischen Einheit willen 909
Habermas, Faktizität und Geltung, S. 651. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 651. 911 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (178). Es ergeben sich aber positivrechtliche Anwendungsmöglichkeiten in Form der Etablierung von Elementen direkter Demokratie in einer Verfassung, die eine Artikulation von Präferenzen in einzelnen Personal- und Sachfragen erlauben; vgl. Lübbe-Wolff, VVDStRL 60 (2001), S. 246 (275 ff.). 912 Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 241 f. 913 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 711. 914 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 714. 910
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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ignoriert werden, noch dass die politische Einheit um des Konfliktes willen preisgegeben wird.915 I. Sozialpsychologische Konsequenzen für eine Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht Bisher ist eine europäische Verfassung im öffentlichen Diskurs keine Wirklichkeit, sondern lediglich eine zukünftige Möglichkeit der europäischen Integration.916 Dies hat sich durch die Ausarbeitung des Vertrages über eine Verfassung für Europa nicht geändert, denn das Konzept des Europäischen Verfassungsvertrages wurde auf dem Europäischen Rat am 21./22. Juni 2007 aufgegeben.917 Der am 13. Dezember 2007 auf dem Europäischen Rat beschlossene Vertrag von Lissabon behält die bisherige Vertragskonzeption bei und sieht lediglich Änderungen des EU-Vertrages und des zukünftigen Vertrag über die Arbeitsweise der Union vor.918 Dabei handelt es sich zwar lediglich um Verfassungsrecht im funktionalen Sinn und nicht um eine formelle Verfassung.919 Weil sich kollektive Identitäten anhand sozialer Konstrukte bilden, ist aber ein mittelfristiges politisches Projekt der Stiftung europäischer Identität durch europäisches Vertragsrecht nicht von vornherein ausgeschlossen. Die bisherige Diffusität der Europäischen Gemeinschaften war und ist identifikationshindernd. Sie muss daher aus einer sozialpsychologischen Perspektive überwunden werden.920 Ein europäischer Grundlagenvertrag muss eindeutige Kategorien schaffen, an denen sich die Identifikationsprozesse der Bürger orientieren können. Andererseits beruht die Identifikation einer politischen Gemeinschaft mit ihrer Verfassung auf deren Deutungsoffenheit.921 Diese ist das Ergeb915
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1,
Rn. 7. 916
von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (171 f.). Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 2, 15. 918 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 1. 919 Siehe dazu oben S. 91 f. 920 Siehe ausführlich zum nachfolgenden Gedankengang von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (171 f.). 921 Dabei kritisiert Brodocz, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 191 (194) an der Integrationslehre, dass diese Form der Deutungsoffenheit von Smend theoretisch nicht erfasst werden kann. Dieses Phänomen der Deutungsoffenheit sei nur aus der Beobachterperspektive zu erschließen, da Smend die Teilnehmer-Perspektive der Individuen zu rekonstruieren und erklären versucht. Nur eine Verfassung, deren Bedeutung im Selbstverständigungsdiskurs der Individuen einer politischen Gemeinschaft in ihrer Bedeutung geöffnet werde, könne die Identität der Gemeinschaft stiften und so zu ihrer Integration beitragen. Dies aber könne nur ein diskurstheoretisches Verständnis der Integrationslehre verdeutlichen. 917
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1. Teil: Kollektive Identität
nis einer Deutungsöffnung durch die unterschiedlichen jeweils für sich vorgenommenen Deutungen der Individuen.922 Die integrative Wirkung der Verfassung resultiert nämlich daraus, dass die unterschiedlichen Deutungen auf die Verfassung als allen Bürgern gemeinsamen Bezugspunkt gerichtet sind.923 Eine deutungsoffene Verfassung symbolisiert so die Existenz einer Gemeinschaft für die Bürger.924 Die Deutungsoffenheit der Verfassung lässt sich aber nur bei der Verwendung eines hohen Abstraktionsniveaus sicherstellen. Nur auf diese Weise können die verschiedenen Deutungen der Einzelnen Bezug auf dieselbe Verfassung nehmen.925 Deshalb erscheint die Verurkundlichung weniger Gehalte auf einem hohen Abstraktionsniveau für eine Identitätsstiftung bei den Bürgern sinnvoll. Denn Konsens ist in modernen Gesellschaften nur auf sehr abstrakter Ebene und unter Verwendung von Leerformeln überhaupt herstellbar. Der Konsens über eine Verfassung kann aus Sicht der pluralistischen Gesellschaft auch als ein verdeckter Interpretationsdissens qualifiziert werden.926 Daher wäre es klug von den Verfassungsgebern, sich hinsichtlich der Gegenstände ihrer Kodifizierung und hinsichtlich der normativen Eindeutigkeit solcher Kodifizierungen sehr zurück zu halten.927 Der in Verfassungstexten formulierte Konsens hängt also nicht zuletzt von der Unbestimmtheit der Verfassungsbegriffe ab.928 Der Vorteil eines hohen Abstraktionsniveaus besteht in folgender Überlegung: Wenn jeder sich ein Bild von der Verfassung macht, dann formt sich jeder auch die Verfassung nach seinem Bild.929 Durch die Abstraktion der Verfassung werden 922
Brodocz, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 191 (194). Alle Deutungen orientieren sich an denselben Kategorien der Verfassung. Eine Norm wirkt nicht dadurch integrativ, dass alle Teilnehmer sich über die Bedeutung der Norm einig sind. In diesem Fall gäbe es keine Notwendigkeit einer Integration, denn kollektive Identität würde bereits bestehen und müsste nicht erst gestiftet werden. Auf der anderen Seite wirkt eine Norm auch dann nicht integrativ, wenn sie von allen als deutungsoffen verstanden wird, denn dann würde die Notwendigkeit einer Deutung und damit auch die Motivation der Einzelnen für eine Auseinandersetzung um die Normbedeutung fehlen. Die Identifikation mit der Verfassung kann aus der Kultur, der Geschichte, ihrer befriedenden Funktion oder aus ihrem Beitrag zu einem gesellschaftlichen Konsens resultieren. Siehe dazu Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (195 ff.); Brodocz, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 191 (194 f.). 924 Brodocz, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 191 (198); Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (198). 925 Brodocz, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 191 (195). 926 Isensee, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (29). 927 Neidhardt, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 15 (28). 928 Neidhardt, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 15 (27). 929 Isensee, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (28). Dieser Gedanke findet sich bereits in der Integrationslehre Smends zur identitätsstiftenden Wirkung von Symbolen; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (164). 923
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gleichgerichtete Zuordnungsprozesse der Bürger ermöglicht, ohne dass die Normativität der Verfassung durch die Annahme ihrer Elastizität relativiert werden muss. Bei einem hohen Abstraktionsniveau der Verfassung bleibt ein möglicher Dissens der Bürger über die jeweiligen für eine europäische Identität als salient wahrgenommenen Kategorien verborgen. II. Rechtliche Grenzen einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht Bei der Bestimmung der Legitimität eines Gemeinwesens dürfen die äußerlichen Bedingungen zwar nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, da die Ungleichartigkeit der Lebensbedingungen bei den Bürgern ein hemmender Faktor sein kann.930 Eine kollektive Identität kann durch das Zusammenführen vorrechtlicher Elemente und bestätigender voluntativer Akte auch tatsächlich die Krisenfestigkeit einer politischen Ordnung verstärken.931 Daher ist in rechtlicher Hinsicht bedeutsam, welche Grenzen den Hoheitsträgern bei einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht gezogen sind. 1. Freiheitsgefährdende Dimension Eine Verfassung kann Integrationsangebote machen oder an den Gemeinsinn appellieren. Es erhebt sich aber der Einwand, dass jede aufgedrängte Integration ein demokratisches Gemeinwesen nötigt, seine als fundamental deklarierten Prinzipien des Pluralismus und der Selbstbestimmung zu kompromittieren.932 Das Demokratieprinzip, verstanden im Zusammenhang mit Menschenwürde, Selbstbestimmung und Freiheit, kann nicht auf ein wie auch immer definiertes Kollektiv zurückgeführt werden.933 Daher ist gegenüber der Identitätsthematik unter rechtlichen Gesichtspunkten große Skepsis angezeigt. Identitätsbestände in der Bevölkerung sind sicherlich erfreulich, weil sie eine relative Ausgeglichenheit und Stabilität der Gesellschaft vermuten lassen. Eine gezielte Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht beinhaltet immer Erwartungen und Anforderungen an die Persönlichkeitsstruktur der Bürger.934 Ein verfassungsrechtlich angestrebter Konsens läuft daher Gefahr, in einen radikalen Partikularismus umzuschlagen und Intoleranz gegenüber anderen Anschauungen zu erzeugen, wenn ein derartiger Konsens über politische 930
Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 702. Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (140). 932 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (54). 933 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 371. 934 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (178). 931
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1. Teil: Kollektive Identität
Grundwerte zu eng ausgelegt wird.935 Unter dem Deckmantel eines gesellschaftlichen Grundkonsenses könnten Wertvorstellungen proklamiert werden, die nur einer von mehreren Weltanschauungen entsprechen und insofern partikularistisch sind. Dann könnte die Figur des „Verfassungsfeindes“ entstehen. Dies wäre derjenige, der sich zwar legal verhält, aber trotzdem von seinen Mitbürgern oder den Behörden als illoyal gesehen und behandelt wird aufgrund seiner Nichtübereinstimmung mit bestimmten Wertvorstellungen. Diese Gefahr besteht, wenn allein die politische Elite die Reichweite des Grundkonsenses bestimmt.936 In diesem Fall kann Identitätspolitik für Minderheiten freiheitsgefährdend und innovationshemmend sein. Das Fehlen von Identitätsbeständen in einem Gemeinwesen hat daher vor allem für Minderheiten eine freiheitsgewährleistende Dimension.937 Rechtliche Identitätsanmutungen und Identitätszumutungen sind im Hinblick auf die Prinzipien der Pluralität und das Grundrecht der Gewissensfreiheit bzw. der Selbstbestimmung sehr problematisch.938 Das moderne Zwangsrecht einer rechtsstaatlichen Demokratie erstreckt sich aus gutem Grund nicht auf die Motive und Gesinnungen seiner Adressaten.939 Identitätserwartungen und -zumutungen an die Bürger betreffen das Individuum im Kern seiner Würde und Autonomie.940 Aus der Nichtidentifikation bezieht der Nationalstaat in hohem Maße seine Legitimität; durch den Abbau von Identifikationsansprüchen an seine Bürger (religiöser, ideologischer oder gesellschaftlicher Art) wird individuelle Freiheit garantiert.941 Freiheit ist in einer demokratischen Gesellschaft heterogener Werthaltungen notwendig mit dem Prinzip der Nichtidentifikation und mit einem Pluralismus von Meinungen, Ideen, Lebenskonzepten und Lebensanschauungen gegenüber allen Individuen verbunden.942 935 Siehe ausführlich zum Folgenden Denninger, in: Benda et al. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 16, Rn. 73 ff. 936 Dem könnte aber abgeholfen werden, wenn auch gerade das Recht der Meinungsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zum elementaren Bestand eines freiheitlich demokratischen Konsenses gehören. Siehe dazu Denninger, in: Benda et al. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 16, Rn. 75. 937 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (178 f.); Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1159); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 703 ff. 938 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (54). Dies ist auch die Position des methodischen Individualismus, vgl. Albert, in: Acham/Schulze (Hrsg.), Teil und Ganzes, S. 219 (219 ff.). 939 Eine Ausnahme hiervon bildet das Gesinnungsstrafrecht, wonach zum Beispiel die öffentliche Leugnung des Holocaust unter Strafe gestellt ist, § 130 Abs. 3 StGB. Dies erklärt sich aus der besonderen Geschichte Deutschlands vor dem Hintergrund der Gräueltaten der Nationalsozialisten im Dritten Reich. 940 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (179); Böckenförde, in: ders., Staat Verfassung Demokratie, S. 200 (219, 226 f., 241 f.); ähnlich Denninger, in: Benda et al. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 16, Rn. 75. Siehe zum Schutz der Gewissens- und Meinungsfreiheit durch die EMRK auch Frowein, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 9 Rn. 2 ff. 941 Böckenförde, in: ders., Staat Verfassung Demokratie, S. 200 (226 f.).
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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2. Grundrechte als Abwehrrechte Grundrechte als negative Freiheitsrechte sind auch Instrumente des Schutzes vor aufgedrängten Identitäten für den einzelnen Bürger.943 Die Grundrechte verbürgen als Abwehrrechte gegen den Staat die individuelle Selbstbestimmung.944 Die abwehrrechtliche Dimension der Freiheitsrechte gegen die Hoheitsgewalt ist deshalb nicht zu vernachlässigen. Auch das deutsche Grundgesetz enthält nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine normativen Identifikationen.945 Jede Identifikationsforderung berührt den Schutzbereich von Art. 4 I GG, Art. 10 I Grundrechtecharta bzw. Art. II-71 Abs. 1 S. 1 VVE und Art. 9 Abs. 1, 10 Abs. 2 EMRK.946 Wenn es um die Ausbildung kollektiver europäischer Identität durch Verfassungsrecht geht, wird der Antagonismus zwischen der Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen und dem Erfordernis politischer Kollektivierung zur Stabilisierung eines Gemeinwesens besonders deutlich.947 Deshalb ist die normative Zielgröße einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht so schwierig. Auf der einen Seite stabilisiert eine kollektive Identität tatsächlich die Gesellschaft und trägt so zum gesellschaftlichen Frieden bei. An den sozialpsychologischen Entstehungsbedingungen kollektiver Identität wurde andererseits deutlich, dass Abgrenzung für die Identitätsbildung konstitutiv ist.948 Denn Identität ist aus sich heraus zunächst nicht positiv zu beschreiben. Die identitäre Ausfor-
942 Bryde, Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), S. 305 (322); Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (56). 943 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (181). 944 Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (143). 945 Nach der aktuelleren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Bürger rechtlich nicht dazu verpflichtet, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen. Dem Träger grundrechtlicher Freiheit ist es überlassen, ob und wie er seinen Freiheitsraum ausfüllt. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, es erzwingt diese Wertloyalität aber nicht. Der Grundrechtsträger muss sein Handeln nicht an den Interessen des Staates orientieren, sondern sich lediglich rechtstreu verhalten. Die Bürger sind nach dieser Rechtsprechung daher frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen, solange sie dadurch die Rechtsgüter anderer nicht gefährden, vgl. BVerfGE 102, 370 (394 f.). Siehe zu dem Gedanken der Ermöglichung gegenseitiger Toleranz durch den Staat, um so einen Beitrag zur Integration zu leisten, die „Kopftuch-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts, BVerfG NJW 2003, S. 3111 (3115 f.). Siehe zu dieser Rechtsprechung insgesamt von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (182). 946 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (181); Böckenförde, in: ders., Staat Verfassung Demokratie, S. 200 (219, 226 f., 241 f.). 947 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozess und europäische Identität, S. 263. 948 Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (57); Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 178.
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1. Teil: Kollektive Identität
mung und Abgrenzung ist notwendig zur Persönlichkeitsentwicklung sowie zur gesellschaftlichen Stabilisierung und Integration. Damit steht der wünschenswerten Stabilität eines Gemeinwesens die mit der Stiftung kollektiver Identität einhergehende Abgrenzung entgegen.949 Daraus folgt, dass jede Form eines hoheitlichen Integrationsmanagements durch eine Verfassung ausgeschlossen sein muss. Ansonsten liegt ein Verstoß gegen das Prinzip der Nichtidentifikation, welches sich aus der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen die Hoheitsgewalt ergibt, vor.950 Der Konflikt zwischen der Notwendigkeit eines stabilen Gemeinwesens durch die Stiftung kollektiver Identität und der Abwehrfunktion der Grundrechte lässt sich verfassungstheoretisch nur zu der Abwehrfunktion der Grundrechte auflösen. Deutsche und europäische Grundrechte sichern nämlich gleichermaßen die umfassende Freiheit auf Bestimmung und Ausdruck der eigenen sozialen Identität jedes Bürgers.951 Die Annahme eines hoheitlichen Identifikationsbedarfs ist unter juristischen Gesichtspunkten aufgrund seiner freiheitsbeschränkenden Wirkung kaum vertretbar. III. Kollektive Identität als notwendige Voraussetzung von Legitimität Die Stabilität eines politischen Gemeinwesens kann darüber hinaus immer auch auf anderen Gründen als der Legitimität seiner Hoheitsgewalt beruhen. Zum Beispiel kann die Stabilität einer politischen Ordnung auch die Folge einer rigorosen Durchsetzung staatlicher Zwangsmittel oder einer stark ausgeprägten Obrigkeitshörigkeit der Bürger sein. Die Stabilität einer Ordnung sagt also noch nichts über ihre Legitimität aus. Nach einem juristisch-ethischen Verständnis ist Legitimität daher eine eigene Kategorie neben Legalität, tatsächlicher Wirksamkeit und Stabilität einer Gesellschaftsordnung.952 Die zu rechtfertigende Ordnung wird an Maßstäben gemessen, die nicht in ihr selbst liegen. Daher fungiert auch die Stabilität und Krisenfestigkeit nur als Indiz dafür, dass die betreffende Gesellschaftsordnung bestimmte inhaltliche Qualitäten besitzt. Die jeweilige Politik hat vor allem im Rahmen der Nationalstaatsbildungsprozesse auf die Entwicklung kollektiver Identitäten Einfluss genommen, wenngleich sie auch nicht vollständig zu ihrer Disposition standen.953 Würde man folglich eine kollektive Identität als Legitimitätsbedingung zulassen, dann würde die Legitimität einer politischen Ord949 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozess und europäische Identität, S. 263; Tajfel/Turner, in: Worchel/Austin (eds.), Psychology of Intergroup Relations, S. 7 (7 ff.). 950 Frankenberg, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (54). 951 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (183). 952 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 515, 553.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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nung mit der dahinter stehenden Macht zusammenfallen. In diesem Fall bestünden erhebliche Manipulations- und Missbrauchsmöglichkeiten seitens der staatlichen Hoheitsgewalt. Eine kollektive Identität vermag daher zwar den dauerhaften Bestand eines Gemeinwesens zu gewährleisten, nicht aber notwendigerweise die Legitimität einer staatlichen Ordnung. Eine kollektive Identität ist vor allem auch kontextabhängig und daher als rechtsnormative Legitimationsbedingung oder Rechtfertigungsvoraussetzung von demokratischen Gemeinwesen ungeeignet. Zum einen ist nicht allgemeingültig festlegbar, welche Kategorien für die Ausbildung einer kollektiven Identität bei den Bürgern kognitiv dominierend sind. Die als salient wahrgenommen Kategorien wechseln infolge der Dynamik kollektiver Identitäten fortwährend und passen sich den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten an. Es hängt also von den jeweiligen aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen ab, welche Merkmale zur Ausbildung einer kollektiven gesellschaftlichen Identität beitragen. Zum anderen ist kollektive Identität auch eine graduelle Eigenschaft.954 Es ist nicht möglich, einen bestimmten und genau definierten oder definierbaren Grad von kollektiver Identität als die Möglichkeitsbedingung von Demokratie festzulegen. Legitimität stützt sich zwar auf die Identifikation der Bürger mit der Gesellschaft, eine kollektive Identität ist der Bildung eines Gemeinwesens aber nicht notwendigerweise vorgelagert. Zur Begründung dieser These kann man auf die umfassenden Erkenntnisse der Soziologie zu den nationalstaatlichen Identitätsbildungen der letzten Jahrhunderte zurückgreifen.955 Im Rahmen der Nationalstaatsbildungsprozesse waren Einheit und kollektive Identität keine präexistente vorpolitische Entitäten. Untersuchungen hinsichtlich der Entstehungsbedingungen von Nationalstaaten bestätigen, dass kollektive Identitäten der Nationalstaatsbildung nachfolgten und sich nicht als Voraussetzungen für die Nationenwerdung darstellten. Vielmehr entstanden nationale kollektive Identitäten erst durch und in den politischen Institutionen und wurden in der Regel von bestimmten Trägergruppen gesamtgesellschaftlich konstruiert. Bei der Ausbildung kollektiver Identitäten handelt es sich ferner um sehr langwierige Wachstumsprozesse.956 Deshalb sollte man eine kollektive Identität nicht als idealisierte Vorbedingung von Gemeinwesen und ihren Institutionen fordern.957 953 Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (55). 954 Siehe zu der graduellen Eigenschaft von Homogenität schon Heller, Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (427 f.). 955 Siehe ausführlich zum Folgenden Deutsch, Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, S. 17 ff., 31 ff., 44 f.; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 719 f. 956 Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (54). 957 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 719.
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1. Teil: Kollektive Identität
Dieses Ergebnis wird auch durch die sozialpsychologischen Forschungen zu Gruppenbildungsprozessen bestätigt. Mitglieder einer Gruppe können diese nämlich durchaus unterschiedlich wahrnehmen.958 Dies lässt den Schluss zu, dass kollektive Identität an die Dynamik der Gruppenbildung gekoppelt ist. Somit entwickelt sich die Gruppenidentität mit der Gruppenentstehung und stellt sich nicht als Voraussetzung oder als das Ergebnis der Gruppenbildung dar. Daraus folgt, dass kollektive Identität lediglich legitimitätsunterstützend wirkt. Daher sprechen gute Gründe gegen die normative Erheblichkeit bestimmter Gemeinsamkeiten der Bürger, die in der Soziologie, Sozialpsychologie und Ethnologie entwickelt worden sind.959 Aus der Verbindung von Herrschaft und Legitimität resultiert aus demokratietheoretischer Hinsicht eine notwendige Kausalität, das heißt Herrschaft ist auf Legitimität konstitutiv angewiesen.960 Für die kollektive Identität gilt dies aber nicht. Kollektive Identität ist für sich allein im Ergebnis keine unabdingbare Voraussetzung für die Legitimität eines Gemeinwesens.961 IV. Endergebnis zum Ersten Teil Aus der Folgerung, dass eine kollektive Identität keine Voraussetzung von Legitimität sein kann, ergeben sich Konsequenzen für die rechtliche Bewertung einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht. Die wesentliche Aussage der dargestellten Konzepte besteht in der Sichtbarmachung eines Spannungsverhältnisses zwischen kollektiver Identität und dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Dabei bedingen sich kollektive Identität und die Freiheit des Einzelnen gegenseitig. Denn nur ein stabiles und friedliches Gemeinwesen ermöglicht dem Bürger die volle Wahrnehmung seiner Freiheitsrechte. Die Stabilität eines Gemeinwesens wird unter anderem durch das Vorliegen kollektiver Identität der Bürger hinsichtlich ihres Systems gewährleistet. Die bewusste Stiftung kollektiver Identität durch die jeweilige Hoheitsgewalt kann wiederum zu einem Widerspruch mit der negativen Freiheit und der Selbstbestimmung des Einzelnen führen. Aus diesem Grund ähneln sich die Theorien trotz der herausgestellten Unterschiede in vielem. Alle Theorien bezeichnen denjenigen Überschuss an Zusammenhalt, Konsens, Homogenität oder Integration innerhalb eines Gemeinwesens, der nicht durch bloße Verrechtlichung erhalten oder geschaffen werden kann.962 Sie rekurrieren alle auf das Erfordernis einer irgendwie gearteten Über958 Siehe ausführlich dazu Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 31 f. 959 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 372. 960 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 54. 961 So im Ergebnis auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 555 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 15.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
235
einstimmung der Bürger und in allen Konzeptionen stellt sich das Problem der Ausgrenzung und Totalitarismusnähe. Daher gibt es von einem auf das positive Recht gerichteten Standpunkt aus kein Argument, weshalb eine der Theorien den anderen vorgezogen werden sollte. Keine der dargestellten Methoden kann als ausschließlich richtig bezeichnet werden. Alle dargestellten Lehren führen nur zu einem möglichen, nicht aber zu einem einzig richtigen Resultat. Somit ist es ein vergebliches Bemühen, eine Lehre unter Ausschluss der anderen begründen zu wollen. Die rechtwissenschaftlichen Theorien zur Identitätsstiftung liefern keine eindeutige Definition von Integration. Sie können wegen ihres Bezuges zur Rechtsgeltung Abstufungen von Integration nicht beschreiben und eine quantitative Bestimmung von Identität nicht vornehmen; ihr Integrationsbegriff kann keine Voraussetzung für eine empirisch inspirierte Analyse von Integration sein. Dabei resultiert die Unbestimmtheit aus der Verschränkung der normativen Dimension von Integration durch Verfassung mit der faktischen Dimension tatsächlicher Identifikationsprozesse bei den Bürgern.963 Alle Modelle legen theoretisch begründete und konzeptionell hoch differenzierte Aussagen über Gesellschaftsentwicklungen und -zustände vor, ohne sie empirisch zu testen. Dieser Mangel ruft eine gewisse Skepsis hervor. Denn eine Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht ist nur dann ein adäquate „Antwort“ auf Prozesse gesellschaftlicher Desintegration, wenn diese Prozesse zuvor hinreichend empirisch beschrieben worden sind.964 Nur dann können Aussagen über Erfolg oder Misserfolg einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht getätigt werden. In den Theorien der Politikwissenschaften und der Soziologie fehlt dagegen die qualitative Bestimmung von Integration. Daher können diese Theorien nicht die inhaltliche Richtigkeit und Legitimität einer Rechtsordnung gewährleisten. Die Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht kann mit dem Instrumentarium dieser Theorien nicht normativ bewertet werden. Die dargestellten Theorien und ihre Prämissen bleiben folglich mangels Aussagegehalt auf einer theoretischen Zwischenstufe stehen.965 Es ist aus rechtswissenschaftlicher Sicht ungewiss, ob die Diskussion um eine Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht angesichts ihres Abstraktionsniveaus auf hochgradig ausdifferenzierte Einzelprobleme anwendbar ist. Die Vorstellung von „Integration durch Verfassung“ ist selbst auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau ver962 Siehe zu einer analogen Argumentation bezüglich der Einheitskonzeption des Grundgesetzes Möllers, Staat als Argument, S. 242 ff. 963 Ähnlich Schaal, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 71 (92 f.). 964 Schaal, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 71 (91 f.). 965 Siehe ausführlich zum nachfolgenden Gedankengang Möllers, Staat als Argument, S. 243 f.
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1. Teil: Kollektive Identität
ortet. Das Instrument der Identitätsstiftung – die Verfassung – ist in den meisten Theorien966 zu „grob“ für die Analyse der eher empirischen Dimensionen von Integration.967 Die erörterten Theorien weisen nicht das notwendige Konkretisierungspotential für ihre Anwendbarkeit auf die Identitätsstiftungsfunktion des europäischen Vertragsrechts auf. Die unbesehene Umsetzung eines bestimmten Konzepts würde auch eine zentrale Funktion der Europäischen Union verkennen, nämlich ihre Rechtsetzungsfunktion. Die Debatte um die Identitätsstiftungsfunktion von Verfassungsrecht kann daher nicht nur abstrakt geführt werden. Ob eine Verfassung Identität stiftet, ist vielmehr von bestimmten Entscheidungen der Hoheitsträger abhängig. Denn erst durch die konkrete Ausgestaltung der Rechtsordnung wird die öffentliche Gewalt auf die eine oder andere Weise verändert. Das Verhältnis des Europäischen Verfassungsvertrages bzw. des Vertrages von Lissabon zur Stiftung einer europäischen Identität ist also das Ergebnis der konkreten Ausgestaltung und liegt dem jeweiligen Vertrag nicht voraus. Die Anregung von Identifikationsprozessen bei den Bürgern ist damit eine Frage der Ausgestaltung des europäischen Rechts. Die Fragen, ob der Verfassungsvertrag bzw. die Bestimmungen des Vertrages von Lissabon den Bürger zu einer über den Rechtsgehorsam hinausgehenden Identifikation im Sinne der Smendschen Traditionslinie verpflichten oder ob diese den Bürger eher vor Identitätszumutungen schützen, die sich aus dem Prinzip der Nichtidentifikation ergeben, oder ob die jeweiligen Bestimmungen die Möglichkeit einer „Verfassungsidentitätspolitik“ enthalten, werden durch die Verfassungstheorien nicht beantwortet. Sie sind vielmehr ihrerseits von normativen Prämissen abhängig.968 Damit spiegeln die genannten Positionen einer Identitätsstiftung durch Verfassung eher eine verfassungspolitische Grundhaltung wider, als dass sie sich den Normen einer konkreten Verfassung zuwenden. Die genannten Theorien zur Identitätsstiftung halten eine Vorstellung aufrecht, von der man annimmt, dass sie den Gehorsam gegen die Rechtsordnung in höherem Maße garantiert als eine nur an wissenschaftlichen Kriterien orientierte objektive Auslegung einer Verfassung. Denn Rechtswissenschaft dient nicht nur der Idee objektiver Wissenschaft, sondern immer auch der Politik. Diese hat die Tendenz, eine Einheit der Bürger als solche zu bejahen und politisch anzustreben. Als notwendig erachtet und angestrebt wird eine kollektive Identität nämlich vor allem seitens der Herrschenden, um als Instrument der Machtausübung
966 Eine Ausnahme bildet nur der Ansatz von Smend hinsichtlich der drei Integrationstypen sowie die sozialpsychologische Sichtweise von Bogdandys. Siehe dazu oben S. 156 ff. bzw. S. 190 ff. 967 Schaal, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 71 (92). 968 Siehe ausführlich zum nachfolgenden Gedankengang Möllers, Staat als Argument, S. 242 ff.
3. Kap.: Kollektive Identität und Identitätsstiftung
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und Kontrolle genutzt zu werden.969 Grund dafür ist die Stärkung der Autorität der jeweiligen Majorität und ihr Bestreben nach Machterhalt. Diesbezüglich besteht die Gefahr einer Instrumentalisierung von Identität durch die Politik. Die vorgestellten Konzeptionen sind verfassungspolitischer Natur und haben nicht die Verfassungsinterpretation im Blick.970 Die Funktion des Verweises auf den Einheitsbegriff scheint darüber hinaus in der Selbstgruppierung in bestimmte wissenschaftliche Lager zu bestehen, deren Hintergrund eine bestimmte politische Einstellung ist.971 Daher folgt aus dem dargestellten Meinungsstand auch keineswegs die methodische Aporie, dass die Untersuchung der identitätsstiftenden Ansatzpunkte des Europäischen Verfassungsvertrages von einem Bekenntnis zu einer der dargestellten Theorien abhängig gemacht werden müsse. Denn die Variationsbreite der Antworten auf die Frage nach der Integration von Gemeinwesen begründet Zweifel, ob es überhaupt sinnvoll ist, Integration und Identitätsstiftung in den Kreis der Verfassungsfunktionen einzufügen. Demzufolge findet eine Entscheidung für eine der angeführten Theorien nicht statt. Die Frage einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht ist nicht theoretisch zu beantworten. Es kommt beim Verhältnis von Identitätsstiftung und Verfassungsrecht auf die Ausgestaltung durch die europäischen Institutionen und die europäische Rechtsordnung selbst an. Daher ist umgekehrt zu fragen, welche Vorgaben dem Europäischen Verfassungsvertrag bzw. den übernommenen Bestimmungen des Vertrages von Lissabon für die jeweiligen Theorien zu entnehmen sind. Da dem Juristen nicht das System, sondern die Probleme vorgegeben sind, kann nicht von einem vorab konstruierten System eine Problemauslese erfolgen, welche die vom System nicht erfassten Probleme als lediglich vorrechtlich abwertet. Sondern es muss von dem jeweiligen Problem her eine System-Auslese erfolgen, um eine „passende“ Lösung zu finden.972 Also können normative Konzepte des Faktums Einheit nicht auf den Europäischen Verfassungsvertrag bzw. den Vertrag von Lissabon angewendet werden, sondern sie müssen sich aus der jeweiligen Bestimmung ergeben. Das Ziel der Identitätsstiftung müsste sich als Regelungsgegenstand und Regelungsziel in 969
Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 54. von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (178). 971 Zum nachfolgenden Gedankengang vgl. Möllers, Staat als Argument, S. 244, hinsichtlich der Einheitskonzeption des Grundgesetzes. Siehe zu den „Denkkollektiven“ der deutschen Staatsrechtslehre in Hinblick auf Rudolf Smend und Carl Schmitt die ausführliche Darstellung bei Günther, Denken vom Staat her, S. 112 ff. Siehe dazu auch Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. II, VII, 19 ff., der ungewöhnlich leidenschaftliche Abgrenzungen und Kontroversen unter den Staatsrechtlern im Hinblick auf Carl Schmitt konstatiert. Er nennt als Grund für die Schärfe der Diskussion die LinksRechts-Konfrontation der Carl Schmitt-Rezeption, die gleichzeitig mit dem Problem der Vergangenheitsbewältigung verbunden ist. 972 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (55). 970
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1. Teil: Kollektive Identität
einzelnen Normen belegen lassen.973 Es ist also eine Frage der Verfassungsauslegung, wie viel Identität der Europäische Verfassungsvertrag bzw. der Vertrag von Lissabon nach ihrem Normbestand stiften sollen und stiften können. Daher gilt es im Folgenden zu untersuchen, welche identitätsstiftenden Anregungen der verschiedenen vorgestellten Konzeptionen zur Integration von Gemeinwesen der Europäische Verfassungsvertrag und der daraus entwickelte Vertrag von Lissabon verwirklichen.
973
Ebenso Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (128).
Zweiter Teil
Identitätsstiftende Ansatzpunkte des Konstitutionalisierungsprozesses der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des Europäischen Verfassungsvertrages Nach dem Ergebnis des ersten Teils wäre eine kollektive europäische Identität für die Europäische Union weder ausreichende noch unabdingbare Voraussetzung zur Begründung ihrer Legitimität. Die Behauptung der Notwendigkeit einer Identifikation der Unionsbürger mit der Europäischen Union ist axiomatischer Natur.1 Darüber hinaus wurden die Schwäche der juristischen Theorien zur quantitativen Bestimmung von kollektiver Identität und das Defizit der soziologischen und sozialpsychologischen Theorien hinsichtlich einer qualitativen normativen Bewertung kollektiver Identität für die Legitimität eines Gemeinwesens festgestellt. Daher kommt es maßgeblich auf die Ausgestaltung der europäischen Rechtsordnung zur Bestimmung des Verhältnisses von kollektiver Identität und Legitimität an. Integration kann als europäisches Verfassungsprinzip interpretiert werden, wenn der Verfassungsvertrag bzw. die entsprechenden Normen des Vertrages von Lissabon identitätsgerichtete Bestimmungen enthalten, mit denen die Ausbildung einer unionsbezogenen Identität angestrebt wird. Daher soll im zweiten Teil dieser Arbeit zunächst untersucht werden, ob die europäische Politik auf eine Identitätsstiftung bei den Bürgern hinwirken will. Es soll daraufhin die jeweilige identitäre Konzeption einzelner Normen des Verfassungsvertrages und der daraus entwickelten Bestimmungen des Vertrages von Lissabon herausgestellt werden. Mit dieser Vorgehensweise soll nachgeprüft werden, welche integrativen theoretischen Elemente einer Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht – dargestellt im ersten Teil der Arbeit – Eingang in den Europäischen Verfassungsvertrag gefunden haben und inwieweit sie durch den Vertrag von Lissabon infolge des Scheiterns des Verfassungsvertrages modifiziert wurden. Es ist zu bestimmen, welche Idee oder Philosophie der Verfassungsvertrag zu transportieren versucht hat und inwieweit diese im Vertrag von Lissabon auf-
1
Ebenso von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (53).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
recht erhalten wird. Außerdem soll eine qualitative rechtliche Bewertung der jeweiligen identitätsgerichteten Norm vorgenommen werden. Um eine quantitave empirische Aussage über die Erfolgsaussichten der jeweiligen rechtlichen Identitätskonstruktion zu erhalten, sollen wegen der im ersten Teil dargestellten Schwächen der juristischen Theorien die Eurobarometer-Umfragen der letzten Jahre herangezogen werden. Denn die regelmäßigen Umfragen von Eurobarometer sind ein zuverlässiger Indikator für den Erfolg der identitätsstiftenden Bemühungen bei den Bürgern. Diese Umfragen werden im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführt und dienen dazu, die Einstellungen der Bürger hinsichtlich der europäischen Integration zu untersuchen. So kann eine quantitative Aussage darüber getroffen werden, ob auf der sozialpsychologischen Ebene die jeweiligen Bestimmungen Potential zur Ausbildung einer kollektiven europäischen Identität haben. Eine tatsächliche identitätsstiftende Wirkung bestimmter Normen kann allerdings nur in der gelebten zukünftigen Verfassungswirklichkeit empirisch nachgewiesen werden. Die EurobarometerUmfragen ermöglichen lediglich eine vergangenheitsbezogene Aussage in Bezug auf den Erfolg der bisherigen Identitätskonstruktionen. Es ist daher spekulativ, die gegenwärtigen Umfragen von Eurobarometer als feste Größe in eine Beurteilung für die Zukunft aufzunehmen.2 Es lassen sich aber wegen der stetigen Wiederholung derselben Themenkomplexe in den Umfragen bestimmte Entwicklungstendenzen bei den Bürgern feststellen, die eine begrenzte Prognose für die identitätsstiftende Wirkung einer Norm in der Zukunft erlauben. Aus diesem Grund werden im Folgenden anhand der Eurobarometer-Umfragen die Erfolgsaussichten der identitätsgerichteten Regelungen des Verfassungsvertrages und der entsprechenden Normen des Vertrages von Lissabon quantitativ untersucht. 1. Kapitel
Bedeutung und Funktion kollektiver Identität für die EU – Notwendigkeit einer europäischen Identität aus ihrer Perspektive Unabhängig davon, ob man eine Notwendigkeit kollektiver Identität als Voraussetzung einer legitimen Gesellschaftsordnung annimmt1 oder für entbehrlich hält,2 hängt die Intensität einer identitätsstiftenden Politik mit der Ausprägung 2
Ähnlich Wessels, Integration 2003, S. 284 (284 f.). So zum Beispiel Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1157); Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (14); Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (130 ff.); Weiler, FS für Everling II, S. 1651 (1656 ff.); Kirchhof, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 63 (79). 2 Exemplarisch seien genannt Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 711 ff.; von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (172 ff.); Frankenberg, in: 1
1. Kap.: Bedeutung und Funktion für die EU
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anderer bereits bestehender kollektiver Identitätsmerkmale zusammen.3 In kleineren, überschaubaren Gesellschaften sind weniger identitätsstiftende Maßnahmen als in sehr heterogenen Gesellschaften zur Sicherung der demokratischen Herrschaft durch Mehrheitsbeschaffung notwendig. Je einheitlicher ein Gemeinwesen strukturiert ist, desto einfacher ist die Herstellung kollektiver Identität aufgrund der bereits bestehenden objektiven Anknüpfungspunkte. Die Kategorien, anhand derer die Selbstwahrnehmung von Individuen als Mitglieder derselben Gruppe strukturiert wird, sind in einer in weiten Teilen homogenen Gemeinschaft in Form objektiver gemeinsamer Merkmale bereits vorhanden. Eine eher heterogene Gesellschaft entwickelt dagegen schwieriger eine stabile Identität und beinhaltet ein größeres Separationspotential, da sich die Kategorien zur Ausbildung einer kollektiven Identität nicht ohne weiteres anhand sichtbarer gemeinsamer Kriterien bestimmen lassen. Mangels Anschaulichkeit der gemeinsamen Merkmale ist in einer heterogenen Gesellschaft mehr Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder über die vorgestellten gruppenkonstituierenden Kategorien notwendig. So müssen beispielsweise gemeinsame Wertvorstellungen erst in einer längeren sprachlichen Kommunikation der Individuen untereinander erkannt und konstruiert werden. Sie benötigen daher einen längeren Zeitraum als äußere Merkmale, um für die soziale Identität der Einzelnen salient zu werden.4 Denn kognitiv-psychologische Tatsachen werden durch die äußeren Gegebenheiten zumindest mitbestimmt.5 Je heterogener eine Gesellschaft ist, desto mehr identitätsstiftende Maßnahmen werden daher zur Ausbildung kollektiver Identität ergriffen, um die Stabilität des Gemeinwesens zu sichern.6 Diese Beobachtung aus dem nationalstaatlichen Bereich lässt sich auch auf die Europäische Union übertragen. Schon zu Beginn des Integrationsprozesses wurden die Zerrissenheit des europäischen Kontinents und seine Heterogenität in der europäischen Politik thematisiert. Die Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman vom 09. Mai 1950, die zum inzwischen ausgelaufenen EGKS-Vertrag führte, sieht vor allem die Auslöschung des alten Gegensatzes zwischen Frankreich und Deutschland als notwendig für die europäische
Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 31 (44 ff.); Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 282 ff.; Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (837 ff., v. a. S. 841); Leisner, JZ 2002, S. 735 (740 f.); Dubiel, in: Heitmeyer (Hrsg.) Was hält die Gesellschaft zusammen? Band 2, S. 425 (427); Neidhardt, in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, S. 15 (20, 28). 3 Siehe ausführlich zum Folgenden Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 56. 4 Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (71). 5 So zu Recht Isensee, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, S. 103 (122); Böckenförde, in: ders., Staat Verfassung Demokratie, S. 289 (332 f.). 6 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 56.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Integration an.7 Auch der Europäische Verfassungsvertrag verdeutlicht mit dem Leitspruch der Union „in Vielfalt geeint“ die Heterogenität des Kontinents. Die vorrechtliche Voraussetzung einer kulturellen, politischen oder ethnischen Homogenität fehlt in der Europäischen Union. Die Heterogenität der Union ist die Ursache für die intensiven Bemühungen zur Stiftung einer europäischen Identität. Im Folgenden sollen die identitätsstiftenden Maßnahmen seit den siebziger Jahren hinsichtlich ihrer Verlautbarungen zur europäischen Identität näher untersucht werden. Dies soll veranschaulichen, dass zumindest aus Sicht der europäischen Institutionen, insbesondere des Europäischen Rates sowie der Europäischen Kommission und vor allem auch aus der Sicht des Verfassungskonvents eine kollektive Identität als notwendig für die Legitimität der Europäischen Union angesehen wird.
A. Identitätsstiftende Politik der Gemeinschaften seit den 70er Jahren Anhand der folgenden Beispiele aus der Politik wird gezeigt, in welcher Hinsicht der Begriff der europäischen Identität identitätsstiftende Verwendung gefunden hat und inwieweit europäische Identität als politischer Integrationsfaktor angesehen wird. I. Dokument über die europäische Identität 1973 Ausgangspunkt der identitätsstiftenden Politik der Gemeinschaften war das Dokument über die europäische Identität,8 das von den Außenministern der Mitgliedstaaten der EWG am 14. Dezember 1973 in Kopenhagen angenommen wurde. In dieser Erklärung wird erstmals offiziell der Terminus der „europäischen Identität“ benutzt. Die europäische Identität wurde damit in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gebracht.9 Die Kopenhagener Erklärung schließt dabei an einen Sprachwandel und eine Begriffsneubildung aus dem Bereich der Gruppenidentität an,10 die durch die Integration Europas angestoßen wurde. Diese Erklärung ist in innerer, psychologisch-ideologischer Hinsicht nämlich nichts anderes als die Feststellung und Bekundung dessen, was vormals mit den Begriffen Nationalbewusstsein, Nationalgefühl und Nationalstolz be7 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, abrufbar unter: http://europa.eu.int/abc/symbols/9-may/decl_de.htm (14.07.2004). 8 Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 50 ff. 9 Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (344); von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (160); Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 70. 10 Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (345).
1. Kap.: Bedeutung und Funktion für die EU
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nannt wurde.11 Die Identitätserklärung sollte vor allem im Hinblick auf künftige Erweiterungen die Gemeinsamkeiten der europäischen Mitgliedstaaten hervorheben und die Unterschiede Europas gegenüber der Außenwelt sichtbar machen.12 Dabei wurden drei Orientierungspunkte einer europäischen Identität gewählt.13 Die Kohäsion der Europäischen Gemeinschaft, die Stellung und Verantwortung der damals neun Mitgliedstaaten gegenüber der übrigen Welt und schließlich der dynamische Charakter der europäischen Einigung wurden als Bezugspunkte einer europäischen Identität angegeben. Der erste Orientierungspunkt einer europäischen Identität ist der Zusammenhalt der Gemeinschaft. Er hat die innere Homogenisierung im Blick und betrifft die Selbstvergewisserung der Europäer. Damit soll die Beziehung der Bürger zur Gemeinschaft und umgekehrt die Beziehung der Europäischen Gemeinschaft zu ihren Bürgern konkretisiert werden. In der Kopenhagener Identitätserklärung wird eine innereuropäische Identität demzufolge vor allem zur Sicherung der rechtlichen, politischen und geistigen Werte als unentbehrlich angesehen.14 In diesem Zusammenhang werden als Grundelemente der europäischen Identität die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, das Ziel wirtschaftlichen Fortschritts und die Achtung der Menschenrechte genannt. Desgleichen werden der Gemeinsame Markt, die Zollunion und die Gemeinsamen Politiken der Mitgliedstaaten als Bestandteile der europäischen Identität qualifiziert. Der zweite Orientierungspunkt der europäischen Identität betont demgegenüber eher die äußere Identität der EWG. In der Kopenhagener Identitätserklärung wird die Stellung und Verantwortung der neun Mitgliedstaaten hervorgehoben und ihr Zusammenhalt gegenüber der übrigen Welt propagiert. Dadurch findet eine entschiedene Abgrenzung nach außen statt. Schließlich wird in diesem Dokument die europäische Identität als unverwechselbar aufgrund ihrer Dynamik charakterisiert. Insgesamt hebt die Kopenhagener Erklärung vor allem die außenpolitische Selbstbehauptung der Europäer hervor. Die primäre Zielsetzung des Dokuments bestand nämlich darin, einer gemeinsamen Außenpolitik der Mitgliedstaaten im 11
Schmidt, Muttersprache 86 (1976), S. 333 (351). Christiansen, ZfParl, Sonderband zum 25-jährigen Bestehen, S. 50 (55). 13 Siehe zu den drei Orientierungspunkten das Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 50: „Eine nähere Bestimmung der europäischen Identität macht es erforderlich, – das gemeinsame Erbe, die gemeinsamen Interessen, die besonderen Verpflichtungen der Neun und den Stand des Einigungsprozesses in der Gemeinschaft zu erfassen, – den bereits erreichten Grad des Zusammenhalts gegenüber der übrigen Welt und die daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten festzustellen, – den dynamischen Charakter des europäischen Einigungswerkes zu berücksichtigen.“ 14 Siehe ausführlich zum Folgenden Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 51. 12
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Rahmen der EWG den entsprechenden Rückhalt in der Bevölkerung zu geben.15 Daher liegt der Schwerpunkt der Kopenhagener Erklärung eher auf einer identitären Abgrenzung nach außen, als auf einer positiven nach innen gerichteten Selbstdefinition der Europäer als Gruppe.16 Auch die transatlantischen Beziehungen der Europäer zu den USA werden in dem Dokument außerordentlich betont.17 In der Kopenhagener Identitätserklärung wird damit die europäische Identität nicht ausschließlich nach innereuropäischen Kategorien definiert.18 II. Tindemans Bericht 1976 Der Begriff der europäischen Identität wurde im weiteren Verlauf von dem belgischen Premierminister Leo Tindemans aufgegriffen, der 1976 einen Bericht an den Europäischen Rat verfasste. Darin tritt Leo Tindemans für eine Stärkung der europäischen Identität sowohl nach außen als auch gegenüber den Bürgern ein. Er schlägt ein gemeinsames Auftreten der Mitgliedstaaten nach außen vor, um die europäische Identität in den internationalen politischen Verhandlungen in den Vordergrund zu stellen.19 Als Begründung für die Stärkung der europäischen Identität gegenüber den Bürgern wird angeführt, dass der Wille der Regierungen allein nicht der ausschlaggebende Faktor für die europäische Integration sein kann.20 Zur Realisierung einer kollektiven gemeinsamen Identität bei den Bürgern wird der Vorschlag für ein „Europa der Bürger“ gemacht, indem bestimmte europäische Bürgerrechte geschützt21 und die europäischen Institutionen gestärkt werden sollen.22 Zusätzlich wird die Empfehlung gegeben, den Europagedanken für die Bürger anhand äußerer Zeichen der europäischen Solidarität im Alltag zu versinnbildlichen.23 Die Anregungen von Leo Tindemans wären zweckmäßig gewesen, um maßgebliche Inhalte einer europäischen Identität bei den Bürgern bekannt zu machen. Sie wurden in der Folgezeit jedoch nur sehr zurückhaltend umgesetzt, so dass sie kaum einen Einfluss auf die Festigung einer europäischen Identität bei den Bürgern hatten.24 15
Christiansen, ZfParl, Sonderband zum 25-jährigen Bestehen, S. 50 (55). Siehe zur innengerichteten und außengerichteten europäischen Identität in dieser Erklärung auch De Witte, in: Rijksbaron et al. (eds.), Europe from a Cultural Perspective, S. 132 (134 f.). 17 Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 52. 18 Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 74. 19 Tindemans, Die Europäische Union, S. 19. 20 De Witte, in: Rijksbaron et al. (eds.), Europe from a Cultural Perspective, S. 132 (135). 21 Tindemans, Die Europäische Union, S. 29 f. 22 Tindemans, Die Europäische Union, S. 32 ff. 23 Tindemans, Die Europäische Union, S. 30 f. 24 De Witte, in: Rijksbaron et al. (eds.), Europe from a Cultural Perspective, S. 132 (136); Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 745. 16
1. Kap.: Bedeutung und Funktion für die EU
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III. Feierliche Deklaration zur EU 1983 Der Europäische Rat tagte 1983 in Stuttgart und verkündete die Feierliche Deklaration zur Europäischen Union. Diese Erklärung bezieht sich ausdrücklich auf das Dokument über die europäische Identität und nimmt auf diese Weise das Thema der europäischen Identität erneut auf.25 Bei dem Treffen der Staatsund Regierungschefs wurde unter anderem eine engere kulturelle Zusammenarbeit als notwendig erachtet, um das Bewusstsein eines gemeinsamen kulturellen Erbes als Teil der europäischen Identität zu festigen.26 Als Maßnahme zur kulturellen Zusammenarbeit wurde im Anschluss an die Deklaration eine gemeinsame Aktion der europäischen Mitgliedstaaten vorgeschlagen, um das kulturelle Erbe zu schützen, zur Geltung zu bringen und zu wahren.27 Diese Maßnahme, mit der das Ziel einer europäischen Identität verwirklicht werden sollte, wurde jedoch in dem Dokument nicht sehr wirkungsvoll ausgestaltet. Es sollte nämlich lediglich die Zweckmäßigkeit der gemeinsamen Aktion geprüft werden. Nach dieser Formulierung handelte sich also nur um eine Absichtserklärung, die zu diffus und abstrakt blieb, um eine hohe politische Durchschlagkraft zu entwickeln. IV. Einheitliche Europäische Akte 1986 Am 28. Februar 1986 wurde die Einheitliche Europäische Akte von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Eine Neuerung zur europäischen Identität enthielt Art. 30 Abs. 6 lit. a) EEA, der sich in Titel III mit der Überschrift „Vertragsbestimmungen über die Europäische Zusammenarbeit in der Außenpolitik“ befand.28 Demzufolge sind die Hohen Vertragsparteien der Auffassung, dass eine enge Zusammenarbeit in Fragen der europäischen Sicherheit geeignet ist, wesentlich zur Entwicklung einer außenpolitischen Identität Europas beizutragen. Daher sind sie zu einer stärkeren Koordinierung ihrer Standpunkte in den politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Sicherheit bereit. Auffällig an dieser Formulierung ist ihre Eingrenzung auf die äußere Identität der Union. Art. 30 Abs. 6 lit. a) EEA hatte also nicht die Identifikationspro25 Europäischer Rat, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 65, S. 601 (602). 26 Europäischer Rat, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 65, S. 601 (602); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 212; De Witte, in: Rijksbaron et al. (eds.), Europe from a Cultural Perspective, S. 132 (135). 27 Europäischer Rat, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 65, S. 601 (606). 28 Europäischer Rat, EEA in der Fassung von 1986, S. D 177; in der derzeitigen Fassung wurde Art. 30 EEA durch den Vertrag über die Europäische Union am 7.2. 1992 aufgehoben; vgl. Bieber, Europarecht, EEA 4 S. 1.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
zesse der Bürger mit der Gemeinschaft im Blick, sondern fokussierte ebenfalls eher den Aspekt der äußeren Abgrenzung Europas. V. Unterzeichnung des EU-Vertrages 1992 Der Vertrag über die Europäische Union wurde am 07. Februar 1992 in Maastricht von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Die Unterzeichnung des EU-Vertrages ist ein besonders gewichtiger Meilenstein in der europäischen identitätsstiftenden Politik. Der EU-Vertrag erwähnt den Begriff der europäischen Identität zum einen an exponierter Stelle in der Präambel. In der 10. Präambelerwägung wird als Ziel des Vertrages die Stärkung der Identität und Unabhängigkeit Europas formuliert, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und der Welt zu fördern. Überdies setzt sich die Union in Art. 2 Spstr. 2 EU das Ziel der Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene, insbesondere durch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Art. 6 Abs. 3 EU erwähnt darüber hinaus auch die nationale Identität der Mitgliedstaaten, welche die Union achtet. Art. 6 Abs. 3 EU bestimmt unter anderem das Verhältnis der europäischen zur nationalen Identität. Diese Norm soll daher erst im weiteren Verlauf der Arbeit bei der Frage des Verhältnisses der europäischen zur nationalen Identität untersucht werden.29 Im Ergebnis ist festzustellen, dass sowohl der Begriff der europäischen als auch der Terminus der nationalen Identität durch den EU-Vertrag Eingang in das Primärrecht der Union gefunden haben. VI. Änderung des EG-Vertrages 1992 Ein bedeutender Bestandteil der identitätsstiftenden Politik ist außerdem die Änderung des EG-Vertrages am 07. Februar 1992. Durch den Vertrag über die Europäische Union wurde mit Art. 191 EG eine Regelung über die politischen Parteien auf europäischer Ebene neu in den EG-Vertrag eingefügt.30 Dieser Norm zufolge sind die politischen Parteien ein wichtiger Integrationsfaktor im institutionellen Gefüge der Union. Ihre Bedeutung wird damit erstmalig im europäischen Primärrecht verankert. Art. 191 EG stellt aber keine Rechtsgrundlage zur Schaffung eines europäischen Parteiengesetzes oder eine Regelung zur Parteienfinanzierung auf europäischer Ebene dar.31 Die politischen Parteien sollen nach Art. 191 Abs. 1 S. 1 EG vielmehr dazu beitragen, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden, um den politischen Willen der Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff europäisches Bewusstsein kann in diesem Zu29 30 31
Siehe dazu unten S. 312 ff. Bieber, Europarecht, EG-Vertrag 2, S. 3. Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 77.
1. Kap.: Bedeutung und Funktion für die EU
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sammenhang als Umschreibung der affektiven intersubjektiven Anknüpfungspunkte für die Ausbildung einer kollektiven Identität interpretiert werden. Diese Norm ist daher eine Beschreibung der europäischen Identität als europäisches Bewusstsein. Art. 191 Abs. 1 S. 1 EG stellt eine Regelung zur Stiftung einer europäischen Identität durch die Erwähnung der Teilnahme der Bürger am politischen Willensbildungsprozess dar. Mangels Schaffung einer Rechtsgrundlage für ein europäisches Parteiengesetz hängt aber der identitätsstiftende Einfluss der Norm maßgeblich von der Interaktion der jeweiligen Parteien auf europäischer Ebene ab. VII. Feierliche Verabschiedung der Grundrechtecharta 2000 Die Grundrechtecharta wurde auf dem EU-Gipfel am 03./04. Juni 1999 in Köln als politisches Projekt beschlossen. Im Laufe des Jahres 2000 wurde sie von dem dafür eingerichteten Gremium des Grundrechtekonvents unter der Leitung von Roman Herzog entworfen und schließlich im Dezember des Jahres 2000 auf dem Europäischen Rat von Nizza feierlich verkündet. Auch die Grundrechtecharta ist ein weiterer entscheidender Schritt zur Stiftung europäischer Identität. Im Kölner Gipfelbeschluss über die Grundrechtecharta32 wird der Begriff der europäischen Identität zwar gänzlich vermieden und auch in der Grundrechtecharta selbst findet sich der Begriff der europäischen Identität nicht explizit.33 Nach der vierten Präambelerwägung der Grundrechtecharta wird es aber als notwendig angesehen, den Schutz der Grundrechte zu stärken, indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden. Diese Sichtbarmachung der Grundrechte wurde angesichts rasanter gesellschaftlicher, sozialer, wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen als notwendig erachtet.34 Dies kann man als Versuch interpretieren, die Identifikation der Bürger mit der Europäischen Union durch eine Verstärkung der Öffentlichkeitswahrnehmung zu fördern. Dies war auch eine wesentliche Aufgabe des Grundrechtekonvents.35 Daran wird deutlich, dass die Grundrechtecharta identitätsstiftend wirken soll.36 32 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat von Köln am 03./04. Juni 1999, abrufbar unter: http://europa.eu.int/council/off/conclu/june99 /june99_de.htm (12.02.2007). 33 Siehe zur Grundrechtecharta als Teil II des Verfassungsvertrages unten S. 359 ff. 34 Tettinger, NJW 2001, S. 1010 (1010). 35 Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 43; Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 13 (14). 36 Allerdings folgt aus der Sichtbarmachung auch der Umkehrschluss, dass die Grundrechte in der Vergangenheit gerade nicht sichtbar für den einzelnen Bürger waren. Daher hätte daneben auch noch konsequenterweise das Motiv der Neuschaffung sprachlich gleichrangig in die Präambel der Grundrechtcharta eingehen sollen. So vertreten von Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (571); Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (205).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
VIII. Vertrag über eine Verfassung für Europa 2004 Auch der im Ratifizierungsverfahren gescheiterte Europäische Verfassungsvertrag ist ein Instrument der identitätsstiftenden Politik der Europäischen Union. Zunächst ist auffällig, dass der Europäische Verfassungsvertrag den Begriff der europäischen Identität im Gegensatz zum EU-Vertrag, wo der Terminus eine bedeutende Stellung innehat, nicht mehr ausdrücklich erwähnt. Die Formulierungen der 10. Präambelerwägung des EU-Vertrages und des Art. 2 Spstr. 2 EU wurden nicht übernommen. Daraus könnte gefolgert werden, dass eine identitätsstiftende Politik seitens der Europäischen Union nicht mehr verfolgt wird. Dem ist aber entgegen zu halten, dass der Verfassungskonvent den Auftrag erhielt, Vorschläge zu dem Anliegen zu unterbreiten, „den Bürgern das europäische Projekt und die europäischen Organe näher zu bringen.“37 Außerdem sollen gemäß Art. I-46 Abs. 4 VVE die Parteien zur Herausbildung eines europäischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union beitragen. Art. I-46 Abs. 4 VVE korrespondiert in diesem Zusammenhang mit Art. 191 EG.38 Insofern kann die „Näherbringung des europäischen Projekts“ und die „Herausbildung eines europäischen Bewusstseins“ nur so ausgelegt werden, dass auch der Europäische Verfassungsvertrag neben seinen anderen Zielsetzungen zur Anregung von Identifikationsprozessen bei den Bürgern beitragen soll. Diese Auslegung wird durch die Begrifflichkeiten, die in der deutschen Fassung des Verfassungsvertrages Verwendung gefunden haben, untermauert. Denn der Europäische Verfassungsvertrag enthält auffallend viele Formulierungen, die den Begriffen zur Beschreibung der europäischen Identität in der Kopenhagener Identitätserklärung gleichen. Insofern kann für eine diesbezügliche Untersuchung des Europäischen Verfassungsvertrages Interpretationsmaterial gewonnen werden. Nach der Kopenhagener Erklärung war zum Beispiel für die Bestimmung der europäischen Identität erforderlich, das gemeinsame „Erbe“ der neun Mitgliedstaaten zu erfassen.39 Der Europäische Verfassungsvertrag übernimmt diesen Gedanken und eröffnet sogar mit dem gemeinsamen „Erbe Europas“ die erste Präambelerwägung. Auch die Werte der Europäischen Union, die der Verfassungsvertrag in der Präambel und in Art. I-2 VVE erwähnt, decken sich weitgehend mit den schon 1973 formulierten Werten, die als Grundelemente der europäischen Identität bezeichnet wurden.40 37 Vorwort des Verfassungsvertragsentwurfs, der vom Europäischen Konvent unter der Leitung von Valéry Giscard d’Estaing ausgearbeitet und dem Europäischen Rat in Thessaloniki am 20. Juni 2003 überreicht wurde, Europäischer Konvent, Vorwort Entwurf VVE. 38 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 200. 39 Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 50. 40 Im Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 51 werden die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtig-
1. Kap.: Bedeutung und Funktion für die EU
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Ebenso übernimmt der Verfassungsvertrag zur äußeren Abgrenzung Europas den schon in der Identitätserklärung41 enthaltenen Begriff „der übrigen Welt“.42 Gleichermaßen werden das Konzept der „Vielfalt der Kulturen“,43 die „Dynamik“44 der europäischen Einigung, der „soziale Fortschritt“ und die „Unabhängigkeit Europas“ in beiden Dokumenten angeführt. Obwohl der Begriff der „europäischen Identität“ nicht ausdrücklich erwähnt wird, kann daher auch der Europäische Verfassungsvertrag als eine erneute Bemühung zur Stiftung einer europäischen Identität durch die Politik angesehen werden und ist ebenfalls der identitätsstiftenden Politik der Europäischen Union zuzurechnen. IX. Vertrag von Lissabon 2007 Der Vertrag von Lissabon wurde am 13. Dezember 2007 nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Er ist bislang das letzte Element der identitätsstiftenden Politik der Europäischen Union. Er sieht Änderungen des EG-Vertrages vor, der in Vertrag über die Arbeitsweise der Union umbenannt werden soll. Auch der EU-Vertrag soll modifiziert werden. Die Präambel des EU-Vertrages enthält im Gegensatz zur Präambel des Verfassungsvertrages auch weiterhin den Begriff der europäischen Identität; der 10. Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrages wird durch den Vertrag von Lissabon nicht modifiziert. Allerdings wird die Formulierung des Art. 2 Spstr. 2 EU hinsichtlich der Behauptung der Identität der Europäischen Union nicht übernommen, sondern es wird eine neue Fassung des Art. 3 EU n. F.45 eingeführt, die mit kleineren Abweichungen weitgehend der Formulierung des Art. I-3 VVE entspricht. Damit ist im EU-Vertrag in der Fassung des Vertrages von Lissabon der Begriff der europäischen Identität ebenfalls symbolträchtig in der Präambel enthalten. Desweiteren findet sich auch die Formulierung des Art. I-46 Abs. 4 VVE, wonach die Parteien zur Herausbildung keit, die das Ziel wirtschaftlichen Fortschritts ist, sowie die Achtung der Menschenrechte als Grundelemente der europäischen Identität genannt. Nach Art. I-2 VVE gründet sich die Union auf die Werte der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind demnach allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet (Hervorhebungen von der Verfasserin). 41 Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 50. 42 Art. I-3 Abs. 4 VVE. 43 Im Verfassungsvertrag kommt dieser Gedanke in der Formulierung „in Vielfalt geeint“ zum Ausdruck, vgl. 4. Präambelerwägung VVE, Art. I-8 Abs. 3 VVE und Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 51. 44 Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 50 f. 45 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
eines europäischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union beitragen, in Art. 10 EU n. F.46 nach der Regelung des Vertrages von Lissabon. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass trotz des Scheiterns des Verfassungsvertrages das Ziel einer identitätsstiftenden Politik auf europäischer Ebene weiter verfolgt wird. Dafür spricht auch, dass die in Art. I-2 VVE enthaltene Werteklausel nach dem Vertrag von Lissabon wörtlich als Art. 2 EU n. F. in den EU-Vertrag eingefügt wird.47 X. Zwischenergebnis Die politische Vereinigung Europas sollte über die wirtschaftlichen Vorteile hinaus zu einer dauerhaften Befriedung innerhalb der europäischen Grenzen führen.48 Die dargestellte identitätsstiftende Politik verdeutlicht, dass zumindest von den politischen Trägergruppen auf europäischer Ebene eine kollektive Identität als notwendige Voraussetzung für den Integrationsprozess angesehen wird. Eine gemeinsame Identität soll zur Stabilität und Krisenfestigkeit des europäischen Gemeinwesens beitragen.49 Diese Intention der identitätsstiftenden Politik wird schon in der Kopenhagener Identitätserklärung deutlich und lässt sich bis zu den Bemühungen um den Europäischen Verfassungsvertrag und den Vertrag von Lissabon verfolgen. Die identitätsstiftende Politik zielt auf europäischer Ebene darauf ab, dass die Bürger ihr Europabewusstsein als wesentliches Moment ihres sozialen Selbstverständnisses begreifen.50 Im politischen Streben nach einer europäischen Identität kommt desgleichen der Wille zum Ausdruck, eine breite, stabile und dauerhafte Basis von Legitimation der supranationalen Organisation zu schaffen. Kollektive, auf eine politische Einheit gerichtete Identität, stellt aus Sicht der europäischen Institutionen einen der stärksten legitimatorischen Faktoren dar und gilt aus diesem Grund als erstrebenswert.51 Überdies wird in einer unregelmäßig entwickelten Union das Fehlen von Kompromissmöglichkeiten befürchtet, die eine Unregierbarkeit der Europäischen Union zur Folge haben könnten.52 Die Erhöhung der Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen ist also eine wesentliche Motivation zur Stiftung einer europäischen Identität. Aus der Perspektive der europäischen Institutionen ist 46 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 20. 47 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17. 48 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 10. 49 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 10, 103 f. 50 von Bogdandy JZ 2004, S. 53 (54). 51 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 211. 52 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 103.
1. Kap.: Bedeutung und Funktion für die EU
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kollektive Identität das geeignete Mittel, um ein Zusammenwachsen in der Union fördern.53
B. Erfolg dieser Politik: Bestehen einer europäischen Identität Europäische Identität in Gestalt eines europäischen „Wir-Gefühls“ und einer die Nationen übergreifenden Solidarität und Akzeptanz ist bisher nur sehr schwach profiliert.54 Die verfügbaren Daten, anhand derer die Relevanz55 der europäischen Ebene für die Bürger und deren Wissen56 über die Europäische Union nachgeprüft werden, deuten darauf hin, dass diese bislang kein zentrales politisches Orientierungsobjekt für die Bevölkerung darstellt.57 Für die einzelnen Bürger ist der vertraute nationalstaatliche Rahmen immer noch der maßgebliche Bezugspunkt für ihre politischen Orientierungen und wird es noch einige Zeit bleiben.58 Es erscheint darüber hinaus auch kaum möglich, einen Zeitraum anzugeben, den die Veränderung kollektiver Identität benötigt.59 Seit 1992 wird in den Eurobarometer-Umfragen regelmäßig die Frage nach der europäischen Identität der Bürger gestellt. Die in diesen Umfragen gemessenen Schwankungen im europäischen Zusammengehörigkeitsgefühl lassen darauf schließen, dass eine stabile und dauerhafte europäische Identität trotz identitätsstiftender Politiken nicht existiert.60 I. Eurobarometer-Umfrage Herbst 2005 Dies bestätigen die Umfragen von Eurobarometer aus dem Herbst 2005. Nach dieser Umfrage sehen sich nur 55% der EU-Bürger der damaligen 25 Mitgliedstaaten in naher Zukunft zu einem gewissen Grad als Europäer.61 Außerdem 53
Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 238. Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1157). 55 Siehe dazu Eurobarometer 64, S. 42 ff. 56 21% der Bürger geben an, überhaupt nichts über die Europäische Union zu wissen und 55% wissen ein bisschen; vgl. Eurobarometer 64, S. 80. 57 Siehe zur Auswertung Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (142). 58 Man kann allerdings auch nicht von einem gänzlichen Desinteresse der Bürger an der Europäischen Union ausgehen. Die Politik hat im Allgemeinen einen geringen Stellenwert für den Normalbürger; dies umfasst auch das Interesse für die europäische Politik. Siehe dazu Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (142). 59 Es können sich bereits über einen Zeitraum von fünf Jahren Änderungen kollektiver Identität ergeben. Siehe zu diesem Zeitraum die Untersuchung von Angelucci, S. 160 f., 163 f. 60 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 114 f. 61 17% fühlen sich oft als Europäer und 38% nur manchmal. Der Anteil der Befragten, die sich nie als Europäer fühlen ist auf 42% zurückgegangen; vgl. Eurobarometer 64, S. 42. 54
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
fühlen sich 48% der europäischen Bürger zuerst als Angehörige ihres eigenen Landes und dann als Europäer.62 41% der Befragten sehen sich sogar ausschließlich als Bürger ihres Landes und in keiner Weise als Bürger der Europäischen Union. Der Anteil derer, die sich ausschließlich als Europäer definieren, ist demgegenüber verschwindend gering.63 Infolgedessen lässt sich dem bisherigen Bestand an Europäischem Vertragsrecht eine identitätsbildende Wirkung kaum zuschreiben. Zwar besteht zwischen kollektiver Identität und Legitimität keine Kausalität im Sinne einer normativen conditio sine qua non.64 Ein Mangel kollektiver Identität im Sinne der Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen ist aber zumindest als ein Indiz für ein Legitimationsdefizit zu werten. Damit kann eine europäische Identitätskrise zur Akzeptanzkrise der Union werden. Der Erfolg der europäischen Integration hängt aufgrund des notwendigen Ratifizierungsverfahrens in den einzelnen Mitgliedstaaten in erheblichem Maß von der Unterstützung der Bürger ab. In den Mitgliedstaaten, in denen ein Referendum zur Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrages als notwendig erachtet wurde, wurde der Zusammenhang zwischen der tatsächlichen Unterstützung der Bürger und dem Fortschreiten des Konstitutionalisierungsprozesses der Europäischen Union unmittelbar deutlich. Aber auch in den übrigen Mitgliedstaaten sind die am Ratifizierungsprozess Beteiligten65 auf die Zustimmung ihrer Bürger zumindest hinsichtlich wechselnder Mehrheitsverhältnisse in der nächsten Parlamentswahl angewiesen. Diese Abhängigkeit des Konstitutionalisierungsprozesses von der Unterstützung der Bürger wurde anhand der Verfassungsreferenden im Jahr 2005 besonders deutlich. II. Eurobarometer-Umfragen zu den Verfassungsreferenden Das spanische Verfassungsvertragsreferendum hatte zunächst einen positiven Ausgang. Im Februar 2005 befürworteten darin 75% der Spanier den Europäischen Verfassungsvertrag.66 Dieses positive Abstimmungsverhalten war dagegen Ende Mai/Anfang Juni 2005 weder in Frankreich noch in den Niederlanden zu beobachten. In beiden Referenden wurde der Verfassungsvertrag von der Mehrheit der Abstimmenden 62 Weitere 7% der Befragten gaben an, sich erst als Europäer und dann als Bürger ihres Landes zu fühlen; Eurobarometer 64, S. 45 f. 63 Der Anteil derer, die sich ausschließlich als Europäer fühlen beträgt nur 2%; Eurobarometer 64, S. 45 f. 64 Siehe ausführlich zum Folgenden Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1164 f.). 65 In der Bundesrepublik Deutschland sind dies der Bundestag, der Bundesrat und der Bundespräsident. 66 Flash Eurobarometer, The European Constitution: post referendum survey in Spain, S. 15.
1. Kap.: Bedeutung und Funktion für die EU
253
abgelehnt. 54,68% der Franzosen lehnten den Verfassungsvertrag in dem französischen Referendum ab.67 In den Niederlanden votierten kurz darauf sogar 61,6% der Abstimmenden gegen den Verfassungsvertrag.68 Das Abstimmungsverhalten und die Gründe für die Ablehnung bzw. Befürwortung des Verfassungsvertrages wurden in telefonisch durchgeführten Eurobarometer-Umfragen unmittelbar nach den bisher abgehaltenen Referenden in Spanien, Frankreich und den Niederlanden untersucht. Die Ablehnung des Verfassungsvertrages wurde in Frankreich vor allem mit nationalen Erwägungen begründet.69 Dabei gehört Frankreich keineswegs zu den Ländern, deren öffentliche Meinung als besonders europaskeptisch gilt.70 In den Niederlanden war die öffentliche Meinung bis zu diesem Referendum ebenfalls nicht sehr kritisch gegenüber der europäischen Integration.71 Aber auch hier war die Angst vor einem „Verlust der nationalen Souveränität“ der zweithäufigste genannte Grund für die Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrages mit 19% der Nein-Stimmen nach dem Grund des Bestehens eines „Informationsdefizits“.72 Allerdings nannten auch 13% derjenigen Niederländer, die dem Verfassungsvertrag zustimmten, die Stärkung der europäischen Identität als Grund ihrer Zustimmung.73 Interessanterweise rechnen zwei Drittel der Niederländer nicht mit einem endgültigen Scheitern des Verfassungsvertrages als Konsequenz ihrer Ablehnung. Sie gehen vielmehr von einem Neuabschluss eines geänderten Verfassungsvertrages aus, der eher ihren sozialen und sonstigen niederländischen Interessen entspricht.74 Ein ähnliches Umfrageergebnis ergab sich auch in Frankreich.75
67 Flash Eurobaromètre, La Constitution européenne, sondage post-référendum en France, S. 13. 68 Flash Eurobarometer, The European Constitution: post referendum survey in The Netherlands, S. 11. 69 Flash Eurobaromètre, La Constitution européenne, sondage post-référendum en France, S. 17. 70 56% der Franzosen halten die Mitgliedschaft in der Europäischen Union für eine gute Sache gegenüber einem Anteil von 14% der Bürger, die dies für eine schlechte Sache halten; 28% der Befragten waren neutral eingestellt. Vgl. Eurobarometer 62, S. 68 f. und Schild, Integration 2005, S. 185 (189). 71 Die Bevölkerung der Niederlande ist sogar an dritter Stelle der Mitgliedstaaten, in denen die Bevölkerung die Mitgliedschaft in der Europäischen Union für eine gute Sache hält. 75% der Bürger der Niederlande befürworten eine Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union, nur 9% der Befragten waren dagegen und 15% hatten keine Meinung; vgl. Eurobarometer 62, S. 68 f. 72 Flash Eurobarometer, The European Constitution: post referendum survey in The Netherlands, S. 15 f. 73 Auch hier der an zweiter Stelle angegebene Grund. Siehe dazu Flash Eurobarometer, The European Constitution: post referendum survey in The Netherlands, S. 13. 74 Flash Eurobarometer, The European Constitution: post referendum survey in The Netherlands, S. 23 f. 75 Flash Eurobaromètre, La Constitution européenne, sondage post-référendum en France, S. 25 ff.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
III. Fazit Insgesamt waren im Herbst 2005 in den damals 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union 49% der Bürger für eine Neuverhandlung des Verfassungsvertrages;76 nur 13% waren der Meinung, dass das Projekt einer europäischen Verfassung gänzlich aufgegeben werden soll.77 Daraus lässt sich schließen, dass die Bürger den europäischen Integrationsprozess nicht gänzlich ablehnen, sondern größere Gestaltungsmöglichkeiten anstreben und vor allem bezüglich einer „Integration von oben“ negativ eingestellt sind. Aus den Umfrageergebnissen von Eurobarometer geht hervor, dass die identitätsstiftende Politik bisher nicht sehr erfolgreich war. Die Umfragebeispiele belegen den Zusammenhang zwischen der Existenz einer europäischen Identität und dem Fortschreiten bzw. Stocken des Konstitutionalisierungsprozesses der Europäischen Union. Ein europäisches „Wir-Gefühl“ hat demzufolge zwar keine normative, aber eine immense faktische Bedeutung für den europäischen Integrationsprozess.
C. Zwischenergebnis Nach dem negativen Ausgang der Referenden über den Verfassungsvertrag hat der Europäische Rat am 16./17. Juni 2005 in einer Erklärung zur Ratifizierung des Vertragswerkes eine „Zeit der Reflexion“ vereinbart. Nach dieser Erklärung stelle das Scheitern des Verfassungsvertrages in dem französischen und dem niederländischen Referendum nicht die Fortsetzung des Ratifikationsprozesses in Frage.78 Die anschließende Verzögerung des Ratifizierungsprozesses in den übrigen Mitgliedstaaten zeigte aber deutlich die Befürchtung des Zustimmungsverlustes bei den Staats- und Regierungschefs. Die Vorbehalte gegen den Verfassungsvertrag konnten in der Folgezeit auch nicht entkräftet werden. Aus diesem Grund kam der Europäische Rat auf seiner Sitzung am 21./22. Juni 2007 darin überein, dass die zwei Jahre währende Ungewissheit über den Fortgang der Verfassungsreform in der Union beendet werden müsse und gab das Verfassungskonzept zu Gunsten eines Reformvertrages, der lediglich die bestehenden Verträge ändern soll, auf.79 Das künftige Vorgehen soll den im Ratifi76 Demgegenüber waren 22% der Befragten dafür, mit der Ratifikation des Verfassungsvertrages fortzufahren. 77 Siehe zu den Daten Eurobarometer 64, S. 130 ff. 78 Europäischer Rat, Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Ratifizierung des Vertrages über eine Verfassung für Europa, Tagung des Europäischen Rates am 16./17. Juni 2005, abrufbar unter: http:// europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=DOC/05/3&format=HTML&aged= 0&language=DE&guiLanguage=en (15.02.2007). 79 Vgl. dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs
1. Kap.: Bedeutung und Funktion für die EU
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zierungsverfahren deutlich gewordenen Befürchtungen der Bürger über die künftige Ausrichtung der Europäischen Union Rechnung tragen.80 Damit haben sich hinsichtlich des Verfassungsvertrages diejenigen durchgesetzt, die gegenüber einer „Integration von oben“ negativ eingestellt sind. Die Diskrepanz zwischen dem Erfolg und den Bemühungen um eine identitätsstiftende Politik lässt sich erklären, wenn man zwischen zwei Dimensionen von Integration unterscheidet.81 Es muss zwischen der institutionellen/wirtschaftlichen Integration und dem inneren Zusammenwachsen der Bürger im Sinne einer kollektiven Identität differenziert werden. Die Integrationsbemühungen auf europäischer Ebene waren in der Vergangenheit vor allem auf die institutionelle und wirtschaftliche Integration ausgerichtet. Die institutionelle/wirtschaftliche Integration findet vor allem durch die Vergemeinschaftung von Rechtsmaterien, durch die Vereinheitlichung und Angleichung des nationalen Rechts und die Etablierung der europäischen Grundfreiheiten statt. Bei dieser Form der Integration liegen andere Mechanismen zugrunde als bei der gesellschaftlichen Integration, die zu einer kollektiven Identität der Bürger führen kann. Im Rahmen der institutionellen Integration werden lediglich gewisse öffentliche Aufgaben vergemeinschaftet. Der Fortschritt dieser Form von Integration kann an der Anzahl und Bedeutung der vergemeinschafteten Politikbereiche, der Art und Weise der Beschlussfassung und der Verbindlichkeit von Beschlüssen gemessen werden. Die wirtschaftliche Integration zeigt sich demgegenüber daran, dass materielle Transaktionen grenzüberschreitend erfolgen, indem Waren, Arbeitnehmer, Dienstleistungen, Informationen und Kapital im Gemeinsamen Markt frei zirkulieren. Hier ist Recht gleichzeitig Mittel und Gegenstand der Integration. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürger spielt in diesem Bereich der Integration keine primäre Rolle. Davon gesondert muss die Frage der gesellschaftlichen Integration durch die Anregung von inneren, sozialpsychologischen Vorgängen bei den Bürgern gestellt werden. Hier findet eine Integration durch Recht nicht nur in seiner Eigenschaft als Verhaltensregel, sondern auch als emotionaler Kristallisationspunkt statt. Der Schwerpunkt der europäischen Integration lag bisher vor allem im Bereich der Vergemeinschaftung der Rechtsmaterien. Wenn in der Vergangenheit eine Politik zur Stiftung einer sozialpsychologischen kollektiven Identität im
/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 2, 15 sowie Europäischer Rat, Bericht des Vorsitzes an den Rat/Europäischen Rat, Brüssel den 14. Juni 2007, abrufbar unter: http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st10/st10659.de07.pdf (07.07.2007), S. 3, 5. 80 Europäischer Rat, Bericht des Vorsitzes an den Rat/Europäischen Rat, Brüssel den 14. Juni 2007, abrufbar unter: http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st10 /st10659.de07.pdf (07.07.2007), S. 2. 81 Siehe ausführlich zum Folgenden Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 88 ff.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Sinne einer auf die Bürger ausgerichteten Integration betrieben wurde, handelte es sich meist lediglich um Absichtserklärungen. Als Beispiele hierfür sind das Dokument zur europäischen Identität, der Tindemans-Bericht und die Feierliche Deklaration zur Europäischen Union zu nennen. Diese Erklärungen schlugen sich in der Regel nicht in konkreten politischen Maßnahmen nieder und sind den meisten Unionsbürgern daher nicht bekannt. Auch lag der Schwerpunkt der identitätsstiftenden Politik eher auf einer äußeren Abgrenzung der Europäer gegenüber der übrigen Welt und nicht auf ihrer positiven Selbstbestimmung als Gemeinschaft. Der Inhalt einer europäischen Identität blieb unbestimmt mangels Schaffung eindeutiger innengeleiteter Kategorien. So blieb für die meisten Bürger unklar, wofür das europäische Gemeinwesen steht. Angesichts der Heterogenität und Widersprüchlichkeiten des Kontinents wurden demzufolge kaum Kategorisierungsprozesse bei den Bürgern hinsichtlich der Ausbildung einer europäischen Identität angeregt. Die Verdichtung ökonomischen Austausches und die Vereinheitlichung der Rechtsordnung finden kein Gegenstück in der kollektiven Identität der Europäer. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Diskrepanz zwischen dem Erfolg der identitätsstiftenden Politik und den Bemühungen um eine europäische Identität erklären. 2. Kapitel
Entwicklungsgeschichte des Verfassungsvertrages – identitätsstiftende Ansatzpunkte der Verfassungsgebung Insbesondere der Verfassungssetzung wird die Chance zugeschrieben, eine kollektive Identität begründen zu können. Die Verfassungsgebung kann als Anfang des politischen Gemeinwesens benannt werden und damit als Bezugspunkt für eine kollektive Identität fungieren.1 Der Prozess der Bildung von Verfassungsinstitutionen gehört zur mittelbaren Integrationswirkung einer Verfassung.2 Allerdings weist das europäische Primärrecht bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt Verfassungsqualität auf.3 Folglich wäre ein Inkrafttreten des Europäi1 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 165. Die Bedeutung von Prozessen der Verfassungsgebung zeigt sich insbesondere am Beispiel der Verfassungsnation USA. In den USA wurde die Verabschiedung der Verfassung von 1787 sowohl von den Beteiligten als auch von den späteren Interpretationen als der maßgebliche Gründungsakt des amerikanischen Gemeinwesens verstanden. Siehe dazu Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 148; Rosenfeld, The European Treaty – Constitution and Constitutional Identity, S. 3 (5, 12, 14). 2 Siehe dazu von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170 f.) und oben S. 193 f. 3 Siehe dazu oben, S. 91 f. Zur Rechtsprechung des EuGH siehe EuGH 23.04.1985 – Les Verts/Parlament, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (1365 f.); EuGH 13.07.1990 – J. J. Zwartveld und andere, Rs. C 2/8, Slg. 1990 I-3365 (3372); EuGH 14.02.1991 – Gut-
2. Kap.: Entwicklungsgeschichte des Verfassungsvertrages
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schen Verfassungsvertrages nicht als Verfassungsneugebung zu qualifizieren gewesen, sondern eher als eine Verfassungsänderung mit dem Ziel der Verfassungsverbesserung.4 Bestimmte Teile der Gemeinschaftsverträge stellen zwar durchaus eine Verfassung im funktionalen Sinn dar. Allerdings ist eine Verfassung im formellen Sinn, die in einem einheitlichen Dokument kodifiziert ist, deren Normen Vorrang vor dem übrigen Recht haben und die einen änderungsfesten Verfassungskern besitzt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf europäischer Ebene nicht gegeben.5 Daher können die bislang normierten verfassungsmäßigen Teilelemente auf den unterschiedlichen Regelungsebenen grundsätzliche Verfassungsfunktionen nicht umfassend erfüllen.6 Vor allem die identitäts- oder integrationsstiftende Funktion einer Verfassung im Sinn der Integrationslehre Smends, die auch in den Konzepten des Verfassungspatriotismus anschaulichen Ausdruck gefunden hat, kann durch das bisherige Primärrecht nicht einmal ansatzweise zufrieden stellend erfüllt werden.7 Denn eine einheitliche Verfassungsurkunde im formellen Sinn, mit der sich die Bürger identifizieren können, ist gegenwärtig nicht vorhanden. Diesbezüglich sollte der Verfassungsvertrag Abhilfe schaffen.
A. Verfassungskonvent Bereits mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza ist der europäische Integrationsprozess in ein neues Stadium eingetreten. Dieses wird als Phase der Konstitutionalisierung bezeichnet.8 Eine breitere Öffentlichkeit nahm von diesem Prozess aber erst mit der Einsetzung eines Grundrechtekonvents9, der Humboldt-Rede Joschka Fischers10 und mit dem Scheitern der Regierungsachten 1/91, Slg. 1991, I-6079 (6102) (EWG-Vertrag als Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft); EuGH 28.03.1996 – Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, 1789 (EMRK-Gutachten). 4 So Mayer, Integration 2003, S. 398 (409); Mayer, EuZW 2003, S. 321 (321). 5 So auch Pache, EuR 2002, S. 767 (775). 6 Es gibt bislang mehr als fünfzehn Gründungs-, Änderungs-, Ergänzungs- und Beitrittsverträge. Diese enthalten viele technische und administrative Regelungen und umfassen mehr als 600 Artikel. Siehe dazu Pache, EuR 2002, S. 767 (775). 7 Pache, EuR 2002, S. 767 (776 f.). 8 Vgl. Jacqué, EuGRZ 2004, S. 551 (553); Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (544). 9 Der Beschluss zur Einsetzung dieses Gremiums fiel im Juni 1999 auf dem Gipfel von Köln. Die erste konstituierende Sitzung fand am 17. Dezember 1999 statt; Rack/ Fraiss, FS für Mantl II, S. 1121 (1124). 10 Mit dieser Rede an der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000 initiierte der damalige deutsche Außenminister eine umfassende öffentliche Debatte. In der Folgezeit äußerten sich auch andere hochrangige Politiker aus den Mitgliedstaaten sowie der damalige Kommissionspräsident Romano Prodi zur zukünftigen Struktur Europas. Dabei wurde auch mehrfach der Ruf nach einer europäischen Verfassung laut; Rack/Fraiss, FS für Mantl II, S. 1121 (1124).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
konferenz von Nizza Kenntnis.11 Aufgrund der wenig überzeugenden Ergebnisse der Regierungskonferenz forcierte man mit der Einrichtung eines Konvents eine neuartige Einigungsmethode in Europa.12 Anders als bei den bisherigen Vertragsverhandlungen trafen sich die Staats- und Regierungschefs nicht hinter verschlossenen Türen, um die wichtigen Entscheidungen für Europa zu treffen. Vielmehr erarbeitete ein extra dafür eingesetzter Konvent die Grundrechtecharta. Die Konventsmethode sollte sich zunächst bei der Ausarbeitung einer Grundrechtecharta für die Europäische Union bewähren. Damit wurde ein in der bisherigen Geschichte der europäischen Integration neuartiges Verfahren gewählt.13 Mit dem Konventsverfahren sollte vor allem der spezifische Beratungs- und Entscheidungsmodus eines öffentlich tagenden und Öffentlichkeit generierenden Forums getestet werden.14 Damit wurde die Erwartung verbunden, dass durch den von Argumenten und nicht von politischem Kalkül geprägten Entscheidungsprozess im Konvent eine transnationale und breitere Öffentlichkeit entsteht als dies bei den Regierungskonferenzen der Fall war.15 Die Konventsmethode sollte wesentliche Mängel der Methode der Regierungskonferenzen wie Intransparenz, Einstimmigkeitszwang und geringe parlamentarischer Einflussnahme beheben.16 Das Konventsverfahren wird als demokratischer und rationaler als die Regierungskonferenzen angesehen.17 Als der Grundrechtekonvent unter der Leitung von Roman Herzog seine Arbeit erfolgreich beendete, beschlossen die Staats- und Regierungschefs der damals 15 Mitgliedstaaten mit der „Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union“ vom 15. Dezember 2001 die Einberufung eines „Konvents zur Zukunft Europas“.18 Diesem Konvent wurde aufgegeben, „die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die künftige Entwicklung der Union aufwirft, und sich um verschiedene mögliche Antworten zu bemühen“ 19. Von der Einberufung ei11
Rack/Fraiss, FS für Mantl II, S. 1121 (1124). Schmuck, Integration 2003, S. 162 (163). 13 Der Erfolg des Grundrechtekonvents machte erst die Erweiterung der Konventsmethode zur Erarbeitung eines Verfassungsvertrages möglich; Göler/Marhold, Integration 2003, S. 317 (318); Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (216). 14 Maurer, Integration 2003, S. 130 (131). 15 Das Konventsprinzip wurde aus diesem Grund auch im Verfassungsvertrag in Art. IV-443 Abs. 2 VVE verankert; Maurer, Integration 2003, S. 130 (131). 16 Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (218). 17 Maurer, Integration 2003, S. 130 (131). 18 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Laeken am 14./15. Dezember 2001, abrufbar unter: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs /pressData/de/ec/68829.pdf (12.02.2007), S. 24. Siehe dazu auch Pache, EuR 2002, S. 767 (769 f.). 19 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Laeken am 14./15. Dezember 2001, abrufbar unter: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs /pressData/de/ec/68829.pdf (12.02.2007), S. 24. 12
2. Kap.: Entwicklungsgeschichte des Verfassungsvertrages
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nes Verfassungskonvents war also nicht ausdrücklich die Rede.20 Der Europäische Rat thematisierte lediglich an einer Stelle seiner Ausführungen die Frage, ob die „Vereinfachung und Neuordnung“ der Verträge „nicht letztlich dazu führen sollte, dass in der Union ein Verfassungstext angenommen wird.“ Der Verfassungskonvent war dementsprechend keine verfassungsgebende Versammlung, sondern er hatte lediglich ein beratendes Mandat.21 Er war an die Vorgaben des Europäischen Rates von Laeken gebunden. Trotzdem wurde der einberufene Konvent bald als Verfassungskonvent bezeichnet.22 Mit der Eröffnungssitzung vom 28. Februar 2002 begann er in Brüssel seine Arbeit.23 Der Verfassungskonvent war vor allem auf eine Integration der Bürger im Rahmen des Diskussionsprozesses um eine europäische Verfassung ausgerichtet.24 Die Voraussetzungen für das Gelingen gesellschaftlicher Diskurse wurden bereits im Rahmen der Diskurstheorie von Jürgen Habermas erörtert.25 Auch in der Theorierichtung des Liberalismus wurden die Bedingungen angesprochen, die für eine produktive Konfliktbewältigung notwendig sind.26 Demzufolge kann die Konfliktaustragung unter bestimmten Voraussetzungen als Integrationsmodus wirken. In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung von Institutionen hervorgehoben, innerhalb derer verbindliche Formen zur Konfliktaustragung ermöglicht werden. Ein Beispiel dafür kann die Arbeitsmethode des Verfassungskonvents sein. Die Konventsmethode orientierte sich am diskurstheoretischen Prinzip einer Verständigung unter Gleichen.27 Der Konvent bot auch ein Forum, welches die maßgeblichen Diskursteilnehmer und deren Beiträge für die Bürger
20
Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (753). Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 14. 22 Damit rückte der Begriff „Konvent“ diesen in einen historischen Kontext mit dem Konvent von Philadelphia, der US-amerikanischen verfassungsgebenden Versammlung von 1787, die die heute noch geltende Verfassung des amerikanischen Bundesstaates ausarbeitete, sowie dem der Französischen Revolution oder dem Herrenchiemseekonvent. Diese Vergleiche erwiesen sich aber als haltlos, der Konvent musste sich selbst neu erfinden. Siehe dazu den Beitrag des Präsidiumsmitglieds Hänsch, Integration 2003, S. 331 (331) sowie Göler/Marhold, Integration 2003, S. 317 (318); Peters, EuR 2004, S. 372 (383). 23 Pache, EuR 2002, S. 767 (769 f.). 24 Europäischer Konvent, Vorwort Entwurf VVE. 25 Siehe dazu Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138 ff. und oben S. 213 bzw. S. 217 f. 26 Limbach, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 315 (320 f.); Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 170 f.; Denninger, in: Benda et al. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 16, Rn. 73; Dubiel, in: Heitmeyer (Hrsg.) Was hält die Gesellschaft zusammen? Band 2, S. 425 (428) und oben S. 209 f. 27 So vertreten von Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (217) für den Grundrechtekonvent. 21
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
identifizierbar machen konnte.28 Die Arbeit des Konvents fand als ein stark institutionalisierter, öffentlich diskursiver Prozess statt.29 Ob die Einbeziehung der Bürger ausreichend erfolgreich war, um das integrative Potential des Konventsverfahrens zu nutzen, ist im Folgenden zu klären. I. Zusammensetzung Der Verfassungskonvent umfasste insgesamt 105 Mitglieder mit ebenso vielen Stellvertretern. Er setzte sich zusammen aus drei Präsidenten, die vom Europäischen Rat ernannt wurden, und zwölf sonstigen Mitgliedern des Präsidiums.30 Daneben gab es 28 Regierungsvertreter. Dies waren einerseits die Vertreter aus den 15 Mitgliedstaaten und andererseits wurden Vertreter der 13 Kandidatenländer für den Beitritt erstmals gleichberechtigt in die Entscheidungsabläufe einbezogen.31 Die Kommission entsandte zwei Mitglieder in den Konvent. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Ausschuss der Regionen, die Sozialpartner und der Europäische Bürgerbeauftragte waren insgesamt durch 13 Beobachter vertreten. Die übrigen Konventsteilnehmer waren Parlamentarier.32 Der Konvent setzte sich damit zwar in der Mehrheit aus Abgeordneten zusammen. Jeder Mitgliedstaat konnte aber nur zwei Parlamentarier entsenden. Die Zusammensetzung des Konvents war damit weder für die politischen Gruppierungen der nationalen Parlamente repräsentativ noch war die Bevölkerung nach Größe des jeweiligen Mitgliedstaates proportional vertreten.33
28 So vertreten für den Grundrechtekonvent von Lerch, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 215 (218). 29 So vertreten von Lerch, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 215 (217) für den Grundrechtekonvent. 30 Siehe zur Zusammensetzung des Konvents Blumenwitz, ZfP 2004, S. 115 (117); Lenz/Borchardt, Vertrag über eine Verfassung für Europa, Einführung, S. 10; Oppermann, DVBl. 2003 1. Teil, S. 1166 (1166). 31 Rack/Fraiss, FS für Mantl II, S. 1121 (1122). Damit berücksichtigte der Verfassungskonvent bereits die Erweiterung der Europäischen Union, obwohl die Verhandlungen über die neuen Mitgliedschaften während der Konventsarbeit noch liefen. Gegen diese „antizipierte Erweiterung“ ergaben sich im Konvent keine Einwände. Außerdem waren die Bewerberländer zwar in vollem Umfang an den Beratungen beteiligt. Es war ihnen aber nicht möglich, einen sich zwischen den Mitgliedstaaten abzeichnenden Konsens zu verhindern. Siehe dazu Blumenwitz, ZfP 2004, S. 115 (117). 32 Davon gehörten 16 dem Europäischen Parlament an. Jeder Mitgliedstaat und jeder Kandidatenstaat benannte darüber hinaus je zwei nationale parlamentarische Abgeordnete, insgesamt also 56 Mitglieder der nationalen Parlamente. Insgesamt bestand der Konvent zu 2/3 aus Parlamentariern und zu 1/3 aus Vertretern der Regierungen; vgl. Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (67). 33 Hänsch, Integration 2003, S. 331 (332).
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II. Öffentlichkeit Neu geschaffene Identifikationsobjekte können nur dann einen Einfluss auf die Ausprägung einer kollektiven Identität haben, wenn es in der Bevölkerung zu Kommunikation über sie kommt.34 Die Erklärung von Laeken gab vor, dass die Konventsarbeit auf einer öffentlichen Debatte basieren müsse und dass die „Erörterungen und sämtliche offiziellen Dokumente (. . .) für die Öffentlichkeit zugänglich sein müssten“.35 Der Verfassungskonvent bediente sich zahlreicher Instrumente, um Diskussionen, Positionen und Lernprozesse über den Verlauf der Konventsberatungen transparent zu machen. Die Arbeit der jeweiligen Konventsmitglieder – vor allem derjenigen aus den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament – war stark auf die Öffentlichkeitsarbeit gerichtet, um sich den Erwartungen und Befürchtungen der Bürger zu stellen.36 Der Konvent tagte öffentlich und es wurden – bis auf die Protokolle der Präsidiumssitzungen – sämtliche Beiträge auf der Homepage des Konvents dokumentiert.37 Es fanden auch Online-Debatten zu einzelnen Konventsthemen statt.38 Jeder Bürger in der Union hatte während des Konventsverfahrens auf diese Weise die Möglichkeit, an den Debatten via Internet teilzunehmen.39 Im Kommunikationsprozess zwischen den Konventsmitgliedern und den interessierten Bürgern kam den neuen Möglichkeiten des Internet damit entscheidende Bedeutung zu.40 34
Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 165. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Laeken am 14./15. Dezember 2001, abrufbar unter: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/press Data/de/ec/68829.pdf (12.02.2007), S. 25. Siehe dazu Peters, EuR 2004, S. 375 (384). 36 Maurer, Integration 2003, S. 130 (133 f.). 37 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Zukunft der Europäischen Union – Diskussion, abrufbar unter: http://europa.eu.int/futurum/index_de.htm (10.01. 2007). Diese Website trägt den Namen „Futurum“ und ist die interinstitutionelle Website für die Debatte über die Zukunft der Europäischen Union im Allgemeinen und über den Prozess zur Erarbeitung der Europäischen Verfassung im Besonderen. Dieses Portal soll als Referenz- und Informationsquelle für die Debatte dienen. Es wird bezweckt, möglichst viele Dokumente und Links mit Bezug zur Ausarbeitung der Verfassung auf dem neuesten Stand zu halten bzw. zu veröffentlichen, die zu ihrem Verständnis nötigen Informationen zu erteilen und der Zivilgesellschaft die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung im Rahmen eines echten europäischen öffentlichen Raums Ausdruck zu verleihen. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Über Futurum, abrufbar unter: http://europa.eu.int/constitution/futurum/about_futurum_de.htm (10.01.2007). 38 Weltweit verwiesen etwa 67.500 Webseiten anderer Institutionen auf die Homepage des Verfassungskonvents. Dabei haben eine direkte Verknüpfung zur Homepage des Konvents ca. 5250 Institutionen angelegt. Siehe dazu und zu den weiteren Bemühungen der Einbeziehung der Bürger in die Arbeit des Konvents Maurer, Integration 2003, S. 130 (133 f.). 39 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 14 f. 40 Schmuck, Integration 2003, S. 162 (165). 35
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Die Informationen aus dem Konvent waren über dieses Medium jederzeit und an jedem Ort für alle Bürger abrufbar. Dies stellte eine maßgebliche Verbesserung des Dialoges zum Verfassungsprozess gerade in einem multilingualen Gemeinwesen dar.41 Vor allem auch in der Einbeziehung der Zivilgesellschaft wurde die Chance gesehen, die Legitimation europäischer Integrationsschritte zu steigern.42 Auf die Mitarbeit von Organisationen der Zivilgesellschaft mittels einer breiten öffentlichen Debatte wurde großer Wert gelegt.43 Die Öffentlichkeit sollte die Arbeiten des Konvents nicht nur genau verfolgen, sondern auch eigene Beiträge leisten können.44 Zumindest auf der Ebene der Europäischen Union ist man diesem Ziel ein Stück weit näher gekommen. Allerdings näherte sich vor allem in den letzten Wochen der Schlussphase die Arbeitsmethode des Konventspräsidiums immer mehr der einer Regierungskonferenz an. Entgegen der allgemein herrschenden Transparenz tagte das Präsidium unter Ausschluss der Öffentlichkeit.45 Die Tagesordnung und die Protokolle des Konventspräsidiums zur Beratung blieben geheim und waren nur auf informellem Weg und nicht über die Konventshomepage zugänglich. Daher wurden die Bemühungen um die Öffentlichkeit auch teilweise für Makulatur gehalten.46 Angesichts der Eurobarometer-Umfragen aus dem Frühjahr 2002 und 2003 kann bezweifelt werden, ob die Einbeziehung einer europaweiten Öffentlichkeit gelungen ist. In keinem Mitgliedstaat hat die Mehrheit der Bevölkerung von dem Verfassungskonvent etwas gehört oder gelesen.47 Im EU-Durchschnitt der damals 15 Mitgliedstaaten haben im Frühjahr 2002 nur etwa 28% der Bürger 41 Siehe zur Problematik einer wirklichen Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Konventsarbeit Schmuck, Integration 2003, S. 162 (165). 42 Die Erklärung von Laeken nennt in diesem Zusammenhang Sozialpartner, Wirtschaftskreise, nichtstaatliche Organisationen und Hochschulen, die regelmäßig über die Arbeiten des Konvents unterrichtet werden und deren Beiträge in die Debatte einfließen sollen. Vgl. dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Laeken am 14./15. Dezember 2001, abrufbar unter: http://ue.eu.int/ueDocs /cms_Data/docs/pressData/de/ec/68829.pdf (12.02.2007), S. 25. Siehe ausführlich dazu Schmuck, Integration 2003, S. 162 (162 f.). 43 So hatten im Rahmen des Grundrechtekonvents etwa 150 Nichtregierungsorganisationen anlässlich eines Hearings die Gelegenheit, vor 15 anwesenden Konventsmitgliedern ihre Ansichten darzustellen. Dabei kam es aber nach der Ansicht von Maurer, Integration 2003, S. 130 (132 f.); Schmuck, Integration 2003, S. 162 (163) nicht zu einem wirklichen Erfahrungsaustausch mit den Konventsmitgliedern. 44 Im Februar 2002 wurde eine „Kontaktgruppe Zivilgesellschaft“ gegründet, der die acht großen Umwelt-NGOs, die Plattform der sozialen NGOs, die „Rights Contact Group“, das Internetwerk der Entwicklungs-NGOs, der Verbindungsausschuss der europäischen Entwicklungs-NGO sowie der Europäische Gewerkschaftsbund angehören. Siehe dazu, wie die diese Gruppen auf die Arbeit des Konvents einwirkten, Schmuck, Integration 2003, S. 162 (163 f.). 45 Rack/Fraiss, FS für Mantl II, S. 1121 (1132). 46 Siehe dazu Peters, EuR, S. 375 (385 f.).
2. Kap.: Entwicklungsgeschichte des Verfassungsvertrages
263
etwas vom Verfassungskonvent gehört oder gelesen48, ein Jahr später waren es 30%.49 Weiterhin schätzten lediglich 35% der Befragten die Rolle des Konvents in der Europäischen Union als wichtig ein.50 Über die Hälfte der Befragten konnte diese Frage überhaupt nicht beantworten.51 Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass auch die Detailkenntnisse der EU-Bürger über die Aufgabenstellung, über die Arbeit an Reformvorschlägen und über die Vertretungen der Regierungen der Mitgliedstaaten in dieser Institution gering sind.52 Dies bestätigen auch die Eurobarometer-Umfragen zum Verfassungsvertrag. Im Frühjahr 2006 haben 67% der Bürger der Europäischen Union zwar schon von dem Europäischen Verfassungsvertrag gehört; sie geben aber an, nur sehr wenig darüber zu wissen. Jeder fünfte Bürger hat darüber hinaus bis heute nichts über den Europäischen Verfassungsvertrag gehört.53 Außerdem kennen die Bürger kaum die Inhalte des Verfassungsvertrages.54 Folgerichtig ist einer der Hauptgründe für seine Ablehnung durch die Bürger der Mangel an Information.55 Das Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden zeigt, dass es im Rahmen des Verfassungskonvents nicht gelungen ist, das Verfassungsprojekt zum Ausgangspunkt für eine gesellschaftsweite Diskussion über die Ziele der europäischen Integration zu machen.56 Das Desinteresse der Bevölkerung wurde nicht überwunden und der Vertragstext ist in seinen wesentlichen Zügen dem juristisch nicht gebildeten Bürger kaum verständlich. III. Unabhängigkeit der Konventsmitglieder Die Zahl der von jedem Mitgliedstaat in den Konvent entsendeten Vertreter war unabhängig von der Größe, dem wirtschaftlichen Gewicht oder der strategi47 Siehe zum Folgenden auch Niedermayer, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 435 (437 f.). 48 Eurobarometer 57, S. 16. 49 Eurobarometer 59, S. 69. 50 Eurobarometer 59, S. 70. 51 Diesbezüglich wird von Peters, EuR, S. 375 (385) die Gefahr einer „Komplexitätsfalle“ erkannt. Denn die Unübersichtlichkeit der öffentlichen Plattformen ist für den Bürger in Anbetracht der Komplexität der Materie und der Quantität der Diskussionsteilnehmer kaum weiter reduzierbar. 52 Vgl. Eurobarometer 59, S. 69, S. 84 ff. 53 18% der Befragten hatten noch nie etwas über den Verfassungsvertrag gehört. Demgegenüber gaben 15% der Befragten an, darüber gut Bescheid zu wissen; vgl. Eurobarometer 65, S. 144. 54 Siehe zu den genauen Kenntnissen der Bürger die Umfrage von Eurobarometer 63, S. 140 f. 55 Dies ist mit 28% nach der Befürchtung die nationale Eigenständigkeit zu verlieren, der zweithäufigst genannte Grund für eine Ablehnung des Verfassungsvertrages; vgl. Eurobarometer 63, S. 148. 56 Blanke, EuR 2005, S. 787 (789).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
schen Bedeutung eines Staates.57 Vor allem für die Vertreter der nationalen Parlamente stellte sich die Frage der unabhängigen Teilnahme an den Entscheidungsprozessen im Konvent. Denn sie waren als Vertreter der nationalen Parlamente stärker als die Europaparlamentarier und die Vertreter der Staats- und Regierungschefs auf Gutachten aus ihren Parlamenten angewiesen. Sie waren damit anfälliger für eine Einflussnahme durch die jeweiligen nationalen Parlamente als die Europaparlamentarier oder die Staats- und Regierungschefs.58 Interessanterweise ließ sich aber gegen Ende der Konventsarbeiten beobachten, dass sich immer mehr Abgeordnete länderübergreifend an den Änderungsvorschlägen ihrer jeweiligen europäischen Parteifamilie orientierten.59 Insofern gelang es auch den Vertretern der nationalen Parlamente im Verfassungskonvent unabhängig von nationalstaatlicher Einflussnahme zu agieren. IV. Gleichheit der Delegierten Die Einflussmöglichkeiten der Konventsmitglieder auf den Entstehungsprozess des Verfassungsvertrages divergierten je nach ihrer politischen Stellung. Einige Mitglieder hatten innerhalb des Konvents mehr Einfluss als andere. Besonderes Gewicht bei der Erarbeitung des Verfassungsvertrages hatte das Konventspräsidium und insbesondere dessen Präsident Valery Giscard d’Estaing. Dieser hatte durch seine Ernennung im Gremium der Staats- und Regierungschefs die stärkste Position inne.60 Das Präsidium versuchte in seiner Arbeit insgesamt, die Stellungnahme der Staats- und Regierungschefs zum Verfassungsvertrag vorweg zu nehmen und orientierte sich stark an dem, was Akzeptanz im Europäischen Rat finden würde.61 Valery Giscard d’Estaing machte seinen Einfluss vor allem im Oktober 2002 geltend und veröffentlichte einen Vorentwurf für den Verfassungsvertrag. Dadurch traf Giscard d’Estaing mit seinem Präsidium einige nicht im Plenum abgestimmte bzw. gegen den ausdrücklich erklärten Willen der Konventsmehrheit formulierte Vorfestlegungen. Diese konnten im Nachhinein kaum mehr rückgängig gemacht werden.62 Denn mit diesem 57 Es wurden sowohl von den Mitliedstaaten als auch von den Beitrittskandidaten zur Europäischen Union je ein Vertreter der Staats- und Regierungschefs und je zwei Vertreter ihrer nationalen Parlamente entsandt; Maurer, Integration 2003, S. 130 (134). 58 Maurer, Integration 2003, S. 130 (136). 59 Diese Änderungsvorschläge wurden in der Regel von den Vertretern des Europäischen Parlaments entworfen; Maurer, Integration 2003, S. 130 (136). 60 Maurer, Integration 2003, S. 130 (137); Göler/Marhold, Integration 2003, S. 317 (321). 61 Göler/Marhold, Integration 2003, S. 317 (320). 62 Beispiele für derartige Vorfestlegungen sind die herausgehobene Stellung des Europäischen Rates, die Funktion des EU-Präsidenten und der sich logisch nicht aus der Institutionsordnung der Europäischen Union ergebende Verfassungstitel zum „demokratischen Leben“. Auch die in der Schlussphase des Konvents entworfene Präambel
2. Kap.: Entwicklungsgeschichte des Verfassungsvertrages
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Vorentwurf wurde in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, als habe sich der Konvent mehrheitlich in Richtung des Präsidialvorschlages geäußert, was tatsächlich nicht der Fall war. Darüber hinaus wurden alle Debatten im Plenum auf der Grundlage von Vorlagen aus dem Präsidium oder von durch das Präsidium aufbereiteten Ergebnissen der Arbeitsgruppen geführt.63 Die Gleichheit der Konventsmitglieder als normative Voraussetzung zur integrativen Austragung von Konflikten und Diskursen war innerhalb des Verfassungskonvents angesichts des großen Einflusses des Präsidiums nicht vollständig verwirklicht. V. Rational motivierter Konsens Ein echter Konsens ist in der Regel erst das Ergebnis intensiver Auseinandersetzungen.64 Die Diskursteilnehmer müssen die Bereitschaft haben, ihre Interessen und Präferenzen im Licht der vorgebrachten Argumente zu überdenken und sich gegebenenfalls überzeugen zu lassen.65 Konsens lässt sich nur über einen längeren Zeitraum und auch nur dann erreichen, wenn den Akteuren das Gesamtergebnis ihrer Beratungen verdeutlicht wird.66 Der Verfassungskonvent tagte über einen Zeitraum von 16 Monaten.67 Sein Arbeitsprogramm umfasste drei Phasen.68 In der Anhörungsphase wurden die Erwartungen und Bedürfnisse der Mitgliedstaaten ermittelt. Der Vergleich der verschiedenen Meinungen und die Beurteilung ihrer Tragweite und ihrer Auswirkungen prägte die Reflektionsphase. In der Schlussphase sollte eine Synthese der verschiedenen Vorschläge erfolgen. Dabei war es von Anfang an das erklärte Ziel der Konventsmitglieder, einen vollständigen Verfassungsvertrag zu erarbeiten. Ebenso wurde die Konventsarbeit in der Schlussphase von der Einsicht bestimmt, dass nur ein im Konsens vorgelegtes Ergebnis Aussicht auf Annahme durch den Europäischen Rat haben würde.69 Aus diesem Grund entdes Verfassungsvertrages stammt aus der Feder von Giscard d’Estaing. Vgl. Maurer, Integration 2003, S. 130 (138). 63 Hänsch, Integration 2003, S. 331 (332). 64 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 1, Rn. 11. Siehe dazu auch oben S. 206. 65 Göler/Marhold, Integration 2003, S. 317 (324); Habermas, Faktizität und Geltung, S. 392. Siehe dazu auch die Konzeption von Habermas oben S. 214 f. und 217 ff. 66 Maurer, Integration 2003, S. 130 (139). 67 Dabei umfasste die Arbeit des Konvents 26 Plenartagungen mit über 1800 Wortmeldungen an insgesamt 52 Tagen; Lenz/Borchardt, Vertrag über eine Verfassung für Europa, Einführung, S. 10. 68 Siehe dazu Lenz/Borchardt, Vertrag über eine Verfassung für Europa, Einführung, S. 10. 69 Göler/Marhold, Integration 2003, S. 317 (319).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
schied sich das Präsidium dafür, ausschließlich nach dem Konsensprinzip vorzugehen und keine formalen Abstimmungen zuzulassen weder über einzelne Normen noch über das Gesamtergebnis.70 Dem lag der Gedanke zugrunde, dass nur ein einheitlicher Verfassungsvertrag ohne gewichtigen Widerspruch im Konvent zur Grundlage der Beratungen der Regierungskonferenz werden würde. In diesem Bereich wirkte das Konsensprinzip, das auch im Präsidium galt, als besonders innovatives Verfahren. Dadurch konnte kein Mitglied des Konvents über seine Positionen mit den anderen strategisch verhandeln und Zugeständnisse für seine nationale Position aushandeln. Vielmehr war eine logische und fundierte Argumentation erforderlich, um die anderen Konventsmitglieder jeweils zu überzeugen und ein Ergebnis zu erzielen.71 Dies führte zu intensiven und produktiven Auseinandersetzungen im Konvent. Man konnte trotz der unterschiedlichen Positionen der Teilnehmer einen Grundkonsens erzielen und einen einheitlichen Verfassungsentwurf für Europa erarbeiten.72 Am 13. Juni 2003 feierte der Verfassungskonvent die Verabschiedung seines Schlussdokuments per Akklamation.73 VI. Zwischenergebnis Es bestehen Verbesserungsmöglichkeiten im Hinblick auf das Konventsverfahren. So führte die Internetpräsenz zwar zu besseren Informationsmöglichkeiten für die europäischen Bürger. Allerdings wurde eine europaweite Debatte um den Europäischen Verfassungsvertrag durch das Konventsverfahren nicht initiiert. Auch die Gleichheit der Konventsmitglieder war angesichts der mächtigen Einflussnahme des Präsidiums nicht voll verwirklicht. Insgesamt ist aber die größere Transparenz und die neue Beratungs- und Verhandlungslogik des Konvents hervorzuheben.74 Auch wenn sich in der Schlussphase des Konvents verstärkt Elemente einer intergouvernementalen Verhandlungslogik beobachten ließen, machten diese Elemente nicht das zentrale Charakteristikum des Ge-
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Hänsch, Integration 2003, S. 331 (333). Hänsch, Integration 2003, S. 331 (332). 72 Die Vertreter der nationalen Parlamente, des Europaparlaments, die Regierungsvertreter und die Mitglieder der Kommission signalisierten ebenso ihre Zustimmung wie die großen politischen Strömungen. Dadurch wurde der Konsens gebildet, der sich am Ende durch Applaus äußerte. An diesem Konsens wird bemängelt, dass die konkreten Artikelentwürfe weder in mehreren Lesungen diskutiert noch der Gesamtentwurf in allen Teilen mindestens zwei Mal begutachtet wurde; Maurer, Integration 2003, S. 130 (139). Rack/Fraiss, FS für Mantl II, S. 1121 (1121). 73 Rack/Fraiss, FS für Mantl II, S. 1121 (1121). 74 Insbesondere die Erarbeitung einzelner Themenkomplexe in den Arbeitsgruppen hat zu einer offenen Arbeitsweise geführt. Der Konvent richtete elf Gruppen und drei Arbeitskreise mit jeweils eigenem spezifischen Auftrag ein; Lenz/Borchardt, Vertrag über eine Verfassung für Europa, Einführung, S. 11. 71
2. Kap.: Entwicklungsgeschichte des Verfassungsvertrages
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samtprozesses aus.75 Daher stellt die Konventsmethode einen Schritt in Richtung öffentlicher Verfassungsentwicklung dar, der zu einer Legitimation des europäischen Primärrechts beitragen kann.76 Im Ergebnis ist die Konventsmethode zur Konsensfindung in der Europäischen Union der Methode der Regierungskonferenzen überlegen. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass der Vorsitz des Europäischen Rates am 14. Juni 2007 vorgeschlagen hat, zur Methode der Vertragsänderung zurückzukehren und den Vertrag von Lissabon von einer Regierungskonferenz verabschieden zu lassen.77 Dieser Vorschlag wurde auch in das bindende Mandat des Europäischen Rates an die Regierungskonferenz aufgenommen. Eine weitere Entwicklung in Richtung eines öffentlichen Verfassungsprozesses ist damit für den Ratifikationsprozess des Vertrages von Lissabon nicht möglich.78
B. Europaweites Referendum als Alternative zum Konventsverfahren Eine konsultative Volksbefragung, die sich im Zusammenhang mit den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 angeboten hätte, wurde nicht durchgeführt und die Chance eines europaweiten Referendums vertan. Der Europäische Verfassungsvertrag sieht eine Volksbefragung als Wirksamkeitsvoraussetzung ebenso wie der Vertrag von Lissabon auch nicht vor. Gemäß Art. IV447 Abs. 1 VVE bzw. dem korrespondierenden Art. 6 des Vertrages von Lissabon ist die Ratifikation durch die Hohen Vertragsparteien gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften Voraussetzung für das Inkrafttreten.79 Demnach konnten im Zusammenhang mit der Ratifikation des Europäischen Verfassungsvertrages ebenso wie bei der Ratifikation des Vertrages von Lissabon nur noch auf mitgliedstaatlicher Ebene plebiszitäre Elemente zum Tragen kommen. Es ist weitgehend unumstritten, dass eine europaweite Öffentlichkeit bislang nicht besteht.80 Politische Öffentlichkeit vermittelt aber in demokratischen Gemeinwesen zwischen der Zivilgesellschaft, den Bürgern und ihren Interessen75
Göler/Marhold, Integration 2003, S. 317 (328). Ebenso Peters, EuR 2004, S. 375 (375). 77 Europäischer Rat, Bericht des Vorsitzes an den Rat/Europäischen Rat, Brüssel den 14. Juni 2007, abrufbar unter: http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st10 /st10659.de07.pdf (07.07.2007), S. 5. 78 Dies betrifft aber nicht künftige Vertragsänderungen, denn nach Art. 48 Abs. 3 EU n. F. besteht im ordentlichen Änderungsverfahren für die Verträge weiterhin die Möglichkeit, einen Konvent einzuberufen. 79 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Vertrag von Lissabon, S. 135. 80 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 191. Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (247 ff.); Peters, EuR 2004, S. 372 (377). 76
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
gruppen auf der einen und den politischen Entscheidungsträgern auf der anderen Seite.81 Wenn die Schaffung politischer Öffentlichkeit erfolgreich verläuft, kann sie die Entstehung eines Netzes politischer Öffentlichkeit befördern und einen Beitrag zur Ausbildung einer kollektiven Identität leisten.82 In normativtheoretischer Hinsicht meint Öffentlichkeit sowohl die Bürgerschaft als auch den Raum, in dem Informationen in einer Gesellschaft verbreitet werden, Diskussionen und Meinungsbildungen stattfinden und Kritik formuliert wird. Eine interessierte Öffentlichkeit hat in der Demokratie die wichtige Funktion der Kontrolle der Exekutive sowie der Ermöglichung einer Kommunikationssphäre und einer Partizipation der Bürger am politischen Prozess.83 Diesbezüglich ist festzuhalten, dass es empirisch „die“ Öffentlichkeit weder auf der Ebene des Nationalstaates, noch auf der Ebene der Europäischen Union gibt. Vielmehr gibt es in Bezug auf bestimmte Materien nur Teilöffentlichkeiten, Fachöffentlichkeiten und fragmentarisierte Öffentlichkeiten.84 Eine europäische Öffentlichkeit kann daher grundsätzlich sowohl als eine die nationalstaatlichen Öffentlichkeiten überlagernde eigenständige europäische Öffentlichkeit oder als eine Europäisierung der jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten durch Verkopplung unterschiedlicher nationaler, regionaler oder sektoraler Teilsphären konzipiert werden.85 Die Anforderungen an die Existenz einer politischen Öffentlichkeit können auch dann als erfüllt gelten, wenn gesellschaftliche Verständigungs- und Willensbildungsprozesse durch eine Verkopplung unterschiedlicher Teilöffentlichkeiten möglich werden.86 Voraussetzung für eine europäische Öffentlichkeit ist demzufolge, dass die jeweiligen Teilöffentlichkeiten auf Europa bezogen sind und die Bürger in ihrer Muttersprache – vermittelt über die nationalen Massenmedien – an den Diskussionen über in Europa zur Entscheidung stehende Themen teilnehmen können.87 Aus diesem Grund kann eine europaweite Öffentlichkeit auch durch die Kommunikationsprozesse im Zusammenhang mit der Durchführung mitgliedstaatlicher Referenden entstehen. In vielen Mitgliedstaaten war ein Referendum zur Ratifikation des Verfassungsvertrages geplant.88 Angesichts der mangelnden Informiertheit der Bürger
81 Gerhards, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte in Europa, S. 558 (558). 82 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 154; Meyer, Die Identität Europas, S. 169; Gerhards, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte in Europa, S. 558 (559). 83 Peters, EuR 2004, S. 372 (376). 84 Peters, EuR 2004, S. 375 (376). 85 Gerhards, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte in Europa, S. 558 (560); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 191. 86 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 192. 87 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 192; Peters, EuR 2004, S. 372 (376).
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über das Konventsverfahren und den ausgehandelten Verfassungsvertrag stellt sich die Frage, ob unter dem Aspekt der Identitätsstiftung europaweite mitgliedstaatliche Referenden dem Konventsverfahren überlegen wären.89 Eine starke Verfassungsgeprägtheit des öffentlichen Diskurses im Zusammenhang mit der Durchführung eines Referendums ist der unmittelbar identitätsstiftenden Wirkung einer Verfassung zuzuordnen.90 I. Vorteile Einerseits wird vertreten, ein Verfassungsgesetz für Europa bedürfe der Vorbereitung durch eine eigens für diese Aufgabe gewählte europäische Nationalversammlung, über deren Ergebnis schließlich das europäische Volk abstimmen müsste.91 Denn der bisherige Ausschluss der Bürger von der schrittweisen Verfassungsgebung wird als eine Ursache des europäischen Demokratiedefizits angesehen.92 Nach dieser Richtung setze ein Europäischer Verfassungsvertrag Referenden der Völker voraus.93 Die europäischen Bürger sollen bei wichtigen Verfassungsreformen der Zukunft unmittelbar beteiligt sein.94 Vor allem Jürgen Habermas betont in seiner Version eines europäischen Verfassungspatriotismus die besondere Bedeutung einer unmittelbar demokratischen Verabschiedung der europäischen Verfassung.95 Davon erhofft er sich eine Intensivierung derjenigen gesellschaftlichen Prozesse, die in der Bevölkerung Solidarität entstehen lassen. Europa muss demzufolge den Prozess, in dem sich der demokratische Staat und die Nation gegenseitig hervorgebracht haben, auf sich selbst anwenden. Am Anfang dieses Prozesses soll nach der Ansicht von Habermas ein Verfassungsreferendum stehen, das eine große europaweite Debatte in Gang setzt. Die mit der Verfassungsgebung einhergehenden Vergemeinschaf88 In folgenden Mitgliedstaaten war ein Referendum geplant: Tschechische Republik, Dänemark, Frankreich, Irland, den Niederlanden, Polen, Portugal, im Vereinigten Königreich, Spanien und Luxemburg. Vgl. Eurobarometer 63, S. 149. 89 Eine Volksabstimmung über den Europäischen Verfassungsvertrag würde in der Bundesrepublik Deutschland die vorherige Änderung des Grundgesetzes erfordern. Siehe zur Bedeutung von Art. 146 GG und den Bedenken, ob Art. 146 GG über die punktuelle Neukonstituierung hinaus die schrittweise Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union erfassen kann Ruffert, EuR 2004, S. 165 (196 f.). 90 Siehe dazu von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170 f.) und oben S. 192. 91 Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52-53/2000, S. 13 (21). 92 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 306 f. 93 Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 13 (21); ebenso Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (420). 94 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 307. 95 Siehe ausführlich zum Folgenden Habermas, DIE ZEIT Nr. 27 vom 28. Juni 2002, S. 7; dazu Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 157.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
tungseffekte können nicht durch eine einfache Revision der bestehenden europäischen Verträge erreicht werden. Einer intergouvernementalen Vereinbarung wie dem Vertrag von Maastricht fehle die Kraft zur symbolischen Verdichtung, die nur ein politischer Gründungsakt haben kann. Der verfassungsgebende Prozess stelle daher nach Habermas ein einzigartiges Mittel zu grenzüberschreitender Kommunikation dar, der das Potential zu einer „Selffulfilling Prophecy“ habe und so eine europäische Identität bei den Bürgern stiften könne.96 Auch in der sonstigen Literatur wird der Verfassungsgebung im Wege der Volksabstimmung eine ungleich größere und symbolische Bedeutung zugeschrieben als dem Konventsverfahren oder der Methode der Regierungskonferenzen.97 Die Einbeziehung der Bevölkerung bzw. ihrer Repräsentanten in konstitutionelle Verfahren oder in den Prozess der Verfassungsgebung könne sowohl die gegenseitige Anerkennung der Bürger als auch ihre Identifikation mit Verfassung und politischer Gemeinschaft befördern.98 Nur so könne dem besonderen politischen Status der Bürger in Europa Rechnung getragen werden.99 Allein der Prozess der Vorbereitung und Durchführung derartiger Volksabstimmungen in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union würde eine Debatte über die tatsächlichen und politischen Grundlagen der europäischen Integration in Gang setzen.100 Dadurch wären die europäischen Institutionen und die nationalen Regierungen gezwungen, sich durch Information und Kommunikation mit den Bürgern um deren Zustimmung zu den jeweiligen integrationspolitischen Vorstellungen zu bemühen.101 Dies würde dazu beitragen, dass ein grenzüberschreitender Diskurs der Bürger über das europäische Gemeinwohl auf der Basis gemeinsamer Ziele und Werte stattfinden könnte.102 So müssten sich sowohl die Europapolitiker als auch die europäischen Bürger mit dem europäischen Primärrecht auseinander setzen.103 Europaweite Verfassungsreferenden würden also vor allem die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und eines gemeineuropäischen politischen Prozesses voranbringen. Damit könnten die außerrechtlichen Voraussetzungen für eine europäische Verfassung gefördert werden.104 Wenn europaweite mitgliedstaatliche Referenden zu grenzüberschreitenden trans96
Habermas, DIE ZEIT Nr. 27 vom 28. Juni 2002, S. 7. Pache, EuR 2002, S. 767 (783). 98 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 157; Pache, EuR 2002, S. 767 (783). 99 Blumenwitz, ZfP 2004, S. 115 (132). 100 Pache, EuR 2002, S. 767 (783). 101 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). 102 Pache, EuR 2002, S. 767 (783); ebenso Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (75). 103 Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (75); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 153. 104 Pache, EuR 2002, S. 767 (783). 97
2. Kap.: Entwicklungsgeschichte des Verfassungsvertrages
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nationalen Diskussionen führen würden, dann wären diese dem Konventsverfahren legitimatorisch überlegen. II. Gefahren Referenden sind aber nicht unproblematisch. Eine Volksabstimmung über einen europäischen Vertrag kann nur anhand sehr einfacher Fragen, die die Zustimmung oder Ablehnung jeweiligen Vertrages betreffen, durchgeführt werden. Insofern besteht die Gefahr, dass die Komplexität der Materie zu stark simplifiziert wird. Dadurch haftet einem Referendum immer das Risiko populistischer Politik an.105 Darüber hinaus suggeriert eine Volksabstimmung, die nur ein „Ja“ oder ein „Nein“ als Ergebnis haben kann, dass die Bürger über die europäische Integration insgesamt entscheiden können. Damit entsteht ein unzutreffendes Bild. Denn der derzeitige Stand der europäischen Integration steht in einem Verfassungsreferendum nicht zur Disposition der Bürger. Sie können nicht über den europäischen Einigungsprozess generell entscheiden,106 sondern nur über den zur Disposition gestellten Vertrag. Die europäische Integration an sich wird durch ein negatives Abstimmungsergebnis nicht in Frage gestellt.107 Darüber hinaus fördert ein europaweites Referendum die Fehlvorstellung, dass sich ein europäisches Volk selbst originär eine Verfassung gibt.108 Unabhängig von der Existenzfrage eines europäischen Volkes109, handelt es sich bei diesem Referendum in rechtlicher Hinsicht nur um einen Akt der innerstaatlichen Zustimmung des jeweiligen Mitgliedstaates zu einem völkerrechtlichen Vertrag.110 Gegen eine Abstimmung spricht aber vor allem, dass ein Referendum über einen europäischen Vertrag seitens der Bürger dazu genutzt werden kann, die eigene Regierung für jeweilige nationale Unzulänglichkeiten abzustrafen. Denn eine Kommunikation über das Selbstverständnis eines Gemeinwesens muss nicht notwendigerweise die gegenseitige Anerkennung der Bürger oder die Bildung einer kollektiven Identität befördern, sondern sie kann ebenso gut auch eine Schärfung des Bewusstseins für Unterschiede zur Folge haben.111 Es geht bei Referenden erfahrungsgemäß oft nicht um den Abstimmungsgegenstand selbst, sondern um andere europapolitische und innenpolitische Themen.112 We105 Wiener, Zum Demokratiedilemma europäischer Politik, abrufbar unter: http:// www.monnet-centre.uni-bremen.de/pdf/wp/2001_1.pdf (15.02.2007), S. 5 f. 106 Wie beispielsweise über den Binnenmarkt, den Euro oder die Osterweiterung. 107 Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (754 f.). 108 Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (755). 109 Siehe dazu statt vieler Pache, EuR 2002, S. 767 (783). 110 Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (755). 111 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 166. 112 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 115.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
gen der Grundsätzlichkeit der behandelten Fragen ist die Gefahr gesellschaftlicher Spaltungen im Zuge der Verfassungsgebung besonders groß.113 Die genannten Gefahren haben sich mit dem Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden realisiert. Die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation in Frankreich gehörte für 52% derjenigen, die mit Nein gestimmt haben, zu den maßgeblichen Gründen für ihre Entscheidung; 24% der Verfassungsgegner gaben an, die Gelegenheit zur Opposition gegenüber der Regierung und Jacques Chirac genutzt zu haben.114 Auch in den Niederlanden war die Angst vor dem Verlust der nationalen Souveränität ein entscheidender Grund für die Ablehnung des Verfassungsvertrages.115 Damit haben in beiden Ländern vor allem innenpolitische Gründe maßgeblich zum negativen Ausgang der Referenden beigetragen. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass in Frankreich der Vertrag von Lissabon am 07. Februar 2007 im Gegensatz zum Verfassungsvertrag ohne Schwierigkeiten ratifiziert wurde.116 Bei der Ratifikation des Vertrages von Lissabon wurde in Frankreich kein Referendum in der französischen Bevölkerung abgehalten, sondern die Zustimmung der französischen Nationalversamlung und des Senats waren zur Ratifikation ausreichend. Dies verdeutlicht umso mehr, dass bei Referenden die Gefahr einer Ablehnung infolge populistischer Politik besteht, die sonst nicht gegeben ist. Im Ergebnis sind angesichts der Gefahren europaweite Referenden nicht dem Konventsverfahren vorzuziehen. 3. Kapitel
Identitätselemente des Vertrages über eine Verfassung für Europa und des Vertrages von Lissabon Ein Ziel des Verfassungskonvents war neben seinen anderen Aufgabenstellungen1, den Bürgern das europäische Projekt und die europäischen Organe näher zu bringen.2 Der Verfassungskonvent übergab seinen „Entwurf eines Vertrages
113
Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 166 Fn. 89. Siehe zu den Umfragen Schild, Integration 2005, S. 185 (189). 115 Flash Eurobarometer, The European Constitution: post referendum survey in The Netherlands, S. 15. 116 Siehe dazu die Stellungnahme von dem Kommissionspräsidenten: Barroso, Déclaration sur l’approbation du Traité de Lisbonne en France, abrufbar unter: http:// ec.europa.eu/commission_barroso/president/pdf/statement_20080208_fr.pdf (13.02. 2008). 1 Diese waren die Regelung der Institutionen, Verfahren, Politikbereiche und Kompetenzen. 2 Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (49). 114
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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über eine Verfassung für Europa“ am 20. Juni 2003 in Thessaloniki dem Europäischen Rat und am 18. Juli 2003 in Rom dessen Präsidenten. Der Entwurf des Konvents wurde auf der Tagung der Staats- und Regierungschefs am 17./18. Juni 2004 in Brüssel verhandelt und inhaltlich modifiziert. Schließlich wurde der Vertrag über eine Verfassung für Europa nochmals redaktionell überarbeitet und am 29. Oktober 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs und den Außenministern der 25 damaligen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterzeichnet. Zwar wurde das Verfassungsprojekt nunmehr auf dem Europäischen Rat am 21./22. Juni 2007 aufgegeben. Allerdings richtet sich der am 13. Dezember 2007 auf dem Europäischen Rat in Lissabon beschlossene Reformvertrag an den Normen des Verfassungsvertrages aus. Der im Ratifikationsprozess befindliche Vertrag von Lissabon orientiert sich bezüglich der inhaltlichen Änderungen der bestehenden Verträge an den im Verfassungsvertrag enthaltenen und auf die Regierungskonferenz von 2004 zurückgehenden Neuerungen.3 Teilweise wurden die Bestimmungen des Verfassungsvertrages sogar wörtlich in den Vertrag von Lissabon aufgenommen.4 Aus diesem Grund haben die Kernelemente des Verfassungsvertrages weiterhin wesentliche Bedeutung; an ihnen richtet sich das weitere Vorgehen der Europäischen Union im Vertrag von Lissabon aus. Außerdem befürworten etwa zwei Drittel der EU-Bürger nach wie vor eine EU-Verfassung und nur jeder Fünfte ist dagegen.5 In fast allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union6 spricht sich die Mehrheit der Bevölkerung für eine Verfassung aus. Dabei beträgt die Netto-Unterstützung im EU-Durchschnitt 39%.7 3 Vgl. dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ue Docs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 16. 4 Dies gilt beispielsweise für die Werteklausel des Art. I-2 VVE, die als Art. 2 EU n. F. in den EU-Vertrag durch den Vertrag von Lissabon eingefügt werden soll, oder für Art. I-3 VVE, der den Art. 3 EU n. F. mit Modifikationen durch den Vertrag von Lissabon ersetzt, oder für Art. I-19 bis Art. I-26 VVE, die als Art. 13 ff. EU n. F. in den EU-Vertrag durch den Vertrag von Lissabon eingefügt werden sollen; vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17, 22 ff. 5 Für eine Verfassung für Europa waren im Frühjahr 2006 61% der befragten Bürger, bei nur 22% Ablehnung im Durchschnitt der 25 EU-Mitgliedstaaten. Allerdings ergeben sich beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. So stimmen in Ungarn 78% der Bürger für eine Verfassung; in Schweden dagegen nur 39%. Vgl. dazu vgl. Eurobarometer 65, S. 147 f. 6 Bis auf Estland, Malta, Dänemark, Finnland, Österreich, das Vereinigte Königreich und Schweden; vgl. Eurobarometer 65, S. 148. 7 Die Netto-Unterstützung ist die Differenz zwischen der expliziten Zustimmung und der expliziten Ablehnung der Befragten. Sie gibt das Ausmaß an, in dem die Zustimmung oder Ablehnung der Bevölkerung überwiegt. Denn bei der Interpretation der Umfrage-Ergebnisse von Eurobarometer macht es einen entscheidenden Unterschied,
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Inwieweit die Normierungen des Europäischen Verfassungsvertrages imstande waren, die Identifikations- und Integrationsfunktion einer Verfassung zu erfüllen, ist von ihrem konkreten Inhalt abhängig. Dabei lässt sich anhand eines Vergleichs der Konzeption des gescheiterten Verfassungsvertrages mit den Normen des Vertrages von Lissabon die Möglichkeit, durch europäisches Recht Identität zu stiften, erörtern. An den im Vertrag von Lissabon im Vergleich zum Verfassungsvertrag vorgenommenen Änderungen wird deutlich, welche Elemente des Verfassungsvertrages, die auf eine Identitätsstiftung ausgerichtet waren, aus Sicht der Europäischen Union als (noch) nicht Erfolg versprechend angesehen werden. Der Verfassungsvertrag bleibt damit trotz seines Scheiterns maßgeblicher Bezugspunkt in der Diskussion um die Zukunft der europäischen Integration. Auch in künftigen Debatten um die Ausgestaltung der europäischen Integration wird kein Weg an ihm vorbei führen.8 Denn die Entstehungsgeschichte einer Norm ist ebenso wie die Intention des Gesetzgebers maßgeblich für ihre Auslegung. Daher ist der Verfassungsvertrag auch in Zukunft der maßgebliche Orientierungspunkt für die Auslegung der Normen des Vertrages von Lissabon und kann zum Nachweis einer Identitätsstiftung herangezogen werden. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa besteht aus vier Teilen. In Teil I sind die grundsätzlichen Bestimmungen über die Kompetenzverteilung, die Organe und die Rechtsetzung enthalten. Teil II enthält die Grundrechtecharta. Kernpunkte der Teile I und II des Europäischen Verfassungsvertrages sind die klassischen verfassungsrechtlichen Themen des Organisationsrechts, der Kompetenzverteilung sowie der Regelung des Verhältnisses zwischen der Europäischen Union und ihren Bürgern durch die Grundrechte.9 Dadurch soll die Normlogik eines völkerrechtlichen Vertrages textlich dem Sinngehalt einer Verfassung angepasst werden.10 Der neu formulierte Grundlagenteil in Teil I und II des Verfassungsvertrages enthält diejenigen Elemente, die eine Verfassung substantiell ausmachen. Die operativen Bestimmungen zu den Grundfreiheiten, dem Wettbewerb, der Rechtsangleichung und den Politiken der Union sind in Teil III geregelt. Dieser Teil übernimmt im Wesentlichen die angepassten Bestimmungen der alten Verträge. Teil IV ist der kürzeste der Teile des Verfassungsvertrages und umfasst die Schlussbestimmungen. Der Vertrag von Lissabon gibt dagegen das Konzept eines einheitlichen Grundlagendokuments auf und sieht lediglich Änderungen des EG-Vertrages und des EU-Vertrages vor. Der EG-Vertrag wird in „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ umbenannt und enthält die Elemente des Organisationsrechts, ob einem bestimmten Ausmaß an Zustimmung ein hohes Maß an Ablehnung gegenüber steht oder ob der Rest der Bevölkerung zu diesem Thema keine Meinung besitzt. Vgl. Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (141, 150 Endnote 2). 8 So auch Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (753). 9 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (544). 10 Tsatsos, FS für Häberle, S. 223 (225).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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der Kompetenzverteilung sowie die operativen Bestimmungen zu den Grundfreiheiten, dem Wettbewerb, der Rechtsangleichung und den Politiken der Union.11 Die Grundrechtecharta wird nicht in die Verträge integriert. Sie wurde am 12. Dezember 2007 feierlich proklamiert durch die Präsidenten der Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates in Straßburg.12 Nach Art. 6 Abs. 1 EU n. F.13 erkennt die Union die Rechte Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon erhält die Charta der Grundrechte damit Rechtsverbindlichkeit. Die Elemente des Grundlagenteils des Teil I des Verfassungsvertrages wurden im Wesentlichen an den Anfang des EU-Vertrages n. F. und des zukünftigen Vertrages über die Arbeitsweise der Union gesetzt, so dass diejenigen Elemente, die eine Verfassung substantiell ausmachen, auf beide Verträge aufgeteilt wurden und in der Charta der Grundrechte enthalten sind. Dabei wird die Gleichrangigkeit von EU-Vertrag, Vertrag über die Arbeitsweise der Union und der Grundrechtecharta bestimmt, Art. 1 Abs. 3 EU n. F., Art. 6 Abs. 1 EU n. F., Art. 1 Abs. 2 AEUV.14 Wegen der notwendigen Beschränkung des Rahmens der vorliegenden Arbeit ist es nicht möglich, eine umfassende Darstellung des Verfassungsvertrages zu geben. Für eine Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht wird in der Regel zu Beginn ein tragfähiges verfassungskulturelles Fundament gelegt, das den Ausgangs- und Bezugspunkt für alle folgenden Artikel darstellt.15 Daher konzentriert sich die nachfolgende Untersuchung auf die wesentlichen identitätsrelevanten Änderungen und strukturellen Besonderheiten des Verfassungsvertrages gegenüber dem bisherigen europäischen Primärrecht, die sich vor allem in den Teilen I und II des Europäischen Verfassungsvertrages finden. Im Zusammenhang mit der jeweiligen Bestimmung des Verfassungsvertrages wird auf deren Änderung oder Beibehaltung im Vertrag von Lissabon eingegangen, der sich im Ratifikationsprozess befindet. Die nachfolgende Darstellung orientiert sich wegen der besseren Übersichtlichkeit an den Normierungen des Verfassungsvertrages. 11 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Vertrag von Lissabon, S. 42 ff. 12 Siehe zur Charta der Grundrechte Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Amtsblatt der Europäischen Union, C 364, abrufbar unter: http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2000:364:0001:0022:DE: PDF (15.02.2008), S. 1 ff. 13 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 19. 14 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 16, 19, 50. 15 Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (50).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
A. Gründung einer neuen Union16 I. Einheitliches Gründungsdokument Die Ersetzung des gegenwärtig geltenden unübersichtlichen Vertragssystems durch ein einheitliches Verfassungsdokument gehört in den Bereich der sachlichen Integration nach der Integrationslehre Smends. Die Normativität der Verfassung im Sinne ihres juristischen Vorrangs als höchster Norm wird durch ihre Verurkundlichung gefördert. Die dadurch stattfindende Objektivierung macht den Bezug auf ihren Inhalt für jeden Leser möglich.17 Eine klar strukturierte und gut lesbare Verfassung, die jedem Interessierten die Grundzüge der Europäischen Union vor Augen führt, kann daher eine identitätsstiftende Wirkung haben.18 Die Vereinfachung des europäischen Primärrechts wird im Verfassungsvertrag über die Aufhebung des EG- und EU-Vertrages nach Art. IV-437 Abs. 1 VVE erreicht.19 Damit hätte bei Inkrafttreten des Verfassungsvertrages ein einheitliches Gründungsdokument für die Errichtung der Europäischen Union existiert.20 Die übersichtliche Unterteilung des Verfassungsvertrages in vier Teile ist für den Zugang des Bürgers vorteilhaft.21 Die bisherigen drei Säulen werden im Verfassungsvertrag zusammengeführt. Die jeweiligen im EG- bzw. im EU-Vertrag verstreuten Grundsatzregelungen werden in Teil I und die Durchführungsbestimmungen in Teil III des Verfassungsvertrages kodifiziert.22 Dies ermöglicht es, die Vielzahl der Aktivitäten der Unionsorgane und die Menge des von ihnen erzeugten Rechts als Einheit wahrzunehmen und zu beschreiben.23
16 Wenn im Folgenden von der Europäischen Union gesprochen wird, ist damit die in Art. I-1 Abs. 1 S. 1 VVE neu gegründete Union gemeint. 17 Möllers, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 1 (7, 39). 18 Rack/Fraiss, FS für Mantl II, S. 1121 (1138). 19 Die Aufhebung der übrigen Primärrechtsakte erfolgt nicht automatisch, sondern nach Maßgabe des Protokolls über die Rechtsakte und Verträge zur Ergänzung oder Änderung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union. Siehe dazu Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (32); Längle, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 65 (65). 20 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 27. 21 Allerdings wird der Eindruck der Übersichtlichkeit und Transparenz des Teil I durch eine Lektüre des Teil III gemindert. Teil III enthält die bisher im EG- und EURecht enthaltenen Detail- und Ausführungsbestimmungen. Siehe dazu Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (31). 22 Fischer, FS für Mantl II, S. 991 (1006). 23 Bast, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 34 (39).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Demgegenüber sieht der Vertrag von Lissabon vor, dass die bestehenden Verträge weiterhin in Kraft bleiben.24 Durch den Vertrag von Lissabon sollen der „Vertrag über die Europäische Union“ und der „Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“ dahingehend geändert werden, dass der EU-Vertrag seine derzeitige Bezeichnung behält und der EG-Vertrag „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ genannt werden soll.25 Diese beiden Verträge sollen zukünftig die Grundlage bilden, auf der die Union beruht. Damit tritt eine identitätsstiftende Vereinfachung des bisherigen Primärrechts durch die Aufhebung des EG- und EU-Vertrages zu Gunsten eines einheitlichen Gründungsdokuments nach dem Vertrag von Lissabon nicht in Kraft. Nach der Regelung des Art. IV-438 Abs. 1 VVE sollte die durch den Verfassungsvertrag geschaffene Union die Rechtsnachfolge der bisherigen Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften antreten; die dem Bürger kaum vermittelbare bisherige Differenzierung zwischen der Union und den Gemeinschaften sollte wegfallen.26 Es besteht nach der Konzeption des Verfassungsvertrages darüber hinaus Namensidentität der neuen Europäischen Union mit der bisherigen Union und Funktionsnachfolge bezüglich der ausgeübten Kompetenzen. Die durch den Verfassungsvertrag neu gegründete Union sollte damit rechtlich und organisatorisch gegenüber den Mitgliedstaaten verselbständigt werden und sich sowohl von der bisherigen Europäischen Union als auch von den Europäischen Gemeinschaften unterscheiden.27 Art. IV-438 Abs. 1 VVE verwirklicht den Grundsatz der rechtlichen Kontinuität.28 Eine Vereinheitlichung des Zurechnungsobjektes schafft Rechtssicherheit und stiftet Identität. Denn für den Bürger ist das zukünftige unmittelbare Zurechnungs- und Identifikationsobjekt allein die Europäische Union.29 Dies stellt eine wesentliche Vereinfachung
24 Siehe ausführlich zum Mandat der Regierungskonferenz Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/ 94935.pdf (07.07.2007), S. 15. Zum Vertrag von Lissabon siehe Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Vertrag von Lissabon, S. 1. 25 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 47. 26 Dies setzt in Bezug auf die von der bisherigen Europäischen Union und den Europäischen Gemeinschaften geschlossenen Verträge die Zustimmung der jeweiligen Vertragspartner voraus; Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (32); Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 32. 27 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 32; Längle, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 65 (65). 28 Siehe zu den Elementen, welche die Rechtsnachfolge im Einzelnen umfasst Längle, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 65 (68). 29 Mayer, Integration 2003, S. 398 (408).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
des europäischen Gemeinwesens dar.30 Die Beibehaltung des Namens der Europäischen Union findet daher auch die breite Unterstützung der Bürger.31 Allerdings sollte die Europäische Atomgemeinschaft nach dem Verfassungsvertrag inkonsequenterweise als eigenständige Organisation weiterhin bestehen bleiben, so dass die organisatorische Einheitsbildung unvollständig war.32 Die bisherige Säulenstruktur wurde im Verfassungsvertrag zwar formal aufgehoben; die ursprünglich hinter dieser Struktur stehende Gegenüberstellung von intergouvernementalem und supranationalem Bereich besteht aber fort.33 Der Europäische Verfassungsvertrag hat in seiner institutionellen Architektur die Kontroverse zwischen den institutionellen Leitideen intergouvernementaler bzw. eher supranationaler und gemeinschaftlicher Prägung zu keinem Abschluss gebracht.34 Seine materielle Einheitsbildung ist durch die Prolongierung der Säulenstruktur im Verfassungsvertrag unvollständig.35 Damit hätte auch die nach dem Verfassungsvertrag neu gegründete Union eine Doppelnatur als supranationale und intergouvernementale Organisation aufgewiesen. In diesem Zusammenhang wurde auch die Befürchtung geäußert, dass der Verfassungsvertrag eine höhere Anzahl von mehrdeutigen Bestimmungen enthält als die vorherigen Verträge und dadurch für die Bürger noch unübersichtlicher wirkt.36 30 Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (755); Bast, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 34 (40). 31 Vor der Osterweiterung wurde eine Namensänderung erwogen, um die große Veränderung anzuzeigen. 49% der Bürger zogen es aber vor, den alten Namen „Europäische Union“ beizubehalten. Die übrigen Vorschläge „Vereintes Europa“ (14%), „Europäische Gemeinschaft (11%), „Vereinigte Staaten von Europa“ (6%) oder „Vereinte Nationen von Europa (6%) fanden bei den Bürgern wenig Zustimmung. Vgl. Eurobarometer 59, S. 86. 32 Bast, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 34 (41). 33 Insofern wird auch vom „Schatten der Säulen“ gesprochen; Griller, in: Calliess/ Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (58). Dies verdeutlichen auch die Zuständigkeitsbeschränkungen des Europäischen Gerichtshofs auf bestimmte Bereiche. So bestimmt Art. III-376 Abs. 1 VVE, dass der Gerichtshof der Europäischen Union auch weiterhin nicht zuständig ist im Fall der Art. I-40, I-41 VVE, der Art. III-294 ff. VVE hinsichtlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und des Art. III-293 VVE, soweit er die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betrifft. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik findet damit weiterhin ausschließlich auf intergouvernementaler Ebene statt. Damit wird im Verfassungsvertrag ein supranationaler und ein intergouvernementaler Bereich beibehalten. Siehe dazu Mayer, Integration 2003, S. 398 (407 f.); Vernet, EuGRZ 2004, S. 584 (586); Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (304). 34 Wessels, Integration 2003, S. 284 (295). 35 Bast, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 34 (43). 36 Schon im gegenwärtig geltenden Primärrecht gelingt keine pauschale Trennung der Verträge in Supranationalität und Intergouvernementalität. Siehe zur Klassifizierung der einzelnen Bestimmungen als supranational oder intergouvernemental bei Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (304 f.).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Diese Befürchtung kann auch nicht durch den gegenwärtig im Ratifizierungsprozess befindlichen Vertrag von Lissabon entkräftet werden. Zwar tritt auch nach Art. 1 Abs. 3 EU n. F.37 die Europäische Union die Rechtsnachfolge der Europäischen Gemeinschaften an. Damit fällt auch im Rahmen des Vertrags von Lissabon die dem Bürger kaum vermittelbare bisherige Differenzierung zwischen der Union und den Gemeinschaften weg und der Grundsatz der rechtlichen Kontinuität wird verwirklicht. Auch nach dem Vertrag von Lissabon ist allein die Europäische Union für den Bürger das zukünftige unmittelbare Zurechnungs- und Identifikationsobjekt. Allerdings sollen die bereits im Verfassungsvertrag vereinbarten technischen Änderungen am Euratom-Vertrag im Wege von Protokollen vorgenommen werden, die dem Vertrag von Lissabon beigefügt werden.38 Der Vertrag von Lissabon wird auf diese Weise gegenüber dem Europäischen Verfassungsvertrag hinsichtlich Einheitlichkeit des europäischen Rechts und seiner Übersichtlichkeit angesichts des Weiterbestehens der Europäischen Atomgemeinschaft und der Prolongierung der Säulenstruktur für die Bürger keine Verbesserungen bringen. II. Art. I-1 VVE Nach Art. I-1 VVE „begründet diese Verfassung, geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten, die Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen“. Die Bedeutung des Art. I-1 Abs. 1 VVE besteht in der Schaffung der Union als neuer, eigenständiger Integrationsform. Art. I-1 Abs. 1 VVE verdeutlicht die beiden Legitimationsstränge der Europäischen Union. Es erfolgt ein Legitimationsrekurs sowohl auf die Staaten als auch auf die Bürger Europas.39 Abweichend vom bisherigen Primärrecht werden nicht nur die „Hohen Vertragsparteien“ – wie im EU- und EG-Vertrag – als Akteure der Gründung benannt, sondern die Bürger treten erstmals neben die Staaten; sie werden in Art. I-1 Abs. 1 VVE den Staaten sogar vorangestellt. Art. I-1 Abs. 1 VVE nimmt damit einen Paradigmenwechsel vor.40 Die Bedeu37 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 16. 38 Siehe ausführlich dazu das Mandat der Regierungskonferenz Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec /94935.pdf (07.07.2007), S. 15. 39 Zu den Abweichungen des Aufbaus in den Kopfartikeln des Verfassungsvertrages gegenüber dem Aufbau von EG- als auch EU-Vertrag siehe ausführlich Müller-Graff, Integration 2003, S. 111 (113 ff.) bzgl. des Vorentwurfs. 40 Siehe dazu Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (69); Dossi, in: Calliess/Isak
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
tung der Bürger für die Legitimität der Europäischen Union wird hervorgehoben; sie werden als Willensträger der europäischen Integration genannt.41 Dadurch sollte ein Schritt zu mehr Bürgernähe gemacht und der eher anonyme, in Verfassungsdokumenten übliche Begriff „Volk“ ersetzt werden.42 Die sprachliche Formulierung des Art. I-1 Abs. 1 VVE erinnert an die Eröffnung der amerikanischen Verfassung von 1787 „We the people“. Es wurde damit ein Identifikationsangebot an die Bürger gemacht und bewusst der Eindruck erweckt, dass die Bürger neben den Staaten eigenständige Akteure der Verfassungsgebung sind.43 Allerdings ist die Europäische Union auch in Zukunft nicht ohne die in ihr verbundenen Staaten denkbar.44 Die Formulierung des Art. I-1 Abs. 1 VVE, nach der die Mitgliedstaaten der Union die Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen, hebt die zentrale Rolle der Mitgliedstaaten ebenfalls deutlich hervor.45 Die Bürger werden als selbständige Handlungseinheit nicht neben den Mitgliedstaaten bei der Verabschiedung der Verfassung tätig. Bei dem Vertrag über eine Verfassung für Europa handelte es sich um einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag, der zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union geschlossen wird. Insofern wurde bei dem Legitimationsrekurs des Art. I-1 Abs. 1 VVE auf die Bürger der Union auch zutreffend von einer „falsa demonstratio“ gesprochen.46 Der Vertrag von Lissabon nimmt demgegenüber keinen Legitimationsrekurs auf die Bürger Europas vor, sondern ändert lediglich den bisherigen Art. 1 EU. Die Neuregelung des Art. 1 Abs. 1 EU n. F. lautet demnach: „Durch diesen Vertrag gründen die Hohen Vertragsparteien untereinander eine Europäische Union (im Folgenden „Union“), der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen“.47 Das in Art. I-1 Abs. 1
(Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (32). 41 Puntscher Riekmann, FS für Mantl II, S. 1101 (1105). 42 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 122 f. 43 Ähnlich kommentiert dies Müller-Graff, Integration 2003, S. 111 (114) für den Vorentwurf vom Februar 2003 bezüglich der Völker Europas. Siehe dazu auch Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (420). 44 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (546). 45 Puntscher Riekmann, FS für Mantl II, S. 1101 (1105). 46 So Huber, EuR 2003, S. 574 (594). 47 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 16. Siehe dazu auch Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de /ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 24.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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VVE enthaltene Identifikationsangebot an die Bürger wird im Vertrag von Lissabon damit ausdrücklich zurück genommen. III. Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union Mit der Beseitigung der drei Säulen und mit der Auflösung der mit Völkerrechtspersönlichkeit ausgestatteten Europäischen Gemeinschaft ergab sich im Verfassungsvertrag die Notwendigkeit, die neue Union als Rechtsnachfolgerin gemäß Art. IV-438 Abs. 1 VVE mit Rechtspersönlichkeit nach Art. I-7 VVE auszustatten.48 Durch die Verleihung der einheitlichen Rechtspersönlichkeit sollte dokumentiert werden, dass der Verfassungsvertrag eine durchgängige Rechtsbasis vorsieht.49 Der Europäischen Union sollte nach dieser Regelung die Völkerrechtssubjektivität im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten verliehen werden.50 Eine einzige Rechtspersönlichkeit ist aus Gründen der Effizienz und Rechtssicherheit, aber auch aus Gründen der Transparenz und des deutlicheren Profils der Europäischen Union vor allem gegenüber den Bürgern der Union zu begrüßen.51 Unter dem Aspekt der Identitätsstiftung war diese Regelung daher gelungen. Auch nach dem Reformvertrag von Lissabon wird der Union nach Art. 47 EU n. F.52 Rechtspersönlichkeit verliehen. Gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 3 EU n. F.53 tritt die Union an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie ist.54 Damit bleibt es auch nach der neuen Rechtslage bei dem identitätsstiftenden einheitlichen Profil der Europäischen Union.
48 Art. I-7 VVE ist das Bindeglied zwischen Art. I-1 VVE und der Regelung über die Rechtsnachfolge des Art. IV-438 VVE. Siehe dazu Fischer, FS für Mantl II, S. 991 (1009 f.); Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 33; Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 131 f. 49 Wessels, Integration 2003, S. 284 (286). 50 Gegenüber dritten Staaten und internationalen Organisationen wird die Völkerrechtssubjektivität erst durch die ausdrückliche oder stillschweigende Anerkennung seitens der betreffenden dritten Staaten und internationalen Organisationen durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen oder durch Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages begründet. Siehe dazu Längle, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 65 (66). Siehe allgemein zur Anerkennung eines Staates als Völkerrechtssubjekt Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 76 ff. 51 Epping, JZ 2003, 821 (826). 52 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 41. 53 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 16. 54 Vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs /cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 24.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
B. Präambeln Dem Verfassungsvertrag wurde – wie auch bei den meisten nationalen Verfassungen, völkerrechtlichen Verträgen und insbesondere auch den bisherigen Verträgen zur Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften üblich – eine Präambel55 vorangestellt.56 Die Präambel des Verfassungsvertrages sollte die im nationalen Verfassungsrecht entwickelten Kategorien auf die europäische Ebene übertragen und innovative Prinzipien enthalten, die weit in die Zukunft greifen sollen.57 Auch der Vertrag von Lissabon nimmt eine Ergänzung der Präambel des EU-Vertrages vor; es soll ein zweiter Erwägungsgrund eingefügt werden. Bereits Rudolf Smend hat die integrative Funktion von Präambeln für die Bürger hervorgehoben.58 Die Selbstbeschreibungen der Europäischen Union in den Präambeln des Europäischen Verfassungsvertrages sind ein Wirkungsmodus der sachlichen Integration im Sinne der Integrationslehre.59 I. Bedeutung der Präambeln für die europäische Identität Die von Smend herausgearbeitete identitätsstiftende Funktion von Präambeln hat Peter Häberle in der Folgezeit präzisiert. Demzufolge eröffnen Präambeln Verfassungstexte in einer sprachlich hervorgehobenen Form.60 Sie zeichnen sich durch eine eigene, besonders feierliche und programmatische Sprache aus. Ihre 55 Der Begriff Präambel geht etymologisch auf das lateinische Verb „prae-ambulare“ (vorangehen) und mittellateinische Lehnwort „prae-ambulum“ (Vorspruch) zurück. Der Begriff wird für die feierliche, einstimmende Erklärung zu Beginn einer Urkunde, insbesondere einer Verfassungsurkunde, verwendet. Er hat aber auch im Völkerrecht eine reiche Tradition. Vgl. dazu Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 2. Siehe zur Vorgeschichte von Präambeln auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar I, Präambel, Rn. 1; Weinholt, Gott in der Verfassung, S. 149 ff.; Häberle, FS für Broermann, S. 211 (212 ff.). 56 Grundlegende Rechtsdokumente wie Verfassungen oder völkerrechtliche Verträge besitzen häufig eine Präambel. Dies gilt hinsichtlich der Europäischen Menschenrechtskonvention ebenso wie für alle Gründungs- und Modifikationsverträge der europäischen Integration; Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (563); Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (13); auch Häberle, FS für Broermann, S. 211 (222). 57 So Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 3 für die Präambel der Grundrechtecharta. 58 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (216 f.) und siehe dazu oben S. 158. 59 Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (179); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 155; Frankenberg, FS für Habermas, S. 507 (513 ff.). 60 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (212); Robbers, FS für Häberle, S. 251 (251).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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idealistische, symbolhafte und symbolreiche Sprache unterscheidet sich von der sonst üblichen eher technischen, abstrakten Rechtssprache.61 Präambeln knüpfen an affektive Bezüge an und versuchen auf diese Weise, Emotionalität bei den Bürgern zu wecken.62 Sie sollen das Selbstverständnis eines Gemeinwesens ausdrücken; sie spiegeln und stiften Identität.63 Durch die Feiertagssprache64 der Präambel wird die identitätsbestimmende Ordnung des politischen Gemeinwesens für den Bürger veranschaulicht.65 Kommunikation, Integration, und die Möglichkeit einer Identifikation der Bürger durch Internalisierung der durch die Präambel vorgegebenen Kategorien sind ihre Hauptfunktionen. Der Bürger ist ihr Adressat; durch die Präambel wird die „Übersetzungsleistung“ für den nachfolgenden Inhalt der Verfassung erbracht.66 Über die Identifikation der Bürger mit einer Präambel soll auch die Identifikation mit der technischen und abstrakteren übrigen Verfassung gelingen.67 Auf der Suche nach der Identität Europas kann die Präambel des Verfassungsvertrages einen wesentlichen Beitrag leisten.68 Wenn es einen „europäischen Verfassungspatriotismus“ gibt, dann kommt er besonders in den europäischen Präambeln zum Ausdruck.69 Die Präambel reflektiert die Grundlagen und Zusammenhänge der Verfassung; sie ist insofern ein Teil angewandter Verfassungstheorie und das Basisprinzip einer Verfassung.70 In der Auflistung und Bündelung vieler einzelner Identitätselemente liegt die Aufgabe und Chance der Präambel.71 Gerade weil Präambeln so wichtig für die kollektive Identität sind, dürfen sie weder zu überladen noch zu karg sein.72 Ein Übermaß an Bekennt61 Diese richtet sich mit ihren eigentümlichen Begrifflichkeiten an den juristischen Fachmann; Häberle, FS für Broermann, S. 211 (227 f.). 62 Eine anhand von Emotionen der Bürger verlaufende Identitätsstiftung wurde im Rahmen der affektiven Anknüpfungspunkte erörtert; vgl. S. 51. 63 So Robbers, FS für Häberle, S. 251 (251); Böckenförde, Vorwort, S. 8 (10); Weiler, Ein christliches Europa, S. 39. 64 Unter Feiertagssprache versteht Häberle eine Sprache mit festlichen und kaum mehr gebräuchlichen Stilelementen, die an das Besondere am Erlass von Verfassungen und ihrer Geltung erinnern soll; Häberle, FS für Broermann, S. 211 (228). 65 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (229). 66 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (212; 230); Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 920; Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (13). 67 Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (28). 68 So Robbers, FS für Häberle, S. 251 (251). 69 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 284. Für die Präambel der Grundrechtecharta ebenso Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 8. 70 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I § 13, Rn. 4, 11. 71 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 55. 72 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 284.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
nissen und Postulaten in einer Präambel wirkt eher verwirrend. Dadurch wird ihre Glaubwürdigkeit beschädigt und die Identifizierung der Bürger mit ihr gehindert.73 Präambeln können auf zweierlei Weise identitätsstiftend wirken. Sie können selbst unmittelbar identitätsformende Bedeutung erlangen, wenn die Bürger die Präambel lesen.74 Darüber hinaus kann eine Präambel auch mittelbar auf die Wirklichkeitskonstruktion der Bürger einwirken, wenn sie als Ausgangspunkt weiterer Konstruktion – etwa im Schulunterricht oder in europaweiten Diskussionen benutzt wird.75 Ausformungen der Zeitdimension sind regelmäßig Bauelemente von Präambeln. Häufig finden sich Elemente der Erinnerung oder „Wiederanknüpfung“ an eine bestimmte Vergangenheit, ein Bezug auf die Gegenwart und ein vorausschauender Blick in eine bestimmte Zukunft.76 Präambeln nehmen Bezug auf die Entstehungszeit einer Verfassung, erläutern die Motivation, das Selbstverständnis der Verfassungsgeber77 und formulieren die Grundsätze und Gestaltungsziele für die Zukunft.78 Präambeln stellen den zeitlichen Bezug zur Gegenwart zwischen der Vergangenheit und der Zukunft einer Verfassung dar.79 Die angeführten Zeitdimensionen sind nach dem historischen Identitätsbegriff80 Anknüpfungspunkte für eine kollektive Identität. Daher soll sich die nachfolgende Darstellung der Gesamtpräambel an diesen Zeitdimensionen orientieren. II. Zwei Präambeln Die Herangehensweise an die Präambel war zunächst eher technischer Natur.81 Man sprach sich im Konvent anfangs dafür aus, die Präambel der Grund-
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Häberle, FS für Broermann, S. 211 (242). Diese Funktion der Präambel wird auch am amerikanischen Modell des Verfassungspatriotismus deutlich. Denn in den Vereinigten Staaten von Amerika muss die Präambel der Verfassung von jedem Schüler auswendig gelernt werden; vgl. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 362. 75 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (55). 76 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (233). 77 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (231). 78 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I § 13, Rn. 4; Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (13). 79 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (235). 80 Siehe dazu oben S. 48 f. 81 In der Schlussphase der Verhandlungen wurde die Frage des Gottesbezuges in der Präambel jedoch zu einer echten Schicksalsfrage für den Verfassungsvertrag. Siehe dazu Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (50). 74
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
285
rechtecharta an den Anfang des Verfassungsvertrages zu stellen.82 Diesbezüglich konnte aber kein Konsens im Konvent erzielt werden; die Präambel der Grundrechtecharta konnte sich nicht gegen den vom Konventspräsidenten eigenhändig entworfenen Text einer Gesamtpräambel durchsetzen.83 Daher einigte man sich im Konvent auf die von Giscard d’Estaing formulierte Gesamtpräambel und die Präambel zur Grundrechtecharta wurde in Anerkennung der Ergebnisse des Grundrechtskonvents am Anfang des Teils II in den Europäischen Verfassungsvertrag eingegliedert.84 Der Europäische Verfassungsvertrag weist also eine juristische Besonderheit dahingehend auf, dass er zwei Präambeln hat.85 Diese Besonderheit wurde mit dem Vertrag von Lissabon wieder aufgegeben. Danach sollen der EU-Vertrag n. F. und der zukünftige Vertrag über die Arbeitsweise der Union jeweils eine Präambel enthalten.86 Die Grundrechte-Charta wird mit ihrer Präambel selbständig in Kraft gesetzt.87 Diese Änderung wird nur vor dem Hintergrund der kontroversen Diskussion um die Gesamtpräambel des Europäischen Verfassungsvertrages verständlich, in der religiöse und laizistische, liberale und kommunitaristische sowie integrationsbezogene und nationa82 Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (50); Notz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 59 (65). 83 Die kurz vor Abschluss der Konventsarbeiten im Mai 2003 entworfene Gesamtpräambel trug die laizistische Handschrift des ehemaligen französischen Staatspräsidenten und Konventspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing. Siehe dazu Notz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 59 (65). 84 Die Delegierten, die bereits dem Grundrechtskonvent angehört haben und die an der Präambel der Grundrechtecharta mitgewirkt hatten, wiesen mit Nachdruck darauf hin, dass sich die Chartapräambel durchaus als Präambel des Europäischen Verfassungsvertrages eigne und es nicht sinnvoll sei, die in ihr enthaltenen Kompromisse nochmals zu verhandeln. Die Präambel der Grundrechtecharta sollte auch einer europäischen Verfassung würdig sein; vgl. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 5; Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (25 f.); Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union I, Präambel EUV Rn. 35 (23. EL Januar 2004). 85 Diese juristische Besonderheit des Verfassungsvertrages wird in dem geplanten Reformvertrag nicht mehr enthalten sein; EU-Vertrag und EG-Vertrag enthalten jeweils nur eine Präambel und die Grundrechte-Charta wird selbständig in Kraft gesetzt. Vgl. zur Grundrechtecharta Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.euro pa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 25 Fn. 21. 86 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 15 f., 49. 87 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Vertrag von Lissabon, S. 10. Vgl. zur Grundrechtecharta Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http:// www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07. 2007), S. 25 Fn. 21.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
listische Vorstellungen unmittelbar aufeinander prallten.88 Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden. III. Rechtliche Verbindlichkeit der Präambel des Verfassungsvertrages Ob eine Präambel Identität stiften kann, richtet sich zunächst nach ihrer rechtlichen Verbindlichkeit. Eine Präambel normiert zwar keine konkreten Vertragspflichten. In der Regel gehen auch keine in sich abgeschlossenen Rechtssätze aus Präambeln hervor.89 Es besteht aber ein allgemeiner Rechtsgrundsatz dahingehend, dass die in der Präambel enthaltenen „Erläuterungen“ als Auslegungshilfe für die übrigen Bestimmungen einer Verfassung oder eines Vertrages herangezogen werden müssen.90 Gemäß dem Völkergewohnheitsrecht kodifizierenden Art. 31 Abs. 2 WVK91 werden Präambeln bei der Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen in den Vertragswortlaut mit einbezogen.92 Damit sind Präambeln als Ausdruck des Willens der Vertragsparteien wesentlich für die Vertragsauslegung. Sie können Interpretationstopoi für die Auslegung einfachen Gesetzesrechts sein und kombiniert mit Verfassungsartikeln und Gesetzesrecht auf den Interpretationsprozess der Justiz und der Verwaltung wirken.93 Der Europäische Gerichtshof hat die Präambeln der Gründungsverträge im Zuge einer teleologischen Interpretation von Vertragsbestimmungen wiederholt zur Auslegung herangezogen und ausdrücklich zitiert.94 Nach dieser Rechtsprechung bilden die in den Präambeln niedergelegten Rechtsgrundsätze offene oder versteckte Bausteine für die Rechtsfortbildung.95 Entsprechend der Verbunden88
Allgemein dazu Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (569). Zuleeg, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGVertrag, Präambel, Rn. 2. 90 Aust, Modern Treaty Law and Practice, S. 188 f.; Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (563); Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (21). 91 Siehe zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge anhand der Wiener Vertragsrechtskonvention Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 206; Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 11 Rn. 13, 15; Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (21). 92 Dies dürfte die praktisch wichtigste Funktion von Präambeln sein. Vgl. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Präambel EUV, Rn. 12; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/ EGV, Präambel EGV, Rn. 10; Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 6. 93 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (241). 94 Zuleeg, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGVertrag, Präambel, Rn. 2; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Präambel EGV, Rn. 12; Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (21). 95 Bei der Beantwortung von neuen und entscheidenden Rechtsfragen führte der EuGH erstmals im Urteil Van Gend&Loos die Präambel des EWG-Vertrages an, die 89
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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heit der jeweiligen Präambel mit den konkreten Normen des betreffenden Vertrages verknüpft der Gerichtshof in seiner Argumentation einzelne Präambelerwägungen oder die Präambel als Ganzes mit konkreten Vertragsnormen.96 Daher ist davon auszugehen, dass auch die Präambeln des Verfassungsvertrages als formeller Bestandteil des Vertrages in Zukunft grundsätzlich Rechtswirkungen entfalten werden.97 Im europäischen Gemeinschaftsrecht wird – ebenso wie in der nationalen Staats- und Verfassungslehre98 – die Auffassung vertreten, dass Präambeln rechtlich relevanter Bestandteil der Verträge sind.99 Für den Bürger selbst stellen Präambeln aber nur einen moralischen Appell ohne unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit dar.100 IV. Gesamtpräambel des Europäischen Verfassungsvertrages In der Diskussion um die Gesamtpräambel des Verfassungsvertrages prallten religiöse und laizistische, liberale und kommunitaristische sowie integrationsbezogene und nationalistische Vorstellungen unmittelbar aufeinander.101 sich dieser Rechtsprechung zufolge nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker richtet; EuGH 05.02.1963 – Rs. 26/62 (Van Gend&Loos), Slg. 1963, S. 1 (24). Siehe dazu Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (26). 96 So die Entscheidung EuGH 13.07.1966 – Rs. 56 und 58/64 (Consten GmbH und Grundig-Verkaufs-GmbH), Slg. 1966, S. 321 (388 ff.). Siehe dazu Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (27). 97 Dies vertritt im Hinblick auf die Grundrechtecharta Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 2. Siehe dazu Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (27). 98 Die Sichtweise der Präambel als Bestandteil des deutschen Grundgesetzes mit eigenem rechtlichem Gehalt geht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück. Dieses hatte den rechtlichen Gehalt der Präambel des deutschen Grundgesetzes als für alle Verfassungsorgane unmittelbar verpflichtend qualifiziert, so dass dem Vorspruch des Grundgesetzes auch ein rechtlicher Gehalt zukomme. Siehe dazu BVerfGE 5, 85 (Ls. 1, 127); BVerfGE 36; 1 (Ls. 4 und 5); BVerfGE 77; 137 (149); BVerfGE 83, 37 (51); BVerfGE 94, 12 (36). Die Lehre hat sich überwiegend der These vom rechtlichen und politischen Gehalt der Präambel angeschlossen. Vgl. dazu Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar I, Präambel, Rn. 8; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz I, Präambel, Rn. 31; Häberle, FS für Broermann, S. 211 (224 ff.). Auch in Frankreich wird die Überprüfung von Grundrechten, die nicht im Artikeltext der französischen Verfassung vom 04.10.1958, sondern allein in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und der Präambel der Verfassung vom 27. Oktober 1946 enthalten sind, als überaus wichtiger Bestandteil der französischen Verfassungsgerichtssprechung auf die Aussage der Präambel der derzeitigen Verfassung gestützt, die auf die beiden älteren Texte Bezug nimmt; vgl. Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (564 m.w. N.). 99 Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (21). 100 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (242). 101 Allgemein dazu Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (569).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
1. Vergangenheitsbezug Gemeinschaft und Identität setzen die Existenz eines Gedächtnisses voraus. Die historische Komponente von Identität bezieht sich auf die Vergangenheit. Die gemeinsame Geschichte ist überaus wichtig zur Konstruktion einer kollektiven Identität.102 Dies wurde besonders bei der Etablierung so genannter Geschichtsnationen deutlich.103 Wenn Präambeln Geschichte erzählen und Bekenntnisse zu ihr ablegen, möchten sie dem menschlichen Bedürfnis nach historischer Vergegenwärtigung und Identität Rechnung tragen, und zwar nicht als wissenschaftliche Aufbereitung für ein Fachpublikum, sondern als eine gemeinsame Geschichte für alle Bürger.104 a) Thukydides-Zitat im Verfassungsvertragsentwurf des Konvents Der Verfassungsvertragsentwurf des Verfassungskonvents begann mit einem Zitat von Thukydides, welches der Gesamtpräambel nochmals voran gestellt war.105 Das Zitat stammt aus der Totenrede des Perikles106 während des Peloponnesischen Krieges.107 Dieses Zitat erscheint zunächst ungewöhnlich als Vorspruch zu einer Präambel. Teilweise wurde das Zitat aber als positiv für eine Identitätsstiftung bei den Bürgern angesehen. Denn Kenntnisse des Altgriechischen sind nur bei einem kleinen Teil der Unionsbürger vorhanden, deshalb treffen die meisten auf ein Assoziationen weckendes Schriftbild.108 Der Vorteil des altgriechischen Zitats liege darin, dass ein Bild mächtiger sei als Worte und einen Gedanken oft intensiver und unmittelbarer als Sprache transportieren könne. Das altgriechische Schriftbild wäre in allen Sprachen des Europäischen Verfassungsvertrages dasselbe gewesen. Durch das altgriechische Zitat würde auch die Vielfalt der Sprachen in Europa wider gespiegelt, denn den meisten Bürgern – außer in der grie-
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von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (55). Deutsch, Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, S. 28 ff. und siehe dazu oben S. 73 ff. 104 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 274; Häberle, FS für Broermann, S. 211 (233). 105 „Xrþmea gJr politeßÁa kaÍ énoma mÊn diJ tÎ mÌ ò lßgouò ll' ò pleßonaò oke¦n dhmokratßa kÝklhtai, Thukydides, II, 37. 106 Siehe dazu Thukydides, II, 35-46. 107 Darin analysiert Perikles die Prinzipien Athens, seine politischen Gewohnheiten und seine geistige Überlegenheit als die Quellen seiner Macht. Nach dem Eingangszitat gehört es zum Wesen der attischen Demokratie, dass diese einen Staat nach dem Willen der Mehrheit darstellt. Siehe dazu Rengakos, Form und Wandel des Machtdenkens der Athener bei Thukydides, S. 37; Klinz, Thukydides Geschichte des peleponnesischen Krieges, S. 44. 108 Siehe ausführlich dazu von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (55). 103
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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chischen Fassung – wäre der erste Satz der Präambel nur in der Übersetzung zugänglich.109 Dies wäre angesichts der europäischen Sprachenvielfalt und den daraus resultierenden Verständigungsproblemen, die zu einem Identitätshindernis werden können, von besonderer Relevanz gewesen. Darüber hinaus steht die zerstörerische Kraft des Krieges im Hintergrund des Zitates als Mahnung und Erinnerung. Es soll dem Gedenken der Opfer gelten und an die Trauer um die Toten erinnern.110 Die Totenrede wird dabei als der vereinte demokratische Ruf nach einer Teilhabe aller an der Gesellschaft gesehen.111 Aus diesem Grund wird vertreten, dass mit dem Zitat eine in Europa sehr attraktive und begeisterungsfähige Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte der Europäer gewählt wurde.112 Dieses Zitat ist aber nicht gut gewählt. Die deutsche Übersetzung des Thukydides-Zitates113 ist im Hinblick auf das Demokratieprinzip missverständlich. Denn ein Gemeinwesen ist nicht wegen seiner Ausrichtung auf die Mehrheit eine Demokratie. Vielmehr ist eine Demokratie auf das Gemeinwohl ausgerichtet, weil sie davon lebt, dass die Minderheit zur Mehrheit werden kann.114 Weiterhin führt die deutsche Übersetzung des Zitats ohne Not den Begriff des „Staates“ zu Beginn des Europäischen Verfassungsvertrages ein.115 Die Europäische Union ist aber kein Staat und soll es auch nicht werden. Dieses Zitat enthält auch nicht ein eindeutig positives Verständnis von Demokratie wie es zunächst den Anschein hat. Denn einige Zeilen nach dem zitierten Satz spricht Perikles davon, dass die Athener ihre Söhne für die Demokratie opfern müssten.116 Ein derartig martialisches Demokratieverständnis erscheint aber auf der
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Robbers, FS für Häberle, S. 251 (252). Robbers, FS für Häberle, S. 251 (252). 111 Hornblower, A Commentary on Thucydides I, S. 298 f.; Robbers, FS für Häberle, S. 251 (252 f.); Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (31). 112 Dass man die Worte des Perikles sinnvoll auf die Europäische Union übertragen könne, vertreten Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 19; Robbers, FS für Häberle, S. 251 (251); Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 208; von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (56). 113 Die deutsche Übersetzung lautet im Verfassungsvertragsentwurf: „Die Verfassung, die wir haben, heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“ Vgl. Europäischer Konvent, Entwurf VVE, S. 5. 114 Robbers, FS für Häberle, S. 251 (253). Dabei handelt es sich um die bereits angesprochene Reversibilitätsbedingung einer Demokratie; vgl. oben S. 151. 115 Die Übersetzung „Staat“ für das altgriechische politeia ist nicht zwingend; der Begriff kann beispielsweise auch mit „Bürgerschaft“ übersetzt werden. Siehe zu den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch Deutsch, politeia, S. 566. 116 Wenig später formuliert Perikles nämlich als er sich an die Eltern der Gefallenen richtet, dass niemand mit gleichem und gerechtem Sinn zum Rat (Athens) beitra110
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Ebene der Europäischen Union heutzutage kaum mehr vertretbar. Daher wurde dieses Zitat als wenig sinnbringend angesehen, das kaum geeignet sei, einen Mehrwert zu bringen.117 Als sich in der europäischen Öffentlichkeit herausstellte, dass eine Identifikation und Integration der Bürger über dieses Zitat nicht möglich schien, wurde es in der geänderten konsolidierten Fassung des Verfassungsvertrages auf dem Gipfel in Brüssel am 17./18. Juni 2004 wieder gestrichen.118 Diese Streichung war angesichts der problematischen normativen Implikationen des Zitats sinnvoll. b) Erbe Europas Die erste Präambelerwägung des Verfassungsvertrages beginnt mit dem „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“. Damit wird ein die Nationalstaaten übergreifendes Element Europas formuliert und in der Präambel rechtlich benannt. Der erste Erwägungsgrund stellt das ideologische Fundament des Verfassungsvertrages dar und es wurde um die konkreten Formulierungen bis zuletzt gerungen.119 Die erste Präambelerwägung des Verfassungsvertrages wird auch in Zukunft trotz der Nichtratifikation des Verfassungsvertrages ihre Bedeutung im europäischen Primärrecht behalten. Der Vertrag von Lissabon sieht nämlich vor, dass in die Präambel des EU-Vertrages dieser Erwägungsgrund als zweite Präambelerwägung wörtlich aufgenommen wird.120 Das identitätsstiftende Potential der ersten Präambelerwägung des Verfassungsvertrages ist damit auch zukünftig das ideologische Fundament der Europäischen Union. Die nachfolgenden Erörterungen zur ersten Präambelerwägung des Verfassungsvertrages gelten damit im Fall des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon auch zukünftig.
gen kann, der nicht auch mit dem Einsatz von Kindern an den Gefahren sein Teil trägt; vgl. Thukydides, II, 44 (Einfügung von der Verfasserin). 117 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 120. 118 Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (31). 119 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 120. 120 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 15; Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu /ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935. pdf (07.07.2007), S. 24.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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aa) Erbesklausel Am Anfang der Präambel des Verfassungsvertrages steht eine so genannte Erbesklausel, eine konstante Formel, die im europäischen Vertragsrecht Tradition hat.121 Zwar konnten sich bei der Formulierung der ersten Präambelerwägung die Unterstützer eines Gottesbezuges nicht durchsetzen122, jedoch enthält diese Präambelerwägung einen expliziten Hinweis auf das „religiöse Erbe“. Dieser ist auch in allen Sprachfassungen enthalten.123 Damit ist der Streit überwunden, der sich an der ausdrücklichen Verwendung des Wortes „religiös“ bei der Erarbeitung der Europäischen Grundrechtcharta entfacht hatte.124 Das allgemeine religiöse und weltanschauliche Neutralitätsgebot bleibt von der Bezugnahme auf ein religiöses Erbe unberührt.125 Das in der Präambel erwähnte „religiöse Erbe“ schließt das Christentum mit ein.126 Nach der Erbesklausel werden in der ersten Präambelerwägung diejenigen Werte aufgeführt, die das Erbe Europas ausmachen: „die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte“. Die Präambel bringt an dieser Stelle die Verwurzelung der Europäischen Union in der westlichen Wertegemeinschaft zum Ausdruck.127
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Eine solche Erbesklausel enthält beispielsweise die Präambel der EMRK von 1950; Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 281, 283. 122 So stellte Joachim Wuermeling unterstützt von 20 Konventsmitgliedern den Antrag, an geeigneter Stelle in Anlehnung an die Formulierung der polnischen Verfassung eine Alternativklausel einzuführen und Gott als Quelle der Wahrheit in den Verfassungstext aufzunehmen. Siehe zu der ausführlichen Formulierung dieses Antrags Isak, FS für Mantl II, S. 1035 (1051 Fn. 76); Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (50 f.). 123 Damit bekennt sich der Europäische Verfassungsvertrag an prominenter Stelle in der Verfassung zu den religiösen Überlieferungen Europas. Die Präambel des Verfassungsvertrages geht hinsichtlich der religiösen Bezugnahme über die Präambel der Grundrechtecharta hinaus. 124 Vor allem Frankreich – auch wenn es die Erwähnung des Christentums weiterhin ablehnt – machte diesbezüglich Zugeständnisse. In Folge der Bezugnahme auf das religiöse Erbe in der Präambel des Verfassungsvertrages hat der französische Conseil Constitutionnel in seiner Entscheidung 2004-505 DC (Ziff. 14 ff.) vom 19.11.2004 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa festgestellt, dass die Präambel der Grundrechtcharta bei ihrer Auslegung auf die nationalen Verfassungstraditionen abstelle und daher keine Gefahr aus einer Anwendung der Charta für die verfassungsmäßigen Grundsätze der französischen Republik und insbesondere ihrer Laizität bestünde; zitiert nach Riedel, EuR 2005, S. 676 (680 Fn. 30). 125 Robbers, FS für Häberle, S. 251 (256). 126 Riedel, EuR 2005, S. 676 (680). 127 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (546); Riedel, EuR 2005, S. 676 (680). Diese Werte werden von Art. I-2 VVE an prominenter Stelle referiert.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
bb) Authentizität der historischen Anknüpfung Die erste Präambelerwägung des Verfassungsvertrages bzw. die zweite Präambelerwägung des EU-Vertrages n. F.128 verfolgt die Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Vergangenheit der Völker der Union im Sinne des historischen Identitätsbegriffs und sieht diese als besonders identitätsrelevant an. Damit werden Elemente aufgegriffen, die im Rahmen der Geschichtsnation als Identitätsmodell verdeutlicht wurden.129 Diese Präambelerwägung orientiert sich an denjenigen Ansichten, die auf eine kollektive Identität der Bürger als Legitimitätserfordernis für die Europäische Union rekurrieren.130 Die Bezugnahmen auf die religiösen, kulturellen und historischen Wurzeln Europas zur Stiftung europäischer Identität entspricht der Meinung derjenigen, die sich die politische Gemeinschaft der Europäer als kulturell dichte Gemeinschaft vorstellen. Nach dieser Traditionslinie ist Europa mehr als ein Binnenmarkt und eine Koalition von Interessen innerhalb dieses Marktes.131 Die historische Bezugnahme in der Präambel des Europäischen Verfassungsvertrages bzw. der Präambel des EUVertrages n. F. ist der Versuch, eine substanzhaltige europäische Identität unter Einschluss von Geschichte, Religion und Kultur zu konstruieren. Allerdings ist bereits die Verwendung des Begriffs „Erbe“ in einer Präambel prekär.132 Dieser Begriff lässt nämlich den Tod133 und den Kampf des Abendlandes um das Erbe anklingen.134 Die Problematik der Erbesklausel besteht außerdem darin, dass Europa nicht einfach unter das Prinzip der Einheit subsumiert werden kann.135 Der europäische Kontinent ist in keiner Epoche politisch
128 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 15. 129 Siehe dazu oben S. 73 ff. 130 Siehe dazu oben S. 126 ff. und S. 198 ff., 202 ff. 131 So auch Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (202). Statt vieler für diese Traditionslinie Weiler, Ein christliches Europa, S. 28. 132 Luibl, in: Dalferth et al. (Hrsg.), Europa verstehen, S. 95 (112). 133 Denn ohne Tod gibt es nichts zu erben; dies wird aber in der Präambel nicht ausdrücklich benannt; Luibl, in: Dalferth et al. (Hrsg.), Europa verstehen, S. 95 (112). 134 Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 149. 135 Europa war seit der Dreiteilung des Reiches von Karl dem Großen im 10. Jahrhundert immer durch Gegensätze gekennzeichnet. Sehr ausführlich dazu Pfetsch, Die Europäische Union, S. 102 ff. Sogar das Vorliegen von Einheit in Europa zur Zeit Karls des Großen ist in der Geschichtswissenschaft umstritten. Eine Ansicht nimmt an, dass es niemals eine politische Einheit Europas gegeben hat, auch nicht in der Zeit der karolingischen Reichsschöpfung. Denn es blieben weite Teile der zum Römischen Reich gehörenden Gebiete wie England, Spanien, Süditalien sowie der europäische Norden ausgeschlossen. Demzufolge sei das karolingische Reich kein Vorläufer der europäischen Einheit gewesen. Vgl. dazu ausführlich Schieder, in: Franz (Hrsg.), Am Wendepunkt der europäischen Geschichte, S. 10 (12 ff.) und Schieder, in: König/Rahner (Hrsg.), Europa, S. 87 (88 ff.).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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geeinigt gewesen und die Europäer haben nie zur gleichen Zeit unter einheitlichen sozialen Bedingungen gelebt.136 Aus der Vielfalt und den Gegensätzen hat Europa seine besondere Dynamik des Wandels und des Fortschritts bezogen.137 Für die moderne europäische Geschichte ist vor allem die Entwicklung von Nationalkulturen und Nationalstaaten konstitutiv, die als durchgängiges Formprinzip nur auf dem europäischen Kontinent ausgebildet worden sind.138 Europa ist demzufolge durch eine große Vielfalt von Nationen gekennzeichnet, die sich in den vergangenen Jahrhunderten innerhalb und außerhalb Europas rivalisierend gegenüber standen und Kriege miteinander führten.139 Zu gemeinsamen europäischen Aktionen kam es nur vereinzelt.140 Europäische Einheit wurde vor allem bei der Abwehr gemeinsamer Gefahr von außen erlebt; diese Einheit ging mit dem Verschwinden der jeweiligen Gefahr wieder verloren.141 Keine Revolution hat die europäische Integration hervorgebracht, keine große historische Erfahrung, kein gemeinsamer Aufstand und keine Abwehr einer Invasion von Außen kann als Anlass für die Erinnerung an eine gemeinsame europäische Vergangenheit genommen werden.142 Lediglich die jüngere europäische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, in der sich eine europäische Erfahrungsgemeinschaft zu entwickeln begonnen hat, kommt für eine gemeinsame europäische Erinnerung in Betracht.143 Aber
136 Nirgendwo sonst wie in Europa prallt Vielfalt auf so engem Raum aufeinander. Aus diesem Grund war in Europa kein isoliertes Nebeneinander, sondern nur ein Miteinander möglich. Dieses zeigt sich in allen Arten der sozialen Beziehungen der Staaten zueinander von Freundschaft bis Krieg. Die Geschichte Europas weist als ein tief greifender dialektischer Konflikt zwei Grundtendenzen auf. Die eine ist das Gegeneinander der Nationen, Interessen und Weltanschauungen. Die andere Tendenz Europas ist die der Differenzierung und Vereinheitlichung. Mit diesem dialektischen Konflikt ist die europäische Geschichte untrennbar verbunden. Diese Dialektik von Zuneigung und Differenzierung und die Wechselwirkung von Zuwendung und Absonderung ist das maßgebliche Element der europäischen Geschichte. Vgl. ausführlich dazu Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (21); Pfetsch, Die Europäische Union, S. 102. 137 Giesen, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 130 (136). 138 Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (19). 139 Pfetsch, Die Europäische Union, S. 102. 140 Zu den gemeineuropäischen historischen Ereignissen sind zum Beispiel der Sieg über den Islam bei Tours und Poitiers zu zählen. Auch die Kreuzritter, die ab dem 11. Jahrhundert zu Verteidigung und Ausbreitung des Christentums zu den mittlerweile islamisch beherrschten „heiligen“ christlichen Stätten auszogen, waren eher (west-) europäischen als nationalen Ursprungs. Siehe dazu Pfetsch, Aus Politik und Zeitgeschichte B25–26/98, S. 6. 141 Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 327; Ratzinger, in: König/Rahner (Hrsg.), Europa, S. 61 (61). 142 Giesen, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 130 (135). 143 Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (57).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rivalisierte das Europa des Kommunismus mit dem Europa der westlichen Demokratien.144 Der europäische Subkontinent war nach dem Zweiten Weltkrieg gespalten.145 Der Konflikt zwischen Westeuropa und Osteuropa wurde vor allem an den jeweiligen Organisationen politischer Macht deutlich, der NATO und dem Warschauer Pakt sowie den Europäischen Gemeinschaften und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe.146 Der Druck der jeweiligen Gegenseite auf das eigene Lager ließ den Hang der europäischen Nationalstaaten zur nationalstaatlichen Exklusivität schwinden.147 Eine so tief in die geistige, gesellschaftliche und politische Struktur greifende Abgrenzung, die fast bis zur völligen Abschließung der Menschen, des Austausches von Gedanken und Informationen führte, hatte es bis zu diesem Zeitpunkt in der europäischen Geschichte noch nicht gegeben.148 Daher war auch die Erfahrung der Bedrohung im Ost-West-Konflikt keine gemeineuropäische Erfahrung. Vielmehr handelte es sich lediglich um eine gemeinsame Erfahrung der Europäer jenseits der jeweiligen Trennungslinie, also entweder eine gemeinsame Erfahrung der Osteuropäer oder der Westeuropäer.149 Die Spaltung Europas wurde erst durch die Osterweiterung am 01. Mai 2004 überwunden, als mehrere Staaten des ehemaligen Ostblocks der Europäischen Union beitraten. Die Geschichte der europäischen Integration war demzufolge keine gemeinsame Erfahrung aller Europäer, sie wurde vielmehr partikular erlebt. Die Geschichtserinnerung differiert je nach Nationalstaat abhängig davon, wann dieser der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union beigetreten ist.150 Sogar die vorherrschenden Beweggründe für eine Teilnahme am 144
Pfetsch, Die Europäische Union, S. 102. Siehe ausführlich dazu Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (21 f.); Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 167; Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 320 ff. 146 Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (22). 147 Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, S. 321. 148 Schieder, in: Franz (Hrsg.), Am Wendepunkt der europäischen Geschichte, S. 10 (24). 149 Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (56). 150 Überblicksartig lassen sich verschiedene Stufen der europäischen Integration nennen. 1952 trat der Vertrag zur Gründung der EGKS zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und den Beneluxstaaten in Kraft. Durch die Römischen Verträge wurde 1958 bei ihrem Inkrafttreten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zwischen dieser Sechsergemeinschaft gegründet. 10 Jahre später 1967 wurde die EWG mit der Euratom und Montanunion zur Organisation der Europäischen Gemeinschaften zusammengefasst. Dieser traten 1973 die EFTA-Staaten Großbritannien, Dänemark, Irland und 1981 Griechenland bei; Spanien und Portugal kamen 1986 hinzu. Bei der Nord- Osterweiterung im Jahr 1995 wurden Österreich, Schweden und Finnland Mitglied der Europäischen Union. Schließlich traten in der bisher größten Beitrittswelle in der Osterweiterung der Europäischen Union 2004 zehn neue Mitgliedstaaten bei. Dies waren Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, 145
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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europäischen Integrationsprozess waren aus der Sicht der einzelnen westeuropäischen Staaten sehr unterschiedlich. Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland wollten unabhängig von anderen Motiven151 auch eine „Dritte Kraft“ im Ost-West-Konflikt bilden. Andere Staaten hatten nochmals andere Beweggründe.152 Eine kollektive Identität der Europäer kann nicht an eine gemeinsame Vergangenheit anknüpfen.153 Denn die Vergangenheit wird nicht als eine gemeinsame europäische Vergangenheit erinnert, sondern als eine Mehrzahl von Völkergeschichten.154 Der Hinweis auf die Spaltung Europas fehlt in der Präambelerwägung völlig. Auch der historische Hinweis auf die Schwierigkeit der Entwicklung und Durchsetzung dieser Werte in Europa ist nicht in der ersten Präambelerwägung des Verfassungsvertrages enthalten. Gerade in Europa fanden aber um die Durchsetzung der in der ersten Präambelerwägung genannten Werte jahrhundertelange kriegerische Auseinandersetzungen statt. Eine Berufung auf sie weckt also immer auch die Erinnerung an die Zerwürfnisse in der Vergangenheit der europäischen Nationen. Historische Ereignisse und Traditionen können nicht beliebig als gemeinsame Elemente zur Konstruktion von Identitäten etabliert werden.155 Die Überzeichnung des gemeinsamen europäischen Erbes ohne Nennung der europäischen Auseinandersetzungen in der Präambel ist für die Bürger nicht realistisch. Insofern ist es unter dem Aspekt der Identitätsstiftung bedauerlich, dass die Erbesklausel wortgetreu durch den Vertrag von Lissabon in die Präambel des EU-Vertrages n. F. als zweiter Erwägungsgrund eingefügt wird.
Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern (faktisch aber nur der griechische Teil Zyperns). Zum 01. Januar 2007 traten darüber hinaus unter strikten Auflagen Bulgarien und Rumänien der Union bei. Weitere Bewerberländer sind Kroatien und die Türkei. Vgl. dazu Schieder, in: Franz (Hrsg.), Am Wendepunkt der europäischen Geschichte, S. 10 (23 ff.); Streinz, Europarecht, § 2 Rn. 1 ff.; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EUROPA – Die EU im Überblick – Die Geschichte der Europäischen Union, abrufbar unter: http://europa.eu/abc/history/index_de.htm (13.10. 2006). 151 Andere Motive waren zum Beispiel der Wille zur politischen Integration, der Zugang zum europäischen Markt sowie im Falle der Bundesrepublik die Konsolidierung der Demokratie. 152 Bei Schweden und Österreich war ein außenpolitischer Beweggrund für den Beitritt 1995 gerade der Wegfall des Ost-West-Konflikts, da diese Staaten bis dahin einen Neutralitätsvorbehalt hatten. Irland wollte 1973 außenpolitisch die Unabhängigkeit von Großbritannien erreichen und Finnland die Unabhängigkeit von Russland, als es 1995 beitrat. Vgl. ausführlich dazu Pfetsch, Die Europäische Union, S. 96. 153 Diese wurde bereits im Rahmen der Übertragbarkeit der Konstruktion einer Geschichtsnation auf Europa problematisiert; vgl. oben S. 74 f. 154 Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (56). 155 Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (836).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
c) Schmerzliche Erfahrungen In der zweiten Präambelerwägung des Verfassungsvertrages wird die Spaltung Europas thematisiert und an die „schmerzlichen Erfahrungen“ eines „nunmehr geeinten Europa“ erinnert. Dieses Präambelthema wurde ebenfalls in den vorherigen europäischen Verträgen angesprochen. Es soll an die Katastrophen der beiden Weltkriege erinnern. Allerdings ist die Formulierung der Präambel sehr abstrakt. Es wird die Anschauungs- und Überzeugungskraft der Katastrophen verschenkt. In der Präambel fehlt ein eindeutiger Hinweis auf die Genese der europäischen Integration156 und sie enthält keinen ausdrücklichen Hinweis auf die beiden Weltkriege; diese Katastrophen werden nicht als Entstehungsgrund für die europäische Integration genannt. Es wäre überlegenswert gewesen, die leidvolle Geschichte Europas im letzten Jahrhundert ausdrücklich in die Präambel aufzunehmen.157 Denn der Raum des Friedens ist die größte Errungenschaft der europäischen Einigung.158 Der vorherrschende persönliche Wert der europäischen Bürger ist in den Eurobarometer-Umfragen mit 52% Zustimmung ebenfalls „Frieden“.159 Vor allem im Hinblick auf die Osterweiterung und die Integration der osteuropäischen Staaten hätte dieser zentrale Aspekt in der Präambel deutlicher erwähnt werden sollen.160 Vor dem Hintergrund der bewaffneten Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und den institutionellen Fortschritten bei der Ausbildung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft161, sollten die Spaltung Europas und die kriegerischen Auseinandersetzungen nicht in Vergessenheit geraten.162 Der Hinweis auf die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs und die darauf folgende Spaltung Europas hätten zugleich eine einflussreiche Antwort auf die Frage des „Woher“ und auch des „Warum“ der europäischen Einigung geben können.163 Diese Erfahrung und diesen Entschluss in einem Verfassungsdokument in einer treffenden Formel niederzulegen, wäre eine für alle Europäer
156
von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (56). Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (569). 158 Epping, JZ 2003, S. 821 (825). 159 In 20 von 25 Mitgliedstaaten ist „Frieden“ die Nummer eins unter den persönlichen Werten. Darauf folgen als weitere Werte „Respekt gegenüber dem menschlichen Leben“ (43%), „Menschenrechte“ (41%), „Demokratie“ (24%), „Freiheit des Einzelnen“ (22%), „Toleranz“ (19%), „Gleichheit“ (18%), „Rechtsstaatlichkeit“ (17%). Vgl. ausführlich Eurobarometer 66, S. 35. 160 Epping, JZ 2003, S. 821 (825). 161 Art. I-16, III-292 ff. VVE. 162 Epping, JZ 2003, S. 821 (825). 163 Ein solcher Hinweis findet sich zum Beispiel im fünften Erwägungsgrund der Präambel des EGKS-Vertrages von 1951, wonach die Architekten Europas dem Abgrund entstiegen sind in dem festen Willen, Ähnliches in der Zukunft unmöglich zu machen. Siehe ausführlich dazu von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (56). 157
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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überzeugende Erzählung ihrer gemeinsamen Geschichte gewesen. Es wäre identitätsstiftend gewesen, wenn man eine Formulierung gefunden hätte, die ein Bezugspunkt für eine gemeinsame Erinnerung an die fundierende Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hätte sein können.164 Dies hätte für jeden europäischen Bürger angesichts einer weit verbreiteten Aufklärung über die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges einen tauglichen Angelpunkt einer gemeinsamen europäischen Geschichte ergeben. Damit wurde der maßgebliche Grund für die europäische Integration in der Präambel des Verfassungsvertrages für die Bürger nicht veranschaulicht. Diese Präambelerwägung ist in dem Vertrag von Lissabon nicht enthalten; insofern wird diesbezüglich auf ein identitätsstiftendes Element für die Zukunft verzichtet. 2. Gegenwartsbestimmung Die Gruppenselbstdarstellung ist in der Regel Bestandteil einer Präambel.165 Die Gegenwartsbestimmung ist gleichzeitig eine maßgebliche Komponente zur Formung einer Gruppe.166 Durch die Gegenwartskonstruktion und die Bestimmung einer Gruppe soll die Wahrnehmung der Zugehörigkeit zu derselben Kategorie etabliert werden. Nach dem psychologischen Identitätsbegriff resultiert Identifikation aus einer emotionalen Bindung zu einer imaginären sozialen Einheit. Individuen sind bestrebt, eine positive soziale Identität zu besitzen.167 Menschen bevorzugen in der Regel eine Identifikation mit Gruppen oder umfassenderen Sozialkategorien, wenn sie ihnen entweder zur Abwendung existenzbedrohender Gefahren oder zur Verwirklichung angestrebter persönlicher Zielsetzungen Erfolg versprechend erscheinen. Es ist für den Identifikationsprozess entscheidend, dass die Gruppe dem Einzelnen die Möglichkeit bietet, seine Hoffnungen, Wünsche, Ansprüche oder Träume darauf zu projizieren.168 Wenn dagegen die eigene soziale Identität unbefriedigend ist, tendieren Individuen dazu, entweder ihre Gruppe zu verlassen und in eine andere positivere Gruppe einzutreten oder sie versuchen, die positive Distinktheit ihrer Gruppe zu erhöhen.169 Daher ist es bei identitären Konstruktionen wesentlich, dass sich eine neue Gruppenidee als ausreichend Erfolg versprechend für die Mehrheit ihrer Mitglieder darstellt.170 Dies gilt auch für den europäischen Integrationspro164 Siehe ausführlich zum Folgenden von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (56); Rosenfeld, The European Treaty – Constitution and Constitutional Identity, S. 3 (16). 165 Weinholt, Gott in der Verfassung, S. 168. 166 Siehe zum historischen Identitätsbegriff oben S. 48 f. 167 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 41. Siehe dazu auch oben S. 44 f. und S. 51 f. 168 Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (41). 169 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 41. 170 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 44.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
zess.171 Es ist somit für die Identifikation der Bürger zwar nicht unbedingt erforderlich, aber doch sehr förderlich, wenn die maßgebliche Gruppe der Europäer im Verfassungsvertrag positiv abgebildet wird.172 Das identitätsstiftende Potential des Verfassungsvertrages hängt unter anderem davon ab, wie erfolgreich und positiv die Gruppe der Europäer dargestellt wird. a) Wohlstand Europas zum Wohl seiner Bewohner In der zweiten Präambelerwägung des Verfassungsvertrages wird der Wohlstand Europas zum Wohl all seiner Bewohner erwähnt.173 Im Gegensatz zu den vorherigen Verträgen174 stehen in der Präambel des Verfassungsvertrages die Ökonomie und der Europäische Markt nicht im Zentrum. Damit haben sich die Prioritäten in der Europäischen Union von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft verschoben.175 Es wird deutlich, dass die wirtschaftliche Integration Europas – anders als in den Präambeln der früheren Verträgen – zweitrangig ist gegenüber der gesellschaftlichen Integration. Daraus kann gefolgert werden, dass eine Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht gegenüber einer lediglich wirtschaftlichen und funktional orientierten Integration in den Vordergrund gerückt ist. Diese Intention des Verfassungsvertrages wurde aber durch den Vertrag von Lissabon nicht übernommen. Die Präambel des EU-Vertrages n. F. entspricht bis auf die Einfügung eines zweiten Erwägungsgrundes dem bisherigen Primärrecht.176 Damit liegt nach dem Vertrag von Lissabon der Schwerpunkt in den Präambelerwägungen wieder auf wirtschaftlichen Erwägungen. Die Verschiebung des Verfassungsvertrages von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft wurde im Vertrag von Lissabon modifiziert.
171
Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 250. von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (57). 173 Auf die immense Bedeutung des Ausgleichs sozialer Ungleichheiten für die Stabilität und die Ausbildung kollektiver Identität hat bereits Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (430 f.) hingewiesen. Siehe dazu oben S. 134 f. 174 Die Präambel des EU-Vertrages hatte noch wortreich und detailliert ihren Schwerpunkt in den Präambelerwägungen sieben und acht auf wirtschaftliche Erwägungen gelegt. Es ging ihr vornehmlich um die Stärkung der Volkswirtschaften, die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion mit einheitlicher und stabiler Währung, die Verwirklichung des Binnenmarktes und die wirtschaftlichen Fortschritte und wirtschaftliche Integration. Siehe dazu Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union I, Präambel EUV Rn. 29 ff. 175 Robbers, FS für Häberle, S. 251 (260). 176 Die einzigen sonstigen Änderungen der Präambel ergeben sich aus der Umbenennung der Verträge; Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 15 f. 172
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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b) Völker Europas In der dritten Präambelerwägung werden die „Völker Europas“ erwähnt. Ihre Nennung ist ein bemerkenswerter Unterschied zu den Präambeln der bisherigen europäischen Verträge, die lediglich die unterzeichnenden Staatsoberhäupter nennen. Damit wird der Gedanke der Volkssouveränität besonders betont.177 Es wird nicht das europäische Volk, sondern es werden die Völker Europas in ihrer Mehrzahl und ihren nationalen Besonderheiten in den Blick genommen.178 Der gewählte Plural erklärt sich daraus, dass bisher und auch nicht in naher Zukunft von „einem europäischen Volk“ gesprochen werden kann. Insofern wendet sich der Verfassungsvertrag von der Konstruktion einer Abstammungsgemeinschaft der Europäer bzw. einer volklichen Homogenität ab.179 Nach der Sichtweise der Präambel des Verfassungsvertrages prägen bei aller geforderten Gemeinsamkeit die historischen Schicksale der Mitgliedstaaten und ihre sozialen, kulturellen und historischen Unterschiede den Integrationsvorgang.180 Daran wird deutlich, dass die Präambel nicht davon ausgeht, dass die Europäer bisher eine europäische Identität ausgeprägt haben.181 Der Verfassungsvertrag verfolgt also das Konzept der Stiftung kollektiver Identität durch ein Verfassungsdokument und geht von einer Beeinflussbarkeit der Bürger durch Recht aus.182 Der Begriff „Völker Europas“ wird im Verfassungsvertrag allerdings nicht definiert.183 Er kann sich mangels ausdrücklicher Benennung der „Europäischen Union“ nur auf den geographischen Begriff des Subkontinents Europa beziehen. Die Eingangsformel wird daher einerseits als Ausdruck der Offenheit für alle europäischen Völker interpretiert, die der Union beitreten wollen.184 Die Europäische Union besteht aber andererseits nicht aus allen Völkern, die auf dem Subkontinent Europa zu finden sind. In der Präambel wird damit die geographische Unschärfe des Kontinents Europa185 besonders betont. Mit dieser Formulierung wird der für eine kollektive Identität konstitutive Abgrenzungsaspekt der Europäischen Union gegenüber Staaten, die ihr nicht angehören, vernachläs177 Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 27. 178 Robbers, FS für Häberle, S. 251 (258). 179 Siehe dazu oben S. 76 ff. bzw. S. 113 ff. 180 Siehe zum Folgenden Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 54 f. 181 So vertreten von Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (195). 182 Damit analogisiert die Europäische Union das Konzept der Verfassungsnation bzw. des Verfassungspatriotismus in der Tradition Smends; vgl. dazu oben S. 84 ff.; S. 152 ff.; S. 216 ff. 183 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 284. 184 So vertreten von Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 27. 185 Siehe dazu oben S. 35 f.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
sigt.186 Die Präambel hätte besser nur auf die „Völker der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ Bezug genommen.187 Diese Formulierung der Präambel ist unter dem Aspekt einer erfolgreichen Identitätsstiftung nicht geglückt. Vor diesem Hintergrund ist es begrüßenswert, dass der Vertrag von Lissabon diese Formulierung der Präambel des Verfassungsvertrages nicht übernimmt. c) Europa als ein Ort, an dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann Eine sehr positive Sicht auf Europa findet sich in der vierten Präambelerwägung. Danach bietet Europa den Menschen „die besten Möglichkeiten“, das „große Unterfangen fortzusetzen, das ein günstiges Umfeld schafft, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann“.188 Europa wird positiv als Zufluchtsort der Menschen dargestellt. Wenn dies als glaubwürdig von den Menschen empfunden wird, kann eine positive Selbstwahrnehmung der Europäer als Gruppe stattfinden. Allerdings ist der Text der vierten Präambelerwägung nach einer Ansicht nicht gelungen und wird als geradezu missionarisch kritisiert.189 Er wird sogar als „Verfassungssatire“ bezeichnet.190 Durch das Pathos der vierten Präambelerwägung ergebe sich ohne Not ein Glaubwürdigkeitsproblem.191 Diese Ansicht ist aber angesichts der Eurobarometer-Umfragen nicht haltbar. Den Umfragen zufolge deckt sich die Sicht der Präambel des Verfassungsvertrages mit den Empfindungen der Menschen. „Hoffnung“ wurde als Gefühl gegenüber der Europäischen Union in einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Herbst 2005 an erster Stelle von 42% der Befragten genannt.192 Insofern ist die Formulierung der vierten Präambelerwägung nah an der Einschätzung der Bürger und deshalb glaubwürdig. Sie kann zum Gelingen einer Identitätsstiftung beitragen. d) Im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas Träger des positiv dargestellten Europa sind nach der sechsten Präambelerwägung zum einen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Zum anderen ha186
Dies sind zum Beispiel Island, Norwegen und die Schweiz. Siehe dazu Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (569); Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 27. 188 Robbers, FS für Häberle, S. 251 (258). Siehe dazu auch von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). 189 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 121. 190 Kadelbach, FS für Ress, S. 527 (534). 191 Kadelbach, FS für Ress, S. 527 (534 f.). 192 Danach folgen „Vertrauen“ erst mit 22%, „Sorge“ mit 21%, „Misstrauen“ mit 20%. Siehe ausführlich dazu Eurobarometer 64, S. 41. 187
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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ben die Mitglieder des Konvents „im Namen der Bürgerinnen und Bürger“ gehandelt. Erstmals wird in einer Präambel des europäischen Vertragsrechts von den europäischen „Bürgerinnen und Bürgern“ gesprochen. Damit ist der Verfassungsvertrag sowohl auf die individuelle demokratische als auch auf die kollektive mitgliedstaatliche Legitimation gerichtet. Dies entspricht der institutionellen Struktur der Europäischen Union, welche ein Parlament von Volksvertretern sowie einen Rat mit Regierungsvertretern aufweist.193 Die sechste Präambelerwägung verdeutlicht die duale Legitimation der Europäischen Union als Union der Bürger und als Union der Staaten.194 Allerdings haben die Mitglieder des Konvents den Verfassungsvertrag nicht in Vertretung der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas ausgearbeitet. Der Konvent hat die Verfassung nach der sechsten Präambelerwägung nur „erarbeitet“, aber nicht gegeben. So wird am Ende der Präambel klar gestellt, dass die Vertragsstaaten die Verfassungsgeber bleiben.195 Dies verdeutlicht auch der Vertrag von Lissabon, der eine duale Legitimation der Europäischen Union als Union der Bürger und der Staaten durch eine Änderung der Präambel des EU- und des EG-Vertrages nicht vorsieht; insofern bleibt es bei den bisherigen Formulierungen der Präambeln sowohl des EU- als auch des EG-Vertrages. e) Gottesbezug Die hohe Wertintensität von Präambeln zeigt sich gerade darin, dass häufig auf Vorgegebenheiten wie Gott oder Christus verwiesen wird.196 Der Gottesbezug gehört zum ethisch-religiösen Teil einer Präambel. Die ausdrückliche Anrufung Gottes in der Präambel wird als Invocatio Dei bezeichnet; sie liegt vor, wenn eine Verfassung „im Namen Gottes“ erlassen wird.197 Die bloße Nennung „Gottes“ oder Formulierungen, in denen in irgendeiner Weise allgemein ohne konkrete Anrufung auf „Gott“ Bezug genommen wird, bezeichnet man als Nominatio Dei.198 Überraschenderweise weist trotz eines zunehmenden Säkularisierungsprozesses eine erhebliche Anzahl neuerer demokratischer Verfassungen einen irgendwie gearteten Gottesbezug in der Präambel auf.199 In vielen mit193
Robbers, FS für Häberle, S. 251 (258). Siehe zum Verständnis der dualen Legitimation Tsatsos, FS für Häberle, S. 223 (241 ff.); Fischer, FS für Mantl II, S. 991 (1016); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 556 ff.; Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (151 f.). 195 Ebenso für den Entwurf des VVE Robbers, FS für Häberle, S. 251 (259). 196 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (231). 197 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar I, Präambel, Rn. 14. Siehe zur Geschichte dieser Anrufung Weinholt, Gott in der Verfassung, S. 183 ff. 198 Weinholt, Gott in der Verfassung, S. 186, 188; Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (20). 199 Als Beispiele sind hier die Verfassungen von Polen, Südafrika, Sachsen-Anhalt, die Schweiz und die Ukraine zu nennen; Weinholt, Gott in der Verfassung, S. 169. 194
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
gliedstaatlichen Verfassungen200 finden sich Gottesbezüge in Form der Nominatio oder der Invocatio dei.201 aa) Laizismus des Verfassungsvertrages Das derzeitig geltende Primärrecht enthält weder einen Gottesbezug noch einen Hinweis auf christliche Wurzeln der Europäischen Union. Vor diesem Hintergrund war es überraschend, dass gerade die Frage eines Gottesbezuges in der Präambel im Verfassungskonvent und der Öffentlichkeit besonders intensiv diskutiert wurde.202 Zahlreiche Wortmeldungen und Änderungsvorschläge im Konvent betrafen das Vorhaben, eine Bezugnahme auf Gott oder das Christentum, die griechisch-römische, jüdisch-christliche, laizistische oder liberale Tradition Europas in die Gesamtpräambel aufzunehmen.203 Diese Frage wurde auch zu einem der am meisten umstrittenen Themen der Regierungskonferenz in Brüssel im Juni 2004. Von einigen Mitgliedstaaten,204 vor allem von Polen, wurde ein Gottesbezug als maßgeblich für die Ratifikation des Verfassungsvertrages angesehen.205 Demgegenüber wies Frankreich – unterstützt von der ebenfalls laizistischen Türkei – einen Hinweis auf Gott im Verfassungsvertrag zurück. Im Ergebnis konnte sich die französische Position gegen die Allianz aus Polen, Portugal und Italien durchsetzen.206 Der Identitätsbaustein eines Gottesbezuges wurde nicht in den Europäischen Verfassungsvertrag aufgenommen. Die Nennung Gottes in der Präambel ist auch für nationale Verfassungen umstritten. Insofern ergeben sich in inhaltlicher Sicht Berührungspunkte zwischen den Entwicklungen auf der nationalstaatlichen Ebene und der europäischen Ebene.207 Ein Hauptargument gegen einen Gottesbezug ist, dass die Aufnahme 200 Bis auf die, die in einer laizistischen Tradition stehen, wie zum Beispiel die französische Verfassung. 201 Einen guten Überblick über die verschiedenen Gottesbezüge sowie den laizistischen Passus in der französischen Verfassung von 1958 bietet Weiler, Ein christliches Europa, S. 43 ff. 202 Robbers, FS für Häberle, S. 251 (260). 203 Isak, FS für Mantl II, S. 1035 (1051). 204 Neben Italien, Polen, Litauen, Malta, Portugal, der Slowakei und der Tschechischen Republik forderten vor allem Kirchen und die christlichen Parteien einen Gottesbezug oder eine Bezugnahme auf die christlichen Werte in der Präambel; Riedel, EuR 2005, S. 676 (677). 205 Man erklärte, dass man mit Rücksicht auf die eigene Bevölkerung eine Verfassung ohne Gottesbezug nicht annehmen könne; Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (51). 206 Auch der Heilige Stuhl beteiligte sich via Italien an dieser Diskussion; Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 120 f. 207 So wurde beispielsweise auch in Österreich im Rahmen des Verfassungskonvents eine kontroverse Debatte darüber geführt, ob und wenn ja in welcher Weise eine neue österreichische Bundesverfassung einen Gottesbezug enthalten soll oder ob nicht in
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religiöser Elemente immer die Identifikation Nichtgläubiger erschwert. Das hohe desintegrative Potential religiöser Bezüge resultiert daraus, dass sich bei dieser Diskussion Gläubige verschiedener Religionen und Nichtgläubige gegenüber stehen. Eine religiöse Identität ist mit einer atheistischen Identität unverträglich. Aber auch die jeweiligen religiösen Identitäten sind nicht miteinander vereinbar und schließen sich gegenseitig aufgrund ihres Absolutheitsanspruchs aus.208 Schon im Grundrechtekonvent wurde daher unter Verweis auf die Universalität und Unteilbarkeit der Grundrechte vor religiösen Bezügen in der Präambel und der damit verbundenen Ausschlussgefahr gewarnt.209 Die Gegner eines Gottesbezuges vertreten die laizistische Auffassung, dass sich die strikte Trennung von Hoheitsgewalt und Religion auch in den Rechtstexten widerspiegeln soll.210 Diese Auffassung wird nicht von allen geteilt. Durch die Bezugnahme auf Gott soll nach der entgegen gesetzten Ansicht hauptsächlich auf außerrechtliche Zusammenhänge hingewiesen werden, denen gegenüber das Verfassungswerk gebunden ist.211 Es soll verdeutlicht werden, dass jede menschliche Ordnung fehlbar und unvollkommen ist.212 Den Befürwortern eines Gottesbezuges geht es um eine Selbstbeschränkung von Recht und Politik.213 Von einer Seite wurde auch Verwunderung über die europäische Scheu geäußert, das Christentum in der Verfassung zu erwähnen, denn auch diese Position sei nicht neutral. Wenn eine verfassungsrechtliche Lösung nur zwischen einer laizistischen und einer religiösen Alternative wählen kann, dann spiegelt weder die Entscheidung für die eine noch für die andere Option eine neutrale Position wider.214 Ein klares Bekenntnis im Europäischen Verfassungsvertrag zu einer der Positionen wird
einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft von einem Gottesbezug Abstand zu nehmen sei; Isak, FS für Mantl II, S. 1035 (1037 m.w. N.). 208 Siehe dazu auch unten S. 310 f. und ausführlich Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 169. Ebenso Depenheuer, in: Buchstab/Uertz (Hrsg.), Nationale Identität im vereinten Europa, S. 55 (61). 209 Riedel, EuR 2005, S. 676 (679). 210 Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (29). 211 So vertreten von Weinholt, Gott in der Verfassung, S. 187. Siehe dazu auch Blumenwitz, in: ders. et al., Freiheit und Autorität als Grundlegung der modernen Demokratie (Würzburger Studien zur Soziologie, Band 7), S. 65 (88 f.; 96 f.). 212 Riedel, EuR 2005, S. 676 (677 f.). 213 Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (28). Es soll nicht um eine transzendente Überhöhung der Verfassung, sondern um eine Betonung der Endlichkeit und Fehlbarkeit auch einer demokratischen Verfassungsordnung gehen. Daher wird hinsichtlich des Grundgesetzes der Gottesbezug auch als eine „Demutsformel“ zur Relativierung staatlicher Herrschaft qualifiziert. Dieser soll verdeutlichen, dass der Staat keinen absoluten Wahrheitsgehalt für sich beanspruchen kann; Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar I, Präambel, Rn. 15. 214 Siehe ausführlich dazu Weiler, Ein christliches Europa, S. 49.
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aber dadurch erschwert, dass das Verständnis von Staat und Religion in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erheblich voneinander abweicht.215 bb) Alternativklausel Eine interessanter dritter Weg zwischen Laizismus und Gottesbezug in der Präambel des Europäischen Verfassungsvertrages wäre daher eine Alternativklausel gewesen, die sowohl diejenigen, die an Gott glauben, als auch diejenigen, die dies nicht tun, einbezieht.216 Die Alternativklausel der polnischen Verfassung wird als eine gute Lösung angesehen, um die verfassungsrechtliche Pluralität innerhalb der Europäischen Union angemessen darzustellen.217 Eine ähnliche Alternativklausel hätte ein gelungenes Bekenntnis zu einer eigenen europäischen Identität sein können.218 Der Antrag auf eine Alternativklausel wurde im Verfassungskonvent gestellt, aber nicht angenommen.219 Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die in einer laizistischen Tradition stehen,220 war ein Gottesbezug jeglicher Art nicht akzeptabel.221 Das Recht der Europäischen Union und der Europäische Verfassungsvertrag gewährleisten aber die individuelle, kollektive und institutionelle Religionsfreiheit. Die Religionsfreiheit ist auch in Art. II-70 VVE verbürgt. Sie umfasst die Freiheit zu und die Freiheit von jeder Religion. Darüber hinaus garantiert Art. II82 VVE die Achtung der „Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“.222 Die europäische Religionsfreiheit kann daher nicht durch eine religiöse oder laizistische Bezugnahme in der Präambel einer Verfassung verletzt sein.223 Nur 215 Beispielsweise ist in England die Kirche seit Jahrhunderten in die weltliche Herrschaft eingegliedert. Schweden, Finnland und Dänemark haben ebenfalls ein Staatskirchentum. Demgegenüber ist Frankreich laizistisch; Kirche und Staat sind dort seit 1905 strikt getrennt. In Deutschland ist wiederum die verfassungsrechtlich ausgestaltete Zuordnung von Kirche und Staat maßgeblich. Siehe dazu Blumenwitz, ZfP 2004, S. 115 (122). 216 Eine solche Alternativklausel findet sich in der Verfassung von Polen. Diese umfasst „alle Bürger der Republik sowohl jene, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben, als auch jene, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“. Zitiert nach Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (30). Siehe auch die Übersetzung bei Weiler, Ein christliches Europa, S. 51; allgemein dazu Riedel, EuR 2005, S. 676 (678). 217 Weiler, Ein christliches Europa, S. 54. 218 So auch Wenzel, Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 05.10.2004, S. B13 (B13). 219 Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (30). 220 Insbesondere Frankreich und Belgien. 221 Riedel, EuR 2005, S. 676 (678). 222 Isak, FS für Mantl II, S. 1035 (1043 f.). 223 Weiler, Ein christliches Europa, S. 47.
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eine säkulare, nicht aber eine religiös legitimierte Verfassungsordnung, kann den notwendigen Freiraum der Bürger sichern, der sowohl Kirchen als auch sonstigen Religionsgemeinschaften die Möglichkeit freier Entfaltung bietet.224 Insofern erscheint die Debatte um einen Gottesbezug im Europäischen Verfassungsvertrag überzogen und ideologisch aufgeladen.225 Denn auch ohne Gottesbezug enthält der Europäische Verfassungsvertrag vielfache Bezüge auf Religionen, auf die Religionsgemeinschaften und die Kirchen.226 Die Debatte um einen Gottesbezug verdeutlicht damit eher das hohe desintegrative Potential von religiösen Gegensätzen innerhalb einer Gruppe aufgrund des besonders hohen affektiven emotionalen Gehalts der Materie. Die Einstellungen der europäischen Bürger zur Religion sind ebenfalls sehr gespalten; 46% sehen den Stellenwert der Religion als zu hoch in der Gesellschaft an, 48% der Bürger stimmen dieser Aussage nicht zu.227 Daher erscheint es nicht ratsam, die religiöse und weltanschauliche Neutralität der Europäischen Union in Frage zu stellen. Der Wert der Debatte um den religiösen Bezug lag in der Schaffung einer europaweiten Öffentlichkeit. Die Frage eines Gottesbezuges in der Präambel sprach die meisten Bürger unmittelbar an.228 Die Diskussion wurde über das Fachpublikum der unionsverfassungsrechtlich interessierten Juristen hinaus in allen Mitgliedstaaten von einer breiten Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt.229 Der politische Streit um die Verankerung eines religiösen Bezuges in der Präambel hat diesem Teil des Verfassungsvertrages während des Konvents und der Regierungskonferenz viel Aufmerksamkeit verschafft und eine europaweite Debatte ausgelöst,230 an der auch die christlichen Kirchen teilnahmen.231 Die Rolle des Glaubens war damit eines der wenigen Themen der Verfassung, das nachhaltig in der Öffentlichkeit diskutiert wurde.232 Auch ohne Bezugnahme auf Gott in der Präambel war die selbstreflexive intensive öffentliche Diskussion um einen Gottesbezug in der Präambel des Europäischen Verfassungsver224 Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (29 m.w. N.). 225 So auch Isak, FS für Mantl II, S. 1035 (1056). 226 Siehe dazu ausführlich Riedel, EuR 2005, S. 676 (676 ff.). 227 Dabei tritt in der Umfrage zu diesem Thema eine starke Heterogenität zwischen den Mitgliedstaaten hervor; vgl. Eurobarometer 66, S. 41. 228 Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (28). 229 Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union I, Präambel EUV, Rn. 36. 230 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 54. 231 Siehe zu den Repräsentanten der katholischen Kirche und insbesondere des Heiligen Stuhls bei den Europäischen Gemeinschaften und deren Beiträge zur europäischen Integration Schambeck, FS für Ress, S. 773 (777 ff.); Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (29 f.). 232 Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (52).
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trages ein Impuls für die Stiftung europäischer Identität und hat so die identitätsstiftende Bedeutung der Präambel betont.233 Der Vorwurf, dass sich der Verfassungsprozess am Bürger vorbei vollzogen habe, trifft hier nicht zu.234 Darüber hinaus ist das Fehlen eines Gottesbezuges in der Präambel des Verfassungsvertrages kaum ein Hindernis für eine erfolgreiche Identitätsstiftung; nur 6% der Bürger geben an, den Verfassungsvertrag wegen des fehlenden Hinweises auf die christlichen Wurzeln Europas abzulehnen.235 Daher erscheint es folgerichtig, dass auch der Vertrag von Lissabon weder einen Gottesbezug für die Präambel des EU-Vertrages noch des zukünftigen Vertrages über die Arbeitsweise der Union enthält. 3. Zukunftsbezug Als dritte Zeitgröße zur Ausbildung kollektiver Identität dient nach dem historischen Identitätsbegriff236 die Zukunft, also die in die Zukunft gerichteten Absichten und Ziele einer Gruppe. Soweit sich Präambeln programmatisch der Zukunft zuwenden oder Wünsche und Hoffnungen ausdrücken, enthalten sie einen konkret-utopischen Überschuss: ein Zukunftsentwurf macht die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit in einer Verfassung sichtbar.237 a) Voranschreiten Europas In der zweiten Präambelerwägung des Verfassungsvertrages wird auf die Zukunft Europas Bezug genommen.238 Demzufolge will Europa „auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner“ weiter voranschreiten; es will ein Kontinent bleiben, „der offen ist für Kultur, Wissenschaft und sozialen Fortschritt“; es will „Demokratie und Transparenz als Grundlage seines öffentlichen Lebens stärken“ und es will auf die Stärkung von „Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt“ hinwirken. Der Beitrag zur Stärkung von Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt ist aufgrund dieser Formulierung ein vorrangiges Ziel für die Europäische Union. Gleichzeitig wird auf das noch Unerfüllte hingewiesen, auf die noch zu lösenden Aufgaben und Herausforderungen Europas. Denn Demokratie und 233 Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (30 f.). 234 Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (52). 235 Eurobarometer 63, S. 148. 236 Siehe dazu oben S. 48 f. 237 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 275; Häberle, FS für Broermann, S. 211 (234). 238 Siehe dazu auch Robbers, FS für Häberle, S. 251 (256).
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Transparenz müssen weiter gestärkt werden; sie sind demnach noch nicht vollendet.239 Der Europäische Verfassungsvertrag geht also davon aus, dass die Europäische Union bereits ein eigenständiges öffentliches Leben hat. Ansonsten würde die Stärkung von Demokratie und Transparenz jeder Grundlage entbehren. Man kann diese Formulierungen der zweiten Präambelerwägung als die Hoffnung interpretieren, dass die Europäische Union eine ethische Gemeinschaft darstellen soll. Denn die Besonderheit Europas wird gerade anhand des Vokabulars einer ethischen Gemeinschaft herausgestellt.240 Insofern nimmt der Verfassungsvertrag hier Elemente aus denjenigen Theorien auf, die gemeinsame Vorstellungen als notwendig für die Legitimität eines Gemeinwesens ansehen.241 Diesbezüglich nimmt der Vertrag von Lissabon jedoch eine Korrektur vor. Er enthält keine der Formulierung des Verfassungsvertrages vergleichbare Bezugnahme auf das Vokabular einer ethischen Gemeinschaft. Vielmehr bleibt es bei der bisherigen Schwerpunktsetzung der Präambel des EU-Vertrages und des EG-Vertrages auf dem Bestehen einer Wirtschaftsgemeinschaft und eines Binnenmarktes. b) Immer enger vereint als Schicksalsgemeinschaft Ein Zukunftsbezug ist auch deutlich in der Formulierung der dritten Präambelerwägung des Verfassungsvertrages zu erkennen, wonach die Völker Europas „entschlossen sind, die alten Gegensätze zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal zu gestalten“. aa) Europa als Schicksalsgemeinschaft Die Präambel des Verfassungsvertrages nennt in der dritten Präambelerwägung eine der stärksten Figuren in der Bildung einer Gruppe, die der Schicksalsgemeinschaft.242 Der Singular „ihr Schicksal“ impliziert, dass die Völker Europas nur noch eine gemeinsame Zukunft haben. Ein gemeinsames Schicksal kann sogar Menschen zu einer Gruppe zusammenzuschweißen, wenn deren gefühlsmäßige Bande eher schwach sind. In der deutschen Staats- und Verfassungslehre findet sich der Gedanke, dass sich ein Gemeinwesen durch ein gemeinsames Schicksal konstituiert, bereits bei Hermann Heller.243 239
Robbers, FS für Häberle, S. 251 (257). Weiler, Ein christliches Europa, S. 29. 241 Siehe dazu beispielsweise S. 126 ff., S. 184 ff.; S. 203 f.; S. 216 ff. 242 Der EGKS-Vertrag verankerte den Gedanken eines nunmehr gemeinsamen europäischen Schicksals zum ersten Mal. Zum Folgenden siehe von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (57). 243 Siehe dazu oben S. 131; Heller, Staatslehre, S. 266; Heller, Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (429). 240
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Schicksal wird allgemein definiert als alles, was dem Menschen widerfährt, was sein Dasein bestimmt, ohne dass es vom menschlichen Willen beeinflusst oder vom Menschen selbst geändert werden könnte.244 Schicksal wird demzufolge also eher „erfahren“ oder „erlitten“.245 Denn Schicksal ist eine Bezeichnung für etwas, das den Menschen widerfährt und nicht Resultat seines menschlichen Wollens und Handelns ist.246 Die Formulierung „Schicksal gestalten“ der Präambel ist daher sehr ungewöhnlich, da sie eine offene und gestaltbare Zukunft impliziert. Dadurch stellt der Verfassungsvertrag klar, dass die europäischen Völker sich nicht mehr unabhängig voneinander entwickeln können und sollen. Innerhalb der Europäischen Union ist nur noch eine gemeinsame Entwicklung möglich. Das Konzept einer europäischen Schicksalsgemeinschaft hat einen großen Symbolwert. Durch die Verwendung des Schicksalsbegriffs wird die Präambel aber von dem Ziel getragen, die politische Identität der Europäer so zu formen, dass sie eine Solidarität und Opferbereitschaft entwickeln, die der einer nationalen Gemeinschaft entspricht. Die Europäische Union zielte bisher nicht darauf ab, von den europäischen Bürgern echte Opfer zu verlangen.247 In normativer Hinsicht ist daher prekär, welche Opfer die Europäische Union von den Bürgern im Krisenfall erwarten wird. Daher ist der Begriff des Schicksals in normativer Hinsicht wegen seiner Mehrdeutigkeit und seines hohen Anspruchs an eine gemeinsame Identität der Bürger nicht unproblematisch.248 Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass der Begriff des Schicksals nach dem Vertrag von Lissabon nicht in dieser Form in das europäische Primärrecht überführt werden wird. bb) Einheit Europas Darüber hinaus tritt nach der zweiten Präambelerwägung des Verfassungsvertrages an die Stelle der „immer engeren Union der Völker Europas“ gemäß Art. 1 Abs. 2 EU249 die „Überzeugung“, dass ein „nunmehr geeintes Europa“ 244
Brockhaus Wahrig, Schicksal, S. 545. von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (57). Das Wort Schicksal wird daher typischerweise mit den Verben „haben“, „erleiden“, „annehmen“, „meistern“, „tragen“ „sich ergeben“, „hinnehmen“, „entgehen“ verbunden; vgl. Brockhaus Wahrig, Schicksal, S. 545. 246 Siehe ausführlich zum Folgenden von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (57). 247 Siehe ausführlich dazu Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (197). 248 Aus diesem Grund wurde der Begriff „Schicksal“ für die Präambel der Grundrechtecharta abgelehnt; Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 21. 249 Die Formulierung eines „immer engeren Zusammenschlusses“ findet sich auch in der 1. Präambelerwägung der Präambel des EG-Vertrages. Dafür hatte bereits der EGKS-Vertrag den Grundstein gelegt. Diesen Integrationsgedanken bekräftigt eben245
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existiert. Diese Formulierung findet sich nur in der Präambel des Verfassungsvertrages. Sie soll die Konsolidierung des Integrationsprozesses der Europäischen Union veranschaulichen.250 Damit verwendet die Präambel einen Begriff von Einheit und Einigung, der die europäische Integration als Rechtsverpflichtung bestimmt.251 Allerdings sind die Formulierungen der 3. Präambelerwägung insgesamt widersprüchlich. Einerseits erscheint der Kontinent in der zweiten Präambelerwägung als „nunmehr geeintes Europa“. Andererseits spricht die dritte Präambelerwägung von der Entschlossenheit der Völker Europas, „die alten Gegensätze zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal zu gestalten“. Dies deutet auf eine fortbestehende Dynamik der europäischen Integration hin, deren Ziel aber nicht genannt wird. Damit erstreckt sich der Charakter des Prozesshaften und Dynamischen, der die europäische Integration bereits in der Vergangenheit stark geprägt hat, auch auf den Verfassungsvertrag.252 Aus der Sicht einer klaren Kategorisierung wäre es demgegenüber von Vorteil gewesen, wenn der Europäische Verfassungsvertrag deutlich benennen würde, wohin die Entwicklung der Europäischen Union geht, um den Bürgern eine klare Zukunftsvision zu geben, an der sich nach dem historischen Identitätsbegriff eine kollektive Identität ausrichten kann. Denn um ihre Identitätsund Integrationsfunktion auch erfüllen zu können, muss eine Verfassung dem zu verfassenden Gemeinwesen Struktur und Stabilität verleihen. Unter identitätsstiftenden Gesichtspunkten erscheint es daher nicht förderlich, dass der Verfassungsvertrag die Frage, wohin Europa steuert, für die Bürger nicht beantwortet. Unter diesem Aspekt erscheint es zwar sinnvoll, dass der Vertrag von Lissabon die widersprüchlichen Formulierungen der Präambel des Verfassungsvertrages nicht aufnimmt. Allerdings benennt auch er nicht die Finalität der europäischen Integration, so dass es insofern bei den genannten negativen Implikationen bleibt. c) Hoffnung der Menschen Schließlich werden in der vierten Präambelerwägung des Verfassungsvertrages ganz ausdrücklich „künftige Generationen“ erwähnt und von der Fortsetzung „dieses großen Unterfangens“ gesprochen. Damit gilt der Ausblick der falls der erste und der dreizehnte Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrages. Vgl. dazu Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Präambel EUV, Rn. 2; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Präambel EGV, Rn. 2. 250 So auch Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (546). 251 So vertreten von Robbers, FS für Häberle, S. 251 (257). 252 Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (757).
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Präambel vor allem den Hoffnungen der Menschen. Die Präambel des Verfassungsvertrages weist insgesamt einen starken Zukunftsbezug auf. Der Vertrag von Lissabon übernimmt bis auf die Erbesklausel keine der Formulierungen des Verfassungsvertrages für eine Änderung der Präambeln des EU- und EG-Vertrages, so dass es bei dem schwachen Zukunftsbezug der bisherigen Präambeln bleibt. V. Ergebnis In der Präambel des Verfassungsvertrages wurde zur Identitätsstiftung mit Blick auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gearbeitet. Aufgrund dessen, dass der Vertrag von Lissabon bis auf die Erbesklausel keine der Präambelerwägungen des Verfassungsvertrages übernimmt,253 können diese keine legitimierende Bindungswirkung für die europäischen Institutionen entfalten. Eine solche Bindungswirkung ist von dem Inkrafttreten der Präambel des Verfassungsvertrages und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abhängig. Insofern bleibt es bei den bisherigen Präambeln des EU- und EG-Vertrages. Die untersuchte Präambel des Verfassungsvertrages kann daher angesichts des Scheiterns des Ratifikationsprozesses nicht als Ausdruck eines europäischen Verfassungspatriotismus gewertet werden.254
C. Verhältnis von nationaler und europäischer Identität I. Multiple Identitäten Das Bestehen mehrerer Identitäten ist der Normalfall. Individuen verfügen über multiple soziale Identitäten.255 Eine übergeordnete Selbstkategorisierung 253 Siehe dazu auch das Mandat der Regierungskonferenz Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/ 94935.pdf (07.07.2007), S. 24. 254 Ähnlich Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (203). Seiner Ansicht zufolge können die zeitlichen Dimensionen der Präambel kaum als Kategorien für eine erfolgreiche Identitätsstiftung bei den Bürgern dienen. Eine a. A. dazu vertritt Robbers, FS für Häberle, S. 251 (260), der davon ausgeht, dass sich die meisten Bürger mit der Präambel des Europäischen Verfassungsvertrages wohl identifizieren können. Insofern stifte die Gesamtpräambel Identität für das europäische Gemeinwesen. 255 Multiple Identitäten von Individuen gelten mittlerweile als gesicherte Erkenntnis. Siehe dazu Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (65); Cinnirella, in: Breakwell/Lyons (eds.), Changing European Identities, S. 253 (270); Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 44; Christiansen, ZfParl, Sonderband zum 25-jährigen Bestehen, S. 50 (56); Depenheuer, in: Buchstab/ Uertz (Hrsg.), Nationale Identität im vereinten Europa, S. 55 (58); Nicolaysen, FS für Everling II, S. 945 (945); Meyer, Die Identität Europas, S. 72; Loth, in: Elm (Hrsg.), Europäische Identität, S. 93 (93 ff.); Augustin, Das Volk der Europäischen Union,
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schließt eine untergeordnete Selbstkategorisierung nach der Theorie der Sozialen Identität nicht aus.256 Menschen leben in verschiedenen Beziehungssystemen und passen sich den jeweiligen Rollenerwartungen situationsspezifisch an. Sie bilden ihre Identität als Individuum, als Familien- und Vereinsmitglied und als Mitglied eines politischen Gemeinwesens aus. Die Anzahl der sozialen Identitäten orientiert sich an der Anzahl der sozialen Gruppen bzw. Kategorien, mit denen sich der Einzelne identifiziert.257 Unterschiedliche soziale Identitäten schließen sich nur aus, wenn die verschiedenen Bezugspunkte der Identitäten nicht miteinander vereinbar sind.258 Mehrere politische Identitäten sind beispielsweise dann nicht kompatibel, wenn sich die politischen Gemeinwesen wechselseitig ausschließen und gleichzeitig eine uneingeschränkte Identifikation mit ihrem Gemeinwesen verlangen.259 Für die meisten Menschen schließt die Identifikation mit einer Nation andere gesellschaftliche Identifikationen nicht aus.260 Eine nationale Identifikation kann sich mit anderen territorialen Identifikationen verbinden, auch wenn sie diesen gegenüber als vorrangig empfunden wird.261 Heimat, Region und Bundesland sind dabei die unteren Ebenen regionaler kollektiver Identität. Ihre spezifische Rolle ist im Kontext mit den anderen Bezugsgrößen von Identität, nämlich Nation und Europa zu werten. Lokale Vielfalt kann so das Fehlen eines politischen Zentrums kompensieren.262 Auch eine europäische Identität ist Teil einer Multi-Identifikation.263 Eine Identifikation mit Europa als politischer Gemeinschaft muss der gleichzeitigen Identifikation mit dem eigenen Nationalstaat nicht entgegenstehen; europäische und nationale Identitäten können nebeneinander existieren.264 S. 169; Pfetsch, Die Europäische Union, S. 97; Schneider, Österreichisches Jahrbuch für internationale Politik 2002, S. 43 (51); Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (15); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 37. 256 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 44. 257 Dabei unterscheiden sich die verschiedenen sozialen Identitäten nach ihrem Bezugspunkt und ihrem Intensitätsgrad. Welche der multiplen Identitäten der Einzelne als vorrangig empfindet, hängt von dem Kontext ab, in dem er sich bewegt. Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (65). 258 Dies kann zum Beispiel für verschiedene religiöse Identitäten angenommen werden. Man kann nicht Christ oder Moslem, Hindu oder Jude gleichzeitig sein. Diese gegenseitige Ausschließlichkeit der jeweiligen religiösen Identitäten ist auch ein Erklärungsansatz für das hohe desintegrative Potential religiöser Konflikte. 259 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 169. 260 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 22. 261 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 22; ebenso Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (272 ff.). 262 Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 201. 263 Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (284). 264 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 198.
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II. Identität und Europäisches Verfassungsrecht Im Folgenden soll die Konzeption des europäischen Primärrechts bezüglich der Stiftung sozialpsychologischer Identität nachgeprüft werden. 1. EU-Vertrag und Identität Für die Europäische Union wird bereits der Begriff der „Verfassungsidentität“ verwendet.265 Mit diesem Begriff wird aber nicht die politische Gemeinschaft, sondern ihre Eigenschaft als Rechtsgemeinschaft, also die Identität zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren primärrechtlichen Grundlagen, bezeichnet.266 Insofern wird der Begriff im Sinn der Einheit und des Vergleichs verwendet und ist für die vorliegende Untersuchung der sozialpsychologischen identitätsstiftenden Ansatzpunkte des Verfassungsvertrages nicht ausschlaggebend. Die Bildung gestufter sozialer Identitäten beschreibt dagegen die föderale Staatstheorie als den Regelfall.267 Dies erörterte bereits Rudolf Smend in seiner Bundesstaatskonzeption.268 Der EU-Vertrag nennt die europäische und nationale Identität ausdrücklich und es werden rechtliche Vorgaben für beide aufeinander bezogene und miteinander verflochtene Identitäten aufgestellt.269 Dadurch werden der Prozess politischer Einheitsbildung und die empirischen Gegebenheiten dieses Prozesses im europäischen Recht selbst thematisiert. a) Nationale Identität gemäß Art. 6 Abs. 3 EU Die Europäische Union achtet gemäß Art. 6 Abs. 3 EU die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten. Das Identitätssubjekt, das mit der nationalen Identität in Art. 6 Abs. 3 EU angesprochen wird, kann sich sowohl auf die nationale als auch die mitgliedstaatliche Identität beziehen.270 Art. 6 Abs. 3 EU nimmt aber 265 So ausdrücklich Beutler, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag I, Art. F Rn. 5. Siehe dazu Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1161 m.w. N.). 266 Zur Europäischen Union und den Europäischen Gemeinschaften als Rechtsgemeinschaft siehe ausdrücklich oben S. 89 ff.; Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1161). 267 Es war vielmehr auf den Ausschließlichkeitsanspruch bestimmter nationalstaatlicher Theorien zurück zu führen, wenn in der Vergangenheit angenommen wurde, dass der Einzelne nur einer politischen Gemeinschaft oder einem Volk angehören könnte; Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (197). 268 Siehe dazu oben S. 162 f. m.w. N. 269 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1160); Hilf, GS für Grabitz, S. 157 (159). Siehe zur dialektischen Beziehung von nationaler und europäischer Identität in einem historischen und kulturellen Kontext auch Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (272 ff.). 270 Siehe dazu Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (1 f.).
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ausdrücklich auf die Identität der Mitgliedstaaten Bezug. Nationale Identität ist damit im Sinne der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten der Union zu verstehen.271 Die Achtung der Union vor der Staatlichkeit ihrer Mitglieder und ihr Respekt vor deren nationalen Gefüge werden herausgestellt.272 Der Begriff der „nationalen Identität“ ist normativ unklar, denn er ist ideologisch aufgeladen.273 Aufgrund des unterschiedlichen Nationalverständnisses in den jeweiligen Mitgliedstaaten kann der Begriff jeweils anders interpretiert werden. Außerdem steht hinter der nationalen Identität in der Regel ein bestimmtes ideologisch von den politischen Eliten konstruiertes Selbstverständnis.274 Die nationale Identität im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EU wird darüber hinaus auch als juristische Fiktion angesehen. Denn die Mitgliedstaaten seien zwar noch die „Herren der Verträge“, sie haben aber nur gemeinsam Letztentscheidungskompetenz.275 Eine andere Ansicht geht demgegenüber davon aus, dass die Souveränität trotz der Übertragung der Hoheitsgewalt im Kern bei den Mitgliedstaaten als den Herren der Verträge geblieben ist.276 Die Mitgliedstaaten als solche bleiben unentbehrlich für die Funktionsfähigkeit, Legitimation und Weiterentwicklung der Europäischen Union. Daher sei das entscheidende Kriterium der nationalen Identität i. S. d. Art. 6 Abs. 3 EU, dass die Souveränität der Mitgliedstaaten nicht soweit verändert werden darf, dass sich die Völker nicht mehr mit ihren Mitgliedstaaten identifizieren können.277 Art. 6 Abs. 3 EU beinhalte insofern eine „Wesensgehaltsgarantie“ für den nach dem bisherigen Integrationsstand verbliebenen Kern an Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten.278 Aus diesem Grund wird Art. 6 Abs. 3 EU auch als Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten interpretiert, welche die eigene Verfasstheit im Rahmen der Organisation der Europäischen Union stärke.279
271 Doehring, FS für Everling I, S. 263 (264). In diesem Zusammenhang wird als problematisch gesehen, dass mit dem Begriff der nationalen Identität bei aller Gemeinsamkeit vor allem auch das Element der Ausgrenzung mitschwingt; Hilf, GS für Grabitz, S. 157 (163). 272 Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (2). 273 So auch Depenheuer, in: Buchstab/Uertz (Hrsg.), Nationale Identität im vereinten Europa, S. 55 (56). 274 Siehe zu der ideologischen Steuerbarkeit von Identität infolge ihrer Konstruiertheit auch S. 60 ff. 275 Doehring, FS für Everling I, S. 263 (265). 276 Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (266). 277 Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (266). Man könnte Art. 6 Abs. 3 EU sogar als Absage an eine Entwicklung im Hinblick auf einen europäischen Bundesstaat interpretieren, in dem die Staatlichkeit der Mitglieder herabgestuft oder aufgegeben würde; vgl. Hilf, GS für Grabitz, S. 157 (164). 278 Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (266); Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1160). 279 So vertreten von Korioth, VVDStRL 62 (2003), S. 117 (149).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Grundsätzlich bestimmen die Mitgliedstaaten selbst, was ihre Verfassungsidentität ausmacht.280 Teilweise wird darüber hinaus auch vertreten, dass nationale Identität mehr als reine Verfassungsidentität bedeute. Sie umfasse auch wesentliche selbst bestimmte Wertentscheidungen der Mitgliedstaaten als Elemente ihrer jeweiligen Identität.281 Dem ist entgegen zu halten, dass die Identitätsgarantien auch vor dem Hintergrund des europäischen Integrationsprozesses auszulegen sind.282 Die Formulierung „achten“ in Art. 6 Abs. 3 VVE zielt auf einen Ausgleich zwischen „europäischer“ und „nationaler“ Identität. Eine Vorrangregel ist den Verträgen nicht zu entnehmen.283 Von der Achtungsverpflichtung der Europäischen Union gegenüber der mitgliedstaatlichen Identität wird nicht jede kleine Differenzierung der jeweiligen mitgliedstaatlichen Identität und der dieser zugrunde liegenden Wert- und Strukturentscheidungen umfasst.284 Es wird lediglich die Substanz des (verfassungs-)staatlichen Gefüges dieses Mitgliedstaates geschützt.285 Die Kollisionsregel des Art. 6 Abs. 3 EU setzt in rechtlicher Hinsicht die sozialpsychologische Erkenntnis um, dass europäische und nationale Identität nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander stehen.286 Damit kann eine europäische Identität nur mit und durch die nationale Identität der Mitgliedstaaten entstehen.287 b) Identität Europas: Präambel EU, Art. 2 UA 2 EU Der Bewahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten wird der Gedanke einer „Identität Europas“ im EU-Vertrag gegenüber gestellt.288 Der Begriff der „Identität Europas“ findet sich in der 10. Präambelerwägung des EUVertrages und in Art. 2 UA 2 EU. Durch seine exponierte Erwähnung bereits in 280 Hilf, GS für Grabitz, S. 157 (163). Für die Bundesrepublik Deutschland wird diesbezüglich vertreten, dass das Grundgesetz seine Verfassungsidentität wahre, solange die nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht änderbaren Grundsätze gewährleistet seien. Siehe dazu Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I § 19, Rn. 1 f.; 38 ff. 281 So vertreten von Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft I, Art. 6 EU, Rn. 201. Siehe ausführlich dazu Ritzer, Europäische Kompetenzordnung, S. 117 f. m. w. N. 282 So schreibt Art. 6 Abs. 1 EU bezüglich der Mitgliedschaft in der Europäischen Union einige Voraussetzungen vor, die zugleich Bestandteil der nationalen Identität der Mitgliedstaaten sind. Siehe Hilf, GS für Grabitz, S. 157 (163 f.). 283 Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (2 Fn. 6). 284 Ritzer, Europäische Kompetenzordnung, S. 118. 285 So auch Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (3). 286 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (186). 287 Depenheuer, in: Buchstab/Uertz (Hrsg.), Nationale Identität im vereinten Europa, S. 55 (56). 288 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1160). Siehe zur Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 3 EU Hilf, GS für Grabitz, S. 157 (160 ff.).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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der Präambel des EU-Vertrages spielt der Identitätsbegriff in dem Vertragswerk eine zentrale Rolle. Identität im völkerrechtlichen Sinn bedeutet, dass die Vorschriften über die Staatennachfolge nicht angewendet werden.289 Nach dem 10. Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrages soll durch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Identität und Unabhängigkeit Europas gestärkt werden, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern. Art. 2 Abs. 1 Spstr. 2 EU nennt als Ziel der Union die Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene, insbesondere durch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. An den beiden unterschiedlichen Formulierungen im EU-Vertrag fällt auf, dass in der Präambel der Begriff der Identität einmal auf Europa und in Art. 2 Spstr. 2 EU auf die Europäische Union bezogen wird.290 In der 10. Präambelerwägung kann mangels einer Eingrenzung auf die Union nur der gesamte Kontinent Europa gemeint sein.291 Art. 2 Abs. 1 Spstr. 2 EU meint dagegen Europa im engeren Sinn, also die Europäische Union, wie an der Formulierung „ihre“ deutlich wird.292 Das Identitätssubjekt des EU-Vertrages ist aufgespalten; EU-Identität und Europa-Identität decken sich nicht. Insofern erscheint der Bezugspunkt einer europäischen Identität nach dem EU-Vertrag nicht eindeutig. Eine solche kann sich nach den Formulierungen nämlich sowohl geographisch auf den Kontinent als auch auf die politische Union beziehen. In beiden Erwähnungen wird der Begriff der Identität in Beziehung zu der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Mitgliedstaaten gesetzt. Die Formulierungen deuten somit darauf hin, dass der Identitätsbegriff primärrechtlich eher als außenpolitische Selbstbehauptung der Europäischen Union, denn als positive Selbstbestimmung nach innen definiert wird. Eine derartige Funktionalisierung der europäischen Identität war bereits Inhalt der Kopenhagener Identitätserklärung.293 Die externe Identitätsdimension, also die Abgrenzung Europas gegenüber der übrigen Welt wird mit dem Begriff „Identität Europas“ bezeichnet.294 Der EU-Vertrag übernimmt also die Sichtweise dieser Identitätsbestimmung hinsichtlich einer außengeleiteten europäischen Identität. Der Begriff der Identität wurde aber in den EU-Vertrag eingeführt, ohne dass damit ausdrücklich konkrete Inhalte verbunden oder definiert wurden.295 Nach dem 10. Präambelerwägungsgrund des EU-Vertrages und nach Art. 2 Spstr. 2 289 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 167. Siehe dazu auch schon oben S. 54 f. 290 Siehe ausführlich zum Folgenden Pfetsch, Die Europäische Union, S. 97. 291 Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (2). 292 Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (2). 293 Dokument über die europäische Identität 1973, S. D 50. 294 Lerch, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 215 (220). 295 Siehe ausführlich zum Folgenden Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (1 f.).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
EU soll vor allem mittels der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die Unabhängigkeit Europas gestärkt werden. Die bloße Existenz eines Gemeinwesens kann jedoch nicht gestärkt werden, denn eine politische Ordnung besteht oder sie besteht eben nicht. Nur die materiellen Inhalte einer Ordnung können eine Stärkung nötig haben.296 Daraus lässt sich folgern, dass sich die Identität Europas nach dem EU-Vertrag auf mehr als die bloße politische Existenz der Europäischen Union beziehen muss. Die Europäische Union soll mit den in den Grundlagen ihrer Außenpolitik verankerten Werten identifiziert werden.297 Diesbezüglich wird der Begriff der Identität im Zusammenhang mit Beziehungen der Einheit oder des Vergleichs verwendet. Es soll das Eigentümliche der Europäischen Union beschrieben werden.298 Demzufolge ist nach dem EU-Vertrag ein Verständnis von dem, was die Europäische Union nach innen ausmacht, erforderlich zur Bewahrung der europäischen Identität nach außen.299 Darüber hinaus fordert Art. 2 Abs. 1 Spstr. 2 EU den Schutz vorhandener identitätsformender Lebensweisen gegen heteronome Anpassungszwänge von außen.300 Dies wird an der Formulierung „Behauptung ihrer Identität“ deutlich. Die Europäer werden durch diese Raumbilder als eine über die Europäische Union organisierte Gruppe inmitten anderer hoheitlich organisierter Gruppen im EU-Vertrag veranschaulicht und die Selbstwahrnehmung der Europäer als eigenständige Gruppe gestärkt.301 Im Ergebnis handelt es sich dabei um Normen, die auf eine unionsbezogene Identität hinwirken sollen.302 Diese sind im Gegensatz zu den Regelungen des deutschen Grundgesetzes identitätsgerichtete. 303 2. Verfassungsvertrag und Identität Nach Art. I-5 Abs. 1 VVE achtet die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Art. I-5 Abs. 1 VVE korrespondiert mit Art. 6 Abs. 3 EU.304 Die Formulierung des Art. I-5 Abs. 1 VVE soll entsprechend dem Mandat der 296
Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 167. Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (266). 298 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (162). 299 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 167; Pfetsch, Die Europäische Union, S. 97. 300 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (185). 301 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (184 f.); ebenso Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (5); Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1160). 302 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (185). 303 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (184 f.); Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 11. 304 Insofern gilt das zu Art. 6 Abs. 3 EU Gesagte auch hier. 297
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Regierungskonferenz nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages in den EUVertrag eingefügt werden,305 so dass ihr auch zukünftig Bedeutung zukommen wird. a) Nationale Identität Der Begriff der nationalen Identität findet sich drei Mal im Verfassungsvertrag und zwar in der dritten Präambelerwägung der Gesamtpräambel des Verfassungsvertrages, in der dritten Präambelerwägung der Grundrechtecharta und in Art. I-5 Abs. 1 VVE. Im Gegensatz zum EU-Vertrag definiert Art. I-5 Abs. 1 VVE eindeutig, dass die nationale Identität nur die Grundlegungen der politischen und verfassungsrechtlichen Struktur betrifft. Er stellt damit eine Kodifikation der zum Art. 6 Abs. 3 EU herausgebildeten Ansicht einer „Wesensgehaltsgarantie“ dar.306 Der Europäische Verfassungsvertrag trägt dem Element der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung Rechnung, die im Verfassungsvertrag erstmals zur Präzisierung der nationalen Identität herangezogen wird.307 Damit verdeutlicht Art. I-5 VVE ebenfalls die psychologische Erkenntnis, dass ein Nebeneinander europäischer, nationaler und regionaler Identität möglich ist. Die eine Identität soll nicht zu Gunsten einer anderen aufgegeben werden. Dem Gedanken Smends entsprechend308 ist eine Identifikation des einzelnen Bürgers mit der Europäischen Union über seine nationale und regionale Identität möglich. b) Identität Europas Der Begriff der „Identität Europas“ fehlt im Verfassungsvertrag im Gegensatz zum EU-Vertrag. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass die Gemeinschaftsaufgabe der europäischen Identitätsbildung nicht mehr im Verfassungsvertrag enthalten ist. Wie im Rahmen der identitätsstiftenden Politiken der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften verdeutlicht wurde, verfolgt der Verfassungsvertrag dennoch das Ziel der Stiftung europäischer 305 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 25. 306 Siehe dazu oben S. 313. 307 Damit wird die Rolle der deutschen Bundesländer gestärkt, die auf Ebene der Europäischen Union keine eigenständige Rolle im bisherigen europäischen Primärrecht spielten. Die ungewöhnliche Gleichsetzung der Regionen mit den lokalen Gebietskörperschaften der Kommunen lässt sich damit erklären, dass es in den meisten europäischen Mitgliedstaaten eine bundesstaatliche Aufteilung nicht gibt. Es sollten mit der Aufnahme der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung vor allem die Tätigkeiten und Beiträge dieser Gebietskörperschaften anerkannt werden. Siehe dazu Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 129. 308 Siehe dazu oben S. 169.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Identität.309 Dies geht aus der Erklärung von Laeken zum Konvent zur Zukunft Europas sowie aus Art. I-46 Abs. 4 VVE hervor. Bei der Förderung der europäischen Identität durch identitätsgerichtete Bestimmungen handelt es sich um eine Gemeinschaftsaufgabe.310 3. Vertrag von Lissabon und Identität Der Vertrag von Lissabon greift den Begriff der Identität ebenfalls auf. a) Nationale Identität gemäß Art. 4 Abs. 2 EU n. F.311 Der Begriff der nationalen Identität wird einmal im Vertrag von Lissabon erwähnt. Er enthält eine Änderung des bisherigen Primärrechts dahingehend, dass ein neuer Art. 4 EU n. F. in den EU-Vertrag eingeführt werden soll, der wortgleich dem Art. I-5 VVE entspricht.312 Damit übernimmt der Vertrag von Lissabon wortgetreu die Formulierung des Art. I-5 Abs. 1 VVE, so dass ihr auch zukünftig Bedeutung zukommen wird und das zu Art. I-5 Abs. 1 VVE Gesagte hier entsprechend gilt. b) Identität Europas: Präambel EU n. F.313 Aufgrund dessen, dass der Vertrag von Lissabon nur eine zusätzliche Präambelerwägung einführt, die bisherigen Präambeln des EU- und EG-Vertrages aber ansonsten bis auf die Umbenennung der Verträge erhalten bleiben314, ist der Begriff der Identität Europas in der nunmehr elften Präambelerwägung des EUVertrages n. F. auch zukünftig Bestandteil des europäischen Primärrechts. Insofern wird auf die Ausführungen zur 10. Präambelerwägung des EU-Vertrages verwiesen.315 Es ist somit davon auszugehen, dass bei Ratifikation des Vertrages von Lissabon auch zukünftig eine Förderung der europäischen Identität 309 310
Siehe dazu bereits oben S. 248 f. So vertreten von Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa,
S. 11. 311 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 18. 312 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 18. Siehe zum Mandat der Regierungskonferenz Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs /cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 25. 313 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 16. 314 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 15 f., 49. 315 Siehe dazu oben S. 314 f.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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durch identitätsgerichtete Bestimmungen als Aufgabe der Europäischen Union angestrebt wird. III. Empirische Untersuchungen zu europäischer und nationaler Identität Bei einer Befragung von Eurobarometer aus dem Jahr 1992 wurde die Frage gestellt, ob es aus Sicht der Befragten möglich sei, dass eine europäische Identität neben der nationalen Identität bestehen könne oder ob eine europäische Identität automatisch die mitgliedstaatliche Identität verdrängen würde. Es wurde ausdrücklich nicht nach dem Bestehen einer europäischen Identität gefragt. Dabei hielten 23% der Befragten beide Identitäten für inkompatibel, während 62% eine europäische und ihre mitgliedstaatliche Identität für vereinbar hielten.316 Daran zeigt sich, dass auch nach Auffassung der Bürger nationale und europäische Identität als unterschiedliche Gemeinschaftsbezüge nebeneinander stehen. Diese werden in unterschiedlichen Kontexten situationsbezogen artikuliert.317 Die Identifikation der Bürger mit ihrem jeweiligen Nationalstaat ist aber ausgeprägter als ihre Identifikation mit der Europäischen Union.318 Dies wird auch durch eine in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführte Umfrage bestätigt. Nach ihrer gefühlsmäßigen Bindung befragt, fühlten sich die meisten Bürger mit ihrem lokalen Bezugsort sehr verbunden. Es folgten darauf Bundesland, Bundesrepublik Deutschland und mit weiterem Abstand die Europäischen Gemeinschaften.319 Bei den Eurobarometer-Umfragen ergibt sich demgegenüber eine leichte Verschiebung.320 Aber auch hier verlaufen die Abstufungen der einzelnen Loyalitätsebenen im Wesentlichen von unten nach oben, also von der lokalen zur universellen Ebene. In den Eurobarometer-Umfragen geben 87% der Bürger in der Europäischen Union an, einen ausgeprägten Nationalstolz zu haben.321 Im Vergleich dazu sind nur 63% stolz darauf, Europäer zu sein.322 Ein Viertel der Befragten gab an, überhaupt nicht stolz auf Europa zu sein.323 316 Vgl. Eurobarometer 38, S. 45. Siehe dazu Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 160 f. 317 Ebenso Piepenschneider, Die europäische Generation, S. 34. 318 Vgl. Eurobarometer 59, S. 36; Pfetsch, Die Europäische Union, S. 99 f. 319 Siehe zu den genauen Zahlen der Umfrage Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 204 f. 320 91% der befragten EU-Bürger fühlen sich mit ihrem Land verbunden, an zweiter Stelle steht mit 87% die Region bzw. Stadt und die Europäische Union folgt auf Platz vier der Verbundenheit mit 66%. Siehe dazu Eurobarometer 63, S. 111. 321 Der Nationalstolz in den Mitgliedstaaten nimmt in den letzten fünf Jahren zu. Eine Ausnahme hierzu bildet die Bundesrepublik Deutschland, wo auch noch sechzig Jahre nach Kriegsende der Begriff „Nationalstolz“ negativ besetzt ist; vgl. Eurobarometer 64, S. 25.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Diese Umfrageergebnisse lassen sich folgendermaßen erklären. In Krisenzeiten gibt es immer Tendenzen einer Renationalisierung und Identifikation mit kleineren Regionen bei den Bürgern.324 Die Lösungsansätze kleinerer territorialer Einheiten erscheinen den Einzelnen wenigstens kurzfristig Erfolg versprechend, weil die Verhältnisse vor Ort weniger komplex und überschaubarer sind. Außerdem sind im regionalen Bereich die Repräsentanten dem Einzelnen eher bekannt, so dass sich eher die Möglichkeit kontrollierender Einflussnahme ergibt. Dies ist die sozialpsychologische Erklärung, warum in Konfliktsituationen die nationale oder regionale Identität aufgewertet und das übergeordnete Konzept Europa als bürgerfremd abgewertet wird.325 Daher wird in einer Konkurrenzsituation die schwache Identifikation mit Europa relativ schnell von der potentiell stärkeren nationalen Identität überlagert.326 Eine europäische Identität weist daher nicht die gleiche Dichte wie nationale Identitäten auf. Aufgrund der ausgeprägten Heterogenität der Europäischen Union weisen die Gemeinsamkeiten der Bürger in den verschiedenen Mitgliedstaaten einen höheren Abstraktionsgrad auf.327 Die Tragfähigkeit einer europäischen Identität, die sich in erster Linie auf die universalistischen Prinzipien einer Verfassung stützen soll, unterscheidet sich von der Tragfähigkeit einer historisch und kulturell gewachsenen nationalen Identität. Diesbezüglich wird auch formuliert, dass eine nationale Identität partikularistisch, eine europäische Identität aber universalistisch orientiert sei.328 Den Europäern wird daher nicht in gleicher Weise wie auf der nationalstaatlichen Ebene Patriotismus und Opferbereitschaft abverlangt werden können.329 Denn die Europäische Union gewinnt zwar in der Vielfältigkeit des transnationalen Regierens ständig an Bedeutung, sie hat aber den Nationalstaat nicht funktional ersetzt.330 Demzufolge kann eine verfassungszentrierte europäische Identität die nationalstaatliche Identität nur ergänzen, nicht aber ersetzen. Allerdings entstehen im Fall nebeneinander bestehender Identitäten auch Wechselwirkungen und Loyalitätskonflikte.331 Die Ausbildung einer europäischen Identität kann sich daher auch in einer zunehmenden Europäisierung nationaler Identitäten ausdrücken.332 322
Davon sind aber nur 12% sehr stolz und 51% ziemlich stolz; Eurobarometer 64,
S. 48. 323
27% der Befragten gaben diese Antwort; Eurobarometer 64, S. 48. Siehe ausführlich zum Folgenden Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (47). 325 Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (47). 326 Christiansen, ZfParl, Sonderband zum 25-jährigen Bestehen, S. 50 (56); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 132. 327 Pache, DVBl. 2002, S. 1154 (1157). 328 Delanty, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 267 (267). 329 Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (205). 330 Lepsius, Die Europäische Union, S. 201 (208). 324
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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IV. Fazit Europäische und nationale Identität können nebeneinander existieren, wobei eine europäische Identität einen abstrakteren Gehalt als die nationalstaatliche Identität aufweist und folglich nicht vollständig an die Stelle der jeweiligen mitgliedstaatlichen Identität treten kann. Die Abstufungen der verschiedenen Loyalitätsebenen von der regionalen zur europäischen Identität werden in Art. I-5 Abs. 1 VVE und dem inhaltsgleichen Art. 4 EU n. F. entsprechend den Einstellungen der Bürger rechtlich fixiert.
D. Symbole der Europäischen Union Politische Gemeinwesen können Bezugspunkte zur Identitätsbildung in Form von Symbolen anbieten. Auch die Nationen sind durch symbolische Vergegenwärtigung mit Hilfe von Traditionen, Flaggen, Hymnen und Festtagen entstanden.333 Die Symbolisierung von Herrschaft ist ein klassisches Politikelement zur Legitimation von Herrschaft.334 I. Symbole 1. Symboldefinition Symbole sind sinnlich wahrnehmbare Objekte, die in der zwischenmenschlichen Kommunikation verwendet und mit denen Ideen, Gedanken sowie Werte dargestellt werden.335 Symbole können Zeichen, Worte, Wortverbindungen, Bilder oder akustische Signale sein, die sich als Vereinfachungen oder Abkürzungen von Institutionen oder politischen Ideen darstellen.336
331 Die Ausbildung einer starken europäischen Identität hat Auswirkungen auf die nationale Identität. Denn multiple Identitäten integrieren nicht nur, sie können auch einen Desintegrationseffekt haben. Siehe Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (198). 332 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 198. Diesen Aspekt verdeutlichen die Autokennzeichen in der Europäischen Union. Auf ihnen befindet sich neben dem jeweiligen nationalen Kennzeichen die europäische Plakette. Auch das gleichzeitige Hissen der jeweiligen nationalen und der europäischen Flagge an Feiertagen und Sportereignissen veranschaulicht das Nebeneinander der mitgliedstaatlichen und der europäischen Identität. Dieses Beispiel findet sich bei Pfetsch, Die Europäische Union, S. 99 und Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (133). 333 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 170. 334 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 202. 335 Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (139, 135 m.w. N.). 336 Loewenstein, FS für Laun, S. 559 (559 f.).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
2. Wirkungsweise von Symbolen a) Vermittlungsfunktion Symbole erbringen aus Sicht der Sozialpsychologie eine kognitive Leistung, indem sie die Komplexität der Welt für den Einzelnen reduzieren. Sie haben insofern eine Vermittlungsfunktion.337 Für die Gewissheit der eigenen sozialen Identität ist eine Absicherung an äußeren überprüfbaren Merkmalen notwendig.338 Ein Gemeinwesen ist für den Einzelnen als Ganzheit nicht erfahrbar. Politische Ideen oder Werte sind in der Regel abstrakt und werden von den Menschen nur indirekt erfasst.339 Daher ist es erforderlich, dieses Abstraktum anhand von Symbolen zu konkretisieren und symbolisch zu verdichten, damit daraus eine unmittelbar, real und konkret verständliche Aussage für die Einzelnen wird.340 Der Mensch perzipiert, denkt und handelt in Bildern. Daher trägt es zur Ausbildung kollektiver Identität bei, wenn sich das Wir-Bewusstsein in sinnträchtigen und -aufgeladenen Symbolen vergegenständlicht.341 Symbole wirken als kognitive Konstrukte für den Einzelnen verhaltensorientierend.342 Sie werden den Bürgern durch ihre sichtbare Verbreitung auf dem jeweiligen Hoheitsgebiet vermittelt.343 Nicht nur Personen, sondern auch Dinge können so zu Identifikationsobjekten werden.344 Eine politische Institution, die als solche für den Einzelnen nicht leicht verständlich ist, kann durch Symbole in identitätsstiftender Weise versinnbildlicht werden. Symbole sind geeignet, Kontinuität eines Gemeinwesens zu signalisieren und unmittelbar erfahrbar zu machen.345 b) Emotionale Funktion Symbole erfüllen eine emotionale Funktion346, indem sie einen spezifischen Bezugspunkt für die Entfaltung kollektiver Gefühle bilden.347 Symbolisierungs337 338
Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 29. Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39
(41). 339
Loewenstein, FS für Laun, S. 559 (562). Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (44); Loewenstein, FS für Laun, S. 559 (560). 341 Schneider, Österreichisches Jahrbuch für internationale Politik 2002, S. 43 (48); ebenso Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 203; Piepenschneider, Die europäische Generation, S. 27. 342 Piepenschneider, Die europäische Generation, S. 27. 343 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 203. 344 Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (64). 345 Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (45). 346 Zur Bedeutung affektiver Anknüpfungspunkte oben S. 51 f. 347 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 202; Gephart, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte in Europa, 340
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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vorgänge sind erfolgreich, wenn sie sich auf eine Kollektivität beziehen, die von den ihr angehörenden Personen in derselben Weise emotional empfunden wird.348 Sie rufen durch Assoziation mit bestimmten Werten ein Kollektiv- oder Gruppengefühl hervor, das bei den Mitgliedern der Gruppe eine soziale oder politische Solidarität herstellt und sie zu einheitlichem Handeln veranlasst.349 Solange sich die mit den Symbolen verbundenen Werte nicht gefühlsmäßig integriert haben, bleiben die Symbole ohne emotionale Bedeutung für die Menschen.350 3. Symbole in der Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smend befasste sich intensiv mit der identitätsstiftenden Wirkung von Symbolik.351 Demzufolge resultiert die sachliche Integration unter anderem aus einer Identifikation der Bürger mit den in der Verfassung festgeschriebenen Symbolen. Dabei sieht Smend die Integrationskraft der Symbole als besonders hoch an, da sie durch ihre Bildhaftigkeit die materiellen Gehalte einer Verfassung deutungsoffener und widerspruchsfreier als Werteklauseln repräsentieren.352 Denn Werte lassen sich kaum allgemein und letztverbindlich formulieren. Dagegen können Symbole die hinter einer Verfassung stehenden Wertungen hinreichend flexibel sichtbar und individuell erfahrbar machen.353 Symbole können so zu einer innergesellschaftlichen Homogenisierung beitragen.354 Die Normen, die die Symbolik eines Gemeinwesens regeln, konstituieren damit die nicht-juristische (Ver-)fassung eines Gemeinwesens.355 In diesen Regelungen wird unmittelbar auf die Bewusstseins- und Seelenlage des Volkes Bezug genommen. Sie sollen die Psyche der Bürger beeinflussen und irrationale Vorgänge bei den Bürgern strukturieren.356 Diejenigen Verfassungsnormen, die die Symbolik eines Gemeinwesens regeln, zielen unmittelbar auf eine IdentitätsS. 459 (463). Für den Verfassungsentwurf ebenfalls bejahend Brok, Integration 2003, S. 338 (338). 348 Loewenstein, FS für Laun, S. 559 (561). 349 Loewenstein, FS für Laun, S. 559 (561); Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 31. 350 Loewenstein, FS für Laun, S. 559 (564). 351 Siehe dazu oben S. 160 f. m.w. N. 352 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (164); Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 140. 353 Siehe dazu Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (142). 354 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 56. 355 Daher weisen die Bestimmungen über Flaggen, Hymnen und Symbole einer Verfassung in der Regel eine inhaltliche Konkordanz zur Präambel auf; Häberle, FS für Broermann, S. 211 (235). 356 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (235).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
stiftung bei den Bürgern.357 Symbole ermöglichen eine Identifikation und Auseinandersetzung mit den symbolisierten Gehalten besser als die abstrakten Inhalte einer Verfassung.358 Zur Erfüllung ihrer integrativen Funktion ist die Kenntnis und Akzeptanz der jeweiligen Symbolik durch die Adressaten erforderlich. II. Art. I-8 VVE In Art. I-8 VVE werden die Symbole der Europäischen Union erstmals primärrechtlich verankert.359 Bisher hat die Symbolik der Europäischen Union keine direkte Rechtsgrundlage im Primärrecht,360 die Rechtsgrundlage der unionalen Symbole ist daher umstritten.361 Die besondere Bedeutung von Symbolen auf der Ebene der Europäischen Union ergibt sich vor allem daraus, dass Symbole Kommunikation unabhängig von Nationalsprachen ermöglichen.362 Daher können sie dem Vermittlungsproblem der Europäischen Union abhelfen. Hinter der Kodifizierung des Art. I-8 VVE steht also einerseits das Bemühen, die Identität der Europäischen Union nach außen zu stärken und andererseits die Identifizierung der Bürger mit der Europäischen Union zu erleichtern.363
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Siehe dazu oben zum unmittelbaren Wirkungsmodus einer Verfassung S. 192 f. Loewenstein, FS für Laun, S. 559 (561); Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (142). 359 Die Regelung des Art. I-8 VVE war in dem Entwurf des Konvents in den Allgemeinen und Schlussbestimmung enthalten in Art. IV-1 Entwurf VVE. Dies lag daran, dass der Konvent diese Regelung in seiner letzten Sitzung noch einarbeitete. Es wurde aber in einer Fußnote zu Art. IV-1 Entwurf VVE angemerkt, dass der Konvent es für besser halten würde, wenn der betreffende Artikel in Teil I aufgenommen werden würde. Er wurde daher an den Anfang des Verfassungsvertrages gestellt. Vgl. dazu Europäischer Konvent, Entwurf VVE, S. 279; Oppermann, DVBl. 2003, 2. Teil, S. 1234 (1244 Fn. 111); Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (546 Fn. 38). 360 Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1095). 361 Es stellt sich nach gegenwärtigem Recht die Frage, ob bloße Beschlüsse der Unionsorgane als Rechtsgrundlage ausreichend sind und ob der Europarat, der Flagge und Hymne ursprünglich geschaffen hatte, deren Verwendung durch die Europäische Union auch unterbinden kann. Dieser Streit würde mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrages beendet werden. Siehe zu diesem Streit Bieber, GS für Geck, S. 59 (67 ff.); Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1096 f.); Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (146). 362 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (145 f.) 363 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 56; Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (56); Calliess, JZ 2004, S. 1033 (1039). Auch internationale Organisationen wie die UNO und der Europarat haben Symbole wie zum Beispiel eine Flagge. Siehe dazu Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (142). 358
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Allerdings wurde Art. I-8 VVE ersatzlos gestrichen. Der Vertrag von Lissabon enthält keine Regelung zur Kodifizierung der Symbole der Europäischen Union.364 Damit bleibt es zukünftig mangels einer primärrechtlichen Rechtsgrundlage bei dem genannten Streit um die Rechtsgrundlage der Symbole der Europäischen Union. Diesbezüglich ist aber anzuführen, dass sich einige der in Art. I-8 VVE genannten Symbole365 bereits weitgehend im Alltagsleben der Europäischen Union etabliert haben. Art. I-8 VVE hätte daher bei seinem Inkrafttreten teilweise eine bereits bestehende Praxis verrechtlicht. Es sollten aber in Art. I-8 VVE nicht nur die bisherigen Symbole der Europäischen Union geregelt werden, sondern mit dem Euro und dem Leitspruch wurden auch neuartige Symbole kodifiziert.366 Es ist jedoch davon auszugehen, dass den Bürgern zumindest die Symbolik des Euro als tägliches Zahlungsmittel geläufig ist. Insofern können die nachfolgenden Ausführungen zur Symbolik der Flagge, der Hymne, des europäischen Feiertages und zum Euro auch ohne Inkrafttreten einer Art. I-8 VVE vergleichbaren Norm im Vertrag von Lissabon zukünftig Geltung beanspruchen. 1. Flagge Gemäß Art. I-8 Abs. 1 VVE stellt die Flagge der Union einen Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund dar.367 Die Flagge ist zusam364
Siehe dazu aber Erklärung des Königreichs Belgien, der Republik Bulgarien, der Bundesrepublik Deutschland, der Hellenischen Republik, des Königreichs Spanien, der Italienischen Republik, der Republik Zypern, der Republik Litauen, des Großherzogtums Luxemburg, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Österreich, der Portugiesischen Republik, Rumäniens, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zu den Symbolen der Europäischen Union im Vertrag von Lissabon. Diese Staaten erklären darin, dass die Flagge mit einem Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund, die Hymne aus der „Ode an die Freude“ der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven, der Leitspruch „In Vielfalt geeint“, der Euro als Währung der Europäischen Union und der Europatag am 9. Mai für sie auch künftig als Symbole die Zusammengehörigkeit der Menschen in der Europäischen Union und ihre Verbundenheit mit dieser zum Ausdruck bringen; vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Vertrag von Lissabon, S. 267. 365 Beispielsweise dürfte fast jeder Bürger Europas mittlerweile die blaue Flagge mit dem goldenen Sternenkranz kennen. Sie ist allgegenwärtig auf den Euro-Geldscheinen, den Nummernschildern der Autos und wird auch an Feiertagen regelmäßig neben den nationalstaatlichen Flaggen gehisst. Ebenso ist die Hymne und das Begehen eines europäischen Feiertages mittlerweile Alltagspraxis. Ebenso ist davon auszugehen, dass die Symbolik des Euro den Bürgern bekannt ist. 366 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (147). 367 Es gab verschiedene Flaggenentwürfe bis man sich im Europarat auf die heutige Symbolik einigte. Beispielsweise wurde ein grünes E auf weißem Grund als Europaflagge vorgeschlagen. Allerdings ist grün die Farbe des Islam, was bei einigen auf Widerstand stieß. Außerdem schlug Graf Coudenhove Kalergi, der damalige Präsident
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men mit der Hymne das älteste Symbol der Union. Sie wurde nach ausführlichen Beratungen am 08. Dezember 1955 zunächst vom Europarat angenommen.368 In der Folgezeit forderte der Europarat die europäischen Institutionen auf, die Flagge ebenfalls zu übernehmen. Die Flagge wurde daraufhin am 28./ 29. Juni 1985 von allen Staats- und Regierungschefs als offizielles Emblem angenommen und wird seither von den Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union verwendet.369 Sie soll ein Symbol für die Einheit Europas und die Identität Europas sein.370 Das Emblem enthält Elemente, auf denen eine positive Selbstwahrnehmung der Europäer als Gruppe aufbauen kann. a) Symbolik Der Kreis ist als eine in sich selbst zurückkehrende Linie die einfachste und zugleich vollkommenste geometrische Figur.371 Er ist seit der Antike das Symbol für Ganzheit und Vollkommenheit372 und soll die Union der Völker Europas versinnbildlichen.373 Die den Kreis bildenden Sterne stellen ein Bild für die Ewigkeit dar.374
der Paneuropa-Union, ein rotes Kreuz in einem goldenen Kreis auf blauem Grund vor. Dies stieß aber wegen der christlichen Symbolik auf den Widerstand der Türkei im Europarat. Siehe ausführlich zu den verschiedenen Entwürfen Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 41 ff., 45 ff. 368 Die Übernahme des Emblems durch die Europäischen Gemeinschaften fand mit Willen und Übereinstimmung mit dem Europarat statt. Das Europäische Parlament nahm das Emblem in einer Entschließung am 11. April 1983 an. Der Europäische Rat von Fontainebleau am 25./26. Juni 1984 forderte die Europäische Gemeinschaft auf, die Erwartungen der Völker Europas zu erfüllen, indem sie Maßnahmen ergreift, durch die ihre Identität gegenüber den europäischen Bürgern und der Welt gestärkt und gefördert wird und durch diese an Prestige gewinnt. Durch den „Adonnino-Ausschuss“ wurde das eindeutige Bedürfnis nach einer Fahne und einer Hymne artikuliert. Denn es gelte die Existenz der Gemeinschaft symbolisch deutlich zu machen. Siehe zum Ganzen Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 121; Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1096); Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Europafahne, abrufbar unter: http://europa.eu/abc/symbols/emblem/index_de.htm (14.07.2004), S. 1. 369 Allerdings ist angesichts dieser verschiedenen Beschlüsse und Entschließungen zweifelhaft, inwieweit diese tatsächlich als Rechtsgrundlage für die europäische Flagge und das Emblem dienen können. Außerdem ist deren Rechtsqualität zweifelhaft, was aber in der Praxis bisher kein Problem darstellte. Siehe dazu Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1096 f.). 370 Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 31. 371 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). 372 Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 83. 373 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Graphische Hinweise zum Europa-Emblem, abrufbar unter: http://europa.eu.int./abc/symbols/emblem/graphics1_de. htm (14.07.2004), S. 1. 374 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Die Anzahl der zwölf Sterne auf der Flagge ist unveränderlich und nicht von der Anzahl der Mitgliedstaaten der Union abhängig. Dabei ist die Zahl Zwölf das Sinnbild der Zusammengehörigkeit und Einheit.375 Sie ist in der jüdischchristlichen Symbolik eine der bedeutendsten Zahlen und ein Leitmotiv der Johannes-Offenbarung.376 Die Zahl Zwölf hatte aber auch über die christlich-jüdische Tradition hinaus Bedeutung in ganz Europa.377 Im antiken Griechenland sind eng zusammengeschlossene Verbände von zwölf Städten und Völkerschaften nachzuweisen. Im alten nordgermanischen Skandinavien erscheinen zwölf Krieger als Brüder im eng geschlossenen Bund in der Mythologie. Der Wolfdietrich im Heldenbuche der Germanen hatte zwölf Dienstmannen als Gefolge, die auf Leben und Tod verbunden sind. Außerdem soll die Anzahl Zwölf an die Zahl der Monate im Jahr und die Stunden auf dem Ziffernblatt einer Uhr erinnern.378 Hinsichtlich der jüdisch-christlichen Symbolik des Emblems wird die Ansicht vertreten,379 dass die zwölf Sterne in ihrer Anordnung als Kranz die Krone des apokalyptischen Weibes nach der Johannes-Offenbarung darstellen.380 Der Kreis 375 Die bis heute geltende symbolische Beschreibung der Fahne durch die Europäische Kommission ist nicht ganz richtig. Die Bedeutungen der Symbole „Kreis“ und „Zwölf“ wurden anscheinend durch ein redaktionelles Versehen schon im Europarat verwechselt. Denn auf der offiziellen Seite der Kommission wird die Zahl Zwölf als das Sinnbild für Ganzheit gedeutet. Allerdings ist die Zahl Zwölf richtigerweise ein Sinnbild für Zusammengehörigkeit und Einheit. Demgegenüber ist der Kreis seit der Antike das Symbol der Vollkommenheit und nicht der Einheit wie von der Europäischen Kommission angenommen. Siehe zur Verdeutlichung die Erklärung der Kommission auf ihrer offiziellen Website Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Europafahne, abrufbar unter: http://europa.eu/abc/symbols/emblem/index_de.htm (14.07.2004), S. 1 und zum Ursprung der Verwechslung Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 83. 376 In der Johannes Offenbarung, 21, 12 ff. wird das neue Jerusalem folgendermaßen angekündigt: „Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln auf den Toren; darauf sind Namen geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. . . . Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine; auf ihnen stehen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes.“ Siehe dazu Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 78 f. 377 Zum Folgenden siehe Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 78 f. 378 So die Kommission auf ihrer Homepage; vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Graphische Hinweise zum Europa-Emblem, abrufbar unter: http:// europa.eu.int./abc/symbols/emblem/graphics1_de.htm (14.07.2004), S. 1. 379 So vertreten von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). Vor allem Graf Coudenhove Kalergi, der Gründer der Paneuropa-Union, versuchte den Bezug der Zahl der zwölf Sterne mit der biblischen Offenbarung herzustellen. 380 Johannes Offenbarung 12, 1 f.: „Da erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, umgeben von der Sonne, den Mond unter ihren Füßen und einen Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Sie war schwanger und schrie in ihren Wehen und in der Qual des Gebärens.“ Weiter heißt es in der Johannes Offenbarung 12, 5, dass die Frau ein Kind gebar, „einen Sohn, der über alle Völker herrschen soll mit eisernem Zepter. Und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt.“
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
mit den zwölf goldenen Sternen soll eine Assoziation der Europäer als auserwählte Gruppe in der jüdisch-christlichen Tradition schaffen. Nach der Johannes-Offenbarung wird im Zeichen der Krone mit den zwölf Sternen der Messias geboren und es findet ein umfassender Neubeginn der Geschichte statt.381 Die Flagge mit dem Kranz aus zwölf goldenen Sternen ist nach dieser Lesart ein Heilsversprechen und ein Zeichen der Auserwählung für die Europäer. Es soll dieser Ansicht zufolge auf der Flagge der Europäischen Union die Assoziation hergestellt werden, dass mit der europäischen Integration ein Neubeginn der Geschichte stattfinde, der für die Europäer Heil bringt.382 Allerdings wurde der Beweis, dass sich in Europa mit dem Entwurf der Flagge diejenigen durchgesetzt haben, die für eine christliche Symbolik Europas plädiert haben, nie erbracht.383 Der Urheber für den Sternenkranzentwurf konnte nicht eindeutig ermittelt werden; die Herkunft des Symbols ist unklar.384 Im Ergebnis kann also kaum angenommen werden, dass der Sternenkranz der Flagge einen gewollten christlichen Hintergrund hat und die Europäische Union als christliche Wertegemeinschaft konstituieren soll.385 b) Identitätsstiftende Wirkung Die Normierung der Flagge als Symbol der Europäischen Union ist unvollständig; Art. I-8 VVE regelt weder Aussehen noch Farbe der Sterne.386 Im Hinblick auf eine Identitätsstiftung ist außerdem der Abgrenzungsaspekt hinsicht-
381 Die christliche Tradition hat – zurückgehend auf eine Kommentierung des Bernhard von Clairvaux – in dem apokalyptischen Weib die Mutter des Messias Maria gesehen und die Wehen als ein Vorspiel der Auferstehung interpretiert. Bereits in mittelalterlichen Darstellungen wurde das Diadem der Mutter Gottes von zwölf Sternen geziert. Siehe dazu Goldstain, in: Stemberger/Prager (Hrsg.), Die Bibel V, S. 2702; von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). 382 So von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). 383 Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (151). 384 Diesbezüglich bestand Streit, ob Hanno Konopath, ein Mitglied der EuropaUnion oder Arsène Heitz, der französische Zeichner des Europarates den Sternenkranz entworfen haben. Allerdings wies das Generalsekretariat des Europarates auf die Bedeutungslosigkeit der Urheberschaft hin. Denn die Flaggenfrage sei keine Frage eines Namens oder einer Person. Siehe ausführlich dazu Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 58 ff. 385 So auch Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (151). 386 Es ist nicht festgelegt, ob es sich um fünfzackige und aufrecht stehende Sterne handelt. Allerdings findet sich auf der Seite der Kommission eine ausführliche heraldische und geometrische Beschreibung des Europa-Emblems Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Graphische Hinweise zum Europa-Emblem, abrufbar unter: http://europa.eu.int./abc/symbols/emblem/graphics1_de.htm (14.07.2004), S. 2.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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lich der östlichen Grenzen der Europäischen Union zweifelhaft.387 Denn das Emblem mit den zwölf Sternen auf blauem Grund ist mit dem des Europarates identisch.388 Diesem gehören viele Staaten an, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind. Als Beispiele sind Russland, Aserbaidschan, Armenien und vor allem auch die Türkei zu nennen. Daher leistet die Verwendung derselben Flagge einer Verwechslung des Europarates mit den Institutionen der Europäischen Union Vorschub. Die Bürger müssen die Flagge nicht eindeutig mit der Europäischen Union identifizieren.389 Teilweise wird darüber hinaus bemängelt, dass die Flagge ohne identitätsstiftende Kraft für die Europäer sei. Es handle sich nur um ein blasses politisches Marketing.390 Dieser Ansicht ist aber nicht zuzustimmen. Denn die Flagge ist mittlerweile 92% der Bürger in der Europäischen Union bekannt.391 Sie ist damit das maßgebliche Symbol für die Europäische Union bei den Bürgern und kann nicht als bloßes politisches Marketing abqualifiziert werden. Auch ist die Gefahr einer Verwechslung der Union mit dem Europarat aufgrund des gleichen Emblems kaum gegeben. Denn 91% der Bürger ordnen die Flagge als Symbol der Europäischen Union zu.392 Ferner wird die Flagge der Europäischen Union extrem positiv assoziiert; 82% der befragten Bürger sehen darin ein gutes Symbol für Europa und 62% sagen, dass sie darin überhaupt etwas Gutes sehen.393 Die Hälfte der Befragten gibt darüber hinaus an, sich mit der Flagge im Alltag zu identifizieren.394 Damit ist die Flagge der Union ein affektiver Anknüpfungspunkt für die Ausbildung einer europäischen Identität. Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass die Europaflagge durch ihre massive Verbreitung und durch ihre positive Konnotation als emotionale Konsensquelle auch innerhalb der
387 Der Europarat wurde am 5. Mai 1949 in London von Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Schweden als internationale Organisation gegründet. Er ist ein Staatenbund, dem 46 Staaten angehören, davon 21 mittel- und osteuropäische Staaten mit Sitz in Straßburg. Siehe dazu Europarat, Europarat – in Kürze, abrufbar unter: http://www.coe.int/T/D/Com /Europarat_kurz/ (11.01.2007). 388 Ähnlich Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 171. 389 Dieses Problem der Uneindeutigkeit wurde auch in der Parlamentsdebatte erörtert, bevor das Europäische Parlament 1983 die Flagge annahm. Diesbezüglich wurden Bedenken geäußert, wonach eine Verwechslung der Europäischen Gemeinschaften mit dem Europarat vermieden werden sollte. Deshalb sollte besser mit einer neuen Symbolik die Besonderheit der Europäischen Gemeinschaften hervorgehoben werden. Diese Anträge konnten sich aber nicht durchsetzen. Vgl. ausführlich dazu Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 107 ff. 390 So Giesen, Intellektuelle, Politiker und Experten, S. 492 (495). 391 Vgl. Eurobarometer 65, S. 66 f. 392 Nur 4% der Befragten identifizierten damit etwas anderes als die Europäische Union; Eurobarometer 65, S. 68. 393 Vgl. dazu Eurobarometer 62, S. 93. 394 Eurobarometer 62, S. 93.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Union wirkt und so zur Ausbildung einer kollektiven Identität der Bürger beiträgt.395 2. Hymne Die Hymne ist als Staatssymbol allgemein anerkannt396 und als sinnlich wahrnehmbares Objekt ein Symbol im rechtlichen Sinn.397 In dem Singen oder Hören einer Hymne an Feiertagen wird eine Erfahrung gleichzeitiger Gemeinsamkeit begründet. Dies macht das Vorhandensein einer Gemeinschaft für den Einzelnen erlebbar.398 a) Symbolik Die Hymne wurde am 05. Mai 1972 vom Europarat als eigene Hymne angenommen. Den Vorschlag machte Richard Nikolaus Graf Coudenhove Kalergi, der Gründer der christlich-konservativen Paneuropa-Union.399 Im Jahr 1985 wurde die Hymne von den Staats- und Regierungschefs als offizielle Hymne der Europäischen Gemeinschaften angenommen.400 Sie hatte ihre amtliche Premiere am 29. Mai 1986 anlässlich der Einweihung der Europafahne vor dem Sitz der Kommission in Brüssel.401 Die Hymne der Europäischen Union ist durch die Arbeiten des Konvents nicht neu entworfen worden; sie wurde aber ebenfalls erstmals primärrechtlich in Art. I-8 VVE kodifiziert. Sie entstammt gemäß Art. I-8 Abs. 2 VVE der „Ode an die Freude“ der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens. Mit dem letzten Satz dieser Symphonie vertonte Beethoven die „Ode an die Freude“ von 395 Eine a. A. dazu vertritt Gephart, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte in Europa, S. 459 (463). Demzufolge würde der Sternenkranz weder Komplexität für den Einzelnen verdichten oder auch nur europäische Gefühle wecken. 396 Allerdings zählt Smend in seiner Integrationslehre die Hymne nicht zu den Staatssymbolen; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (162 ff.). Auch im Grundgesetz fehlt eine Regelung der Nationalhymne; Hümmerich/Beucher, NJW 1987, S. 3227 (3228). 397 Für die Nationalhymne ist dies allgemein anerkannt. Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (139 m.w. N.). 398 Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 146. 399 Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (150). 400 Sie wurde in der Folgezeit auf Empfehlung des Adonnino-Ausschusses gleichzeitig mit der Flagge durch Beschluss des Europäischen Rates vom 28./29. Juni 1985 und die inter-institutionelle Vereinbarung vom 12. März 1986 zur offiziellen Hymne erklärt. Siehe dazu Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1100); Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EUROPA – Die EU im Überblick – Die europäische Hymne, abrufbar unter: http://europa.eu/abc/symbols/anthem/index_de.htm (14.07.2004), S. 1. 401 Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 142.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Friedrich von Schiller aus dem Jahr 1785. Das Gedicht entsprang Schillers idealistischer Vision von allen Menschen, die zu Brüdern werden. Die Hymne versinnbildlicht also die Idee einer weltumspannenden Brüderlichkeit. Diese Vision teilte Beethoven bei der Vertonung.402 Es gab im Rahmen des Verfassungskonvents Diskussionen um einen möglichen Text für die Hymne.403 Allerdings konnte eine Festlegung auf eine der Sprachen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union wegen der Gleichberechtigung der Sprachen nicht durchgesetzt werden.404 Auch ein lateinischer Text ist für eine europäische Hymne nach der Osterweiterung wenig überzeugend. Denn die neu beigetretenen osteuropäischen Staaten haben im Gegensatz zu Westeuropa keine lateinische Sprachtradition, an die ein lateinischer Text anknüpfen könnte.405 Damit ist die Hymne textlos geblieben. Die Hymne kann in der universalen Sprache der Musik als Ausdruck der idealistischen Werte, für die die Union steht, angesehen werden.406 Mit der Hymne wird also eine positive Selbstwahrnehmung der Europäer stark gefördert. Die positive Konnotation Europas wird auch durch die Verse in der „Ode an die Freude“ untermauert, wenn diese von der Tochter aus Elysium, also von der Insel der Seligen, sprechen.407 b) Identitätsstiftende Wirkung Der Wortlaut des Art. I-8 Abs. 2 VVE lässt im Hinblick auf die Hymne der Union allerdings einiges im Unklaren. Zunächst wird nicht deutlich, ob die Hymne nach dem Verfassungsvertrag einen deutschen Text haben soll408 und welcher Teil aus der „Ode an die Freude“ die Hymne der Union sein soll. Art. I-8 402 So die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EUROPA – Die EU im Überblick – Die europäische Hymne, abrufbar unter: http://europa.eu/abc/symbols/an them/index_de.htm (14.07.2004), S. 1. 403 Siehe dazu Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 132 f.; Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (149). 404 Das Problem der Mehrsprachigkeit ließ sich schon bei der Auswahl der Europahymne nicht lösen. Siehe ausführlich zur Entstehung der Europahymne Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 130 ff., 140 ff. 405 Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (149). Siehe dazu auch Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1100); Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 56 Fn. 289. 406 So die Beschreibung der Hymne auf der offiziellen Seite Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EUROPA – Die EU im Überblick – Die europäische Hymne, abrufbar unter: http://europa.eu/abc/symbols/anthem/index_de.htm (14.07. 2004), S. 1. 407 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). 408 Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (149).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Abs. 2 VVE lässt weiterhin offen, ob es sich bei der Hymne um die Originalmusik oder eine Adaption derselben handelt.409 Die Hymne der Union hat entgegen der ungenauen Formulierung des Art. I-8 Abs. 2 VVE nicht den Originaltext von Friedrich Schiller.410 Der Dirigent Herbert von Karajan arrangierte drei Instrumentalfassungen der Hymne, die als offizielle Fassungen gelten.411 Daher ist mit der Nennung der Hymne als Vierter Satz der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven nicht der deutsche Text von Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ gemeint.412 Die Europahymne in der offiziellen Instrumentalfassung Herbert von Karajans beginnt darüber hinaus entgegen der missverständlichen Normierung des Art. I-8 Abs. 2 VVE nur mit den ersten vier Takten des vierten Satzes der Neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens. Darauf folgt die eigentliche Hymne, die aus den Takten 140 bis 187 des vierten Satzes derselben Sinfonie besteht.413 Schließlich stellt sich auch bei der Hymne dasselbe Abgrenzungsproblem der Europäischen Union zum Europarat wie bei der Flagge. Die Hymne kann die Europäische Union nicht gegenüber den ehemaligen Staaten der Sowjetunion sowie gegenüber der Türkei abgrenzen, da sie auch die Hymne des Europarates ist, in dem die betreffenden Staaten Mitglieder sind. Darüber hinaus hat nur ein Viertel der Bürger414 Kenntnis von der eigenen Hymne der Europäischen Union.415 Die Hymne ist damit nicht so verbreitet und anerkannt bei den Bürgern wie die Flagge der Europäischen Union; ihr identitätsstiftendes Potential wird bisher nicht ausgenutzt. Diesbezüglich hätte die Normierung der Hymne als Symbol der Union in Art. I-8 Abs. 2 VVE bei erfolgreicher Ratifizierung des Verfassungsvertrages Abhilfe schaffen können. 3. Leitspruch Der Leitspruch der Union ist nach Art. I-8 Abs. 3 VVE „In Vielfalt geeint“. Er wurde bereits im Jahr 2000 auf Initiative des Europäischen Parlaments geschaffen. Er lässt sich ebenfalls als ein Symbol qualifizieren, denn als Text ist er sinnlich wahrnehmbar.416 Der Leitspruch der Union deckt sich mit dem Inte409
Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1107). Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1100). 411 Diese sind eine Fassung für Solopiano sowie für Blas- und Symphonieorchester. Siehe Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EUROPA – Die EU im Überblick – Die europäische Hymne, abrufbar unter: http://europa.eu/abc/symbols/anthem /index_de.htm (14.07.2004), S. 1. 412 So vertreten von Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (546 Fn. 38). 413 Siehe dazu Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 138. 414 Der 15 Mitgliedstaaten vor der Osterweiterung. 415 36% der Befragten nahmen sogar an, dass die Europäische Union keine Hymne hat; Eurobarometer 61, B. 27 f. 410
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grationsverständnis von Rudolf Smend, wonach ein Nebeneinander der Identitäten ohne Rivalität möglich ist.417 Inhaltlich symbolisiert der Leitspruch die auf dem Subsidiaritätsgedanken fußende, spezifisch unionsrechtliche Variante des Föderalismus.418 Wortbeschwörungen als Verdichtung politischer Ideen haben auch in der Vergangenheit eine große identitätsstiftende Rolle gespielt. Ein Beispiel dafür ist das Motto der USA „e pluribus unum“.419 Mit der rechtlichen Normierung dieses Leitspruchs verdeutlicht die Union, dass europäische Gruppenzugehörigkeit keinesfalls die totale Homogenität der Gemeinschaft bedeutet. Es wird im Gegenteil die strukturelle Komplexität der Union sichtbar gemacht, die aus eine Anzahl kleinerer und größerer Teileinheiten besteht.420 Der Leitspruch stellt eine endgültige Absage des Verfassungsvertrages an eine wie auch immer geartete substantielle Homogenitätskonzeption in Europa dar.421 Gerade die Vielfalt der Völker und der nationalen sowie regionalen Kulturen bildet demzufolge die Grundlage der politischen Einheit der Europäischen Union.422 Nicht die Ausgrenzung oder Assimilierung des Andersartigen, nicht die „Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“423 sollen demzufolge die Einheit Europas ermöglichen. Vielmehr sind die Anerkennung der Unterschiede in Europa, seine Vielfalt sowie die Achtung der Würde eines jeden Menschen als europäische Eigenwerte für die Union nach dem Verfassungsvertrag konstitutiv.424 Allerdings ist die identitätsstiftende Wirkung des Leitspruchs fraglich. Denn die Devise der Union „In Vielfalt geeint“ bietet angesichts der nüchternen For416 Siehe dazu Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (148). 417 Siehe dazu ausführlich oben S. 169 f. m.w. N. 418 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 179 ff.; Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (148 f.). 419 Siehe dazu auch Rosenfeld, The European Treaty – Constitution and Constitutional Identity, S. 3 (10 f., 15). 420 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 35. 421 Siehe zu der substantiellen Homogenitätskonzeption Carl Schmitts oben S. 114 ff. 422 Pernice, AÖR 120 (1995), S. 100 (112). 423 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 14. 424 Pernice, AÖR 120 (1995), S. 100 (112 f.). Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder verdeutlichte und bekräftigte diese Sichtweise in seinem Beitrag zum 60. Jahrestag der deutschen Kapitulation. Seiner Ansicht zufolge bringt die Devise der Union „In Vielfalt geeint“ treffend die historischen Erfahrungen und Folgen des Zweiten Weltkrieges zum Ausdruck. Demnach sei Europa das gelebte Bekenntnis zu Pluralität. In der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen sowie in der Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenartigkeit bestehe das Fundament der europäischen Integration. Mit dieser Devise soll seiner Meinung auch ausgedrückt werden, dass Feindbilder jeglicher Art mit Europa nicht vereinbar seien. Siehe dazu Schröder, SZ Nr. 104 vom 07./08. Mai 2005, S. 7.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
mulierung kaum Anhaltspunkte für Identifikationsprozesse der Bürger.425 Darüber hinaus beinhaltet der Leitspruch der Union keine Rechtsfolgen. Er stellt lediglich eine politische Aussage dar.426 Schließlich betonen der Begriff und die Vorstellung von Vielfalt gerade auch die Unterschiede innerhalb einer Gemeinschaft. Insofern werden mit dem Begriff der „Vielfalt“ häufig auch trennende Aspekte innerhalb der Union assoziiert.427 Die Hervorhebung des Trennenden in einem Leitsatz, der integrativ wirken soll, ist unter diesen Gesichtspunkten nicht geglückt. Daher ist es zu begrüßen, dass der Vertrag von Lissabon eine Kodifizierung des Leitspruchs „in Vielfalt geeint“ als Symbol der Europäischen Union nicht mehr vorsieht. 4. Euro Art. I-8 Abs. 4 VVE zählt auch den Euro zu den Symbolen der Europäischen Union. Aus der systematischen Stellung des Art. I-8 VVE im Teil I folgt, dass der Euro nicht als Währung in allen Mitgliedstaaten eingeführt werden soll.428 Die Aufzählung des Euro in Art. I-8 Abs. 4 VVE stellt vor allem auf dessen Symbolgehalt als Verkörperung des Wirtschaftsraums der Europäischen Union ab.429 Die Nennung des Euro in Art. I-8 Abs. 4 VVE hat folglich deklaratorischen Charakter; die Mitgliedschaft in der Eurozone ist von der Erfüllung bestimmter Kriterien430 und der Zustimmung des Rates abhängig. a) Währung als Symbol Von den vorgestellten Theorien zur Einheitsstiftung thematisiert keine ausdrücklich die identitätsstiftende Wirkung einer Währung. Münzen sind aber, 425 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (59). Dies soll nach der Ansicht von Bogdandys vor allem daran liegen, dass diese Formulierung nicht an ethische Vorstellungen der Bürger anknüpft. Diese Sichtweise erscheint aber inkonsequent, da von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 176 (179) für nationales Verfassungsrecht Identitätszumutungen entschieden ablehnt und eine kollektive Identität für die Legitimität eines Gemeinwesens für entbehrlich hält. Insofern ist unverständlich, warum auf Ebene der Europäischen Union etwas anderes gelten sollte. 426 Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1107). Ebenfalls skeptisch Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (13). 427 Siehe dazu die Befragung Jugendlicher zum Aspekt der Vielfalt Europas von Piepenschneider, Die europäische Generation. S. 118. 428 Ab 01. Januar 1999 war der Euro gesetzliche Buchungswährung. Am 01. Januar 2002 wurde er dann als gesetzliches Zahlungsmittel in den betreffenden Mitgliedstaaten eingeführt. Als letzter Staat führte am 01. Januar 2007 Slowenien den Euro ein. Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1107); Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, 2005, S. 133; Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (148). 429 Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (7 Fn. 21); Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (148). 430 Siehe dazu auch Art. III-194 ff. VVE.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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wenn man zum Beispiel Gedenkmünzen vor Augen hat, als Symbole eines Gemeinwesens nicht so ungewöhnlich.431 Die identitätsprägende Macht einer gemeinsamen Währung ließ sich in der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 beobachten. In dem Maße wie das Wirtschaftswunder voranschritt und die Deutsche Mark sich als stabil erwies, entfaltete sich die identitäre Kraft der deutschen Währung. Für die Deutschen der Bundesrepublik Deutschland war die Mark ein Symbol der deutschen Identität.432 Für dieses Phänomen prägte Jürgen Habermas in theoretischer Hinsicht den Begriff des „DM-Nationalismus“. Demzufolge hätten die Deutschen ihren bisherigen Nationalismus durch einen Wirtschaftsnationalismus ersetzt.433 Eine gemeinsame Währung kann also eine starke identitätsstiftende Klammer sein. Die monetäre Integration verbindet wirtschaftliche und politische Integration.434 Eine Währung ist nicht nur eine ökonomische Größe, sie symbolisiert auch die Macht des Souveräns, der sie garantiert.435 Der Euro ist nach den Regelungen des Verfassungsvertrages einerseits das Zahlungsmittel in der Eurozone nach Art. III-194 ff. VVE; er hat aber auch gemäß Art. I-8 Abs. 4 VVE – ebenso wie die Deutsche Mark des DM-Nationalismus – eine symbolische Funktion.436 b) Positive Assoziation aufgrund der Wertentwicklung Wenn eine gemeinsame Währung international hoch angesehen und bewertet wird, bekräftigt dies die Identität des Währungsgebietes enorm.437 Es wird eine 431 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Geld vom nüchternen Zahlungsmittel zum Träger politischer Bildsprache. Dabei gab es teilweise eine ungewöhnlich überladene nationale Symbolik auf deutschen Geldscheinen. Siehe dazu Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (148); Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 92 f. 432 Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 81; Bonus, in: Henrichsmeyer et al. (Hrsg.), Auf der Suche nach europäischer Identität, S. 67 (93 f.); Habermas, DIE ZEIT Nr. 14 vom 30. März 1990, S. 62 (62). 433 Damit wollte Habermas die Wohlfahrtsstaat-Mentalität der Deutschen beschreiben. Seiner Ansicht nach wurde die Deutsche Mark von den Bürgern emotional in der Weise aufgewertet, dass eine Art wirtschaftsnationale Gesinnung an die Stelle des bisherigen republikanische Bewusstsein trat. Vgl. dazu Habermas, DIE ZEIT Nr. 14 vom 30. März 1990, S. 62 (62). 434 Tietmeyer, FS für Everling II, S. 1575 (1577). 435 Schneider, Österreichisches Jahrbuch für internationale Politik 2002, S. 43 (56); Bonus, in: Henrichsmeyer et al. (Hrsg.), Auf der Suche nach europäischer Identität, S. 67 (93). 436 Gephart, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte in Europa, S. 459 (463). 437 Bonus, in: Henrichsmeyer et al. (Hrsg.), Auf der Suche nach europäischer Identität, S. 67 (93).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
positive Assoziation geschaffen, die die Anschlussfähigkeit des Gemeinwesens für die Bürger erhöhen kann.438 Der Euro-Anteil an internationalen Zahlungen ist in den ersten drei Jahren nach seiner Einführung als Buchgeld gestiegen und dürfte nach Einführung der Euro-Banknoten und -Münzen noch weiter steigen. Der Euro ist die international am zweithäufigsten verwendete Emissions- oder Investitionswährung. Auf ihn entfallen fast 34% der Transaktionen in diesen Bereichen.439 Daran lässt sich ablesen, dass der Euro mittlerweile weltweit als stabile Währung hoch angesehen ist. Der US-Dollar ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar immer noch die führende internationale Währung, allerdings steht der Euro mittlerweile an zweiter Stelle.440 Damit kommt dem Euro auch eine Funktion zur identitätsprofilierenden Abgrenzung gegenüber den USA zu, wenn er als Leitwährung mit dem US-Dollar in Konkurrenz tritt. Immerhin ein Drittel der Bürger der Eurozone interessieren sich für das Verhältnis des Euro zum US-Dollar441 und fast die Hälfte der Bürger in der Eurozone weiß zumindest, dass der Euro im Wechselkurs gegenwärtig mehr wert ist als der US-Dollar.442 Insgesamt schätzen die europäischen Bürger den Euro als stark ein. Im Jahr 2006 sahen 74% der Bürger in der Europäischen Union den 438 Eine Identitätsstiftung durch die gemeinsame Währung hatte auch der Europäische Rat von Rom im Blick. Denn er formulierte bei der Festlegung einer einheitlichen europäischen Währung 1990, dass eine einheitliche Währung die Identität und Einheit der Gemeinschaften zum Ausdruck bringen wird, vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Sondertagung des Europäischen Rates Rom am 27./ 28. Oktober, in: Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 23 (1990), S. 7 (9). Die identitätsstiftende Wirkung des Euro hob auch die Stadt Aachen hervor als sie den Karlspreis 2002 erstmals nicht an eine lebende Persönlichkeit vergab, sondern den Euro als Preisträger auserkor. In der Begründung hieß es, dass der Euro weit mehr als ein einheitliches Zahlungsmittel sei, er sei ein Wertmaßstab. Der Euro trage als gemeinsames Symbol zu einer europäischen Identität bei, stabilisiere die Gemeinschaft und habe damit eine friedenssichernde Wirkung. Siehe dazu die Begründung des Direktoriums für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen an den EURO – getragen durch die Europäische Zentralbank. Vgl. dazu Presse- und Informationsbüro, Online-Redaktion der Stadt Aachen, Der internationale Karlspreis zu Aachen, Die Begründung für die Verleihung an den Euro, abrufbar unter: http:// www.aachen.de/DE/stadt_buerger/aachen_profil/preise_auszeichnungen/karlspreis/prei straeger/karlspreis2002/begruendung_euro/index.html (11.01.2007). 439 Siehe zum Folgenden Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Das EuroGebiet innerhalb der Weltwirtschaft – Bilanz nach den ersten drei Jahren, abrufbar unter: http://europa.eu/scadplus/leg/de/lvb/l25063.htm (10.01.2007). 440 Siehe zum Folgenden Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Das EuroGebiet innerhalb der Weltwirtschaft – Bilanz nach den ersten drei Jahren, abrufbar unter: http://europa.eu/scadplus/leg/de/lvb/l25063.htm (10.01.2007). 441 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobarometer: The eurozone, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl193_en.pdf (10.01. 2007), S. 39 f. 442 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobarometer: The eurozone, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl193_en.pdf (10.01. 2007), S. 41 f.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Euro als eine internationale Währung an, die mit dem US-Dollar oder dem japanischen Yen vergleichbar sei.443 Unter dem Aspekt seiner Wertentwicklung ist der Euro eine Erfolgsgeschichte und schafft so positive Assoziationen für die Bürger. c) Symbolgehalt Seit Januar 2002 sind die Bürger in der Eurozone tagtäglich mit der Symbolik auf den Euro-Geldnoten konfrontiert. Der identitätsstiftende Symbolgehalt des Euro-Geldes soll im Folgenden erörtert werden. aa) Euro-Banknoten und Euro-Münzen Die Euro-Banknoten und Euro-Münzen enthalten ihrerseits andere Unionssymbole. Auf ihnen ist beispielsweise die Flagge mit dem Sternenkranz abgebildet. Die Euro-Scheine sind in allen Ländern identisch.444 Ihre Vorderseite zeigt Fenster und Torbögen. Auf der Rückseite sind Brücken dargestellt. Dabei werden vom 5- bis 500-Euro-Schein verschiedene Architekturepochen Europas versinnbildlicht.445 Die Euro-Münzen werden von jedem Land der Eurozone selbst geprägt. Die Vorderseite der Münzen ist in allen Ländern gleich, sie zeigt eine graphische Abbildung des Kontinents mit den Sternen und dem Geldwert. Die andere Seite der jeweiligen Münze trägt ein besonderes nationales Emblem446 und den Kranz der zwölf Sterne. Sämtliche Scheine und Münzen sind in der gesamten EuroZone gültig. Die auf den Münzen und Banknoten dargestellten Abbildungen enthalten sowohl Unionssymbole als auch nationale Symbole der jeweiligen Mitgliedstaaten.447 Durch diese Verbindung wird für die Bürger anschaulich gemacht, dass die europäische Identität nicht die nationalstaatliche Identität verdrängen will, sondern dass ein Nebeneinander der Identitäten möglich ist. 443 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobarometer: The eurozone, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl193_en.pdf (10.01. 2007), S. 37 f. 444 Siehe dazu Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Der Euro, abrufbar unter: http://www.europa.eu/abc/travel/money/index_de.htm (10.01.2007). 445 Abgebildet werden in der Reihenfolge des 5 Euro Scheins bis zum 500 Euro Schein die Epochen der Klassik, der Romanik, der Gotik, der Renaissance, des Barock und Rokoko, die Epoche von Eisen und Glas sowie die Moderne des 20. Jahrhunderts. Die einzelnen Banknoten sind abrufbar unter: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, The Auro: Our Currency, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/economy_fi nance/euro/notes_and_coins/notes_main_en.htm (10.01.2007). 446 Die nationalen Symbole können dabei je nach dem Münzwert variieren oder auch nicht. 447 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (148).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
bb) Eurozeichen Das verwendete Symbol für den Euro ist A. Auch die Symbolik des Eurozeichens, das im Zahlungsverkehr verwendet wird, verdient besondere Beachtung. Denn es gibt neben Dollar, Yen und Pfund Sterling nur für ganz wenige Währungen überhaupt ein Symbol.448 Seit der Tagung des Europäischen Rates von Dublin am 13./14. Dezember 1996 verwendet die Europäische Kommission das Eurozeichen; offiziell wurde es im Jahr 1997 eingeführt.449 Das Eurozeichen ist an das griechische Epsilon angelehnt.450 Dies soll auf die Wiege Europas im antiken Griechenland zurückverweisen und an den ersten Buchstaben „E“ des Wortes „Europa“.451 Zwei parallele Linien kreuzen das Eurozeichen. Sie sollen auf die Stabilität dieser Währung hinweisen. Durch das unverwechselbare Eurozeichen soll auch der Anspruch des Euro, zu einer der führenden Weltwährungen zu werden, markiert werden. d) Identitätsstiftende Wirkung Bereits vor der Einführung des Euro wurde die Befürchtung geäußert, dass seine identitätsstiftende Wirkung ausbleiben könnte. Es wurde vermutet, dass sich keine emotionale Zuwendung der Bürger zu ihrer gemeinsamen Währung entwickelt, wenn der Euro nur als ein Schlussstein zur Errichtung des Binnenmarktes empfunden wird.452 Die tatsächliche identitätsstiftende Wirkung des Euro ist auch fünf Jahre nach seiner Einführung nicht sehr hoch. Denn in der aktuellen Eurobarometer-Umfrage zum Euro gaben immerhin 78% der europäischen Bürger in der Eurozone an, dass sich durch die Einführung des Euro hinsichtlich ihres Gefühls, Euro448
Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1100). Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Verwendung des Auro-Zeichens, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/euro/notes_and_coins/sym bol/euro_symbol_de.pdf (10.01.2007). 450 Siehe ausführlich zur Symbolik des Eurozeichens Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Verwendung des Auro-Zeichens, abrufbar unter: http://ec.europa. eu/economy_finance/euro/notes_and_coins/symbol/euro_symbol_de.pdf (10.01.2007), S. 2. Im Anschluss an die Mitteilung der Kommission findet sich auch die heraldische Darstellung. 451 Normalerweise verzichtet eine symbolische Bildsprache auf die Schrift. Als Grund dafür wird der psychologische Nachteil der Schrift angesehen. Der Sinngehalt des Buchstaben „E“ muss erst verstandesmäßig in das Wort „Europa“ übersetzt werden, ehe es dem Betrachter bewusst wird. Siehe zu dieser Erklärung der Verwendung des Buchstaben E als Symbol Rabbow, Visuelle Symbolik als Erscheinung der nichtverbalen Publizistik, S. 210; Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 44. 452 Siehe dazu Meessen, EuR 1999, S. 701 (710); Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 82. 449
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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päer zu sein, nichts geändert habe.453 Nur 19% der Bürger in der Eurozone gaben an, sich ein bisschen mehr als Europäer durch die Verwendung der gemeinsamen Währung zu fühlen.454 Allerdings identifizieren 39% der Bürger die Europäische Union hauptsächlich mit dem Euro.455 Die Einführung des Euro brachte deshalb vor allem eine bessere Wahrnehmung der gemeinsamen Wirtschaftspolitik der Union. 51% der Bürger in der Eurozone haben mittlerweile Kenntnis von der koordinierten Wirtschaftspolitik in der Eurozone456 und 50% wissen, was der Stabilitätspakt ist.457 e) Abgrenzung Nicht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben den Euro als gemeinsame Währung eingeführt. Erst in 15 von 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union hat der Euro die nationale Währung ersetzt.458 Der Verfassungsvertrag sieht aus diesem Grund Sonderbestimmungen für die Mitgliedstaaten der Eurozone in Art. III-194 ff. VVE vor. Sechs Staaten der Europäischen Union haben sich sogar ausdrücklich gegen den Euro entschieden.459 Insofern ist der Euro kein Symbol für die gesamte Europäische Union. Darüber hinaus könnte die Nennung des Euro von den Mitgliedstaaten, die nicht der Eurozone angehören, als Symbol für ihre Nichtzugehörigkeit interpre-
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Der Wert von 78% blieb in den letzten drei Jahren stabil; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobarometer: The eurozone, abrufbar unter: http:// ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl193_en.pdf (10.01.2007), S. 42. 454 Hier gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern der Eurozone. Den meisten Einfluss auf das Identitätsgefühl hatte der Euro bei den Iren. So konstatierten 73% der Iren, dass sich ihr Identitätsgefühl als Europäer durch die Einführung des Euro geändert habe. Demgegenüber gaben 83% der Deutschen an, dass sich in ihrer Einstellung gegenüber Europa durch den Euro nichts geändert habe. Vgl. dazu Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobarometer: The eurozone, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl193_en.pdf (10.01.2007), S. 42 f. 455 Nach der Reisefreiheit ist der Euro das an zweiter Stelle genannte Identifikationsmoment der Bürger mit der Europäischen Union; vgl. Eurobarometer 65, S. 73. 456 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobarometer: The eurozone, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl193_en.pdf (10.01. 2007), S. 49 f. 457 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobarometer: The eurozone, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl193_en.pdf (10.01. 2007), S. 59 f. 458 Dies sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Republik Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowenien, Malta, Zypern und Spanien. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobarometer: The eurozone, abrufbar unter: http://ec.europa.eu /public_opinion/flash/fl193_en.pdf (10.01.2007). 459 Und zwar Dänemark, das Vereinigte Königreich, Polen, Schweden, Tschechien und Ungarn.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
tiert werden. Die Kodifizierung des Euro in Art. I-8 Abs. 4 VVE könnte auch als ein Symbol für eine monetäre Spaltung der Europäischen Union verstanden werden.460 Darüber hinaus wird der Euro auch als Zahlungsmittel außerhalb der Europäischen Union verwendet.461 Insgesamt erscheint die Normierung des Euro als Symbol für die gesamte neue Union in Art. I-8 Abs. 4 VVE problematisch. Vor diesem Hintergrund ist es begrüßenswert, dass der Vertrag von Lissabon keine Kodifizierung des Euro als Symbol der Europäischen Union vorsieht. 5. Europatag Nach Art. I-8 Abs. 5 VVE wird der 09. Mai in der gesamten Union als Europatag gefeiert. Die Festlegung eines Europatages wurde ebenfalls von den Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen 1985 in Mailand beschlossen.462 Feiertage als Erinnerungsriten stellen eine emotionale Konsensquelle der Bürger dar.463 Die Besinnung auf ein bestimmtes politisches Ereignis oder zur Bekundung eines politischen Ideals kann verbindend wirken.464 Durch Feiertagszeremonien können Menschen ihre Mitgliedschaft in einem Kollektiv erleben.465 Mangels seiner sinnlichen Wahrnehmung als Objekt kann der Europatag zwar nicht nach der oben genannten Definition als Symbol qualifiziert werden. Allerdings werden auf nationaler Ebene Nationalfeiertage trotzdem als Staatssymbole angesehen.466 Feiertagsgarantien veranschaulichen ebenfalls die geschichtliche Bewusstseinslage eines Gemeinwesens bei seiner Gründung und zeigen wie diese in der Gegenwart nachwirkt und kraft der Verfassung nachwirken soll.467
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Ähnlich Tietmeyer, FS für Everling II, S. 1575 (1583). Und zwar in Andorra, Monaco, San Marino und der Vatikanstadt sowie im Kosovo und in Montenegro in der westlichen Balkanregion, ebenso auf den Azoren, in Französisch-Guayana und Guadeloupe, auf den Kanarischen Inseln, Madeira, Martinique, Mayotte, Réunion, St. Pierre, Miquelon, Akrotiri und Dekelia. Monaco, San Marino und die Vatikanstadt besitzen sogar eigene Euro-Münzen. Diese Gebiete gehören aber zu einem Land der Euro-Zone. Siehe dazu Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Der Euro, abrufbar unter: http://www.europa.eu/abc/travel/money/in dex_de.htm (10.01.2007). 462 Dieses Datum trat an die Stelle des bisherigen Europatages, der auf den 05. Mai, den Gründungstag des Europarates, festgelegt war; Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 56. 463 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 184. 464 Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 143. 465 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 156. 466 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (147 m.w. N.). 467 Häberle, FS für Broermann, S. 211 (236). 461
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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a) Symbolik Mit dem Europatag wird im Verfassungsvertrag ungenannt an die Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman vom 09. Mai 1950 erinnert,468 die zum inzwischen ausgelaufenen EGKS-Vertrag führte, der 1952 durch die Gründung der Montanunion verwirklicht wurde. Am 09. Mai 1950 wurde in Paris die internationale Presse in das französische Außenministerium gerufen, um eine von dem französischen Außenminister Robert Schuman verlesene und erläuterte Erklärung entgegenzunehmen, die sein Mitarbeiter Jean Monnet verfasst hatte. Darin wurde als eine Maßnahme zur Sicherung des Weltfriedens nach dem Zweiten Weltkrieg vorgeschlagen, die Rohstoffe Kohle und Stahl, die unentbehrlich für die militärische Rüstung waren, durch ein supranationales Organ, die Ruhrbehörde, verwalten zu lassen.469 Robert Schuman unterbreitete damit seinen Vorschlag für ein Vereintes Europa als unerlässliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen in Europa.470 b) Identitätsstiftende Wirkung Ein Vorteil des Europatags besteht drin, dass der Feiertag nicht mit dem des Europarates geteilt wird, so dass insofern eine eindeutige Abgrenzung gegenüber dieser internationalen Organisation gegeben ist. Man kann die SchumanErklärung daher als den Moment interpretieren, in dem der Gedanke des traditionellen Nationalstaates weltgeschichtlich überwunden wurde. Von offizieller europäischer Seite wird die Schuman-Erklärung in dieser Weise interpretiert und als die Geburtsstunde der europäischen Integration betrachtet.471 Im Schuman-Plan lassen sich darüber hinaus einige Gemeinschaftsprinzipien finden, die noch heute das Fundament der Europäischen Gemeinschaften darstellen.472 Doch man kann die Erklärung andererseits auch als einen einseitigen französischen Akt und keinen kollektiven europäischen Akt verstehen.473 Nach diesem 468
Siehe zum Folgenden von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (56). Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EUROPA – Die EU im Überblick – Was ist der Europatag, abrufbar unter: http://europa.eu.int/abc/symbols/9may/euday_de.htm (14.07.2004). 470 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EUROPA – Die EU im Überblick – Was ist der Europatag, abrufbar unter: http://europa.eu.int/abc/symbols/9may/euday_de.htm (14.07.2004). 471 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (148). 472 Diese sind zum Beispiel die Unabhängigkeit der Gemeinschaftsorgane, die Zusammenarbeit der Organe sowie die Gleichheit der Staaten. Siehe Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Fontaine, Die Erklärung von Robert Schuman, abrufbar unter: http://europa.eu.int/comm/publications/booklets/eu_documentation/04/txt03_de. htm (14. 07. 2004), S. 3 ff. 473 Die Bedeutung der Ideen und Motive zur Einigung Europas sind unter Historikern strittig, weil man den einschlägigen Akteuren oft andere Überlegungen und Ab469
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Verständnis erscheint die Erklärung als kalkulierend diplomatischer Akt und nicht als Ausdruck eines überwältigenden Wollens der europäischen Völker.474 Diese Interpretation wird hauptsächlich durch den Text der Erklärung untermauert. Darin formulierte Schuman, dass sich Frankreich seit mehr als zwanzig Jahren zum Vorkämpfer eines vereinten Europa gemacht habe. Außerdem erfordere die Vereinigung der europäischen Nationen, dass der alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht werde. Das begonnene Werk der europäischen Integration müsse daher in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen.475 Die Aussöhnung zwischen den Staaten Europas insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland ist damit das bestimmende Motiv der Schuman-Erklärung. Der Tag der Schuman-Erklärung wird aber als Tag der Grundsteinlegung der gesamten Union in Art. I-8 Abs. 5 VVE normiert. Somit könnte er als eine Verbeugung vor der französischen Diplomatie verstanden werden und verbreitete Ressentiments diesbezüglich schüren.476 Ein überzeugender Ritus des Feierns der Verfassung und der europäischen Integration insgesamt dürfte mit diesem Hintergrund nur schwer zu etablieren sein.477 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat nur ein Drittel der Bürger (34%) Kenntnis von der Existenz eines Europatages.478 Die identitätsstiftende Wirkung des Europatages ist bislang marginal. Die Kenntnis der Bürger und die assoziative Wirkung des Europatages könnte aber maßgeblich durch die Errichtung eines unionsweiten arbeitsfreien Feiertages verbessert werden.479 Bisher ist der Europatag weiterhin ein Werktag und eine Erhebung dieses Tages zum arbeitsfreien Tag in der gesamten Union ist nicht geplant.480 In einer berufsgeprägten Gesellschaft hat ein arbeitsfreier Feiertag einen höheren emotionalen Stellenwert bei sichten entnehmen kann, als sie offiziell bei öffentlichen Gelegenheiten äußern, beispielsweise das Bestreben, nationale und ordnungspolitisches Interessen geltend zu machen; Schneider, FS für Mantl II, S. 1151 (1169 Fn. 42). 474 So Siedentop, Demokratie in Europa, S. 178. 475 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, abrufbar unter: http://europa.eu.int/abc/symbols/9-may/decl_de.htm (14.07. 2004). 476 So vertreten von Siedentop, Demokratie in Europa, S. 178. 477 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (56). Ebenfalls ablehnend Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (433). 478 24% ist diese Tatsache gar nicht bekannt und 42% äußern zu dieser Aussage keine Meinung. Die Ergebnisse variieren stark von 70% Bekanntheit des Europatages in Finnland zu 14% im Vereinigten Königreich. Siehe dazu Eurobarometer 61, B. 27 f. 479 Aufgrund der Stellung des Art. I-8 Abs. 5 VVE im Allgemeinen Teil des Verfassungsvertrages und des Fehlens sonstiger Regelungen hat die Europäische Union diesbezüglich aber keine Kompetenz. 480 Allerdings finden regelmäßig Feiern am 09. Mai statt. Siehe zu den Bemühungen um eine Ausweitung als Feiertag Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 154 f.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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den Bürgern als das bloße Andenken an hohe politische Ideale.481 Ein europaweit arbeitsfreier 09. Mai wäre zumindest bei der arbeitenden Bevölkerung positiv besetzt und würde deutlicher mit der Europäischen Union verbunden sein.482 So könnte ein verbindendes emotionales Element gestiftet werden. Die Etablierung eines freien Tages als Europatag über die symbolische Normierung eines Europatages hinaus wäre hinsichtlich einer Identitätsstiftung wünschenswert. 6. Schutz der Unionssymbole Für die Möglichkeit einer Identitätsstiftung durch die Unionssymbole ist deren rechtlicher Schutz ausschlaggebend. Es ist wesentlich, in welchem Umfang sich mitgliedstaatliche Pflichten ergeben und ob die Mitgliedstaaten den Symbolen der Union rechtlichen Schutz verweigern können. Wenn die Mitgliedstaaten in ihrer Rechtsetzung die europäischen Symbole im Verhältnis zu ihrer jeweiligen nationalen Symbolik diskriminieren dürften, wäre dies für die Ausbildung einer europäischen Identität bei den Bürgern hinderlich. Die Europäische Union würde den Bürgern an Feiertagen nicht mehr veranschaulicht und die Symbole könnten ihren Integrationszweck nicht mehr erfüllen. In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist die Kompetenz zur Symbolverwendung im nationalen Recht oftmals nicht geregelt.483 Auch Art. I-8 VVE enthält keine Kompetenzregelung der Europäischen Union über die Verwendung ihrer Symbolik ebenso wenig wie die übrigen Kompetenzregeln des Europäischen Verfassungsvertrages.484 Die Verbandskompetenz der Europäischen Union zur Symbolverwendung im internen Verkehr ihrer Institutionen ergibt sich aus Art. I-8 VVE zumindest als implied power.485 Allerdings bleibt 481
Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 150. An diesem Tag haben bisher lediglich die Bediensteten der EU-Institutionen frei, die an allen nationalen Feiertagen mit Ausnahme der Feiertage des Gaststaates und des Europatages arbeiten. Siehe dazu Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1097, 1101); Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 153. 483 Art. 22 GG bestimmt in Abgrenzung zum monarchischen Obrigkeitsstaat und zum Dritten Reich, dass die Bundesflagge schwarz-rot-gold ist. Die Bundeshymne ist nicht einmal erwähnt. Ihre Rechtsgrundlage und die Organkompetenz des Bundespräsidenten ist daher auch umstritten. Es ist umstritten, ob der Bundespräsident die Organkompetenz zu Anordnungen über die Flaggen entweder durch Rechtsverordnung oder in anderer Form hat; vgl. Hoog, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar II, Art. 22 Rn. 21 m.w. N. Siehe zum Ganzen Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 22 Rn. 1 m.w. N.; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 23 Rn. 1; Hümmerich/Beucher, NJW 1987, S. 3227 (3228 ff.). 484 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (152). 485 Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (152). 482
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
mangels Kompetenzzuweisung an den Europäischen Rat für die Organkompetenz zur Symbolverwendung nur der Rückgriff auf Art. 308 EG bzw. Art. I-18 Abs. 1 VVE.486 Es ist darüber hinaus Sache der Mitgliedstaaten, die Verwendung der Unionssymbole im externen Verkehr außerhalb der europäischen Institutionen zu regeln. Sie haben aber nach Art. 10 EG bzw. I-5 VVE die Pflicht, die Symbolverwendung durch die Europäische Union an den Einrichtungen der europäischen Institutionen in den jeweiligen Mitgliedstaaten zu dulden.487 Die Mitgliedstaaten müssen außerdem alle Maßnahmen unterlassen, die zu einer Störung und Beeinträchtigung der europäischen Gemeinschaftssymbole führen können. Wenn man Art. 10 EG bzw. Art. I-5 VVE i.V. m. Art. I-8 VVE nach dem Grundsatz des effet utile auslegt, dann kann man das Bestehen einer mitgliedstaatlichen Schutzpflicht für die Unionssymbole nicht verneinen.488 7. Zwischenergebnis zu Art. I-8 VVE An der Regelung des Art. I-8 VVE ist positiv hervorzuheben, dass damit erstmals die wesentlichen Hoheitszeichen der Europäischen Union im Primärrecht verankert sind. Insgesamt leidet die Normierung der Symbole in Art. I-8 VVE aber an den unscharfen Formulierungen und an der mangelnden Abgrenzung gegenüber den Symbolen des Europarates. Auch war die Einbeziehung der Devise „in Vielfalt geeint“ mangels Rechtsgehalt entbehrlich. Ebenso war die Nennung des Euro in Art. I-8 VVE nicht rechtlich zwingend, da er ohnehin im Rahmen der Bestimmungen über die Währungsunion primärrechtlich verankert 486 Siehe ausführlicher dazu Krausnick, Symbole der europäischen Verfassung – die europäische Verfassung als Symbol, S. 132 (152). 487 Gleichwohl wäre eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu einer Verwendung der Flagge gegenwärtig wegen der umstrittenen Rechtsgrundlage nicht erzwingbar. Siehe dazu Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1097, 1101). Bieber, GS für Geck, S. 59 (71 f.); Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (153). 488 Die Bundesrepublik Deutschland gewährt keinen strafrechtlichen Schutz der Unionssymbole Flagge und Hymne. Daher wird in der Literatur auch die Frage diskutiert, ob die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen Art. 10 EG verstößt. Die Subsumtion der Europäischen Flagge unter § 104 StGB, der die Verletzung ausländischer Flaggen unter Strafe stellt, ist wegen des strafrechtlichen Analogieverbots ausgeschlossen. Ähnliches gilt für § 90 a Abs. 1 S. 2 StGB, der die Hymne der Bundesrepublik und ihrer Länder, aber nicht die Hymne fremder Staaten schützt. Den Mitgliedstaaten ist aber zumindest eine Einschätzungsprärogative bei der Frage, ob und in welchem Umfang sie die Symbole für strafrechtlich schutzwürdig halten, zuzugestehen. Aus dem Gesichtpunkt des effet utile des Art. 10 EG kann kaum eine Verpflichtung zum Erlass einer Strafnorm abgeleitet werden. Daher stellt der mangelnde strafrechtliche Schutz der Hymne kein Verstoß der Mitgliedstaaten gegen Art. 10 EG dar. Siehe ausführlich dazu Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1103 ff.). Eine a. A. dazu vertritt Bieber, GS für Geck, S. 59 (71 f.). Siehe zum Ganzen Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (153 f.).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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ist489 und als Symbol für die wirtschaftliche Spaltung der Europäischen Union interpretiert werden könnte. Das Mandat des Europäischen Rates vom 21./22. Juni 2007 sieht nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages bezüglich des nunmehr geplanten Vertrages von Lissabon vor, dass die geänderten Verträge keinen Artikel enthalten werden, in dem die Symbole der Europäischen Union erwähnt werden.490 Dies geht auf den Vorschlag des Vorsitzes des Europäischen Rates zurück,491 nachdem die Frage der Symbolik zu Befürchtungen hinsichtlich eines europäischen Superstaates geführt hatte. Art. I-8 VVE nennt allerdings hauptsächlich im gegenwärtigen Alltag der Union bereits verwendete Symbole. Daher ist davon auszugehen, dass auch ohne Inkrafttreten des Verfassungsvertrages die positiven identitätsstiftenden Aspekte der Flagge, der Hymne, des Europatages und des Euro erhalten bleiben werden. III. Symbolwert einer Verfassung Nach der Symboldefinition kann auch ein Rechtstext ein Symbol sein492 und eine Verfassung kann durch ihre Verurkundlichung identitätsstiftende Symbolizität aufweisen.493 Recht als Symbol verweist nicht nur auf etwas oder ist der Ausdruck von etwas, sondern es übt selbst durch seine Regelungen eine strukturierende und konstituierende Kraft im alltäglichen und politischen Bereich auf die Menschen aus.494 Damit ist die mittelbar identitätsstiftende Wirkung von Verfassungsrecht angesprochen.495 Auf der anderen Seite kann eine Verfassung auch unmittelbar identitätsstiftend wirken, wenn sie selbst zum eigenständigen Symbol des Gemeinwesens bei den Bürgern wird,496 wie dies in den Verfassungsnationen geschehen ist. Vor allem die allen Konfliktparteien gemeinsame Bezugnahme auf die Verfas489
Ebenso Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1097, 1108). Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 16; Europäischer Rat, Bericht des Vorsitzes an den Rat/Europäischen Rat, Brüssel den 14. Juni 2007, abrufbar unter: http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st10/st10659.de07.pdf (07.07.2007), S. 5. 491 Europäischer Rat, Bericht des Vorsitzes an den Rat/Europäischen Rat, Brüssel den 14. Juni 2007, abrufbar unter: http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st10 /st10659.de07.pdf (07.07.2007), S. 5. 492 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (154). 493 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 12; Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (420); Möllers, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 1 (7 f.; 39 ff.). 494 Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (813). 495 Siehe zur mittelbar identitätsstiftenden Wirkung oben S. 193 f. 496 Siehe zur unmittelbar identitätsstiftenden oben S. 193. 490
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
sung in öffentlichen Auseinandersetzungen führte in den Verfassungsnationen USA und Bundesrepublik Deutschland zu einer gesellschaftlichen Integration. Der identitätsstiftende Beitrag resultiert dabei vor allem aus den Möglichkeiten, wie eine Verfassung von den Bürgern erlebt werden kann.497 1. Terminus „Verfassung als Symbol“ Durch die Bezeichnung eines Rechtstextes als symbolisch soll dessen rechtliche Normativität nicht relativiert werden.498 Normativität und Symbolizität sind voneinander unabhängig, daher kann ein Rechtstext trotz seines symbolischen Gehaltes seine volle Normativität behalten.499 Der Begriff „Verfassung“ war bislang für die Bezeichnung des EU- oder EGVertrages zumindest politisch ein Tabu.500 Dies ändert sich durch den Europäischen Verfassungsvertrag.501 Bereits in dessen Präambel wird im letzten Erwägungsgrund der Begriff „Verfassung“ zur Selbstbeschreibung des Dokuments erwähnt.502 Der Europäische Verfassungsvertrag verwendet außerdem die Begriffe 497 Dieser Gedanke deckt sich mit der Integrationslehre Smends, der das Erlebniskonzept für den Bürger in den Mittelpunkt seiner Integrationslehre stellte. Diesen Gedanken nahm in der Folgezeit das Konzept der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ von Peter Häberle auf. Demzufolge ist jeder, der in und mit dem von der Norm geregelten Sachverhalt lebt, indirekt und unter Umständen auch direkt ihr Norminterpret. Damit ist der Normadressat am Interpretationsvorgang beteiligt. Siehe dazu Häberle, JZ 1975, S. 297 (297 f.) und S. 154. 498 Das bedeutet, es geht diesbezüglich nicht um symbolisches Recht, sondern um Recht, das auch symbolisch ist; Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (140 f.). 499 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (154 f.). Dies wird beispielsweise an Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland deutlich, welches seine Symbolizität unter anderem auch seiner rechtstechnischen Qualität verdankt. Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/ 93, S. 29 (32 f.). 500 Fischer, FS für Mantl II, S. 991 (993). Die Europarechtslehre ging demgegenüber auch bei den bisherigen Verträgen von einer Verfassung im funktionalen Sinn aus. Siehe oben S. 91 f. 501 Den Begriff des Verfassungsvertrages prägte in der deutschen Staats- und Verfassungsrechtslehre Carl Schmitt. Siehe dazu oben S. 118 m.w. N. 502 Ungeachtet seiner Selbstbeschreibung handelt es sich bei dem Verfassungsvertrag aber jedenfalls um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den gegenwärtigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Der völkerrechtliche Charakter des Verfassungsvertrages ergibt sich ausdrücklich aus der Bezeichnung der Hohen Vertragsparteien in der Präambel, aus den Vorschriften zum Änderungsverfahren gemäß Art. IV-443 VVE sowie der Bezeichnung als Vertrag in den Schlussbestimmungen der Art. IV-437 ff. VVE. Gemäß Art. IV-447 Abs. 1, Art. IV-443 Abs. 3 VVE erfordert die Annahme und die Änderung des Verfassungsvertrages die Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten. Der Verfassungsvertrag tritt damit im Wege des völkerrechtlichen Vertrages in Kraft, Art. IV-447 Abs. 1 VVE. Siehe dazu Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 27, 28 f.; Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (754).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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„Verfassung“ und „Vertrag“ nebeneinander. Diese Eigencharakterisierung durchzieht den gesamten Verfassungsvertrag; dabei werden diese Begriffe gebraucht, ohne dass eine Verwendung des einen oder des anderen Begriffes rechtlich zwingend geboten wäre.503 Die normative Kraft einer Verfassung entfaltet sich maßgeblich auch in ihrer Selbstdefinition.504 Die ambivalente Bezeichnung des Grundlagendokuments als „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ verdeutlicht daher, dass es sich bei dem neuen Grundlagendokument zwar in juristischer Hinsicht um einen völkerrechtlichen Vertrag, in materieller Hinsicht aber um einen Verfassungstext handeln soll.505 Damit ist die Europäische Union keine typische, völkerrechtliche internationale Organisation506, aber auch kein (Bundes-)Staat.507 Sie ist ein Gebilde sui generis. Die durch die graphische Gestaltung des offiziellen Abschlussdokuments durch den Konvent nahe gelegte knappe Bezeichnung als „Verfassung“ hat sich bisher in der öffentlichen Debatte durchgesetzt.508 Diese Verkürzung auf den Begriff „Verfassung“ war zumindest vom Präsidium des Verfassungskonvents intendiert.509 Mit der öffentlichen Benennung als „Verfassung“ sollte vor allem ein Symbol für die Einheit Europas etabliert werden.510 Diese symbolische Dimension unterscheidet den Verfassungsvertrag von den bisherigen Änderungen der Gemeinschaftsverträge, denn mit ihm sollte eine Anpassung an das Vorstellungsbild einer Verfassung vorgenommen werden.511 Der Terminus Verfassung suggeriert den Unionsbürgern einen stärkeren „Wir-Gehalt“ als der Terminus des Vertrages.512 Die Selbstwahrnehmung der Bürger als eine über die Europäi-
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Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 28. Robbers, FS für Häberle, S. 251 (253). Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49
(53). 506 In einer internationalen Organisation gibt es keinen Grundrechtsschutz, er ist typisch für staatsähnliche Gebilde; Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (70). 507 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (545); Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (754); Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (302). 508 Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (49). 509 Hänsch, Integration 2003, S. 331 (334). 510 Wiener, Zum Demokratiedilemma europäischer Politik, abrufbar unter: http:// www.monnet-centre.uni-bremen.de/pdf/wp/2001_1.pdf (15.02.2007), S. 12; Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (157 m.w. N.). 511 Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (62). 512 Siehe dazu von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (56 f.); ähnlich Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (421).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
sche Union organisierte Gemeinschaft sollte verbessert werden.513 Eine Integration durch den Europäischen Verfassungsvertrag ist vor allem auch eine Integration durch das Symbol „Verfassung“.514 Die Bezeichnung des Verfassungsvertrages als „Verfassung“ resultiert also hauptsächlich aus der Erfüllung seiner identitätsstiftenden Funktion.515 2. Probleme des Verfassungsterminus Allerdings wurde bereits im Vorfeld befürchtet, dass dem Verfassungsbegriff Vorbehalte entgegen schlagen würden.516 Vor allem die hohen Erwartungen und Ängste, die aufgrund der historischen Entwicklung in den Mitgliedstaaten mit dem Verfassungsbegriff verbunden sind, wurden als heikel angesehen.517 Denn die Bezeichnung als Verfassung impliziere bei den meisten Bürgern eine Staatlichkeit der Union.518 Die verfassungsrechtliche Argumentation, dass es sich nicht um eine Verfassung, sondern einen Verfassungsvertrag handele, wurde folgerichtig in der Öffentlichkeit wenig beachtet. Auch wenn der Verfassungsvertrag in juristischer Hinsicht keine Verfassung im materiellen Sinn ist, wurde durch die Wahl der Begrifflichkeit trotzdem die Wahrnehmung dieses Dokuments durch den Einzelnen, der juristisch kaum gebildet ist, verändert.519 Die Problematik des Verfassungsbegriffs wurde in der Ablehnung des Verfassungsvertrages in dem französischen und dem niederländischen Referendum deutlich. Zwar vermuteten immerhin 23% derjenigen, die den Europäischen Verfassungsvertrag befürworteten, dadurch eine Stärkung der europäischen Identität520 und 20% seiner Befürworter erblicken in ihm ein Symbol für die politische Vereinigung Europas.521 Allerdings hat die symbolträchtige Bezeichnung 513
So von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (57). Wiener, Zum Demokratiedilemma europäischer Politik, abrufbar unter: http:// www.monnet-centre.uni-bremen.de/pdf/wp/2001_1.pdf (15.02.2007), S. 12; Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (157). 515 Tsatsos, FS für Häberle, S. 223 (232). 516 Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60, 2001, S. 194 (234). Siehe dazu auch Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, S. 463 (556 ff.), der insbesondere in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Schweden Vorbehalte gegen eine europäische Verfassung erkennt. 517 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 19; Wiener, Zum Demokratiedilemma europäischer Politik, abrufbar unter: http://www.monnet-centre. uni-bremen.de/pdf/wp/2001_1.pdf (15.02.2007), S. 19. 518 Auf die Gefahr, dass der Begriff von den Gegnern des Verfassungsvertrages instrumentalisiert werden könnte, weist Jacqué, EuGRZ 2004, S. 551 (551) hin. 519 So auch Jacqué, EuGRZ 2004, S. 551 (551). 520 Dies ist der an dritter Stelle genannte Grund für eine Befürwortung des Verfassungsvertrages; vgl. Eurobarometer 63, S. 147. 521 Eurobarometer 63, S. 147. 514
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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„Verfassungsvertrag“ maßgeblich die Angst vor einem europäischen Superstaat und vor dem Verlust der nationalen Identität bei den Bürgern geschürt.522 Vor allem in der französischen Bevölkerung ist der Eindruck von Fremdbestimmung aus dem Missverständnis erwachsen, dass die Nationalstaaten durch den Verfassungsvertrag ihre führende Rolle – hauptsächlich auf dem Gebiet der Sozialpolitik – durch dessen vermeintlich neoliberale Ausrichtung an die Union verlieren werden.523 Die Befürchtungen, die einer europäischen Verfassung entgegen schlugen, konnten nicht gegenstandslos gemacht werden. Daher wurde am 21./22. Juni 2007 das Verfassungskonzept aufgegeben.524 Demzufolge legt das Mandat des Europäischen Rates an die Regierungskonferenz fest, dass die durch den Vertrag von Lissabon zu ändernden Verträge des bisherigen Primärrechts keinen Verfassungscharakter haben werden. In den Verträgen soll diese Änderung dadurch wider gespiegelt werden, dass explizit die Bezeichnung „Verfassung“ nicht mehr verwendet werden soll. Damit ergibt sich aber nach dem Scheitern des Ratifikationsprozesses des Europäischen Verfassungsvertrages ein weiteres Problem des Terminus „Verfassung“. Denn durch die Nichtratifikation des Verfassungsvertrages wird dessen Bezeichnung als „Verfassung“ zu einem Symbol für das Scheitern einer weitergehenden europäischen Integration.525 Diese Entwicklung ist fatal. Denn fehlender wahrgenommener Erfolg auf europäischer Ebene und sichtlich erfolgreiches Handeln von nationalen Regierungen bieten auch bei einer ansonsten positiven Einstellung der Bürger gegenüber der Europäischen Union nur einen geringen Anreiz zur Ausbildung einer europäischen Identität.526 Angesichts der problematischen Implikationen bei den Bürgern wirkte die Verwendung des Terminus „Verfassung“ zur Darstellung des Verfassungsvertrages in der Öffentlichkeit abschreckend. Eine erfolgreiche Identitätsstiftung war durch die Verwendung des Terminus „Verfassung“ nicht möglich. Daher ist die Aufgabe dieses Begriffes und des Verfassungskonzeptes im Vertrag von Lissabon konsequent.
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Blanke, EuR 2005, S. 787 (789). Siehe zu den Umfragen auch oben S. 252 f. Die Verfassungsgegner kennzeichneten vor den Referenden in der politischen Diskussion den Verfassungsvertrag erfolgreich als ein Dokument, welches einem „Ultraliberalismus“ Verfassungsrang gebe und zum Kernbestand einer europäischen Identität mache. Siehe ausführlich zu den Gründen der Ablehnung Schild, Integration 2005, S. 185 (189 ff.). 524 Siehe dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ue Docs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 15 f. 525 So Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (160). 526 Siehe dazu Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (47) und zu den Gründen oben S. 319 ff. 523
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
3. Ergebnis zur Symbolik Die Identifikation eines Individuums mit einer Sache oder einer Person ist immer wertbezogen und eine Identifikation mit der Gruppe, für die diese Werte verbindlich sind.527 Symbole sind die Versinnbildlichungen kollektiver Werte.528 Sie integrieren die Bürger daher hauptsächlich durch die Repräsentation von Werten. Sie können diese Werte aber nicht selbst kreieren.529 Auf der einen Seite ist die Europäische Union wegen ihrer hochabstrakten Grundlage als Rechtsgemeinschaft auf Symbole angewiesen, um für die Bürger überhaupt wahrnehmbar zu sein. Auf der anderen Seite können Symbole eine identitätsstiftende Wirkung überhaupt nur auslösen, wenn die durch sie verkörperten Werte eine hinreichende Verdichtung erfahren haben.530 Aus diesem Grund ist die Etablierung einer Wertegemeinschaft durch den Europäischen Verfassungsvertrag von besonderem Interesse. Nur in dem Zusammenspiel von Werten und Symbolik kann eine Identitätsstiftung erfolgreich sein. Daher ist im Folgenden zu untersuchen, ob der Europäische Verfassungsvertrag oder die übernommenen Normen des Vertrages von Lissabon eine Wertegemeinschaft etablieren, die durch die Symbolik der Europäischen Union für die Bürger repräsentiert werden könnte.
E. Europa als eine Wertegemeinschaft Im Rahmen der sachlichen Integration wurde die identitätsstiftende Wirkung gemeinsamer Werte hervorgehoben.531 Die deutsche Staats- und Verfassungslehre532 hat in der Folgezeit ebenso wie die kommunitaristische Richtung533 die integrative Bedeutung von Werten herausgestellt. Demzufolge bedürfen die Differenzierungschancen eines heterogenen Gemeinwesens des Fundaments ge527
Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (64). Loewenstein, FS für Laun, S. 559 (561). 529 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (159). Aus diesem Grund nahm bereits Rudolf Smend an, dass man Symbole nicht für einen nicht vorhandenen Gehalt „erfinden“ kann; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (163 Fn. 9). 530 Siehe ausführlich dazu Bieber, GS für Geck, S. 59 (60). 531 Nach Smend kann es keine formelle Integration ohne eine sachliche Wertegemeinschaft geben; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (159). Siehe dazu Pernice, AÖR 120 (1995), S. 100 (118) und oben S. 165 ff. Auch Hermann Heller sah die Existenz einer politischen Wertegemeinschaft als maßgebliche Voraussetzung politischer Einheit an; Heller, Europa und der Fascismus, S. 463 (476). Siehe dazu auch oben S. 138. 532 Siehe ausführlich dazu oben die Konzeption Ernst Wolfgang Böckenfördes, die Ansicht von Paul Kirchhof sowie das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts S. 127 ff. 533 Siehe zum Kommunitarismus oben S. 203 ff. 528
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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meinsamer Wertvorstellungen, die den Gegenstand des Wertekonsenses bezeichnen.534 Teilweise wird dem Konsensbereich sogar die Aufgabe einer „Zivilreligion“ zugeschrieben.535 I. Bedeutung gemeinsamer Werte für eine Identitätsstiftung Werte können in psychologischer Hinsicht als Grundeinstellungen von Menschen definiert werden, die sich durch eine besondere Festigkeit, Überzeugung von der Richtigkeit und eine emotionale Grundierung auszeichnen.536 Sie sind normative Überzeugungen auf einem hohen Abstraktionsniveau und Teil der sozialen Identität von Individuen.537 Denn die Selbstkategorisierungsprozesse von Individuen sind vor allem durch die Kultur, Werte und Normen einer Gesellschaft geprägt.538 Gemeinsame Werte müssen aber in einer längeren sprachlichen Kommunikation der Individuen untereinander erfasst und konstruiert werden. Daher brauchen sie insgesamt länger als äußere Merkmale, um für die soziale Identität salient zu werden.539 Die unmittelbar integrative Funktion von Werten besteht darin, menschliches Verhalten und soziale Anforderungen in Übereinstimmung zu bringen.540 In rechtlicher Hinsicht sind Werte Güter, die eine Rechtsordnung als vorgegeben und aufgegeben anerkennt.541 Jeder Norm liegt mindestens ein Wert zugrunde. Eine Identitätsstiftung durch Verfassungsrecht kann also durch einen Rückgriff auf die vorhandene Kultur und die Werte einer Gesellschaft erleichtert werden. Die Bedeutung von Werten liegt in ihrer Sinnstiftung.542 Die Aufnahme der zentralen Werte der Union in ein europäisches Verfassungswerk, das den Bürgern erstmalig einen umfassenden und in sich geschlossenen Vertrags534 Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, S. 545; so auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 417 f.; Ebsen, Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zum politischen Grundkonsens, S. 83. 535 Ebsen, Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zum politischen Grundkonsens, S. 86. Für diese Art der Zivilreligion wird oft Rousseau als Beleg angegeben, vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 4. Buch, 8. Kapitel „Von der bürgerlichen Religion“, S. 140 ff. Siehe dazu auch oben S. 114 f. 536 Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, S. 1 (3). 537 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). 538 Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 38 f. 539 Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (71). 540 Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, S. 4. Siehe dazu auch von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170 f.) und oben S. 192. 541 Reimer, ZG 2003, S. 208 (209). Eine andere Wertedefinition findet sich bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 130. Dieser Ansicht zufolge sind nicht die Gegenstände der Bewertung, sondern die Kriterien der Bewertung das, was als „Wert“ zu bezeichnen ist. 542 Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, S. 4.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
text anbietet, kann daher zu einer kollektiven europäischen Identität beitragen.543 II. Wert als Schlüsselbegriff, Art. I-2 VVE Bereits im gegenwärtigen Primärrecht wird der Begriff „Wert“ in einigen Normen verwendet.544 Das gegenwärtig geltende Primärrecht normiert aber keine Werte als solche in einer Werteklausel. Der Begriff „Wert“ ist auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts545 – kein gebräuchlicher Begriff.546 Davon weichen der Europäische Verfassungsvertrag und auch der Vertrag von Lissabon ab. Der Terminus „Wert“ wird sowohl im Verfassungsvertrag als auch im Vertrag von Lissabon zu einem Schlüsselbegriff.547 Schon in der ersten Präambelerwägung der Gesamtpräambel des Verfassungsvertrages und auch in der Präambel der Grundrechtecharta werden als Grundlage der Europäischen Union die „gemeinsamen Werte“ genannt. Art. I-2 VVE normiert ausweislich seiner Überschrift die „Werte der Union“; es handelt sich um eine Werteklausel.548 Diese Werteklausel übernimmt der Vertrag von Lissabon wörtlich. Sie soll als Art. 2 EU n. F. in den EU-Vertrag eingefügt werden.549 Damit wird den Werten der Union nach Art. I-2 VVE bzw. Art. 2 EU n. F. ein hervorgehobener Stellenwert eingeräumt. Demzufolge gründet sich die Europäische Union ausdrücklich auf den Werten der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Minderheiten. Art. I-2 VVE referiert zu einem großen Teil bereits in der Präambel genannte Werte. Demgegenüber werden im entsprechenden Art. 2 EU n. F. diese Werte im EU-Vertrag erstmals genannt ohne Teile der Präambel zu wiederholen. Die Bestimmung der Werte soll vor allem ein gemeinsames Fundament der Mitgliedstaaten und der Union sichtbar machen. Mit der Formulierung der Werte, auf die die Union sich „gründet“, wird auf die vorrechtliche, legitimatorische Bedeutung von Werten, angespielt.550 Art. I-2 543 Pache/Hilf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union I, Präambel EUV, Rn. 36. 544 Zum Beispiel findet sich der Begriff „Wert“ in Art. 11 Abs. 1 Spstr. 1 EU, Art. 27 a Abs. 1 S. 1 EU sowie in Art. 16 EG. Siehe zur Normierung von Werten im geltenden Primärrecht Reimer, ZG 2003, S. 208 (211 f.). 545 Siehe dazu oben S. 185 f. 546 Reimer, ZG 2003, S. 208 (212) m.w. N. 547 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). 548 Eine Klausel ist eine Werteklausel, wenn sie Werte ausdrücklich im Normtext als Werte benennt; vgl. Reimer, ZG 2003, S. 208 (210). 549 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17. 550 Reimer, ZG 2003, S. 208 (213).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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VVE bzw. Art. 2 EU n. F. postulieren vorrechtliche normative Grundlagen der Europäischen Union und eine ethische Übereinstimmung der Unionsbürger.551 Damit soll die Gesamtheit der Unionsbürger und die Union als Wertegemeinschaft dargestellt werden.552 Indem die Werte als gemeinsame Werte etabliert werden, zeigt sich das Bestreben, die Europäische Union als Ausdruck der ethischen Überzeugungen der Unionsbürger darzustellen. Die bloße Rechtsgemeinschaft im Sinne Walter Hallsteins wird als ein durch den Verfassungsvertrag bzw. durch den Vertrag von Lissabon überwundenes Stadium präsentiert.553 Damit wendet sich das zukünftige europäische Primärrecht auch gegen die Einheitskonzeption Hans Kelsens, der einen vorrechtlichen Legitimationsrekurs für entbehrlich hält.554 Die Werteklausel hat deskriptiven Charakter; die Aufzählung der Werte ist aufgrund des bestimmten Artikels „die“ abschließend.555 Nach Art. I-2 S. 2 VVE sind diese Werte allen Mitgliedstaaten „in einer Gesellschaft“ gemeinsam. Die in Art. I-2 S. 1 VVE genannten Werte werden in S. 2 um Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen ergänzt.556 Bei diesen Wertkategorien geht es nicht vorrangig um das hoheitliche Verhältnis von Union und Bürger, sondern um die Beziehungen zwischen privaten Personen und das gesellschaftliche Miteinander.557 Durch Art. I-2 S. 2 VVE soll nicht die Wertegemeinschaft aller Mitgliedstaaten eingeschränkt werden, sondern vielmehr eine die Mitgliedstaaten überwölbende Gesellschaft mit bestimmten Zügen proklamiert werden.558 Wörtlich genommen verpflichten die Werte des Satz 2 die Union weniger zu einer Zurückhaltung bei ihrer eigenen Hoheitsausübung als vielmehr zu einem aktiven Handeln zur Förderung dieser Wertebeachtung.559 Art. I-2 VVE bzw. Art. 2 S. 1 EU n. F. wird darüber hinaus als Richtschnur für künftige Erweiterungen der Union interpretiert, denn ein beitrittswilliger Staat muss gemäß Art. I-58 Abs. 1,
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Siehe ausführlich dazu von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). Nach der Ansicht von Reimer, ZG 2003, S. 208 (211) macht eine Werteklausel die Europäische Union aber noch nicht zu einer Wertegemeinschaft. Ob die Union eine Wertegemeinschaft ist, zeigt sich seiner Ansicht nach vielmehr in der tatsächlichen Bewährung ihres Normbestandes. 553 So von Bogdandy, KJ 2005, S. 110 (122); ders., JZ 2004, S. 53 (58). 554 Siehe dazu oben 77 f. 555 Reimer, ZG 2003, S. 208 (213). 556 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17. 557 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 55. 558 Reimer, ZG 2003, S. 208 (213). 559 Daher wird als ein Dilemma dieser Regelung in der Gefahr eines gesellschaftspolitischen Aktionismus angesehen; Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 55. 552
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
I-2 VVE bzw. Art. 49 Abs. 1 EU i.V. m. Art. 2 S. 1 EU n. F. ein bestimmtes Gesellschaftsbild haben.560 In Art. I-3 Abs. 1 VVE ebenso wie in Art. 3 Abs. 1 EU n. F.561 wird schließlich sogar die Förderung der Werte zum Ziel der Union erklärt. Mit der Zielund Wertbindung der Europäischen Union soll die Sinnhaftigkeit des europäischen Gemeinwesens veranschaulicht werden.562 Dies verdeutlicht auch der häufige Appell an die „Solidarität“ im Europäischen Verfassungsvertrag563 als einer seiner Leitwerte.564 Auch der Vertrag von Lissabon nennt den Begriff der „Solidarität“ ähnlich oft.565 Der Europäische Verfassungsvertrag und der Vertrag von Lissabon nehmen damit gleichermaßen explizit kommunitaristische Elemente auf. Beide Verträge postulieren die Notwendigkeit affektiver Anknüpfungspunkte für die Ausbildung einer kollektiven Identität in Form einer Wertegemeinschaft für die Legitimität eines Gemeinwesens. 1. Kritik In Art. I-2 VVE werden zwar viele der Werte aufgezählt, durch welche auch die europäischen Bürger die Europäische Union repräsentiert sehen.566 Die Sichtbarmachung der Werte soll nach der identitätspolitischen Strategie auch Identifikationsprozesse bei den Bürgern auslösen.567 Die Formulierung von Werten im Europarecht schadet aber vor allem dessen juristischer Qualität.568
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So Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 125. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17. 562 Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (303). 563 Wessels, Integration 2003, S. 284 (298). 564 Der Begriff der Solidarität wird insgesamt 18-Mal im Verfassungsvertragstext ausgehend von Art. I-43, II-329 ff. VVE beschworen; Calliess, JZ 2004, S. 1033 (1038). Siehe zur Solidarität auch Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (427 f.). 565 Ohne die Protokolle wird der Begriff 15 Mal im Vertrag von Lissabon genannt, vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Vertrag von Lissabon, S. 1 ff. 566 Die Werte, welche die Europäische Union in den Augen ihrer Bürger am besten repräsentiert sind: „Menschenrechte“ (38%), „Demokratie“ (38%), „Rechtsstaatlichkeit“ (36%), „Respekt gegenüber anderen Kulturen“ (24%), „Solidarität“ (19%), „Gleichheit“ (17%); vgl. Eurobarometer 66, S. 35. 567 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (59). 568 So allgemein für Verfassungstexte Reimer, ZG 2003, S. 208 (211 ff.); Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (142). 561
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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a) Pleonasmen Die Verurkundlichung einiger weniger identitätsstiftender Gehalte auf einem hohen Abstraktionsniveau ermöglicht gleichgerichtete Zuordnungsprozesse und verbirgt Dissens.569 Aus diesem Grund ist die „Wertehypertrophie“570 des Europäischen Verfassungsvertrages ebenso wie die des Vertrages von Lissabon kritisch zu bewerten.571 Die ständige Wiederholung der Werte in unterschiedlichen Normen des Verfassungsvertrages ebenso wie in den Normen des Vertrages von Lissabon ist in rechtlicher Hinsicht unnötig; die wiederholte Erwähnung derselben Werte ist pleonastisch und textlich überflüssig. Durch die fortwährende Wiederholung drängt sich eher die Vermutung auf, dass diese Werte gerade nicht in der Union verwurzelt sind. Die Aufzählung wirkt vielmehr wie der Versuch, ein gemeinsames Fundament der Europäer überhaupt erst zu konstruieren. Dadurch ist die Aufzählung der Werte als bereits bestehend nicht glaubwürdig. Dies wird auch durch die Formulierung der Ziele in Art. I-3 VVE bestätigt.572 Die Ziele sind nur zu einem geringen Teil operabel im Sinne konkreter Handlungsanweisungen; es handelt sich überwiegend um Optimierungs- und Berücksichtigungsangebote.573 Daher ist Art. I-3 VVE sprachlich und konzeptionell nicht gelungen.574 Der Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts ist die einzige harte Selbstverpflichtung der Europäischen Union in Art. I-3 Abs. 2 VVE.575 Ansonsten „fördert“, „strebt“, „bekämpft“, und „wahrt“ die Europäische Union nach Art. I-3 VVE lediglich. Die Aufzählung der vielen Ein569
von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (58). Es finden sich als Werte Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit in der Präambel des Verfassungsvertrages. Weiterhin nennt die Präambel der Grundrechtecharta als unteilbare und universelle Werte die Würde des Menschen, die Solidarität sowie nochmals die Freiheit und Gleichheit. Art. I-2 VVE postuliert als Werte der Union wiederum die Menschenwürde, die Freiheit, die Demokratie, die Gleichheit, die Rechtsstaatlichkeit und neu die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Minderheiten. 571 Siehe ausführlich zum Verfassungsvertrag von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (59). 572 Art. I-3 VVE nennt folgende Zielkomponenten. Erstens in Art. I-3 Abs. 1 VVE die Förderung des Friedens, der Werte und der Völker der Union. Zweitens bietet die Union ihren Bürgen einen Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, der das Grundkonzept eines Binnenmarktes mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb umschließen soll. Daran schließen sich in Art. I-3 Abs. 3, 4 VVE zahlreiche weitere und sich teilweise überschneidende Einzelziele an, wobei im Unterschied zum gegenwärtigen Art. 1 EG die Wirtschafts- und Währungsunion völlig fehlt. Siehe dazu Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (304). 573 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 56. 574 Anders als im gegenwärtigen Zielartikel des EG-Vertrages werden die die Gemeinschaft profilprägenden Hauptverwirklichungswege nicht zuerst genannt, sondern es werden Ziele und Wege irreführend miteinander in Art. I-3 Abs. 3, 4 VVE vermengt; Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (303 f.). 575 Dies vertritt von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (61). 570
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
zelziele Art. I-3 VVE verdeutlicht im Ergebnis eher die Schwierigkeit der Konsensfindung, als dass diese Norm tatsächlich Konsens stiftet. Diesbezüglich schafft der Vertrag von Lissabon etwas Abhilfe. In Art. 3 EU n. F. wurden zwar im Wesentlichen die Formulierungen des Art. I-3 VVE übernommen.576 Allerdings enthält Art. 3 EU n. F. dahingehend eine Verbesserung, dass er neben der Selbstverplichtung des Abs. 2 im Hinblick auf den Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts nunmehr auch in Abs. 3 S. 1 bezüglich der Errichtung eines Binnenmarktes und in dem durch den Vertrag von Lissabon neu eingefügten Abs. 4 mit der Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion Selbstverpflichtungen der Europäischen Union enthält. Im Übrigen bleibt es jedoch bei der diffusen und wenig konkreten Aufzählung vieler Einzelziele. Dies verdeutlicht, dass die Schwierigkeiten um eine Konsensfindung in Europa auch im Rahmen des Vertrages von Lissabon virulent bleiben. b) Universalität der Werte Die Universalität der genannten Werte wird als ein Hindernis für eine Identitätsstiftung gesehen. Es wird vertreten, dass sich die normierten Werte wegen ihrer universalen Gehalte nicht als „Integrationsideologie“ für die Europäische Union eignen.577 Fast jedes Gemeinwesen könnte und wollte aufgrund ihrer Universalität die in Art. I-2 VVE bzw. die im wortgleichen Art. 2 EU n. F.578 normierten Werte in seine Verfassung schreiben. Diese Ansicht übersieht aber Folgendes. Europa hat eine gemeinsame und vielfältige Rechtskultur, die der Rechtskultur anderer Erdteile unterscheidbar gegenüber steht.579 Nicht wenige Elemente der europäischen Rechtskultur beanspruchen bzw. haben zwar inzwischen eine universale Dimension.580 Es ist eine Besonderheit Europas, dass viele der auf dem Kontinent im Verlauf der Jahrhunderte entwickelten Werte von so großen Teilen der Welt übernommen wurden, dass sie nun eine fast universalistische Geltung beanspruchen können. Selbst wenn es aber Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Rechtsge-
576 Siehe zu Art. 3 EU n. F. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17. 577 Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, S. 155; von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (56); Meyer, Die Identität Europas, S. 207. 578 Siehe zur Neufassung Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17. 579 So Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 107. 580 Eine solche universale Dimension haben zum Beispiel die Menschenrechte seit 1789, die von der UNO bekräftigt wurden und in einigen Staaten Afrikas wiederholt wurden (Art. 25 AfrMRK(1982)), ebenso wie die Gerechtigkeitslehren und das Demokratieprinzip. Siehe dazu Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 109.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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meinschaften gibt, sind diese Werte trotzdem in je nationaler bzw. eigener kultureller Verantwortung gewachsen.581 Darüber hinaus wird es als eine Errungenschaft angesehen, die europäischen Werte nicht in einem ausgrenzenden, partikularistischen Sinn aufzulisten.582 Also kann man den Werten, die der Verfassungsvertrag und der Vertrag von Lissabon in der jeweiligen Werteklausel aufzählen, aufgrund ihrer inzwischen erreichten Universalität nicht absprechen, dass dadurch kein überzeugendes Bild einer Gemeinschaft entstünde. Die genannten Werte könnten im Gegenteil gerade aufgrund ihrer Allgemeinheit besonders geeignet sein, die Integration formelhaft dort zu propagieren, wo das positive Europaverfassungsrecht noch nachhinkt.583 Dann wäre die Tatsache, dass die genannten Werte universalistisch anmuten und sehr allgemein gehalten sind, identitätsfördernd. c) Legitimationswirkung von Werten Es stellt sich allerdings die Frage nach den Adressaten der in Art. I-2 VVE bzw. Art. 2 EU n. F. genannten Werte. Es wird im Verfassungsvertrag und auch im EU-Vertrag n. F. nicht deutlich, an wen und gegen wen sich beispielsweise der Wert der „Solidarität“ richtet.584 Betreffen die Werte nämlich mittelbar Private, könnte sich anhand von Art. I-2 VVE bzw. Art. 2 EU n. F. ein Eingriff in ihre Rechtspositionen rechtfertigen lassen.585 Der Verfassungsvertrag lässt auch ebenso wie der Vertrag von Lissabon offen, welche Maßnahmen sich gegen ge581 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 109. Jedes Gemeinwesen setzt die universalen Prinzipien der Menschenrechte und der Demokratie in Verfassung und Verfassungswirklichkeit anders um. Staaten unterscheiden sich dabei vor allem in der tatsächlichen Realisation der Demokratie von einer überwiegend repräsentativen Demokratie bis zu Demokratiemodellen mit vielen unmittelbar demokratische Verfahren oder es bestehen Unterschiede hinsichtlich der Organisation als parlamentarische oder präsidiale Demokratie. Siehe dazu Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 182. 582 Dies vertritt Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (9 f.) für die Werte der Grundrechtecharta. 583 So Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 283. 584 Siehe zu diesem Gedankengang hinsichtlich des Verfassungsvertrages Reimer, ZG 2003, S. 208 (215). 585 Eine Heranziehung der in Art. I-2 VVE genannten Werte als Grundrechtsschranken könnte sich aufgrund der Formulierung des Art. II-112 Abs. 1 S. 2 VVE ergeben. Demzufolge dürfen Einschränkungen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Die Formulierung „Zielsetzungen“ verweist zwar auf die Ziele der Union in Art. I-3 VVE und nicht direkt auf die in Art. I-2 VVE genannten Werte, so dass diese als Schranken nicht in Betracht kommen könnten. Allerdings ist nach Art. I-3 Abs. 1 VVE die Förderung der Werte der Union eines der Ziele der Union, so dass implizit der Art. I-2 VVE mit seinen Wertungen als Grundrechtsschranke in Betracht kommen könnte. A. A. dazu Reimer, ZG 2003, S. 208 (215 Fn. 52).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
sellschaftliche Gruppen auf den Wert der „Toleranz“ stützen lassen. Diesbezüglich zeichnen sich Identitätszumutungen ab, deren Gefahren für die Freiheit des Einzelnen im nationalen Recht bereits angesprochen und zurückgewiesen wurden.586 Darüber hinaus führt die generalklauselartige Weite der Grundwerte zu Konkretisierungsschwierigkeiten.587 Es fehlt das vergleichende Bezugskriterium, so dass der Verweis auf generalklauselartige Werte normativ ins Leere geht. Deshalb wird eine Ideologisierung der Art. I-2, I-3 VVE bzw. der Art. 2, 3 EU n. F. befürchtet. Denn in einer extensiven Auslegung dieser Normen könnten diese zur Behauptung einer normativen Homogenität der Europäischen Union herangezogen werden. Dadurch könnte die Förderung normativer Homogenität als Verfassungsaufgabe argumentativ begründet werden.588 Entgegen der Intention der Reformbestrebungen erscheint daher die legitimatorische Wirkung von Werten im Europarecht nicht haltbar. Denn für die Einheit der Rechtsordnung ist die Widerspruchslosigkeit der Normen und Wertentscheidungen konstitutiv.589 Die Vielfalt und potentielle Widersprüchlichkeit normierter Werte steht dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung entgegen. Wegen ihrer Entgrenztheit ist der normative Status der universalen Werte nicht eindeutig. Bekanntermaßen sind Werte mehrdeutig, sie haben infolge der Möglichkeit ihrer Ideologisierung freiheitsgefährdendes Potential.590 Die Normierung von Werten in einer Werteklausel mindert damit die juristische Qualität des Europarechts. In der Rechtspraxis ist der Rückgriff auf Werte das Einfallstor für methodisch nicht kontrollierbare subjektive Meinungen von Richtern und der jeweils momentan vorherrschenden Wertungen der Gesellschaft für die Auslegung, Anwendung und Fortbildung von Recht.591 Darüber hinaus stellt sich das Problem des Verhältnisses der einzelnen Werte im Fall einer Wertekollision zueinander mangels der Normierung eines Vorrangverhältnisses. Diese Überlegungen sprechen gegen eine ausdrückliche Normierung eines wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Wertekonsenses im europäischen Primärrecht. Werte sind damit zur Begründung von Recht untauglich.592 Werte und Wertlehren können keine Legitimität begründen.593 586 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (160, 180 ff.); Reimer, ZG 2003, S. 208 (215). Siehe dazu ausführlich oben S. 229 ff. 587 Siehe ausführlich zum Folgenden Reimer, ZG 2003, S. 208 (215 ff.). 588 So hinsichtlich des Verfassungsvertrages die Befürchtung von Bogdandys, KJ 2005, S. 110 (122). 589 Blumenwitz/Schöbener, Stabilitätspakt für Europa, S. 84. 590 Reimer, ZG 2003, S. 208 (214). 591 Siehe zu dieser Begründung Böckenförde, in: ders., Recht Staat Freiheit, S. 67 (81 ff.) und oben S. 186. 592 Eine a. A. dazu vertritt Calliess, JZ 2004, S. 1033 (1040). Er schreibt Werten Legitimationswirkung zu.
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2. Ergebnis Art. I-2 VVE ist eine Norm, der aufgrund ihrer Stellung eine besondere Autorität und identitätsstiftende Wirkung zukommt. Allerdings ist die Folge der Normierung dieser Werteklausel ein Verlust an normativer Rationalität für das Europarecht. Wenn der Einzelne die Werte des Verfassungsvertrages oder des Vertrages von Lissabon nicht teilt oder diese anders interpretiert als die jeweils herrschende Meinung, stellt sich nämlich die Frage nach den Konsequenzen einer abweichenden Wertauffassung. Durch die in Art. I-2 VVE angelegte Ideologisierbarkeit des europäischen Primärrechts kann sich eine erhebliche normative Unsicherheit für die Freiheit des einzelnen Bürgers ergeben, wenn er mit der Integrationsideologie des europäischen Primärrechts nicht konform ist. Als Folgen der Wertenormierung drohen Rechtsunsicherheit und Ideologisierungen des Rechts. Die durch Art. I-2 VVE und nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages in Art. 2 EU n. F. angestrebte Werteideologie ist in normativer Hinsicht höchst bedenklich und daher abzulehnen. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass der Vertrag von Lissabon die Werteklausel wörtlich in den EU-Vertrag n. F. aufnimmt und die Fehler des Verfassungsvertrages nicht korrigiert.594 Gleiches gilt für die Zielformulierungen des Art. I-3 VVE, die im Wesentlichen durch Art. 3 EU n. F. in den EU-Vertrag inkorporiert werden sollen. Daher bleibt es trotz Nichtratifikation des Verfassungsvertrages bei der normativ problematischen Werteideologie der Europäischen Union, wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt. III. Grundrechtecharta als Mittel zur Identitätsbildung Die Grundrechtecharta geht auf einen Auftrag des Europäischen Rates im Rahmen des Kölner EU-Gipfels im Juni 1999 zurück.595 Der eingesetzte Grundrechtekonvent kam am 17. Dezember 1999 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen.596 Die Grundrechtecharta wurde am 07. Dezember 2000 anlässlich 593 So schon Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 37 (45, 51). Siehe dazu Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 139. 594 Siehe zum diesbezüglichen Mandat Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http:// www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07. 2007), S. 24. 595 Calliess, EuZW 2001, S. 261 (261). 596 Auf dieser wurde der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog, der als Vertreter der deutschen Bundesregierung entsandt worden war, per Akklamation zum Vorsitzenden gewählt. Die rund 30 Konventssitzungen waren öffentlich zugänglich und alle vorbereitenden Dokumente wurden ins Internet gestellt. Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (215). Siehe zu den Protokollen der förmlichen und informellen Sitzungen des Konvents den Band von Bernsdorff/Borowsky, Protokolle, S. 107 ff.
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des Europäischen Rates von Nizza feierlich proklamiert, ohne ihr Rechtsverbindlichkeit zu verleihen. Sie wurde nach kontroversen Diskussionen im Laufe der Verhandlungen des Verfassungskonvents in den Europäischen Verfassungsvertrag ohne wesentliche inhaltliche Änderungen inkorporiert.597 Damit kommt der Grundrechtecharta als Teil II des Europäischen Verfassungsvertrages auch weiterhin wegen dessen Nichtratifikation keine mit nationalen Grundrechtskatalogen vergleichbare Rechtswirkung zu. Nach dem Vertrag von Lissabon wird der Text der Grundrechtecharta nicht in einem geänderten EU-Vertrag oder im zukünftigen Vertrag über die Arbeitsweise der Union enthalten sein. Allerdings erkennt die Union nach Art. 6 Abs. 1 EU n. F. die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.598 Demzufolge hat die Charta nach dem Vertrag von Lissabon dieselbe Rechtsverbindlichkeit wie die Verträge. Die Ausführungen zu einer Identitätsstiftung durch die Grundrechte der Charta behalten damit im Hinblick auf den Vertrag von Lissabon ihre Gültigkeit. 1. Präambel der Grundrechtecharta Die Charta der Grundrechte sollte als ein Baustein der Identifikation der Bürger etabliert werden599 und grenzt die Europäische Union von anderen internationalen Organisationen ab.600 Sie ist die weltweit modernste Erklärung der Grundrechte.601 Insgesamt wird die Präambel der Grundrechtecharta im Hinblick auf ihre identitätsstiftende Wirkung bei den Bürgern als gelungen angesehen.602 597 Notz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 59 (64). Die Inkorporation der Grundrechtecharta wurde wesentlich dadurch erleichtert, dass sich der Grundrechtekonvent dafür entschieden hatte, die in ihr enthaltenen Grundrechte so zu formulieren, als ob sie in das Primärrecht der Union eingefügt werden sollen; Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (228). 598 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 19. Bereits nach dem Mandat der Regierungskonferenz sollte der zu ändernde Art. 6 EU einen Querverweis auf die Grundrechtecharta enthalten und dieser damit Rechtsverbindlichkeit verleihen, siehe dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./ 22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs /pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 17 und ausführlich S. 25. 599 Notz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 59 (64). Siehe zu den Diskussionen um die Präambel im Grundrechtekonvent Bernsdorff/ Borowsky, Protokolle, S. 244 ff., 349 ff., 376. 600 Andere internationale Organisationen haben keine Grundrechtskataloge; Mayer, Integration 2003, S. 398 (409). 601 Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (560).
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Daher sollen im Folgenden die identitätsstiftenden Elemente der Präambel des Teils II des Verfassungsvertrages nicht erneut in aller Ausführlichkeit dargestellt werden.603 Viele der in der Präambel der Grundrechtecharta enthaltenen Elemente finden sich auch in der Gesamtpräambel des Verfassungsvertrages. Es sollen lediglich zwei Besonderheiten der Präambel des Teils II des Verfassungsvertrages angesprochen werden. a) Geistig-religiöses Erbe Die verschiedenen Sprachfassungen der Verträge sind alle gemäß Art. IV-448 Abs. 1 Hs. 1 VVE gleichermaßen verbindlich. Aufgrund der Sprachgebundenheit des Rechts bei der Auslegung verschiedener Rechtsbegriffe kann sich dies als hinderlich erweisen. Aufgrund dessen, dass die Grundrechtecharta durch den Vertrag von Lissabon Rechtsverbindlichkeit erhalten soll, bleibt die Sprachproblematik auch zukünftig bestehen. Denn es lassen sich angesichts der Sprachenvielfalt Widersprüchlichkeiten zwischen verschiedenen Sprachfassungen kaum vermeiden. Wenn es nicht zu einem Konsens kommt, besteht sogar die Gefahr eines „nationalsprachlichen“ Alleingangs. Aus einer derartigen Entwicklung resultiert die Erwähnung des „geistig-religiösen“ Erbes in der 2. Präambelerwägung der Grundrechtecharta. Diese Formulierung findet sich nur in der deutschen Fassung der Präambel des Teils II des Verfassungsvertrages604 bzw. der Präambel der Grundrechtecharta. In der englischen Fassung wird der Begriff „spiritual and moral heritage“ verwendet. Alle anderen Sprachfassungen verwenden entweder ebenfalls Wörter, die Ähnlichkeit zu dem Begriff „spirituell“ aufweisen oder verwenden zumindest nicht ein aus zwei Begriffen zusammen gesetztes Wort.605 Die voneinander abweichenden Übersetzungen des „geistigreligiösen Erbes“ wurden auch bei der Inkorporation der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag beibehalten606 und auch der Vertrag von Lissabon 602
So Tettinger, NJW 2001, S. 1010 (1015); Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (575). Die Präambel der Grundrechtecharta hat im Schrifttum kaum Beachtung gefunden, teilweise wird noch nicht einmal auf ihre Existenz hingewiesen. 604 Die abweichende Übersetzung im Deutschen geht auf den nachdrücklichen Wunsch des deutschen Europaparlamentarier Ingo Friedrich zurück. Siehe zur Diskussion um die genaue Formulierung dieses Passus in der Präambel Bernsdorff/Borowsky, Protokolle, S. 379, 388. 605 Vgl. Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (567 m.w. N. in Fn. 74). Dies ist auf eine Mitteilung des französischen Premierministers Jospin an den Konventsvorsitzenden Roman Herzog zurück zu führen, wonach eine religiöse Bezugnahme in der Präambel (héritage religieux) für das laizistische Frankreich aus verfassungsrechtlichen Gründen inakzeptabel sei. Siehe dazu Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 25; 32; Tettinger, NJW 2001, S. 1010 (1011); Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (226 f.). 606 Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (51). 603
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nimmt diesbezüglich keine Änderung vor. In den anderen Sprachfassungen wird die Religion in der Präambel nicht ausdrücklich erwähnt. Die Grundrechtecharta ist in der Frage des religiösen Bezuges damit weiterhin diffus. In rechtlicher Hinsicht ist eine derartige Vorgehensweise angesichts des Grundsatzes der gleichen Verbindlichkeit aller Sprachfassungen bedenklich.607 Es ist insgesamt umstritten, inwieweit es sich bei der deutschen Übersetzung um eine Präzisierung608 oder eine fehlerhafte Übersetzung609 handelt. Nach einer Ansicht kann das englische und französische Wort „spiritual“ bzw. „spirituel“ ins Deutsche nur sinnvoll mit dem Begriff „geistig-religiös“ übersetzt werden.610 Dieser akademische Streit kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass hinsichtlich einer religiösen Bezugnahme im Grundrechtekonvent tatsächlich keine Einigung erzielt werden konnte. Im Ergebnis muss daher angenommen werden, dass der fortbestehende inhaltliche Dissens hinsichtlich der Religion durch einen sprachlichen Kunstgriff überdeckt werden sollte.611 Dies gelang aber nicht, denn die abweichende deutsche Übersetzung verdeutlicht im Gegenteil den andauernden Dissens in der rechtlichen Bezugnahme auf religiöse Gegebenheiten. Die verschiedenen Sprachfassungen sind mangels Einheitlichkeit prekär. Unter dem Gesichtspunkt der Identitätsstiftung mittels der Etablierung gleichgerichteter Kategorien bei allen Bürgern erscheint die Abweichung der deutschen Fassung von den übrigen Versionen der Präambel der Grundrechtecharta als verfehlt. Dies gilt auch zukünftig, da der Vertrag von Lissabon ebenfalls die Gleichwertigkeit der verschiedenen Sprachfassungen beibehält, Art. 55 EU n. F.612 b) Widersprüchlichkeiten zwischen den beiden Präambeln Ein normatives Problem ergibt sich durch die Aufnahme der zwei Präambeln in den Europäischen Verfassungsvertrag. Damit wurden rechtliche Unklarheiten 607
Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (567). Für eine Präzisierung spricht sich Tettinger, NJW 2001, S. 1010 (1011) aus. Seiner Ansicht zufolge werden die christlich-abendländischen Elemente in der deutschen Fassung plakativ mit angesprochen, die dann bei den weiteren Gewährleistungen der Charta zum Ausdruck kommen. 609 So Riedel, EuR 2005, S. 676 (679). 610 Denn in beiden Sprachen besitzt dieser Begriff sowohl die Bedeutung von „geistig“ als auch „geistlich“. Dagegen versteht man im Deutschen unter dem Begriff „spirituell“ eher eine besonders starke religiöse Ausdrucksform. Siehe sehr ausführlich zu der Entwicklung der unterschiedlichen Begriffe in den jeweiligen Sprachfassungen Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (567). Siehe dazu auch Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 32. 611 Riedel, EuR 2005, S. 676 (679). 612 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 45. 608
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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in Kauf genommen. Diese betreffen beispielsweise das Verhältnis der beiden Präambeln zueinander, die Bedeutung der jeweiligen Präambel als Auslegungsmaxime für den gesamten Vertrag oder lediglich für den Teil des Vertrages, dem die Präambel vorangestellt ist, sowie die Bewertung der inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Präambeltexten. Nach einer Ansicht war die Duplikation der Präambeln im Europäischen Verfassungsvertrag zwar bemerkenswert, aber ihr wurde rechtlich keine Bedeutung zugemessen.613 Denn die Charta habe lediglich redaktionelle Änderungen erfahren, die ausdrücklich keine inhaltlichen Modifikationen bewirken sollen. Demgegenüber wurde die Verdopplung der Präambeln als ein Fehlgriff angesehen, der dem Ehrgeiz des Konvents unter der Führung von Giscard d’Estaing anzulasten ist. Nach dieser Ansicht handelte es sich bei dem Entwurf einer eigenen Gesamtpräambel ohne Weiterentwicklung der Präambel der Grundrechtecharta um einen der größten redaktionellen Mängel des Europäischen Verfassungsvertrages.614 Darüber hinaus war es auch unter dem Aspekt der Identitätsstiftung bei den Bürgern nicht sinnvoll, beide Präambeln in den Verfassungsvertrag aufzunehmen. Zwei Präambeln sind für den Bürger angesichts der Unüblichkeit und Widersprüchlichkeit verwirrend.615 Diesbezüglich wird durch den Vertrag von Lissabon Abhilfe geschaffen, der eine vollständige Inkorporation der Grundrechtecharta in die bestehenden Verträge nicht mehr vorsieht. Vielmehr soll die Grundrechtecharta als selbständiges Dokument Rechtsverbindlichkeit erhalten.616 Diese Änderung ist angesichts der sonst bestehenden Widersprüchlichkeiten und der Unübersichtlichkeit zweier Präambeln für die Bürger zu begrüßen.
613
Grabenwarter, EuGRZ 2004, S. 563 (570). So Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (547 Fn. 46); Mayer, Integration 2003, S. 398 (401). 615 Siehe dazu Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (73). Für Verwirrung kann beispielsweise die umstrittene Formulierung der ersten Präambelerwägung der Gesamtpräambel „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ und die dazu korrespondierende zweite Präambelerwägung des Teils II des Verfassungsvertrages, die von dem „geistig-religiösen und sittlichen Erbe“ der Union spricht, sorgen. Siehe dazu Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (26). 616 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 19. Siehe zum Mandat der Regierungskonferenz Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs /cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 17 und ausführlich S. 25. 614
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
2. Identitätsstiftung durch die Grundrechte der Charta Eine Einzelkritik der Grundrechtsbestimmungen würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Daher sollen einige grundsätzliche Überlegungen zur Möglichkeit einer Identitätsstiftung durch Grundrechte ausreichen. Grundrechtskatalogen wird aufgrund ihrer deutungsoffenen Formulierungen und der durch sie stattfindenden Repräsentation von Werten in einem hohen Maße ein symbolischer Gehalt zugewiesen.617 Die Errichtung einer Werteordnung durch Grundrechte entwickelte Smend in seiner Integrationslehre.618 Diesen Gedanken hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner kommunitaristisch ausgerichteten Rechtsprechung zu den Grundrechten als Werteordnung in den juristischen Kontext überführt.619 Zu Gunsten einer Grundrechtecharta wurde vor allem argumentiert, dass diese die Europamüdigkeit der Bürger bekämpfen könne. Außerdem sollte damit der Prozess der europäischen Einigung vorangetrieben werden620 und mittels einer Grundrechtecharta eine europäische Identität sichtbar und für den Bürger übersetzbar gemacht werden.621 Auf diese Weise könnte sie im Fall ihrer Ratifikation maßgeblich zum Selbstverständnis der Europäischen Union als Wertegemeinschaft und damit zur Artikulation der Identität der Unionsbürger beitragen.622 a) Defizite des bisherigen Grundrechtsschutz Nach weit verbreiteter Ansicht stellen die in der Grundrechtecharta formulierten Grundrechte in erster Linie eine Sichtbarmachung, Bestätigung und Bekräftigung geltenden Rechts dar.623 Denn die Unionsbürger würden gegenwärtig 617 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (151). 618 Demzufolge werde durch einen Grundrechtekatalog die sachliche Integration eines Volkes in seiner Eigenart ermöglicht; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (264); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (170); Mehring, Politisches Denken 1994, S. 19 (34); Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, S. 153. Siehe dazu auch oben S. 161. 619 Siehe dazu ausführlich oben S. 185 f. 620 Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (219). 621 Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (9); Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (211); Calliess, EuZW 2001, S. 261 (268); Lerch, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 215 (216); Preuß, KJ 1998, S. 1 (2). A. A. dazu Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (831). 622 Krausnick, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 132 (151); ebenso Weiler, Ein christliches Europa, S. 34. 623 Diese Interpretation wird vor allem auch durch die 4. Präambelerwägung der Grundrechtecharta gestützt. Bejahend Calliess, EuZW 2001, S. 261 (267); Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (830); Weiler, Ein christ-
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auch ohne rechtliche Verbindlichkeit der Grundrechtecharta von den jeweiligen nationalstaatlichen Verfassungen und Gerichten, von der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie vom Gerichtshof der Europäischen Union ausreichend geschützt.624 Demgegenüber lässt sich anführen, dass der Grundrechtsschutz im europäischen Primärrecht bisher vor allem zwei Defizite aufweist. Eine ausdrückliche Auflistung der einzelnen Grundrechte enthält weder der EU-Vertrag noch der EG-Vertrag625 und der Grundrechtsschutz wurde bisher auf Basis einer kasuistischen Rechtsprechung des EuGH gewährleistet, die weder transparent noch leicht verständlich für den Bürger ist.626 Diese richterliche Rechtsfortbildung beschränkt sich vor allem auf Ausnahmefälle, bei denen der Gesetzgeber eine unbeabsichtigte Lücke im Gesetz gelassen hat.627 Dieser Intransparenz sollte durch die Grundrechtecharta abgeholfen und für den Bürger leicht nachlesbare Rechte begründet werden.628 Aufgrund ihrer kompakten Auflistung ermöglicht die Charta ein besseres Verständnis der Grundrechte für den Bürger.629 Mit der Grundrechtecharta sollte den Unionsbürgern darüber hinaus verdeutlicht werden, dass der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz garantiert.630 Die Grundrechtecharta soll einem wesentlichen Defizit des geltenden Primärrechts, nämlich der Intransparenz des Grundrechtsschutzes abhelfen. b) Mittelbar identitätsstiftende Wirkung Verfassungsrechtliche Bestimmungen können für die soziale Identität der Bürger maßgeblich werden und Kategorisierungsprozesse auslösen.631 Vor allem liches Europa, S. 33; Müller-Graff, Integration 2003, S. 111 (120). Die entgegen gesetzte Ansicht dazu vertritt zumindest im Hinblick auf den Datenschutz Notz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 59 (68). 624 So vertreten von Weiler, Ein christliches Europa, S. 33; Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 13 (14). 625 Calliess, EuZW 2001, S. 261 (261). Der EG-Vertrag diente zunächst in erster Linie nicht der Legitimation einer bereits bestehenden Ordnung, sondern allein der Integration bestehender Teilordnungen durch Etablierung einer neuen Gesamtordnung. Dies erklärt das frühe und zahlreiche Vorhandensein transnationaler Integrationsnormen, wie der Grundfreiheiten und das bisherige Fehlen supranationaler Integrationsnormen, wie der Grundrechte. Siehe dazu Kingreen, EuGRZ 2004, S. 570 (575). 626 Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (209); Calliess, EuZW 2001, S. 261 (262). 627 Calliess, EuZW 2001, S. 261 (262). 628 Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (211); Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (560). 629 Tettinger, NJW 2001, S. 1010 (1010). 630 Weiler, Ein christliches Europa, S. 33 f.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
im Bereich der Grundrechte ist der Normadressat stark am Interpretationsvorgang beteiligt; beispielsweise im Bereich der Religions-, Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit ist das Selbstverständnis der Grundrechtsbetroffenen maßgeblich.632 Im Bereich der Freiheitsrechte der Art. II-66 ff. VVE kann die Charta von der Person des einzelnen Bürgers daher als Zusicherung gegen die Union, ihre Organe und Mitgliedstaaten interpretiert werden.633 Außerdem können Art. II-61 VVE, der die Würde des Menschen unter Schutz stellt, sowie Art. II62 VVE hinsichtlich des Rechts auf Leben und Art. II-63 VVE hinsichtlich der körperlichen und geistigen Unversehrtheit als Zusicherungen der Union für das Selbstverständnis ihrer Bürger relevant werden. Die Grundrechtecharta ist für den Bürger außerdem als Sicherheit erlebbar, wenn sie in Art. II-68 Abs. 1 VVE den Schutz personenbezogener Daten gewährleistet, die Gedanken-, Religions- und Gewissensfreiheit in Art. II-70 VVE und ihr geistiges Eigentum Art. II-77 VVE schützt.634 Darüber hinaus spielen alle verfassungsrechtlichen Normierungen von Gleichheit eine große Rolle für die Ausbildung kollektiver Identität. Denn diese tragen zu einer Homogenisierung der Gruppe nach innen bei.635 Die Gleichheitsrechte sind in den Art. II-80 ff. VVE normiert. Diese offerieren dem Unionsbürger die Möglichkeit, die Grundrechtecharta als Gewährleistungen der Union zu erleben.636 Insofern können die Grundrechte rollenprägend auf die soziale Identität der Unionsbürger wirken. Aus diesem Grund kann die Grundrechtecharta eine erhebliche Bedeutung bei der Selbstdefinition der Bürger und bei der Bestimmung der für eine europäische Identität salienten Kategorien haben.637 631 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170); Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (S. 179 Fn. 72). Siehe ausführlich dazu oben S. 193 f. 632 Bei manchen Grundrechten des Grundgesetzes richtet sich die Interpretation danach, wie die Grundrechtsbetroffenen selbst den grundrechtlich geschützten Bereich ausfüllen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, wonach der Schutzbereich der Religionsfreiheit maßgeblich anhand des Selbstverständnisses der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bestimmt wird. Ähnliches gilt für den Bereich der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG, wo nach dem offenen Kunstbegriff ebenfalls das Selbstverständnis des Künstlers relevant ist, oder für die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG. Siehe zu diesen und weiteren offenen Interpretationsmöglichkeiten im Grundgesetz Häberle, JZ 1975, 297 (298). Zur Kunst- und Wissenschaftsfreiheit Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 5 Rn. 85, 95 f. 633 Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (203). 634 Siehe dazu Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (203). 635 Siehe dazu auch oben S. 51. 636 Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (204). 637 Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (13 f.).
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c) Kritik Für eine erfolgreiche Identitätsstiftung muss eine öffentliche Debatte um die Grundrechte und die dahinter stehenden Werte der Union geführt werden.638 Eine öffentliche Wertedebatte wurde aber durch die nüchterne Verabschiedung der Grundrechtecharta behindert. Die nicht-öffentliche Proklamation der Grundrechtecharta bildet einen merkwürdigen Kontrast zu der gewollten Partizipation der Öffentlichkeit an der vorangegangenen Arbeit des Konvents und zu dem Ziel der vierten Präambelerwägung der Sichtbarmachung der Grundrechte.639 Es gab im Anschluss an die Proklamation der Grundrechtecharta so gut wie keine Öffentlichkeitsarbeit, um diese den Unionsbürgern bekannt zu machen. Aufgrund dessen, dass Werte erst durch Kommunikation zu salienten Kategorien für die Ausbildung kollektiver Identität werden, wurde identitätsstiftendes Potential verschenkt. Denn ohne eine Kenntnisnahme ihrer Grundrechte können die Unionsbürger keine kollektive europäische Identität, die sich an den verfassungsrechtlichen Kategorien der Grundrechte orientiert, ausbilden. An der Grundrechtecharta wurde außerdem in demokratietheoretischer Hinsicht kritisiert, dass die Grundrechte den europäischen Bürgern von ihren Staats- und Regierungschefs verordnet wurden.640 Darüber hinaus wurden bei der Inkorporation der Grundrechtcharta in den Verfassungsvertrag Dopplungen zum sonstigen Vertragstext641 sowie allgemeine Gewährleistungen und Strukturprinzipien in Teil II belassen.642 Diesbezüglich sieht der Vertrag von Lissabon eine Verbesserung vor, da die Grundrechtecharta eigenständig in Kraft tritt und nicht in die bestehenden Verträge inkorporiert wird. Insofern bestehen zwar keine Dopplungen innerhalb desselben Vertragstextes. Allerdings bleibt die Problematik der strukturellen Dopplungen weiter bestehen, denn nach Art. 6 Abs. 1 EU n. F. sind die Charta der Grundrechte und der EU-Vertrag sowie der zukünftige Vertrag über die Arbeitsweise der Union rechtlich gleichrangig.643 638 Denn Werte bedürfen der Kommunikation, um für die soziale Identität von Individuen salient zu werden. Siehe dazu oben S. 351 f. 639 Siehe zum Folgenden Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (568). 640 Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 13 (13). 641 Ein Beispiel dafür ist das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit und Aufenthalt in allen Mitgliedstaaten. Die Formulierung des Art. I-10 Abs. 2 UA 2 VVE lässt immerhin einen gewissen Vorbehalt erkennen. Demgegenüber gewährt Art. II-105 VVE diese Rechte ohne Einschränkung. Auch das aktive und passive Wahlrecht ist in Art. I-10 Abs. 2 lit.) b und Art. II-99 Abs. 1 VVE doppelt geregelt. Diese Verdopplungen erscheinen zwar als doppelte Absicherungen, bergen aber auch die Gefahr einer Relativierung der Grundrechte. Siehe dazu Kingreen, EuGRZ 2004, S. 570 (571 ff.; 576); Mayer, Integration 2003, S. 398 (400); Grabenwarter, EuGRZ 2004, S. 563 (567). 642 Mayer, Integration 2003, S. 398 (400). Die Modifikationen, die erfolgten, waren vor allem durch die Einfügung in den Verfassungsvertrag bedingt; Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 78.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Des Weiteren wird in Bezug auf die identitätsstiftende Symbolik der Grundrechtecharta die Anzahl der Rechte, Freiheiten und Grundsätze kritisiert.644 Vor allem ihre inkonsistente Begrifflichkeit wirkt demzufolge identitätshindernd.645 Denn die Grundrechtecharta unterscheidet in ihren Formulierungen nicht zwischen „Freiheiten“ und „Rechten“.646 Außerdem werden Grundrechte formuliert, in deren Bereich die Europäische Union keine Regelungskompetenz hat.647 Diesbezüglich wird auch keine Abhilfe durch den Vertrag von Lissabon geschaffen. Dies ist insofern heikel, als Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion „negative Kompetenznormen“ i. S. d. Begrenzung von Hoheitsgewalt darstellen.648 Der Grundsatz „der Parallelität von Kompetenzen und Grundrechtsschutz“649 wird nicht beachtet. Ähnlich verhält es sich mit bestimmten Leistungs- und Teilhaberechten, die in Teil II des Verfassungsvertrages bzw. der Grundrechtecharta normiert werden. In diesem Bereich werden ebenfalls Rechte formuliert, die mangels Kompetenz seitens der Europäischen Union nicht eingelöst werden können.650 Außerdem enthält die Grundrechtecharta einige „schöne und gute Rechte“, die gar nicht oder nur in geringem Umfang auf Grundrechtsgefährdungen abstellen, die von der Europäischen Union oder den Europäischen Gemeinschaften ausgehen.651 Die Grundrechtecharta enthält damit Rechte, die die Union selbst nicht gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen kann.652 Daher wirkt die starke Beto-
643 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 19. 644 Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 13 (16). 645 Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 13 (18). 646 Die Abstufung der Schutzintensität von Freiheiten, Rechten und Grundsätzen wird durch verschiedene Verben in der Grundrechtecharta gekennzeichnet. Zum Beispiel „garantieren“, „gewährleisten“, „einhalten“, „anerkennen“ und „achten“. So heißt es etwa „hat das Recht“, „wird geschützt“, „muss sichergestellt werden“, oder auch „die Union anerkennt und achtet nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“. Siehe zu einer ausführlichen Aufzählung der unterschiedlichen Formulierungen Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 13 (18). 647 Calliess, EuZW 2001, S. 261 (264). 648 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (89 ff.); Pernice, DVBl. 2000, S. 847 (852). 649 Siehe dazu Pernice, DVBl. 2000, S. 847 (852). 650 Als Beispiel nennt Calliess, EuZW 2001, S. 261 (264) das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Art. II-95 S. 1 VVE. Es wird in Teil II auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen, wenn eine Kompetenz der Europäischen Union für den betreffenden Grundrechtsbereich nicht vorliegt. So beispielsweise in Art. II-69, II-74 Abs. 3, II-87, II-88, II-90, II-94, II-95, II-96 VVE. 651 Als Beispiele sind Art. II-69 VVE mit dem Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, sowie Art. II-74 VVE, II-84 VVE, II-89 VVE zu nennen. Vgl. dazu Calliess, EuZW 2001, S. 261 (264); Pernice, DVBl. 2000, S. 847 (852). 652 Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (235).
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nung der Grundrechte eher wie eine allgemeine Deklaration und nicht wie eine Abbildung der tatsächlich im Rechtsalltag gewährleisteten und profilbildenden subjektiven Rechte der Unionsbürger.653 Infolge der Kompetenzproblematik und der uneinheitlichen Formulierungen bleibt für den Bürger unklar, welche Grundrechte überhaupt subjektive Rechte und damit Klagemöglichkeiten gewähren sollen.654 Aus diesem Grund wird die Grundrechtecharta auch als Pathos und Konsumästhetik der Europäischen Union kritisiert, die lediglich eine Verkleidung für ihre Konsumkultur darstelle.655 Denn nach Art. II-111, II-112 VVE bzw. Art. 51, 52 EU-Grundrechtecharta werde weder der Anwendungsbereich noch das Schutzniveau gegenüber der bisherigen Grundrechtssprechung erhöht. Durch die bloße Fixierung des Alten werde darüber hinaus das identitätsstiftende Potential einer Neugründung verschenkt.656 d) Ergebnis Es wäre im Hinblick auf die mögliche Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta juristisch sinnvoll gewesen, nur diejenigen Grundrechte zu normieren, die der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits anerkannt hat und bezüglich derer die Europäische Union die Kompetenz hat.657 Im Hinblick auf diese Grundrechte wäre ein Konsens innerhalb der Mitgliedstaaten durch die jahrelange Rechtsprechung des Gerichtshofs tatsächlich gegeben. Eine Identitätsstiftung durch Grundrechte hätte gezielt darauf aufbauen können. Da dies nicht geschehen ist, kann sich eine europäische Wertegemeinschaft kaum anhand der Normierungen der Grundrechtecharta etablieren.
653 Als solche profilbildenden Rechte sieht Müller-Graff, Integration 2003, S. 111 (120) vor allem die Grundfreiheiten an. 654 Als Beispiel bringt Calliess, EuZW 2001, S. 261 (265 Fn. 61), dass über eine Kombination von Art. II-69 VVE i.V. m. Art. II-81 Abs. 1 VVE den Mitgliedstaaten qua Gemeinschaftsrecht die Zulassung gleichgeschlechtlicher Ehen vorgeschrieben werden könne, die Union hierfür aber keine Kompetenz habe. Siehe dazu auch Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 13 (18). 655 Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (832). 656 Darüber hinaus enthält die Charta der Grundrechte auch andere explizite Hinweise auf ihre Nachträglichkeit. Zum Beispiel in Art. II-78 VVE wird das Asylrecht nach Maßgabe des Genfer Abkommens von 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtstellung der Flüchtlinge gewährleistet. Ebenso wird in der Charta in den Art. II-87 ff. VVE immer wieder betont, dass bestimmte Rechte insofern immer schon vor der Charta existiert haben, als sie sich aus dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Bestimmungen und Gepflogenheiten ergeben. Siehe ausführlich dazu Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (207). 657 Calliess, EuZW 2001, S. 261 (265).
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F. Demokratiedefizit der Union Die sozialen Identitäten der Bürger werden durch die Ausübung verfassungsrechtlich gegebener Hoheitsgewalt mittelbar geprägt.658 Es besteht aber ein Demokratiedefizit auf der Ebene der Europäischen Union, welches vor allem in den fehlenden Kompetenzen des Europäischen Parlamentes und im bisherigen Ausschluss der Bürger von der schrittweisen Verfassungsgebung liegt.659 Das Europäische Parlament besitzt auch in den sonstigen politischen Entscheidungsprozessen nur beschränkte Mitwirkungsrechte.660 Das Fehlen der parlamentarischen Legitimation der Integrationspolitik sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene und die daraus folgende unzureichende demokratische Legitimation der Union hemmt die Identifizierung der Bürger mit ihr. Dies wird daran deutlich, dass die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament seit 1979 eine fallende Tendenz aufweist.661 Außerdem können politische Entscheidungen nicht mit den verantwortlichen Personen identifiziert werden.662 Die politischen Verfahren sind kaum einem Bürger bekannt663 und wenig transparent. Sie werden dominiert von den nationalstaatlichen Regierungen im Rat sowie der EU-Kommission, deren Handeln auf europäischer Ebene der demokratischen Kontrolle durch die Bürger weitgehend entzogen ist.664 Gegenwärtig ist eines der Hauptprobleme der Europäischen Union ihre Diffusität und die Unanschaulichkeit ihrer Institutionen für die Bürger.665 Es ist für den einzelnen Bürger in der Europäischen Union nicht erkennbar, wer wofür in der Union steht. Denn es gibt bislang keine eindeutigen europäischen Bezugspersonen und wenige anschauliche politische Bezugspunkte, um eine kollektive Identität durch Kategorisierungsprozesse auszubilden. I. Transparenz und personalisierte Ergebnisverantwortung Der Verfassungsvertrag soll laut Vorwort zum Verfassungsvertragsentwurf „die Entscheidungsprozesse vereinfachen“, damit die Funktionsweise der europäischen Organe transparenter und besser verständlich wird.666 658
Siehe dazu von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170 f.) und oben S. 193 f. Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 306. 660 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 14. 661 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 148 ff. 662 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). 663 Siehe dazu die Untersuchung von Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (142). 664 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 14. 665 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). 666 Europäischer Konvent, Vorwort Entwurf VVE; siehe dazu von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). 659
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Wenn man die Verteilung des Vertrauens der EU-Bevölkerung in die verschiedenen Institutionen erfragt, lassen sich Hinweise darauf gewinnen, in welche Richtung Institutionsreformen gehen sollten, die die größtmögliche Akzeptanz bei den Bürgern haben.667 Es ist unwahrscheinlich, dass sich die europäischen Bürger Institutionsreformen widersetzen, die diejenigen Institutionen stärken, denen sie am ehesten trauen. Also ist bei einer Stärkung dieser europäischen Institutionen davon auszugehen, dass sie maßgebliche Bedeutung für die Auslösung identitätsstiftender Prozesse bei den Bürgern haben. Sie sind als Orientierungspunkte den meisten Bürgern bekannt und genießen das höchste Ansehen. Durch Kompetenzzuweisungen und Verfahrensregelungen werden die Möglichkeiten der Einflussnahme der Mitgliedstaaten und der Bürger auf die Unionspolitik bestimmt.668 Im Folgenden werden bei der Untersuchung der institutionellen Architektur der Europäischen Union auch die Präferenzen der Bürger in den Blick genommen. 1. Gremien Der institutionelle Rahmen der Europäischen Union wird im Verfassungsvertrag teilweise bekräftigt und teilweise neu definiert, Art. I-19 Abs. 1 UA 2 VVE.669 Nach wie vor bilden Europäisches Parlament, Rat, Kommission und Europäischer Gerichtshof das institutionelle Gefüge der Union. a) Europäisches Parlament und parlamentarische Legitimation der Integrationspolitik Das Europäische Parlament steht von den sechs wichtigsten europäischen Institutionen bei den Bürgern innerhalb der Europäischen Union mit 52% an der Spitze des Institutionenvertrauens.670 Aus diesem Grund befürworten 18% der Befragten671 eine wichtigere Rolle des Parlaments im europäischen Institutionensystem als dies zurzeit der Fall ist.672 Daher findet vor allem ein institutioneller Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments, insbesondere 667 Siehe ausführlich zu dem folgenden Gedankengang Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (143). 668 Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (307). 669 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 22. 670 Allerdings misstrauen immerhin 32% der Befragten dem Europäischen Parlament. Die Werte variieren von Umfrage zu Umfrage. Vgl. Eurobarometer 66, S. 18; Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (144). 671 Dies bezieht sich auf die Befragten der 15 Mitgliedstaaten vor der Osterweiterung. 672 Eurobarometer 59, S. 88; Niedermayer, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 435 (443).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
seine Stärkung gegenüber der Kommission, die breite Unterstützung der europäischen Bürger.673 Die Stärkung des Europäischen Parlaments wäre damit eine wichtige Maßnahme zur Verbesserung der Bürgernähe und der demokratischen Legitimation der Europäischen Union.674 aa) Legitimation Das Europäische Parlament wird symbolträchtig unter den Organen des Art. I19 Abs. 1 UA 2 VVE als erstes genannt; seine Stellung wird in Art. I-20 VVE sogar vor der des Europäischen Rates geregelt.675 Diese Stellung behält das Europäische Parlament auch nach dem Vertrag von Lissabon, der die entsprechenden Regelungen gemäß Art. 13 EU n. F.676 und Art. 14 EU n. F.677 in den EUVertrag einfügen soll. Daher beanspruchen die nachfolgenden Ausführungen auch zukünftig Geltung. Gemäß Art. I-20 Abs. 2 VVE setzt sich das Europäische Parlament aus den Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammen. Damit wird die Legitimationsaussage des Art. 189 EG, wonach das Europäische Parlament aus den Vertretern der Völker der in den Gemeinschaften zusammengeschlossenen Staaten besteht, im Verfassungsvertrag und auch im Vertrag von Lissabon nicht beibehalten.678 Mit der Regelung des Art. I-20 Abs. 2 VVE bzw. des Art. 14 Abs. 2 EU n. F. soll die unmittelbare demokratische Legitimation der Union und eine Gewichtsverlagerung im Sinne einer Parlamentarisierung betont werden.679 bb) Mitentscheidungsverfahren Der Verfassungsvertrag bestätigt und ergänzt die bisherigen Aufgaben des Europäischen Parlaments. Das Mitentscheidungsverfahren wird zu einem „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ nach Art. I-34 Abs. 1 S. 1, Art. III-396 673
Vgl. Eurobarometer 66, S. 15, 18. So auch Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (42). 675 Allerdings fällt in der institutionellen Architektur des Verfassungsvertrages auf, dass der Abschnitt über das Europäische Parlament in Teil I der kürzeste ist. Siehe dazu Scholl, Integration 2003, S. 204 (212). 676 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 22. 677 Art. 14 EU n. F. korrespondiert mit Art. I-20 VVE. Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 22 f. Allerdings fällt in der institutionellen Architektur auf, dass der Abschnitt über das Europäische Parlament der kürzeste ist. Siehe dazu hinsichtlich des Verfassungsvertrages Scholl, Integration 2003, S. 204 (212). 678 Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (307). 679 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 44; Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (548). 674
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
373
VVE ausgebaut. Der Vertrag von Lissabon übernimmt diese Regelungen und normiert sie zukünftig in Art. 289 AEUV und 294 AEUV.680 Der Grundsatz des gemeinsamen Gesetzeserlasses durch das Europäische Parlament und den Ministerrat als Bestandteil des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. III396 VVE bzw. 294 AEUV681 erhebt das Mitentscheidungsverfahren zum Regelverfahren.682 In diesem Zusammenhang ergeben sich aber Probleme, die hauptsächlich aus der Doppelnatur der neuen Union als supranationale und intergouvernementale Organisation resultieren. Unter dem Gesichtspunkt der Supranationalität ist eine demokratische Legitimation der Union erforderlich. Nach dem Demokratieprinzip sind in der Union alle Bürger gleich und ihre demokratische Stimmengleichheit muss gewährleistet sein.683 Demgegenüber muss dem Völkerrechtsprinzip unter dem Gesichtspunkt der Intergouvernementalität der Union als Zusammenschluss von Staaten ebenfalls Genüge getan werden. Demnach sind alle Staaten grundsätzlich gleich und müssen auch gleiches Stimmgewicht haben. Das völkerrechtliche Legitimationsprinzip der Gleichheit jedes Staates führt aber zu einer Besserstellung der kleineren Mitgliedstaaten und zu einer Ungleichgewichtung der demokratischen Gleichheit eines jeden Unionsbürgers. Daher kann bei ungleich großen Mitgliedstaaten weder das völkerrechtliche noch das demokratische Legitimationsprinzip vollständig verwirklicht werden. Im Mitentscheidungsverfahren wird daher zum einen über das von den Unionsbürgern direkt gewählte Europäische Parlament die demokratische Legitimation gestiftet.684 Zum anderen wird von den Mitgliedstaaten durch den Ministerrat zugleich völkerrechtliche und staatsvölkerbezogene mediatisierte demokratische Legitimation vermittelt.685 Das Zusammenwirken zwischen Ministerrat und Europäischem Parlament wird auch als Zweikammersystem be680 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 172 f. 681 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 172 f. 682 Das Mitentscheidungsverfahren ist nach dem Verfassungsvertrag zwar das maßgebliche, aber nach Art. I-34 Abs. 2, 3 VVE nicht das ausschließliche Verfahren. Davon abweichende Legislativverfahren sind folgerichtig besondere außerordentliche Legislativverfahren. Siehe dazu Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (309 f.); Wessels, Integration 2003, S. 284 (289). Vgl. zu den einzelnen Bereichen, die dem Mitentscheidungsverfahren unterworfen sind Fischer, FS für Mantl II, S. 991 (1011 ff.). 683 Siehe zum Ganzen Hänsch, Integration 2003, S. 331 (335); Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (307). 684 Allerdings steht die Beibehaltung des Prinzips der degressiven Proportionalität nach Art. I-20 Abs. 2 S. 2 VVE der Vertretungskontingente für die einzelnen Mitgliedstaaten einem unionsweit orientierten Grundsatz der Gleichwertigkeit der Stimme eines jeden Unionsbürgers entgegen. Dies erschwert die Vermittlung demokratischer Legitimation. Siehe dazu Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (307). 685 Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (310).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
schrieben.686 Das Europäische Parlament ist damit nahezu gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Rat. Dies ermöglicht die Legitimation durch das Europäische Parlament und durch den Rat, die wegen der Doppelnatur der Europäischen Union als supranationale und intergouvernementale Organisation erforderlich ist. cc) Fehlende Befugnisse Bestimmte konstitutionelle Befugnisse des Europäischen Parlamentes fehlen aber weiterhin. So hat das Europäische Parlament bei Änderungen des Verfassungsvertrages nach Art. IV-443 VVE kein Zustimmungsrecht. Allerdings werden die Mitwirkungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments nach Art. IV443 Abs. 1 VVE erweitert, indem es dem Rat Entwürfe zur Änderung des Vertrages vorlegen kann. Auch wird das Europäische Parlament gemäß Art. IV-443 Abs. 2 VVE angehört und durch die Teilnahme im Konvent an der Ausarbeitung und Empfehlung der jeweiligen Änderung an die Regierungskonferenz beteiligt.687 Das Europäische Parlament kann aber auch weiterhin nach dem Verfassungsvertrag nicht aufgelöst werden. Dies gilt auch für die Regelungen des Vertrages von Lissabon, der diese Regelung in den Art. 48 EU n. F.688 inkorporiert. Eine durch diese Regelung nicht auszuschließende Blockade kann daher auch in Zukunft die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union insgesamt gefährden.689 dd) Ergebnis Aufgrund dessen, dass der im Verfassungsvertrag vereinbarte Ausbau des Mitentscheidungsverfahrens nach dem Vertrag von Lissabon in den zu ändernden EU-Vertrag aufgenommen wird, kommt den besprochenen Änderungen auch zukünftig Geltung zu.690 Durch das Mitentscheidungsfahren wird die über die Bürger vermittelte demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments gestärkt. Aufgrund des gleichzeitig notwendigerweise zu beachtenden Völkerrechtsprinzips kann das Demokratieprinzip jedoch nicht voll verwirklicht werden. 686
So Scholl, Integration 2003, S. 204 (213); Wessels, Integration 2003, S. 284
(292). 687
Wessels, Integration 2003, S. 284 (293). Diese Norm korrespondiert mit Art. IV-443 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 42. 689 Wessels, Integration 2003, S. 284 (293). 690 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 17 und ausführlich S. 20. 688
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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b) Europäischer Rat Der Europäische Rat wird erstmals nach I-19 Abs. 1 UA 2 Spstr. 2 VVE zu einem institutionellen Organ der Europäischen Union erhoben.691 Seine Stärkung ist im Verfassungsvertrag besonders signifikant.692 Funktional nimmt der Europäische Rat weiterhin die Gesamtleitung der Europäischen Union gemäß Art. I-21 VVE als zentrales intergouvernementales Beratungsgremium wahr.693 Nach Art. I-21 Abs. 1 S. 1 VVE gibt der Europäische Rat der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen fest. Er wird nicht gesetzgeberisch tätig nach Art. I-21 Abs. 1 S. 2 VVE und hat keine Legislativfunktion.694 Ihm gehören die Staats- und Regierungschefs, der Präsident der Europäischen Kommission und nun auch der Präsident des Europäischen Rates nach Art. I-21 Abs. 2 VVE an.695 Entsprechend dem Mandat der Regierungskonferenz für den Vertrag von Lissabon werden die im Verfassungsvertrag enthaltenen institutionellen Änderungen zum Teil in den EU-Vertrag und zum Teil in den Vertrag über die Arbeitsweise der Union eingearbeitet. 696 Die Neuerungen des Verfassungsvertrages an dem bisher bestehenden institutionellen System der Union wurden von dem Vertrag von Lissabon übernommen und sollen als Art. 13 EU n. F. und Art. 15 EU n. F. in die bestehenden Verträge übernommen werden.697 Dies betrifft insbesondere die Umwandlung des Europäischen Rates in ein Organ und die Änderung der Abstimmungsmodalitäten. Die im Folgenden zu untersuchenden Nor-
691 Tsatsos, FS für Häberle, S. 223 (226); Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 152. Bisher war der Europäische Rat nur nach Art. 4 EU mit Organstatus versehen; nun rückt er in der Aufzählung nach Art. I-19 Abs. 1 S. 2 VVE verfassungssystematisch an die zweite Stelle nach dem Europäischen Parlament. Damit ist der Europäische Rat, der ursprünglich außerhalb des Institutionengefüges angesiedelt war, nun vollständig integriert. 692 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 41 m.w. N. 693 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (549). 694 Wegen der Anerkennung von Europäischem Rat und Ministerrat als zwei rechtlich getrennte Institutionen würde dies der Verfassungsvertrag ohnehin nicht gestatten. Mit dieser wegen der klaren Kompetenzverteilung des Verfassungsvertrages überflüssigen Formulierung sollte verhindert werden, dass der Europäische Rat in spezifischen Fällen die Gesetzgebungskompetenz an sich zieht. Siehe dazu Schoutheete, Integration 2003, S. 468 (474 f.). 695 Damit nehmen die Außenminister, die bisher nach Art. 4 S. 2 EU den Europäischen Rat unterstützt haben, an diesem nicht mehr teil. Dies wurde mit der Größe des Europäischen Rates begründet; Schoutheete, Integration 2003, S. 468 (473); Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 152. 696 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 17 und ausführlich S. 18. 697 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 22 f.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
men des Verfassungsvertrages haben damit trotz seiner Nichtratifikation weiterhin Bedeutung für eine erfolgreiche Identitätsstiftung. aa) Einstimmigkeitsprinzip Verfassungsbestimmungen, die politische Entscheidungen von einem Konsens abhängig machen, fördern Minderheiten in einem Gemeinwesen. Dadurch können einerseits Integrationsprobleme kompensiert werden. Andererseits wird auch die politische Stabilität in einer heterogenen Gesellschaft durch die Einbindung möglicher desintegrativer Tendenzen erhöht.698 Das Auseinanderbrechen eines Gemeinwesens kann so verhindert werden. Angesichts der Heterogenität des europäischen Gemeinwesens erscheint die Regelung des Art. I-21 Abs. 4 VVE folgerichtig, wonach der Europäische Rat im Konsens entscheidet, soweit in der Verfassung nichts anderes festgelegt ist.699 Diese Regelung übernimmt auch der Vertrag von Lissabon700 und überführt sie als Art. 15 Abs. 4 EU n. F. in den EU-Vertrag.701 Allerdings besteht bei Einstimmigkeitsregeln immer auch die Gefahr einer Blockadepolitik durch kleinere Staaten. Außerdem macht die Erforderlichkeit von Effizienzsteigerungen der supranationalen Politik in einem föderativen Gemeinwesen das Abgehen vom Prinzip der Einstimmigkeit notwendig. Denn Mehrheitsregeln ermöglichen effiziente Entscheidungen in Konfliktfällen, wenn keine Einigkeit der Mitgliedstaaten besteht.702 Sie müssen aber andererseits in höherem Maße auf der Loyalität der Bürger beruhen als Einstimmigkeitsregeln.703 Die Haltung der europäischen Bürger hinsichtlich des Einstimmigkeitsprinzips ist nicht ganz eindeutig. Bei der Frage, wie denn nach der Erweiterung der Europäischen Union generell die Entscheidungen getroffen werden sollen, spricht sich in den letzten Jahren eine Mehrheit von 41% der EU-Bürger für Mehrheitsentscheidungen in der Europäischen Union aus.704 Allerdings ist der Anteil derer, die einstimmige Entscheidungen weiterhin favorisieren, mit 33% 698
Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 160. Die Interpretation des unbestimmten Terminus „Konsens“ ist offen. Es ist davon auszugehen, dass „Konsens“ als „Einstimmigkeit“ zu interpretieren ist. Siehe dazu Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 152. 700 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-21 Abs. 4 VVE. 701 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 23. 702 Siehe dazu bereits oben S. 170. 703 Puntscher Riekmann, FS für Mantl II, S. 1101 (1105). 704 Dabei legt allerdings die Frageform durch „die Mehrheit“ der Mitgliedstaaten die einfache und nicht die qualifizierte Mehrheit nahe; Eurobarometer 58, A. 22. Siehe dazu Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (148). 699
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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im EU-Durchschnitt immer noch sehr hoch.705 Ein Abgehen vom Prinzip der Einstimmigkeit erscheint daher auch angesichts einer kaum ausgeprägten europäischen Identität nicht möglich. bb) Kompetenzen Insgesamt normiert der Verfassungsvertrag die Befugnisse des Europäischen Rates klarer als das gegenwärtige Primärrecht.706 Der Europäische Rat wird sogar als verfassungsgebendes Organ etabliert, das bei den vereinfachten Änderungsverfahren im Zusammenwirken mit dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten anstelle der bisherigen Regierungskonferenz nach Art. IV-444 VVE und Art. IV-445 VVE über Änderungen des Verfassungsvertrages beschließen kann. Der Europäische Rat wird darüber hinaus über die so genannte „Passarelle“ ermächtigt, Verfahrensregeln einstimmig zu ändern.707 Derartige Regelungen finden sich beispielsweise in Art. I-24 Abs. 4 und Art. I-40 Abs. 7 VVE.708 Derartige Normierungen werden auch zukünftig im Europarecht enthalten sein. Die Regelung des Art. IV-445 VVE sieht auch der Vertrag von Lissabon vor, Art. 48 EU wird neu normiert.709 Weiterhin übernimmt der Vertrag von Lissabon die Art. I-24 Abs. 4 und Art. I-40 Abs. 7 VVE und will deren Regelungen als Art. 31 Abs. 2 und 3 EU n. F.710, Art. 16 Abs. 6 UA 1 EU n. F.711 i.V. m. Art. 236 AEUV712 in das Primärrecht inkorporieren.
705
Eurobarometer 58, S. 92; dazu Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (148 f.). Die ausführlichere Normierung des Verfassungsvertrages wird auch als eine Anerkennung der politischen Realitäten interpretiert. Siehe dazu Schoutheete, Integration 2003, S. 468 (473); a. A. Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (307). 707 Wessels, Integration 2003, S. 284 (292). 708 Seit dem Vertrag von Maastricht wurden die bestehenden „Pasarelles“ nicht angewandt. Die oft daraus gezogene Schlussfolgerung, dass derartige Regelungen nutzlos seien, ist übereilt. Seit dem Vertrag von Maastricht befindet sich die Union in einem Prozess der beständigen Vertragsrevision. Dieser Zustand soll durch den Verfassungsvertrag beendet werde, so dass diesen Regelungen in einer langen Phase ohne Regierungskonferenzen eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommt. Siehe dazu Schoutheete, Integration 2003, S. 468 (477). 709 Dieser korrespondiert mit Art. IV-444 VVE und Art. IV-445 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 41 ff. 710 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 33 f. 711 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 24, 153. 712 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-24 Abs. 4 VVE. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 153. 706
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Außerdem sieht der Europäische Verfassungsvertrag vor, dass der Europäische Rat auf Initiative eines Drittels der Mitgliedstaaten oder auf Vorschlag der Kommission gemäß Art. I-59 Abs. 2 S. 1 VVE einen Europäischen Beschluss erlassen kann. Mit diesem kann festgestellt werden, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. I-2 VVE genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er diesen Staat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat. Diese Feststellung ist die Grundlage zur Aussetzung bestimmter mitgliedstaatlicher Rechte des betroffenen Staates nach Art. I-59 Abs. 3 VVE. Der Vertrag von Lissabon regelt diese Materie ebenso und überführt diese in das europäische Primärrecht, Art. 7 Abs. 2 EU n. F.,713 Art. 2 EU n. F., Art. 7 Abs. 3 EU n. F.714. Ebenso nimmt der Europäische Rat nach dem Verfassungsvertrag personalpolitische Aufgaben wahr. Er kann durch seine Mitwirkungsrechte bei der Wahl wichtiger europäischer Ämter – beispielsweise bei der Wahl des Präsidenten der Kommission nach Art. I-27 Abs. 1 S. 1 VVE, des Präsidenten des Europäischen Rates gemäß Art. I-22 Abs. 1 S. 1 VVE und des Außenministers der Europäischen Union nach Art. I-28 Abs. 1 S. 1 VVE – wesentlich die politische Leitung der Europäischen Union mitbestimmen und kontrollieren.715 Bei diesen Personalentscheidungen ist eine Blockade durch das Veto eines Mitgliedstaates nicht möglich; es handelt sich um qualifizierte Mehrheitsentscheidungen.716 Auch diese Regelungen wurden im Vertrag von Lissabon übernommen, so dass die getroffenen Aussagen im Hinblick auf Art. 17 Abs. 7 EU n. F.717, 15 Abs. 5 EU n. F.718, und Art. 18 Abs. 1 EU n. F.719 zukünftig ihre Gültigkeit behalten.720 cc) Rechtliche Kontrolle Die Handlungen des Europäischen Rates unterliegen weiterhin nur eingeschränkt der Kontrolle durch den EuGH nach Art. III-371 VVE. Gleiches gilt für die Rechtslage nach dem Vertrag von Lissabon, Art. 269 AEUV.721 Gemäß 713
Diese Norm korrespondiert mit Art. I-59 Abs. 2 und Abs. 3 VVE. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 19, 17. 715 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 41 f.; Wessels, Integration 2003, S. 284 (292). 716 Wessels, Integration 2003, S. 284 (292). 717 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-27 Abs. 1 S. 1 VVE. 718 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-22 Abs. 1 S. 1 VVE. 719 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-28 Abs. 1 S. 1 VVE. 720 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 23, 26. 721 Diese Norm hat denselben Wortlaut wie Art. III-371 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 164. 714
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Art. III-371 Abs. 1 bzw. Art. 269 Abs. 1 AEUV besteht lediglich eine rechtliche Verantwortung des Europäischen Rates zur Einhaltung der wesentlichen Verfahrensvorschriften. Gleichzeitig belegt der Europäische Rat im Institutionenvertrauen der Bürger mit 43% einen der hinteren Plätze.722 Dies macht die weitgehende Abschirmung des mächtigsten politischen Organs der Union von Mechanismen politischer und rechtlicher Verantwortlichkeit zweifelhaft.723 Die Ergebnisverantwortung des Europäischen Rates als dem höchsten Repräsentanten der Union und der Mitgliedstaaten wird so nicht gestärkt. c) Ministerrat Der Ministerrat wird dem Europäischen Rat in organisatorischen Fragen untergeordnet. Nach der Konzeption des Verfassungsvertrages liegen die Leitungsentscheidungen in politischen Fragen beim Europäischen Rat, der Ministerrat handelt ihm gegenüber als das ausführende Organ.724 aa) Beschlussfassungsmodus Der Beschlussfassungsmodus im Ministerrat gehörte zu den am meisten umstrittenen Themen des Verfassungsvertrages. Die Schwierigkeit bestand darin, dass das Verfahren zur Beschlussfassung wegen der Funktion des Ministerrates im unionalen Organgefüge sowohl dem völkerrechtlichen als auch dem demokratischen Legitimationsprinzip725 genügen muss.726 Denn beide Legitimations722 Der Europäische Rat befindet sich in der Rangfolge des Institutionenvertrauens hinter dem Europäischen Parlament, dem Gerichtshof und der Kommission; Eurobarometer 65, S. 97. 723 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). 724 Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (47); Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 42. Der Ministerrat ist einerseits nach Art. I-23 Abs. 1, I-24 Abs. 6 VVE gemeinsam mit dem Parlament Legislativorgan der Europäischen Union. Auf der anderen Seite besteht er nach Art. I-23 Abs. 2 VVE aus Vertretern auf Ministerebene jedes Mitgliedstaates und bereitet als Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ die Tagungen des Europäischen Rates vor. Insofern ist er dem Rat in funktionellen Angelegenheiten untergeordnet. Der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ sorgt nach Art. I-24 Abs. 2 VVE für die Kohärenz der Arbeiten des Rates in seinen verschiedenen Zusammensetzungen und bereitet mit dem Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission die Tagungen des Europäischen Rates vor. Der Rat für „Auswärtige Angelegenheiten“ wird in Art. I-24 Abs. 3 VVE ebenfalls als eigenständige Ratsformation verankert. Er gestaltet das auswärtige Handeln der Union entsprechend den Vorgaben des Europäischen Rates. Siehe zum Ganzen Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (308; 310); Maurer/Matl, Integration 2003, S. 483 (488). 725 Siehe zum demokratischen und völkerrechtlichen Legitimationsprinzip oben S. 373. 726 Das Europäische Parlament verwirklicht nämlich nicht allein das demokratische Legitimationserfordernis der Europäischen Union. Denn seine Zusammensetzung ent-
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
stränge sind für eine „Union der Staaten und der Bürger“ i. S. d. Art. I-1 Abs. 1 VVE gleichermaßen grundlegend; beiden Prinzipien muss also Geltung verschafft werden.727 Mit der Regelung des Art. I-25 VVE entschied man sich zum einen gegen eine Privilegierung der Unionsbürger nach der Staatsangehörigkeit und zum anderen für eine Wahrung des völkerrechtlichen Grundsatzes der Stimmengleichheit der Mitgliedstaaten. Im Verfassungsvertrag wird für den Ministerrat die Zahl der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit erhöht.728 Gemäß Art. I-25 Abs. 1 VVE gilt als qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 55% der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, die wiederum zusammen 65% der Bevölkerung der Europäischen Union ausmachen müssen.729 Dadurch wird sowohl der völkerrechtlichen Gleichheit der Staaten als auch einer demokratischen Stimmgewichtung der Bürger weitestgehend Rechnung getragen. Diese Regelung ist geeignet, die Legitimation von Maßnahmen des Rates systemrational zu begründen und deren Akzeptanz in den einzelnen Mitgliedstaaten zu fördern.730 Insofern ist es zu begrüßen, dass der Europäische Rat am 21./22. Juni 2007 eine Einigung hinsichtlich des Systems der Beschlussfassung mit doppelter Mehrheit im Vertrag von Lissabon erzielen konnte. Demnach tritt das in Art. I-25 Abs. 1 VVE bzw. im inhaltsgleichen Art. 16 Abs. 4 EU n. F.731 enthaltende Prinzip der doppelten Mehrheit am 01. November 2014 in Kraft732 und wird in den EU-Vertrag eingefügt.733 Bis dahin gilt die Übergangsbestimmung des Art. 16 Abs. 5 EU n. F. Allerdings übernimmt der Vertrag von Lissabon die ausdrückliche Formulierung einer „Union der Staaten und der Bürger“ des Art. I-1 Abs. 1 VVE nicht, so dass zukünftig eine Akzentverschiebung zugunsten einer Union der Staaten gegeben ist.734
spricht weder dem Erfordernis der Stimmengleichwertigkeit eines jeden Unionsbürgers, noch sind seine unionalen Entscheidungsbefugnisse durchgängig gleichgewichtig zum Ministerrat. 727 Siehe dazu oben S. 372 f. 728 Wessels, Integration 2003, S. 284 (289). 729 Wenn der Rat aber nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Außenministers der Union beschließt, so gilt abweichend von Absatz 1 als qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 72% der Mitglieder des Rates, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65% der Bevölkerung der Union ausmachen; Art. I-25 Abs. 2 VVE. 730 So Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (308). 731 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-25 VVE. 732 Es besteht aber die Möglichkeit einer Sperrminorität, für die gemäß Art. 16 Abs. 4 UA 2 EU n. F. mindestens vier Mitglieder des Rates stimmen müssen. 733 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 24. 734 Siehe dazu oben S. 372 f.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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bb) Teampräsidentschaften Im Ministerrat ändert sich mit der Einführung der Teampräsidentschaften das System der Ratspräsidentschaft grundlegend.735 Nach Art. I-24 Abs. 7 VVE wird der Vorsitz im Rat in allen seinen Zusammensetzungen von den Vertretern der Mitgliedstaaten gemäß einem Europäischen Beschluss nach einem System der gleichberechtigten Rotation wahrgenommen. Diese Regelung sieht auch der Vertrag von Lissabon vor, Art. 16 Abs. 9 EU n. F.736, so dass es auch zukünftig bei den Teampräsidentschaften bleiben wird. Ein bisheriger Beschlussentwurf sieht vor, dass der Vorsitz im Ministerrat außer in der Zusammensetzung „Auswärtige Angelegenheiten“737 in Gruppen von drei Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrgenommen wird. Dabei soll der Vorsitz jeweils 6 Monate von einem anderen Mitglied wahrgenommen werden.738 Das Rotationsprinzip mit ständig wechselnden Vorsitzen ist aber für die Bürger kaum überschaubar.739 Das Rotationssystem der wechselnden Teampräsidentschaften ist nicht geeignet, die Diffusität der europäischen Institutionen für die Bürger zu beseitigen. Die Teampräsidentschaften sind für eine Personalisierung der Ergebnisverantwortung mangels starker Bezugspersonen hinderlich. Diese Neuerung im System der Ratspräsidentschaft ist angesichts einer angestrebten Identifikation der Bürger mit den verantwortlichen Handlungsträgern der Union nicht zu begrüßen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es folglich bedenklich, dass der Vertrag von Lissabon die Regelung des Art. I-24 Abs. 7 VVE nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages nunmehr in den EU-Vertrag aufnehmen will, Art. 16 Abs. 9 EU n. F.740 d) Europäische Kommission Das Initiativmonopol der Kommission nach Art. III-396 Abs. 2 VVE entspricht im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren dem bisherigen Acquis beim 735 Scholl, Integration 2003, S. 204 (214). Siehe dazu auch ausführlich Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 163 f. 736 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-24 Abs. 7 VVE; Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 24. 737 Im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ führt der Außenminister nach Art. I-28 Abs. 3 VVE den Vorsitz. Siehe dazu auch Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (47). 738 Siehe zum Entwurf eines Europäischen Beschlusses des Europäischen Rats über die Ausübung des Vorsitzes im Rat Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 159 f. 739 Scholl, Integration 2003, S. 204 (214). Siehe zu der Problematik wechselnder Identifikationsfiguren für die Ausbildung kollektiver Identität auch unten S. 384 f. 740 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 24.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EG. Ein Gesetzgebungsakt darf nach Art. I-26 Abs. 2 S. 1 VVE nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden, soweit im Verfassungsvertrag nichts anderes vorgesehen ist. Diese Regelungen sollen auch nach der Änderung des Primärrechts durch den Vertrag von Lissabon in das Primärrecht inkorporiert werden in Art. 294 Abs. 2 S. 1 AEUV741, Art. 17 Abs. 2 EU n. F.742 aa) Zusammensetzung Nach bisher gültigem Primärrecht entsendet jeder Mitgliedstaat einen Kommissar, Art. 213 Abs. 1 UA 4 EG. Neu ist die Regelung des Art. I-26 Abs. 6 VVE, wonach die Kommission auf 15 Mitglieder begrenzt wird.743 Dabei sollen die Kommissionsmitglieder unter den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in einem System der gleichberechtigten Rotation nach Art. I-26 Abs. 6 UA 2 S. 1 VVE ausgewählt werden.744 Die Regelung wird durch Art. I-26 Abs. 6 lit. a) und b) VVE präzisiert. Demzufolge werden die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Reihenfolge und der Dauer der Amtszeiten ihrer Staatsangehörigen in der Kommission vollkommen gleich behandelt. Außerdem soll jede Kommission so zusammengesetzt sein, dass das demographische und geographische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten auf zufrieden stellende Weise zum Ausdruck kommt.745 Unter dem Gesichtspunkt der Funktionseffizienz der Organe der Europäischen Union erscheint die Begrenzung der Anzahl der Kommissare zwar als sinnvoll. Es wird argumentiert, eine Kommission mit 25 und mehr Mitgliedern sei zu groß, zu schwerfällig und daher nicht entscheidungsfähig.746 Da die Eu-
741 Diese Norm korrespondiert mit Art. III-396 Abs. 2 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 173 f. 742 Diese Norm korrespondiert mit Art. Art. I-26 Abs. 2 S. 1 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 25. 743 Diese Regelung gehört zu den umstrittensten. Siehe dazu Griller, in: Calliess/ Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (50); Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 173 f. 744 Diese Formulierung ist wegen der europäischen Gemeinwohlbindung der Kommissare sprachlich ungenau. Denn gemeint ist eine Auswahl zwischen den Staatsangehörigkeiten der Kommissare. Siehe dazu Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (309). 745 Dabei verzichtet die endgültige Version des Europäischen Verfassungsvertrages auf die umstrittene Regelung des Art. 25 Abs. 3 UA 2 Entwurf VVE, wonach der Kommissionspräsident Kommissare ohne Stimmrecht ernennt. 746 Dies setzt aber die Annahme voraus, dass die Effizienz von Kollektivorganen umgekehrt proportional zur Zahl ihrer Mitglieder ist; Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (309). Siehe dazu auch Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (50).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
383
ropäische Kommission vor allem dem europäischen Gemeinwohl verpflichtet ist, erscheint die Repräsentation jeder mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit auch nicht als zwingendes Prinzip.747 bb) Kritik Unter dem Gesichtspunkt der Identitätsstiftung ist die Begrenzung der Kommission auf 15 Kommissare allerdings nicht sinnvoll. Der Europäischen Kommission vertrauen 48% der Bürger der Europäischen Union; sie steht damit an Platz zwei des Institutionenvertrauens.748 Als Institution repräsentiert sie damit maßgeblich die Europäische Union für die Bürger. Es gibt auch auf nationaler Ebene nicht selten Regierungen mit mehr als 25 Mitgliedern, deren Arbeitsfähigkeit nicht bezweifelt wird.749 Man könnte die Entscheidungsfähigkeit der Kommission mit mehr als 15 Kommissaren auch über eine entsprechende Regelung ihrer Geschäftsordnung herstellen.750 Unter dem Aspekt der Identitätsstiftung ist insbesondere die Vermittlungsfunktion des jeweiligen nationalen Kommissars zwischen der politischen Kultur seines Herkunftslandes und der Europäischen Union relevant. Durch die Repräsentation der eigenen Staatsangehörigkeit in Gestalt „ihres“ Kommissars wird das Identifikationspotential der Kommission für die jeweiligen Unionsbürger des Mitgliedstaates erhöht.751 Damit werden die Akzeptanz der Vorschläge der Kommission bei den Bürgern sowie die innere Kohäsion der Europäischen Union gefördert. Dies verdeutlichen auch die Eurobarometer-Umfrageergebnisse. Demnach favorisiert die überwältigende Mehrheit von 78% der befragten Bürger eine Kommission, der jeweils ein Kommissar pro Mitgliedstaat angehört.752 Nach Meinung der Befragten wird die Kommission auch nicht weniger leistungsfähig, wenn in ihr ein Kommissar aus jedem Mitgliedstaat vertreten wäre.753 Eine nationale Repräsentation ihres Mitgliedstaates in der Europäischen Union ist für die Bürger damit von großer Bedeutung. Daher ist die Begrenzung der Kommission nach Art. I-26 Abs. 6 VVE auf 15 Kommissare nicht geglückt.
747 Es wird darin sogar die Gefahr einer ministerratsähnlichen Nationalisierung der Kommission gesehen; so vertreten von Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (309). 748 Allerdings vertraut ihr weiterhin ein Drittel der Befragten (31%) eher nicht; vgl. Eurobarometer 66, S. 15. 749 Siehe zum Folgenden Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (50). 750 Siehe dazu Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (74). 751 So Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (309). 752 Eurobarometer 62, S. 159. 753 Eurobarometer 59, S. 89.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Es ist daher nicht begrüßenswert, dass diese Neuerungen gemäß dem Vertrag von Lissabon auch zukünftig Bestandteil des europäischen Primärrechts sein sollen.754 Sie sollen als Art. 17 Abs. 5 EU n. F.,755 Art. 244 AEUV756 in die Verträge eingefügt werden. 2. Einzelpersonen Mit lebenden Personen kann sich der Einzelne am leichtesten identifizieren, denn sie sind der eigenen Person durch gemeinsam zugeschriebene Attribute am ähnlichsten.757 Es kommt nicht darauf an, dass die Identifikationsfigur von dem Einzelnen so wahrgenommen wird, wie sie tatsächlich ist. Wichtig ist für die soziale Identität allein, dass die Identifikationsfigur das, was der Identifizierende sein möchte, symbolisiert.758 Die Stiftung kollektiver Identität wird demzufolge auf europäischer Ebene erleichtert, wenn konkrete Personen im Namen der Europäischen Union Entscheidungen treffen und für diese einstehen. So können identitätsbestimmende Sinngehalte anhand dieser Repräsentanten stellvertretend für die Union von den Bürgern positiv vergegenwärtigt werden. Die Herausbildung repräsentativer Institutionen ist daher ein konstitutives und integrales Element kollektiver Identitätsbildung.759 Dabei sollte ein häufiger Wechsel der Repräsentanten vermieden werden, da dies zu Identifikationsschwierigkeiten führt.760 Denn nur Personen, die über eine gewisse Dauer im Amt bleiben, können eine starke Identifikation bei den Bürgern auslösen.761 Auch Smend hat in seiner Integrationslehre mit dem Begriff der persönlichen Integration die integrative Funktion von Repräsen754 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 18, S. 30. 755 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-26 Abs. 6 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 25. 756 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-26 Abs. 6 lit. a) und b) VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 155. 757 Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (44). 758 Graumann, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 59 (64). 759 Schneider, Österreichisches Jahrbuch für internationale Politik 2002, S. 43 (47 f.). 760 Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (44). Dies ist auch das Problem der Teampräsidentschaften im Ministerrat, vgl. oben S. 381 f. 761 In der Bundesrepublik Deutschland ist als derartige Symbol- und Identifikationsfigur vor allem der erste und langjährige Bundeskanzler Konrad Adenauer zu nennen; Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39 (44).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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tanten eines Gemeinwesens beschrieben.762 In einer sozialpsychologischen Sichtweise wird hier der unmittelbare Integrationsmodus einer Verfassung angesprochen.763 Eine Identifikation der europäischen Bürger mit den Handlungsträgern der Europäischen Union ist nach bisherigem Primärrecht kaum möglich. Nach Art. 214 Abs. 1 und 2 EG wird der Kommissionspräsident zwar für eine Amtszeit von fünf Jahren ernannt, wobei die Wiederernennung zulässig ist. Allerdings rotiert der Vorsitz im Rat nach Art. 203 EG ebenso wie der im Europäischen Rat nach Art. 4 UA 2 S. 3 EU alle sechs Monate. Eine Weiterführung dieses Status quo würde bedeuten, dass bei einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedern, jeder Mitgliedstaat nur noch alle 13,5 Jahre den Vorsitz führen dürfte. Damit büßt die gegenwärtige primärrechtliche Konzeption der Präsidentschaft deutlich ihr Identifikations- und Motivationsangebot für die Bürger ein.764 Hinzu kommt, dass die Europäische Union bei den Bürgern als der Inbegriff von Bürokratismus und Zentralisierung gilt.765 Die europäischen Institutionen werden von den Bürgern eher als „seelenlose“ Verwaltungsapparate, denn als souveräne Handlungsobjekte erlebt. Eine Identifikation der Bürger mit ihnen ist kaum möglich.766 Um eine unmittelbare Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen der Europäischen Union zu erreichen, sollte das zukünftige Europarecht also Positionen für Führungspersönlichkeiten vorsehen, die in deutlich sichtbaren Funktionen als Repräsentanten der Europäischen Union handeln.767 a) Präsident des Europäischen Rates Der Verfassungsvertrag sieht insgesamt eine stärkere Personalisierung der europäischen Politik und eine stärkere Ergebnisverantwortung als die bisherigen Gemeinschaftsverträge vor. Mittels der Schaffung von konstitutionellen ldentifikationsobjekten sollten Verfassungsinstitutionen etabliert werden, mit denen sich die Bürger unmittelbar identifizieren können.768 Vor allem aber der Europäische 762 763 764 765 766
Siehe dazu oben S. 156. Siehe dazu von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170 f.) und oben S. 192. Maurer/Matl, Integration 2003, S. 483 (487). Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (832 f.). Neubauer, in: Böttcher (Hrsg.), Europäische Integration und Lehrerbildung, S. 39
(47). 767 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S, 155. Allerdings können umstrittene Personen auch desintegrierende Wirkung haben. Genau genommen wird die Integration nicht durch Personen erreicht, sondern durch die Chance auf den Wechsel der Herrschaft, also einen wesentlichen Inhalt des Demokratieprinzips. Vgl. dazu Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 102 f. 768 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S, 155; Maurer, Integration 2003, S. 130 (130).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Rat sollte ein Gesicht und eine Stimme erhalten, so dass dieses Gremium für die Bürger veranschaulicht wird.769 Das Amt seines Präsidenten wurde daher in Art. I-22 VVE neu institutionalisiert. Der Europäische Rat wählt nach Art. I-22 VVE seinen Präsidenten für zweieinhalb Jahre;770 eine Wiederwahl ist möglich. Der Präsident des Europäischen Rates repräsentiert als Person einen substantiellen Teil der Europäischen Union und macht die völkervertraglichen intergouvernementalen Elemente auf der Repräsentationsebene sichtbar.771 Er soll die Arbeit des Europäischen Rates gegenüber der gegenwärtig stattfindenden halbjährlichen Rotation professionalisieren und im Hinblick auf die weiterhin einstimmige oder konsensuelle Beschlussfassung die Entscheidungsfindung erleichtern.772 Dies soll in einer sich erweiternden Union zur effektiveren Vorbereitung und Leitung des Europäischen Rates beitragen und zu mehr Kontinuität führen.773 Damit kann er bei verständiger Amtsführung einen politischen Identifikationsschub auslösen, der den Repräsentanten der EU-Abteilungen und Gremien aufgrund der Unübersichtlichkeit der europäischen Institutionen bisher verwehrt blieb.774 Eine derartige identitätsstiftende Wirkung hängt unter anderem von den rechtlichen Einflussmöglichkeiten des Präsidenten des Europäischen Rates ab. Denn je einflussreicher ein Amt ist, desto mehr Profilierungsmöglichkeiten hat sein Inhaber als Repräsentant eines Gemeinwesens.775 Dem Präsidenten des Europäischen Rates wird in Art. I-22 Abs. 2 VVE zwar eine Richtungsgebungskompetenz zugewiesen.776 Der Verfassungsvertrag lässt darüber hinaus aber weitgehend offen, wie viel Gestaltungsmacht der Präsident des Europäischen Rates tatsächlich haben soll.777 Die Rechte des Präsidenten sind in Art. I-22 Abs. 2 VVE sehr unbestimmt normiert. Sie umfassen hauptsächlich die Siche769
Wessels, Integration 2003, S. 284 (292). Der Präsident des Europäischen Rates ist ebenso wie der Präsident der Kommission nach Art. I-25 Abs. 4 VVE nicht berechtigt, an den Abstimmungen im Europäischen Rat teilzunehmen. 771 Die Umschreibung der Amtszuständigkeiten des Präsidenten des Europäischen Rates nach Art. I-22 Abs. 2 VVE bleibt strikt im vorrangig intergouvernementalen Funktionsrahmen des Europäischen Rates; Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (307). 772 Wessels, Integration 2003, S. 284 (292). 773 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 43; Schoutheete, Integration 2003, S. 468 (479); Scholl, Integration 2003, S. 204 (205). Eine a. A. dazu vertritt Brok, Integration 2003, S. 338 (341f.), der die Schaffung eines hauptamtlichen Präsidenten als überflüssig ansieht. Die notwendige Verstetigung des Vorsitzes hätte seiner Meinung nach auch auf anderem Wege erreicht werden können. 774 Meyer, Die Identität Europas, S. 209 f. 775 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S, 155. 776 So Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 155. 777 Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (46). 770
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
387
rung des Zusammenwirkens der Staats- und Regierungschefs und die Repräsentation der Europäischen Union.778 Bestimmte Verfahrensrechte stehen dem Präsidenten des Europäischen Rates nicht zur Verfügung und er hat keine institutionalisierte Machtbasis.779 Aus diesem Grund wird sein Einfluss maßgeblich von seinem Ruf und seiner Stellung bei den Regierungschefs abhängen.780 Daher ist unklar, ob der Präsident des Europäischen Rates wirklich den nötigen Rückhalt bekommt, um gegenüber dem bisherigen Vorsitz einen Fortschritt darzustellen.781 Darüber hinaus sprechen sich die Bürger in den Eurobarometer-Umfragen nicht eindeutig für eine Verlängerung der Ratspräsidentschaft aus. Auf der einen Seite sind 45% der Bürger der neuen Mitgliedstaaten und 50% der Bürger der alten Mitgliedstaaten für eine Verlängerung der Ratspräsidentschaft. Auf der anderen Seite favorisiert ein Drittel der Befragten die Beibehaltung der sechsmonatigen Ratspräsidentschaft, da diese jedem Mitgliedstaat die Möglichkeit gebe, regelmäßig den Vorsitz zu übernehmen.782 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann daher die institutionelle Neuerung des Präsidenten des Europäischen Rates in Bezug auf eine kollektive Identität bei den Bürgern nicht eindeutig beurteilt werden. Der Verfassungsvertragstext lässt zu großen Spielraum für Interpretationen, die erst mit der Zeit geklärt werden können.783 Das Amt eines Präsidenten des Europäischen Rates ist als institutionelle Änderung auch im Vertrag von Lissabon enthalten.784 Die Neuerungen des Verfassungsvertrages werden durch den Vertrag von Lissabon als Art. 15 Abs. 6 EU n. F.785 und Art. 15 Abs. 5 EU n. F.786 in die bestehenden Verträge inkorporiert. 778 Der Präsident des Europäischen Rates nimmt gemäß Art. I-15 Abs. 4 VVE nicht an den Abstimmungen des Rates teil. Nach Art. I-22 Abs. 2 VVE führt er den Vorsitz bei den Arbeiten des Europäischen Rates und gibt Impulse, sorgt für die Vorbereitung und Kontinuität der Arbeiten, wirkt auf die Förderung von Zusammenhalt und Konsens hin und legt dem Europäischen Parlament im Anschluss an die Tagungen des Europäischen Rates einen Bericht vor (Hervorhebungen von der Verfasserin). Siehe dazu Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (307). 779 Scholl, Integration 2003, S. 204 (207). Diesbezüglich werden auch Zweifel von Maurer/Matl, Integration 2003, S. 483 (489) angemerkt. 780 Wessels, Integration 2003, S. 284 (292). 781 Ebenso Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 114. 782 Siehe dazu Eurobarometer 61, S. 22. 783 So auch Schoutheete, Integration 2003, S. 468 (479). 784 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 18. 785 Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 23. 786 Diese Regelung korrespondiert mit Art. I-22 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 23.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Damit wird in Zukunft die Persönlichkeit, die als erster Präsident dieses Amt ausfüllt, maßgebliche Impulse für eine Identitätsstiftung setzen. b) Präsident der Europäischen Kommission Art. I-27 VVE regelt das Amt des Kommissionspräsidenten.787 Diese Norm korrespondiert mit Art. 214 Abs. 2 UA 1 EG, ändert aber den Entscheidungsprozess zur Wahl des Kommissionspräsidenten grundlegend.788 Die Ausgestaltung des Art. I-27 VVE könnte identitätsstiftend bei den Bürgern wirken, wenn sie zu mehr Transparenz und Ergebnisverantwortung führt. aa) Organisatorische Stärkung des Kommissionspräsidenten Der Verfassungsvertrag stärkt – im Gegensatz zum bisherigen Primärrecht, welches das Kollegialprinzip der Kommission in den Vordergrund stellt – die Führungsfähigkeit des Kommissionspräsidenten und baut seine Rechte gegenüber den anderen Kommissionsmitgliedern aus.789 Der Kommissionspräsident hat gemäß Art. I-27 Abs. 3 VVE die Richtlinienkompetenz gegenüber den anderen Kommissionsmitgliedern, legt die innere Organisation fest, ernennt mit Ausnahme des Außenministers seine Vizepräsidenten und kann einzelne Mitglieder zum Rücktritt auffordern, dem diese Folge leisten müssen. Dadurch hat der Kommissionspräsident organisatorisch eine machtvolle Position im Verfassungsvertrag inne. Dies wird sich auch durch den mittlerweile angestrebten Vertrag von Lissabon nicht ändern; dem Mandat des Europäischen Rates entsprechend wird die Stärkung der Rolle des Kommissionspräsidenten durch den Vertrag von Lissabon als Art. 17 Abs. 6 und 7 EU n. F. in das bestehende Primärrecht eingefügt werden.790 bb) Legitimatorische Stärkung des Kommissionspräsidenten Der Kommissionspräsident wird nach der Konzeption des Verfassungsvertrages auf Vorschlag des Europäischen Rates vom Parlament nach Art. I-27 Abs. 1 S. 1 VVE gewählt. Der Initiativvorschlag des Europäischen Rates berücksichtigt die Ergebnisse der Europawahlen. Bei diesem Wahlakt handelt es sich um einen Mechanismus funktioneller Integration im Sinne der Integrationslehre Smends. 787 Als Faktor der persönlichen Integration im Sinne der Integrationslehre Rudolf Smends dürfte der Präsident der Europäischen Kommission eine besondere Rolle spielen; Pernice, AÖR 120 (1995), S. 100 (119). 788 Siehe ausführlich dazu Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 175 f. 789 Siehe Wessels, Integration 2003, S. 284 (295). So auch Scholl, Integration 2003, S. 204 (215); Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 176. 790 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 25 f.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Die Europäische Kommission wird durch die Wahl ihres Präsidenten nach Art. I27 Abs. 1 S. 2 VVE stärker an das Europäische Parlament gebunden. Damit wird die demokratische Legitimation der Kommission und ihres Kommissionspräsidenten gestärkt sowie ihrer Position als supranationaler Leitungsinstanz Rechnung getragen.791 Dies erscheint wegen des Initiativrechts der Kommission im Rahmen der Gesetzgebung als sinnvoll. Ferner steht die Kommission erst an Platz drei des Institutionenvertrauens bei den Bürgern.792 Daher kann eine direktdemokratische Rückkopplung ihr mehr Rückhalt bei den Bürgern verschaffen. Es wird als wahrscheinlich angesehen, dass die Parteien im Europawahlkampf mit Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufwarten.793 Die Fraktionen des Europaparlaments könnten ihren Wunschkandidaten für den Kommissionspräsidenten mitsamt dem dahinter stehenden Programm europaweit bei den Wahlen zum Europaparlament propagieren. Schon die Einigung einer Parlamentsfraktion auf einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten könnte einen europaweiten Integrationsschub bewirken.794 Die Verbindung von Person und politischem Programm ist ein Weg zur Bildung einer öffentlichen Meinung in Europa. Durch den Wahlakt und die öffentliche Diskussion um einen geeigneten Kandidaten könnte die Kommission in der Wahrnehmung der Bürger stärker mit einem bestimmten Gesicht identifiziert werden. Damit wird eine Rückkopplung zum programmatischen und personellen Wettbewerb bei den Parlamentswahlen ermöglicht.795 Dies würde auch dem Europäischen Parlament sachliche Kriterien zur demokratischen Kontrolle des Kommissionspräsidenten liefern.796 Die Regelung des Art. I-27 VVE übernimmt der Vertrag von Lissabon und inkorporiert diese in Art. 17 Abs. 7 EU n. F. Bei er791 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 48; Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (549); Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (308); so auch Scholl, Integration 2003, S. 204 (215). 792 Ihr vertrauen 48% der Bürger in der Europäischen Union; vgl. Eurobarometer 66, S. 15. Siehe zur Interpretation der Daten Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (144). 793 Eine derartige Entwicklung wird von vielen angenommen und auch gewünscht; vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 48; Scholl, Integration 2003, S. 204 (207); Brok, Integration 2003, S. 338 (341). Allerdings merkt Wuermeling, EuGRZ 2004, S. 559 (560) diesbezüglich zutreffend an, dass es wegen der Aufsplitterung der politischen Kräfte im Europäischen Parlament in bis zu zehn Fraktionen strukturell keine Partei mit einer absoluten Mehrheit geben wird. Daher könnten die Kandidaten der größeren Fraktionen gegenseitig mit Hilfe kleinerer und mittlerer Parteien zu Fall gebracht werden. Aus diesem Grund könnte eine Einigung auf einen Kandidaten und der Kandidatenvorschlag des Europäischen Rates „unter Berücksichtigung der Parlamentswahlen“ i. S. d. Art. I-27 Abs. 1 S. 2 VVE nicht unproblematisch sein. Ähnlich Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (49). 794 Pernice, AÖR 120 (1995), S. 100 (119). 795 Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (308). 796 Pernice, AÖR 120 (1995), S. 100 (119).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
folgreicher Ratifikation des Vertrages von Lissabon kann so eine Legitimitätsbrücke zwischen der Wahlentscheidung der Bürger und der Kommission entstehen.797 Aus dem Wahlausgang folgt nach diesem Szenario gemäß Art. I-27 Abs. 1 S. 2 VVE eine Personalentscheidung. Damit würden die Wahlen zum Europaparlament auch für die Bürger sinnerfüllt werden. Die Bürger könnten angesichts der verschiedenen Spitzenkandidaten zwischen politischen Alternativen wählen und ein europaweiter Diskurs über die Eignung der jeweiligen Kandidaten könnte in Gang gesetzt werden.798 Für ein derartiges Vorgehen ist auch die Mehrheit der Unionsbürger. Bei der Methode zur Auswahl des Kommissionspräsidenten geben die Bürger der Parlamentskompetenz klar den Vorzug vor der Kompetenz des Europäischen Rates zur Ernennung des Kommissionspräsidenten.799 Das am meisten von den Bürgern favorisierte Verfahren ist jedoch die direkte und europaweite Wahl des Kommissionspräsidenten.800 Die direkt-demokratische Rückkopplung der Kommission ist allerdings ein rechtliches Problem. Denn die Kommission würde zu einem politischen Gremium, wenn die jeweiligen politischen Parteien im Europawahlkampf mit Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten antreten würden und gleichzeitig das neu gewählte Europaparlament das Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten hätte.801 Die Kommission ist nämlich keine Regierung im staatsrechtlichen Sinn, sondern ist als ein unabhängiges, weisungsfreies Organ der parteipolitischen Neutralität verpflichtet.802 Aus diesem Grund wurde in Art. I-27 Abs. 1 S. 1 VVE das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates für das Amt des Kommissionspräsidenten beibehalten. Das Europäische Parlament hat demnach nicht die Auswahl zwischen mehreren Kandidaten, sondern kann nur dem vorgeschlagenen Kandidaten seine Zustimmung geben oder diese verwei797
Scholl, Integration 2003, S. 204 (207). Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (71); ähnlich positiv äußert sich auch Wuermeling, EuGRZ 2004, S. 559 (561). 799 Siehe dazu Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (146 f., 148). 800 Bei der Frage, ob der Präsident der Europäischen Kommission von den Staatsund Regierungschefs ernannt oder von der Mehrheit des Europäischen Parlaments gewählt werden sollte, sprechen sich im europäischen Durchschnitt doppelt so viele Befragte für eine Wahl durch das Europäische Parlament aus. 34% der Bürger (der 15 Mitgliedstaaten vor der Osterweiterung) wollen den Kommissionspräsidenten direkt wählen, 18% favorisieren eine Wahl durch das Europäische Parlament und die Staatsund Regierungschefs, 15% sind für eine Wahl des Kommissionspräsidenten ausschließlich durch das Europäische Parlament und nur 11% für eine ausschließliche Wahl durch die Staats- und Regierungschefs, verbleibende 22% haben dazu keine Meinung. Vgl. dazu Eurobarometer 60, S. 91. 801 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 176. 802 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 49; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 489 (529). 798
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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gern. So sollte eine persönliche Auswahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament und eine daraus folgende mögliche Parteilichkeit dieses Amtes vermieden werden. Auf diese Weise wird im Verfassungsvertrag nicht das Bild einer parlamentarischen Demokratie entworfen, in dem ein proportional zusammengesetztes Parlament einen Regierungschef wählt. Die Parteipolitisierung der Europäischen Kommission bleibt durch das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates begrenzt.803 Ein alleiniges Vorschlags- und Wahlrecht des Europäischen Parlaments würde demgegenüber voraussetzen, dass sich die Europäische Union zu einer an politischen Mehrheiten orientierten Regierung wandelt, die einer mitgliedstaatlichen Regierung vergleichbar ist.804 Dies hätte aus identitätsstiftender Sicht zwar den Vorteil einer Stärkung der unmittelbaren demokratischen Legitimation der Kommission und möglicherweise eine Steigerung des Interesses der Bürger an den Europawahlen. Auf der anderen Seite widerspräche dieses Konzept aber dem supranationalen Charakter der Kommission als ein von den Mitgliedstaaten unabhängiges Organ. Die Kommission soll nach Art. I-26 Abs. 1 S. 1 VVE allein den gemeinsamen europäischen Interessen, nicht aber den nationalen oder parteipolitischen Interessen dienen. Die Lösung des Art. I-27 Abs. 1 VVE zur Wahl des Kommissionspräsidenten ist ein gelungener Kompromiss, welcher der Verwirklichung des Demokratieprinzips der Europäischen Union in adäquater Weise gerecht wird. Da auch der Vertrag von Lissabon diese Regelung übernimmt und sie als Art. 17 Abs. 7 EU n. F. in das bestehende Primärrecht eingefügt werden soll,805 entspricht dies auch in Zukunft dem spezifischen System der Europäischen Union als parlamentarisch-supranationales und gleichzeitig intergouvernementales Gemeinwesen.806 cc) Institutionelle Spannungen Der Kommissionspräsident übt nach der Konzeption des Verfassungsvertrages sein Amt in dem Dreieck zwischen seiner Führungsrolle in der Kommission sowie der Beachtung des Kollegialprinzips und der Ressortzuständigkeit der einzelnen Kommissare aus. Diese drei Eckpunkte können nicht gleichzeitig voll verwirklicht werden; intra-institutionelle Spannungen sind die Folge.807
803 Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (49); Scholl, Integration 2003, S. 204 (208). 804 Siehe zum folgenden Gedankengang Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 489 (529). 805 Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 26. 806 Siehe dazu Scholl, Integration 2003, S. 204 (208). 807 So auch Wessels, Integration 2003, S. 284 (295).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Der Kommissionspräsident muss seine Position darüber hinaus zwischen dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Außenminister der Union finden. Das Konzept eines Präsidenten des Europäischen Rates steht aber grundsätzlich nicht im Widerspruch zum Amt des Kommissionspräsidenten.808 Zur Vermeidung einer Konkurrenz des Präsidenten des Europäischen Rates mit dem Kommissionspräsidenten wurde die Handlungsfreiheit des Präsidenten des Europäischen Rates im Verfassungsvertrag erheblich eingeschränkt.809 Daher kann der „Doppelkopf“ der Europäischen Union als systemrationaler Ausdruck für die Doppelnatur der zukünftigen Europäischen Union als völkervertraglich fundierte Organisation und als supranationales Gemeinwesen mit eigener Hoheitsgewalt qualifiziert werden.810 Denn durch diese Doppelspitze wird institutionell die Kombination einer supranationalen Gemeinwohlausrichtung mit einer kooperativen einzelstaatlichen Interessenwahrnehmung verwirklicht. Es wäre unter Umständen sogar eine Person als Inhaber beider Ämter denkbar. Der Präsident des Europäischen Rates darf nämlich nach Art. I-22 Abs. 3 VVE kein einzelstaatliches Amt ausüben. Dieser Ausschließungsgrund bezieht sich ausdrücklich auf ein nationales Amt, internationale Ämter und Ämter im Rahmen der Union wären demzufolge keine Ausschlussgründe.811 Damit wäre nach dem Verfassungsvertrag eine Personalunion zwischen dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Kommissionspräsidenten möglich.812 In diesem
808 Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (307). Es werden aber auch in dem Verhältnis zwischen Kommissionspräsident und Präsident des Europäischen Rates Spannungen und Kompetenzstreitigkeiten befürchtet. Denn der Präsident des Europäischen Rates muss die Arbeit des Europäischen Rates voranbringen und soll die Kontinuität der Arbeit des Europäischen Rates sichern. Der Kommissionspräsident soll demgegenüber das allgemeine europäische Interesse fördern und die Anwendung der Entscheidungen der Institutionen sichern. Daher könnten zwischen dem Präsidenten der Kommission und dem Präsidenten des Europäischen Rates ebenfalls Konflikte entstehen. Siehe dazu Schoutheete, Integration 2003, S. 468 (480). 809 Die organisatorische Ausstattung des Präsidenten des Europäischen Rates wurde gegenüber den ersten Textversionen im Verfassungsvertrag geschwächt. Insbesondere hatte er ursprünglich das Recht, Vizepräsidenten zu ernennen. Siehe dazu Scholl, Integration 2003, S. 204 (206); Brok, Integration 2003, S. 338 (341 f.). 810 So auch Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (307 f.). 811 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 156. 812 Siehe dazu auch Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 42; Oppermann, DVBl. 2003 1. Teil, S. 1165 (1174 Fn. 50); Scholl, Integration 2003, S. 204 (206); Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (308). Eine a. A. dazu vertritt Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (46 f.). Denn nach Art. III-347 Abs. 2 S. 1 VVE dürfen die Mitglieder der Kommission während ihrer Amtszeit keine andere entgeltliche oder unentgeltliche Berufstätigkeit ausüben. Eine solche stellt aber das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates dar. Selbst wenn es sich hierbei um einen Redaktionsfehler aufgrund der mangelnden Harmonisierung von Teil I und Teil III des Verfassungsvertrages handelt, wäre nach dieser Regelung eine Personalunion zwischen dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Kommissionspräsidenten unzulässig.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
393
Fall wäre eine anschauliche Repräsentation der Europäischen Union für die Bürger gegeben. Auch der Vertrag von Lissabon inkorporiert den vorgenannten Ausschließungsgrund in Art. 15 Abs. 6 UA 3 EU n. F.813, wonach der Präsident des Europäischen Rates kein einzelstaatliches Amt ausüben darf. Allerdings bleibt abzuwarten, welche Praxis sich diesbezüglich durchsetzen wird. c) Außenminister der Union Integration durch Recht war bisher nicht das bestimmende Prinzip der außenpolitischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten.814 Dies liegt vor allem auch an der Möglichkeit der Souveränitätswahrung in der freiwilligen intergouvernementalen Kooperation der GASP. In Zeiten der Krise wird Außenpolitik in Europa vor allem nationalstaatlich formuliert.815 Aus der jüngeren Vergangenheit ist vor allem die Irak-Krise zu nennen, während der das innereuropäische Verhältnis stark beschädigt wurde.816 Eine nach außen gerichtete Identität der Europäischen Union muss nach wie vor erst konstruiert und mit Leben gefüllt werden.817 Demgegenüber befürwortet die überwiegende Mehrheit von 68% der befragten Bürger eine gemeinsame Außenpolitik der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegenüber anderen Staaten818 und eine Mehrheit von 83% favorisiert die Einigung auf eine gemeinsame außenpolitische Haltung der Mitgliedstaaten in einer internationalen Krise.819 Außerdem bejahen 65% der Bürger in der Europäischen Union die Notwendigkeit eines eigenen Außenministers, der eine ge-
813 Diese Norm entspricht Art. I-22 Abs. 3 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 23. 814 Hans-Joachim Cremer, EuGRZ 2004, S. 587 (589). 815 Risse, Integration 2003, S. 564 (564); ebenso Vernet, EuGRZ 2004, S. 584 (586 f.). 816 Großbritannien, Spanien und Italien waren mit den USA für einen Krieg im Irak. Deutschland, Frankreich und Belgien auf der anderen Seite gegen einen Krieg. Die beiden Lager fochten ihre Differenzen in aller Öffentlichkeit aus. Siehe dazu auch Risse, Integration 2003, S. 564 (564); Vernet, EuGRZ 2004, S. 584 (586 f.); Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (6). 817 Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (6). 818 Nur 21% der Befragten der 25 Mitgliedstaaten sind gegen eine gemeinsame europäische Außenpolitik vgl. Eurobarometer 66, S. 23. 819 Diesbezüglich ist zu beachten, dass die Umfrage zur Einigung auf eine gemeinsame Haltung während des Einmarsches der US-Truppen in den Irak stattfand, so dass die Befragten vor dem Hintergrund der Uneinigkeit der Außenpolitik der Mitgliedstaaten und der Krise im Irak diese Antwort gaben; vgl. Eurobarometer 59, S. 17, Vorwort.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
meinsame europäische Position vertritt.820 Aus Sicht der Bürger besteht die Notwendigkeit, dass Europa mit einer Stimme spricht.821 Aus diesem Grund setzt der Verfassungsvertrag an dem strukturellen Problem der Außenvertretung der Europäischen Union an. Deren Außenvertretung wird derzeit von der Kommission822, vom Generalsekretär des Rates823 und auch von dem jeweiligen Ratspräsidenten wahrgenommen.824 Wegen dieser Aufteilung ist für die europäischen Bürger nicht ersichtlich, wofür die Europäische Union nach außen steht. Daher sollte durch den Verfassungsvertrag die Sichtbarkeit der Europäischen Union in ihren Außenbeziehungen erhöht werden, so dass sie als eigenständiger Akteur frühzeitig und über einen längeren Zeitraum von den Bürgern wahrgenommen wird.825 Der Bereich der Außenpolitik bietet darüber hinaus gute Profilierungsmöglichkeiten, um die Unterschiede zwischen der eigenen Gesellschaft und fremden Gesellschaften herauszustellen.826 aa) Befugnisse des Außenministers Das Amt des Außenministers der Union gemäß Art. I-28 VVE ist eine zentrale Innovation des Verfassungsvertrages.827 Dadurch kann die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten effizienter gestaltet und die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen des auswärtigen Handelns nach Art. III-292 Abs. 3 VVE sichergestellt werden.828 Art. I-28 VVE soll die Stringenz der Außenpolitik zumindest in personeller Hinsicht sicherstellen.829 Das Gelingen dieses Anliegens ist von den einzelnen Befugnissen des Außenministers abhängig. Der Außenminister der Europäischen Union ist gleichzeitig ein Vizepräsident der Europäischen Kommission nach Art. I-28 Abs. 4 VVE.830 In der Kommis820 Die Zustimmung in den Mitgliedstaaten variiert diesbezüglich stark zwischen 79% in Slowenien und 47% in Dänemark; vgl. Eurobarometer 65, S. 130. 821 So ebenfalls vertreten von Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (64). Allerdings haben 50% der Bürger keine Kenntnis davon, dass der Verfassungsvertrag die Schaffung eines Außenministers der Europäischen Union vorsieht; vgl. Eurobarometer 63, S. 140. 822 Und zwar vom Außenkommissar. 823 Dies ist der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gemäß Art. 18 Abs. 3 EU. 824 Siehe dazu Fischer, FS für Mantl II, S. 991 (1006); Vernet, EuGRZ 2004, S. 584 (585). 825 Maurer/Matl, Integration 2003, S. 483 (487). 826 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S, 155. 827 Dabei handelt es sich um den einzigen „Minister“ der zukünftigen Europäischen Union. 828 Siehe dazu Wessels, Integration 2003, S. 284 (294). 829 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 47.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
395
sion ist der Außenminister mit deren Zuständigkeit im Bereich der Außenbeziehungen und mit der Koordinierung der übrigen Aspekte des auswärtigen Handelns betraut. Insoweit gelten für ihn die Verfahrensregeln der Kommission, es muss also ein Kollegialbeschluss nach Art. III-293 Abs. 2, III-325 Abs. 3 VVE für die Vorschläge der Kommission vorliegen. Gleichzeitig führt der Außenminister den Vorsitz im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ gemäß Art. I-28 Abs. 3 und 4 VVE und ist nach Art. I-21 Abs. 2 VVE Mitglied des Europäischen Rates. Damit ist das Amt des Außenministers in drei verschiedenen Institutionen verankert.831 Der zukünftige Außenminister der Union übt die beiden Ämter aus, die bislang die Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner und der außenpolitische Beauftragte der EU, Javier Solana, getrennt voneinander erfüllen. Er verfügt im Ergebnis über mehr Befugnisse als der bisherige Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.832 Als Vorsitzender des Rates für Auswärtige Angelegenheiten kann er persönlich als Initiator nach Art. I-40 Abs. 6 VVE, nach Art. III-299 Abs. 1 VVE, III302 VVE und nach Art. III-313 Abs. 3 UA 3 VVE auftreten. Gleichzeitig hat er im Fall einer Blockadehaltung die wichtige Funktion eines internen Mittlers nach III-300 Abs. 2 UA 2 S. 2 VVE und bemüht sich um eine einvernehmliche Lösung mit dem betreffenden Mitgliedstaat. Nach Art. III-294 Abs. 2 UA 3 VVE trägt der Außenminister gemeinsam mit dem Rat für die Einhaltung der Grundsätze der Außenpolitik Sorge.833 Außerdem trägt der Außenminister nach Art. III-296 Abs. 1 VVE durch seine Vorschläge zur Festlegung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bei und stellt die Durchführung der Europäischen Beschlüsse hierzu sicher. Er ist für die Wahrnehmung der politischen Dialoge mit Drittstaaten und Staatengruppen nach Art. III-296 Abs. 2 VVE im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zuständig. Dazu werden die außenpolitischen Bürokratien des Rates und der Kommission in einer einheitlichen Struktur, dem Europäischen Auswärtigen Dienst nach Art. III-296 Abs. 3 VVE, zusammen gefasst. Schließlich ist die Anhörung, Unterrichtung und ausreichende Berücksichtigung des Europäischen Parlaments nach Art. III304 VVE die Aufgabe des Außenministers. 830 Als Vizepräsident der Europäischen Kommission muss sich der Außenminister mit der Kommission nach Art. I-27 Abs. 2 UA 2 S. 1 VVE dem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen. 831 Siehe dazu Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (756); Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (308); Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 47, 94; Jopp/Regelsberger, Integration 2003, S. 550 (558 f.). 832 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 47; Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (308); Jopp/Regelsberger, Integration 2003, S. 550 (558); Vernet, EuGRZ 2004, S. 584 (585). 833 Damit weist der Verfassungsvertrag dem Außenminister die Rolle des Hüters der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu, gewährt ihm aber auf der anderen Seite nicht die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, Art. III-376 Abs. 1 VVE. Siehe dazu Risse, Integration 2003, S. 564 (570).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Eine identitätsstiftende Personalisierung der Außenvertretung der Europäischen Union dürfte auch die Regelung des Art. III-305 Abs. 2 UA 3 VVE darstellen. Demzufolge kann der Außenminister den Standpunkt der Mitglieder der Union, die im Sicherheitsrat vertreten sind, dort vortragen, wenn die Europäische Union einen Standpunkt zu diesem Thema festgelegt hat. Damit soll die Einheitlichkeit der Union gegenüber der restlichen Welt deutlicher gemacht werden.834 Angesichts der öffentlichen Darstellung eines gemeinsamen europäischen Standpunktes kommt dieser Regelung eine hohe symbolische Bedeutung zu. Insgesamt werden dem Außenminister hauptsächlich Instrumente an die Hand gegeben, um ein einseitiges Vorpreschen der Mitgliedstaaten im Bereich der Außenpolitik zumindest über die Strategie des Anprangerns in die Schranken zu weisen.835 Der zukünftige Außenminister kann damit das außenpolitische Profil der Europäischen Union stärken.836 Allerdings wird der nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages notwendig gewordene Vertrag von Lissabon bezüglich der Bezeichnung des europäischen Außenministers eine Änderung enthalten.837 Nach Art. 18 EU n. F.838 wird der Begriff „Außenminister“, der für dieses Amt im Verfassungsvertrag vorgesehen wurde,839 nicht mehr im europäischen Primärecht enthalten sein. Insofern bleibt es bei dem Titel „Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“. Die institutionellen Neuerungen, die der Verfassungsvertrag vorgesehen hatte, wurden jedoch unmittelbar in den Vertrag von Lissabon aufgenommen. Die Regelungen des Verfassungsvertrages werden als Art. 21 Abs. 3 UA 2 EU n. F.840 sowie Art. 18 EU n. F.841 in das europäische Primärrecht übernommen. Auch nach dem Vertrag von Lissabon führt der „Hohe Vertreter der Union für Außenund Sicherheitspolitik“ den Vorsitz im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ gemäß Art. 18 Abs. 2 und 3 EU n. F.842 und ist nach Art. 15 Abs. 2 EU n. F.843 834
Jopp/Regelsberger, Integration 2003, S. 550 (552). Risse, Integration 2003, S. 564 (571). 836 Jopp/Regelsberger, Integration 2003, S. 550 (558 f.). 837 Siehe ausführlich dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium. europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 16, 18. 838 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 26 f. 839 Dabei handelte es sich um den einzigen „Minister“ der zukünftigen Europäischen Union nach dem Verfassungsvertrag. 840 Diese Regelung entspricht Art. III-292 Abs. 3 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 29. 841 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 26 f. 842 Diese Norm entspricht Art. I-28 Abs. 2 und 3 VVE. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 26 f. 835
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Mitglied des Europäischen Rates. Damit ist das Amt des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik auch nach dem Vertrag von Lissabon in drei verschiedenen Institutionen verankert. Die zukünftigen Regelungen der Art. 31 Abs. 2 Spstr. 2 EU n. F.844, Art. 30 Abs. 1 und 2 EU n. F.845, Art. 31 Abs. 5 EU n. F.846, Art. 31 Abs. 3 EU n. F.847, Art. 31 Abs. 2 UA 2 EU n. F.848, Art. 24 Abs. 3 UA 3 EU n. F.849, Art. 27 Abs. 2 und 3 EU n. F.850, Art. 36 EU n. F.851 entsprechen den erörterten korrespondierenden Regelungen des Verfassungsvertrages. Insbesondere die identitätsstiftende Personalisierung der Außenvertretung der Europäischen Union wird durch die Möglichkeit der Vertretung der Europäischen Union durch den Hohen Vertreter im Sicherheitsrat nach dem Vertrag von Lissabon beibehalten in Art. 34 Abs. 2 UA 3 EU n. F.852 Auch der nach dem Vertrag von Lissabon vorgesehene zukünftige Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kann damit das außenpolitische Profil der Europäischen Union stärken.853
843 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-21 Abs. 2 VVE. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 23. 844 Diese Norm entspricht Art. I-40 Abs. 6 VVE. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 34. 845 Diese Norm korrespondiert mit Art. III-299 Abs. 1 VVE. Vgl. dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 33. 846 Diese Norm korrespondiert mit III-302 VVE. Vgl. dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 34. 847 Diese Norm korrespondiert mit Art. III-313 Abs. 3 UA 3 VVE. Vgl. dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 34. 848 Diese Regelung korrespondiert mit III-300 Abs. 2 UA 2 S. 2 VVE. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 34. 849 Dies korrespondiert mit Art. III-294 Abs. 2 UA 3 VVE. Siehe dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 30. 850 Diese Norm entspricht Art. III-296 Abs. 2 VVE. Siehe dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 32. 851 Dies korrespondiert mit III-304 VVE. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 35 f. 852 Diese Regelung entspricht Art. III-305 Abs. 2 UA 3 VVE. Siehe dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 35. 853 So für den Verfassungsvertrag auch Jopp/Regelsberger, Integration 2003, S. 550 (558 f.).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
bb) Beibehaltung des Konsensprinzips Der Verfassungsvertrag verrechtlicht Rücksichtnahmepflichten der Mitgliedstaaten in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik untereinander und in Bezug auf die Europäische Union, Art. III-294 ff. VVE. Er normiert Rechtsbindungen durch Europäische Beschlüsse des Rates nach Art. III-295 Abs. 2, III-297 Abs. 1, 2 und III-298 VVE. Einerseits mag dadurch zwar die Europäische Union nach außen als Handlungseinheit mit einheitlichen Verfahren und einheitlicher Rechtsnatur auftreten. Allerdings besteht weiterhin die Gefahr, dass die Europäische Union in ihrer Außenpolitik gegenüber den Bürgern nach innen uneinheitlich agiert. Die europäische Außenpolitik wird im Verfassungsvertrag nicht vergemeinschaftet; es werden lediglich die Formen der politischen Integration rechtlich normiert.854 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bleibt damit im Wesentlichen intergouvernemental ausgestaltet.855 Die Rechtsbindungen, die der Europäische Verfassungsvertrag im Bereich der Außenpolitik normiert, stellen faktisch auch zukünftig nicht mehr als die Dokumentation einer politischen Einigung der Mitgliedstaaten dar. Denn der Verfassungsvertrag behält das Konsensprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik im Europäischen Rat bei. Der „Rat für Auswärtige Angelegenheiten“ entscheidet nach Art. III-300 VVE grundsätzlich einstimmig.856 Damit bildet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Verfassungsvertrag den jeweiligen aktuellen Konsens der Mitgliedstaaten lediglich ab; der Konsens wird durch die Normierungen nicht erwirkt.857 Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof auf diesem Feld auch nicht die Gerichtsbarkeit nach Art. III-376 Abs. 1 VVE.858 Nationale Egoismen in der Au854 Zwar erstreckt sich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nach Art. I16 Abs. 1 VVE auf alle Bereiche der Außenpolitik und auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der gemeinsamen schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. Allerdings normiert der Verfassungsvertrag keine Verhaltenspflichten der Mitgliedstaaten, sondern konkretisiert im Wesentlichen Handlungsformen in Art. III-294 ff. VVE. Siehe dazu Hans-Joachim Cremer, EuGRZ 2004, S. 587 (589). 855 Risse, Integration 2003, S. 564 (567); Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (305); Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (51). 856 Allerdings sieht auch hier Art. III-300 Abs. 2 VVE eine Reihe von Beschlussfassungen mit qualifizierter Mehrheit vor. Siehe dazu Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (305). 857 Es fehlt für eine Integration durch Recht nach dem Verfassungsvertrag vor allem an hinreichend konkreten Inhalten, die durch ihre Verrechtlichung langfristig der Disposition der Mitgliedstaaten entzogen sind. Siehe dazu Hans-Joachim Cremer, EuGRZ 2004, S. 587 (589). 858 Allerdings hat der EuGH nach Art. III-376 Abs. 2 VVE die Zuständigkeit für die Überwachung restriktiver Maßnahmen nach Art. III-308 VVE und für Nichtigkeitsklagen nach Art. III-365 Abs. 4 VVE. Siehe dazu Hans-Joachim Cremer, EuGRZ 2004, S. 587 (589).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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ßenpolitik bleiben nach den Regelungen des Verfassungsvertrages weiterhin möglich, da kein Mitgliedstaat in diesem Bereich rechtlich in seine Schranken durch die Rechtsprechung des EuGH gewiesen werden kann. Dies behindert die Europäische Union und ihren Außenminister als internationalen Akteur.859 Im Fall nationaler außenpolitischer Alleingänge ist die Außenpolitik der Union nach innen für die Bürger weiterhin uneinheitlich; dies dürfte eine erfolgreiche gesamteuropäische Identitätsstiftung beeinträchtigen. Unter diesem Aspekt ist es bedauerlich, dass durch den Vertrag von Lissabon diesbezüglich keine Abhilfe geschaffen wurde und die entsprechenden Normierungen des Verfassungsvertrages als Art. 26 Abs. 2 EU n. F.860, Art. 28 Abs. 1 und 2 EU n. F.861, Art. 29 EU n. F.862, Art. 31 EU n. F.863, Art. 275 AEUV864 in das zukünftige Europarecht aufgenommen werden. cc) Konflikte Das Amt des Außenministers ist nach der Konzeption des Verfassungsvertrages außerdem in einem institutionellen System mit großem Konfliktpotential angesiedelt. Denn von dem zukünftigen Außenminister der Europäischen Union werden einerseits weitreichende Vorschläge und Aktivitäten im Sinne der Ziele der Union erhofft und es besteht angesichts seiner Neuschaffung und verstärkten Wahrnehmung bei den Bürgern ein hoher Erwartungshorizont. Der Außenminister ist aber nach dem Verfassungsvertrag nur mit begrenzten Verfahrensinstru859
Risse, Integration 2003, S. 564 (568). Diese Regelung enthält Modifikationen zu Art. III-295 Abs. 2. Siehe dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 31. 861 Diese Norm korrespondiert mit III-297 Abs. 1, 2. Siehe dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 32. 862 Diese Regelung war bereits in III-298 VVE enthalten. Siehe dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 33. 863 Diese Regelung entspricht Art. III-300 VVE. Siehe dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 33 f. 864 Diese Norm entspricht der Regelung des Art. 376 Abs. 1 VVE; siehe dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 166. Allerdings hat der EuGH nach Art. 275 AEUV, der III-376 Abs. 2 VVE entspricht, die Zuständigkeit für die Kontrolle der Einhaltung von Artikel 40 EU n. F. und für die unter den Voraussetzungen des Art. 263 AEUV erhobenen Nichtigkeitsklagen im Zusammenhang mit der Überwachung der Rechtmäßigkeit von Beschlüssen über restriktive Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen, die der Rat auf der Grundlage von Titel V Kapitel 2 des Vertrags über die Europäische Union erlassen hat. Siehe hinsichtlich der korrespondierenden Regelungen des Verfassungsvertrages Hans-Joachim Cremer, EuGRZ 2004, S. 587 (589). 860
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
menten ausgestattet.865 Er soll überdies gleichzeitig als Vorsitzender des Rates für Auswärtige Angelegenheiten für einen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten sorgen. Der zukünftige Außenminister muss damit sehr unterschiedliche politische Interessen der Mitgliedstaaten, die verschiedenen Ressorts der Europäischen Kommission und die dahinter stehenden unterschiedlichen Interessennetzwerke zusammenbringen.866 Daher kann bezweifelt werden, ob die vordergründige Einheitlichkeit der Funktionen des Außenministers als Vizepräsident der Kommission die Schwäche seiner Verfahrensinstrumente ausgleichen kann.867 Außerdem lässt das institutionelle Gefüge der Außenvertretung der Europäischen Union im Verfassungsvertrag einige institutionelle Konflikte zwischen dem Außenminister und anderen Führungspersonen der Union vermuten. Nach Art. I-27 Abs. 1 S. 1 VVE leitet der Außenminister die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik. Der Präsident des Europäischen Rates nimmt nach Art. I22 Abs. 2 UA 2 VVE ebenfalls die Außenvertretung der Union in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahr. Daher besteht eine erhebliche Gefahr für Kompetenz-Streitigkeiten zwischen den beiden im Bereich der Außenvertretung der Union.868 Zwar versucht Art. I-22 Abs. 2 VVE das Risiko eines Kompetenzkonflikts zu entschärfen, indem der Präsident des Europäischen Rates nach Art. I-22 Abs. 2 VVE nur „in seiner Eigenschaft auf seiner Ebene“ und „unbeschadet der Befugnisse des Außenministers“ tätig werden soll.869 Allerdings kann der Präsident des Europäischen Rates nach Art. III-295 Abs. 1 UA 2 VVE außerordentliche Sitzungen einberufen, wenn eine „internationale Entwicklung dies erfordert“, um die strategischen Vorgaben der Union festzulegen. Damit hat auch der Präsident des Europäischen Rates im Bereich der Außenpolitik eine aktive Gestaltungsrolle inne. Er nimmt nicht nur formal die Außenvertretung der Union wahr.870 Darüber hinaus muss der Präsident des Europäischen Rates bei der Wahrnehmung dieser Funktion auf die Expertise und den Stab des Außenministers zurückgreifen.871 Deshalb ist wegen der inter- und intra-institutionellen Span865 Wessels, Integration 2003, S. 284 (294); kritisch zu dieser Konzeption auch Scholl, Integration 2003, S. 204 (210). 866 Wessels, Integration 2003, S. 284 (294). 867 Griller, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 41 (55). 868 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 47 f. Siehe dazu auch Vernet, EuGRZ 2004, S. 584 (586); Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag S. 156 f. 869 Daher wäre es denkbar, dem Präsidenten des Europäischen Rates eine rein formale Außenvertretungszuständigkeit im Sinne eines Repräsentanten ohne eigene politische Leitungsmacht zuzuweisen. Siehe zu diesem Gedanken Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 48. 870 Jopp/Regelsberger, Integration 2003, S. 550 (561). 871 Jopp/Regelsberger, Integration 2003, S. 550 (561).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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nungsfelder davon auszugehen, dass vor allem die Außenpolitik der Europäischen Union zu einer Arena intensiver Kompetenzstreitigkeiten zwischen den einzelnen Schlüsselfiguren wird.872 Konflikte zwischen dem Außenminister und dem Präsidenten des Europäischen Rates sind nach den Art. I-27 Abs. 1, I-22 Abs. 2 VVE, Art. III-295 Abs. 1 UA 2 VVE wahrscheinlich. Diesbezüglich fällt auch besonders ins Gewicht, dass der Präsident des Europäischen Rates keiner rechtlichen Kontrolle durch den Gerichtshof oder durch das Parlament unterliegt. Das einzige Kontrollorgan für Handlungen des Ratspräsidenten ist der Europäische Rat selbst, dessen Kontrollausübung gegenüber seinem Präsidenten ebenfalls nicht der gerichtlichen Kontrolle untersteht.873 Schließlich verkompliziert der Verfassungsvertrag die Außenvertretung der Union noch zusätzlich, indem außerhalb des Bereichs der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die Kommission weiterhin die Außenvertretung wahrnimmt gemäß Art. I-26 Abs. 1 VVE.874 Wegen der Einschränkung des Art. I-28 Abs. 2 ist von dem Grundsatz auszugehen, dass der Außenminister der Union nur dann den Vorzug vor der Kommission erhält, wenn es sich tatsächlich um eine Angelegenheit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik handelt.875 d) Ergebnis Der Verfassungsvertrag verwirklicht eine verstärkte Personalisierung der unionalen Institutionen.876 Vor allem Politiker in Schlüsselpositionen erhalten zusätzliche Profilierungs- und Einflussmöglichkeiten. Der Erfolg einer Identitätsstiftung ist aber angesichts der drohenden Loyalitätskonflikte und der schwach ausgeprägten Verfahrensinstrumente kritisch zu beurteilen.877 Das Nebeneinander von Präsident des Europäischen Rates, Kommissionspräsident und Außenminister kann für die Bürger diffus sein.878 Es ist offen, ob eine überzeugende Personalisierung der europäischen Politik in diesem Dreieck gelingen wird.879 872
Wessels, Integration 2003, S. 284 (295). Siehe dazu Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 157. 874 In diesem Zusammenhang wird die Einschränkung der Zuständigkeit des Außenministers auf die Gemeinsame Außen-, Sicherheits-, und Verteidigungspolitik relevant. Denn außerhalb davon gilt Art. III-327 Abs. 2 VVE für die Beziehungen der Union zu internationalen Organisationen. Demzufolge sind sowohl der Außenminister als auch die Kommission zuständig. Siehe dazu Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 48; Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 156 f. 875 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 95. 876 Wessels, Integration 2003, S. 284 (295). 877 Siehe dazu auch Scholl, Integration 2003, S. 204 (210). 878 So Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (64). 879 So von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). 873
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Dies ist davon abhängig, ob es den jeweiligen Akteuren gelingt, in der Praxis ein klares Repräsentationsschema für die Europäische Union zu entwickeln. Die institutionellen Neuerungen des Verfassungsvertrages weisen ein hohes Potential für inter-institutionelle Spannungen auf. Der Verfassungsvertrag enthält weder eine klare Hierarchie noch eine klare Kompetenzverteilung.880 Der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik ist auch nach dem Vertrag von Lissabon nur mit begrenzten Verfahrensinstrumenten ausgestattet. Insofern haben sich gegenüber dem Verfassungsvertrag durch den Vertrag von Lissabon kaum Änderungen ergeben. Nach Art. 18 Abs. 2 EU n. F.881 leitet der Hohe Vertreter die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und der Präsident des Europäischen Rates nimmt nach Art. 15 Abs. 6 UA 2 EU n. F.882 weiterhin die Außenvertretung der Union in der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik wahr. Konflikte zwischen dem Hohen Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik und dem Präsidenten des Europäischen Rates bleiben damit auch nach den Neuregelungen der Art. 18 Abs. 2 EU n. F.883, Art. 15 Abs. 6 UA 2 EU n. F.884, Art. 26 Abs. 1 EU n. F.885 durch den Vertrag von Lissabon wahrscheinlich. Allerdings führt der Vertrag von Lissabon hinsichtlich der Außenvertretung der Union gegenüber dem Verfassungsvertrag zu Verbesserungen. Der Verfassungsvertrag hatte die Außenvertretung der Union noch zusätzlich verkompliziert, indem er regelte, dass außerhalb des Bereichs der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die Kommission weiterhin die Außenvertretung gemäß Art. I-26 Abs. 1 VVE wahrnimmt, so dass sowohl die Zuständigkeit des Außenministers als auch der Kommission gegeben waren.886 Der Vertrag von Lissabon hebt dagegen die Einschränkung der Zuständigkeit des Hohen Vertreters auf die Gemeinsame Außen-, Sicherheits-, und Verteidigungspolitik in Art. III-327 Abs. 2 VVE für die Beziehungen der Union zu internationalen Organisationen auf. Diesbezüglich regelt der Vertrag von Lissabon nunmehr in dem neuen Art. 220 Abs. 1 und 2 AEUV887, dass allein der
880
Schoutheete, Integration 2003, S. 468 (479). Diese Norm entspricht Art. I-28 Abs. 2 VVE. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 26. 882 Diese Norm entspricht der Regelung des Art. I-22 Abs. 2 UA 2 VVE. Vgl. dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 23. 883 Diese Norm entspricht Art. I-28 Abs. 2 VVE. 884 Diese Norm entspricht der Regelung des Art. I-22 Abs. 2 UA 2 VVE. 885 Diese Regelung entspricht Art. III-295 Abs. 1 UA 2 VVE. Vgl. dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 31. 886 Siehe dazu Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 48; Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 156 f. 881
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Hohe Vertreter die Beziehungen zu anderen internationalen Organisationen unterhält. Insofern vereinfacht der Vertrag von Lissabon die Außenvertretung der Union gegenüber der Regelung des Verfassungsvertrages. Im Falle einer positiven Entwicklung wäre damit zumindest eine teilweise Personalisierung der Ergebnisverantwortung und Transparenz für die Bürger ersichtlich. Im Fall massiver Spannungen und Auseinandersetzungen würde die Union dagegen nach innen uneinheitlich auftreten und es wäre nicht mehr deutlich, wofür die Europäer politisch stehen. Eine solche Entwicklung würde zu einer uneinheitlichen Selbstwahrnehmung der Europäer als Gruppe führen und so die Ausprägung einer kollektiven europäischen Identität behindern.888 Beide Entwicklungen scheinen nach dem derzeitigen Stand möglich zu sein, eine sichere Beurteilung der Lage ist daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Es bleibt die zukünftige Praxis der Außenpolitik der Europäischen Union abzuwarten. II. Übersichtlichkeit der politischen Entscheidungsverfahren Ziel des Verfassungskonvents war es, die Verfahrenskomplexität der Europäischen Union auf einige wenige Verfahren zu reduzieren.889 1. Integration durch Zuständigkeitsabgrenzungen In einem System, in dem politische Herrschaft auf mehreren Ebenen ausgeübt wird, ist eine klare Zuständigkeitsabgrenzung essentiell.890 Ein weiteres Element des Demokratiedefizits besteht daher in den Schwächen der Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten. Der Hauptmangel der Zuständigkeitsabgrenzungen nach geltendem Primärrecht ist deren Unklarheit und ihre mangelnde Transparenz für den Bürger.891 Eine gezielte Regelung der Kompetenzverteilung muss wegen der schwach profilierten europäischen Identität darauf abzielen, die Entscheidungskompetenz in den Bereichen, in denen auf der unionalen Ebene keine allgemein akzeptierbaren Entscheidungen möglich sind, an niedrigere Ebenen zu delegieren.892 Dies wäre das geeignete Mittel, um verfassungspolitisch innere Spannungen ei887 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 147. 888 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). 889 Wessels, Integration 2003, S. 284 (288). 890 Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (63). 891 Fischer, FS für Mantl II, S. 991 (1003 f.). 892 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 159 f.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
nes Gemeinwesens aufzufangen und einen „Aufstand der Provinzen“ zu verhindern.893 So kann die in Krisenzeiten stets vorhandene Tendenz zur Renationalisierung und verstärkten Identifikation mit kleineren Regionen bei den Bürgern verfassungsrechtlich abgemildert werden.894 Eine föderale Abgrenzung der Zuständigkeiten fällt auch in den von Smend angesprochenen Bereich der funktionellen Integration. Danach wird die Identifikation der Bürger mit den einzelnen Teileinheiten genutzt, um ihre Identifikation mit dem Gesamtsystem zu erhöhen.895 Unter diesem Aspekt ist es maßgeblich, wie im Europäischen Verfassungsvertrag die Arten der Zuständigkeiten festgelegt und im Wege eines Kompetenzkataloges nach Art. I-11 ff. VVE inhaltlich bestimmt werden. Die Kompetenzordnung ist die sachlegitimatorische Grundlage und Grenze unionaler Hoheitsausübung und sonstiger Maßnahmen.896 2. Kompetenzkatalog Die Gliederung des Zuständigkeitstitels der Art. I-11 ff. VVE ist klar und führt lehrbuchartig vom Allgemeinen zum Speziellen.897 Art. I-11 VVE führt zunächst die Grundprinzipien der Zuständigkeitsabgrenzungen an.898 Die Arten der Zuständigkeiten werden darauf in Art. I-12 VVE festgelegt899 und in den Art. I-13 ff. VVE katalogartig im Einzelnen aufgeführt. Die ausdrückliche Aufteilung zwischen ausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten analogisiert die Unterscheidung der Art. 70 ff. GG zwischen ausschließlichen und konkurrierenden Zuständigkeiten von Bund und Ländern.900 Sie ist Ausdruck des föderativen Charakters der Europäischen Union.901 Neu ist die Klarstellung des Art. I-11 893
Lübbe, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 191 (194). Siehe zu dieser Tendenz bereits oben S. 319 ff. 895 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 155. 896 Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (306). 897 So vertreten von Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (546 f.). 898 Dies ist nach Art. I-11 Abs. 1 VVE der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung; in Art. I-11 Abs. 3 VVE wird das Subsidiaritätsprinzip und in Art. I-11 Abs. 4 VVE der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genannt. Neu ist in diesem Zusammenhang, dass für die Subsidiaritätsprüfung nicht nur die zentrale Ebene der Mitgliedstaaten heranzuziehen ist, sondern auch deren regionale und kommunale Ebene; Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 137. 899 Die ausschließliche Zuständigkeit wird in Art. I-12 Abs. 1 VVE normiert. Art. I-12 Abs. 2 VVE regelt die geteilte Zuständigkeit. Weitere Zuständigkeitsabgrenzungen finden sich in den Abs. 3–6. 900 Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (306). 901 Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (306). In diesem systematisierenden und daher sowohl übersichtlichen wie ansprechenden Aufbau vom abstrakt Allgemeinen zum abstrakt Speziellen wird aber auch ein Problem für die Schwellenbildung im Hinblick auf den öffentlichen Zugang und die viel geforderte „emotionale“ Aufnahme durch den Unionsbürger gesehen. Siehe dazu Müller-Graff, Integration 2003, S. 111 (122). 894
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Abs. 2 S. 2 VVE. Demzufolge verbleiben alle Kompetenzen, die nicht ausdrücklich der Union übertragen sind, bei den Mitgliedstaaten.902 Damit wendet sich der Verfassungsvertrag explizit gegen ein absolutes Souveränitätsverständnis im Sinne Hermann Hellers, wonach Zuständigkeitsaufteilungen zwischen verschiedenen Ebenen nicht möglich sind.903 Allerdings sind die in Art. I-13 ff. VVE genannten Politikbereiche relativ unbestimmt gehalten und im Fall der geteilten Zuständigkeiten des Art. I-14 VVE auch nicht abschließend aufgezählt. Die Regelung der Zuständigkeiten im Einzelnen ist erst über 200 Artikel weiter in Teil III des Verfassungsvertrages enthalten.904 Damit wurde die Forderung nach Vereinfachung und mehr Transparenz in der Zuständigkeitsregelung der Europäischen Union nur unzureichend erfüllt.905 Dies ist unter dem Gesichtspunkt einer erfolgreichen Identitätsstiftung prekär. Bereits in der Integrationslehre Rudolf Smends findet sich die Erkenntnis, dass Zuständigkeitserweiterungen des Bundesstaates nicht notwendig unitarisch wirken müssen, sondern durch „Überspannung“ auch das Gegenteil bewirken können.906 Dies wird durch die Eurobarometer-Umfragen bestätigt. Bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt geben 46% der Bürger an, nicht zu verstehen, wie die Europäische Union arbeitet.907 Eine immer weiter gehende Verlagerung wesentlicher Entscheidungsprozesse auf die Europäische Union führt zu einer erheblichen Bürgerferne, weil die Entscheidungsprozesse aufgrund der zentralen Stellung des Rates innerhalb der Union exekutivlastig sind.908 Eine generalklauselartige Auflistung der Zuständigkeiten der Union wäre jedoch in rechtlicher Hinsicht nicht möglich. Eine kompetenzabgrenzende Generalklausel würde gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung des Art. I-11 Abs. 1 S. 1 VVE verstoßen. Dieser zentrale Grundsatz des europäischen Primärrechts kann nur durch eine akribische Auflistung und Umschreibung der einzelnen Zuständigkeiten verwirklicht werden. Im Ergebnis wird das Ziel einer klaren Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beschränkt.
902 Dies ist eine Generalklausel zugunsten der Mitgliedstaaten; vgl. dazu Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 137. 903 Siehe dazu oben S. 143 f. 904 In Teil III des Verfassungsvertrages wurde der Kompetenzbestand der Union zusammengetragen und sortiert; Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (755). 905 So auch Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (755). 906 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (165). Siehe dazu auch oben S. 171 f. 907 Dem stehen 46% gegenüber, die dieser Aussage nicht zustimmen; vgl. Eurobarometer 65, S. 107 ff. 908 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (544).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Dies ändert auch der Vertrag von Lissabon nicht, der im Wesentlichen die Normierungen der Art. I-11 ff. VVE beibehält.909 Art. 5 EU n. F.910 soll danach ebenfalls die Grundprinzipien der Zuständigkeitsabgrenzungen normieren.911 Es werden aber aufbautechnische und inhaltliche Änderungen gegenüber den Regelungen des Verfassungsvertrages vorgenommen.912 Die Festlegung der Zuständigkeiten wird zum einen in Art. 2 AEUV geregelt913 und in den Art. 3 ff. AEUV914 im Einzelnen normiert. Zum anderen sollte im Reformvertrag eindeutig angegeben werden, dass alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben und dass die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit wieder wahrnehmen können, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeit nicht mehr auszuüben.915 Neu ist daher die Klarstellung des Art. 2 Abs. 2 S. 2, 3 AEUV, wonach die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit wieder wahrnehmen können, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeit nicht oder nicht mehr auszuüben.916
909 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 16 f., 25. 910 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 18. 911 Dies ist nach Art. 5 Abs. 1 EU n. F. der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung; in Art. 5 Abs. 3 EU n. F. wird das Subsidiaritätsprinzip und Art. 5 Abs. 4 EU n. F. der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genannt. Neu ist in diesem Zusammenhang, dass für die Subsidiaritätsprüfung nicht nur die zentrale Ebene der Mitgliedstaaten heranzuziehen ist, sondern auch deren regionale und kommunale Ebene; Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 18. Siehe bezüglich der entsprechenden Normierung des Art. I-11 VVE Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 137. 912 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 20. 913 Die ausschließliche Zuständigkeit wird in Art. 2 Abs. 1 AEUV normiert. Art. 2 Abs. 2 AEUV regelt die geteilte Zuständigkeit. Weitere Zuständigkeitsabgrenzungen finden sich in den Abs. 3–6. Vgl. zu den einzelnen Regelungen Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 50. 914 Diese Normierungen entsprechen Art. I-13 ff. VVE. Siehe dazu auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 51 ff. 915 Siehe ausführlich dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium. europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 25 und S. 20 v. a. Fn. 10. 916 Siehe ausführlich dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium. europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 25 und S. 20 v. a. Fn. 10; Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 50.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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3. Rechtliche Handlungsformen Der Verfassungsvertrag regelt in Art. I-33 VVE die rechtlichen Handlungsformen. Deren Neuregelung sollte ebenfalls zu einer größeren terminologischen Klarheit führen.917 Als Gesetzgebungsakte sind in Art. I-33 Abs. 1 UA 2, 3 VVE das Europäische Gesetz918 sowie das Rahmengesetz919 vorgesehen. Verbindliche Rechtsakte ohne Gesetzescharakter sind nach Art. I-33 Abs. 1 UA 3, 4 VVE die Europäische Verordnung920 und der Europäische Beschluss.921 Empfehlungen und Stellungnahmen sind wie bisher gemäß Art. I-33 Abs. 1 UA 5 VVE nicht verbindlich. In Art. I-36 VVE und in Art. I-37 VVE werden weitere Sonderformen rechtlicher Handlungsweisen normiert. Allerdings sind auch hier die einzelnen Sprachfassungen des Verfassungsvertrages untereinander nicht homogen. Der Rechtsakttyp des Europäischen Beschlusses wird nur in der deutschen Fassung des Verfassungsvertrages neu bezeichnet. In den anderen Sprachfassungen wird der bisherige Begriff weiter verwendet.922 Dadurch wird das in Art. I-33 VVE grundsätzlich klare Bild der Handlungsformen getrübt.923 Aus diesem Grund ist es zu begrüßen, dass der Vertrag von Lissabon in Art. 288 AEUV die Bezeichnungen „Gesetz“ und „Rahmengesetz“ wieder aufgegeben hat und die bestehenden Bezeichnungen „Verordnung“ und „Richtlinie“ beibehalten werden.924 Lediglich für die bisherige Entscheidung wird der Begriff des „Be-
917 Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (33). 918 Dies entspricht der bisherigen Verordnung nach Art. 249 EG. 919 Dabei handelt es sich um die derzeitige Richtlinie i. S. d. Art. 249 EG. 920 Die Europäische Verordnung hat kein Pendant im bisherigen Primärrecht. Sie weist außerdem einen Doppelcharakter als unmittelbar anwendbare oder durch die Mitgliedstaaten noch umzusetzende Norm auf. Siehe dazu Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (34); Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 184. 921 Der Europäische Beschluss entspricht der bisherigen Entscheidung i. S. d. Art. 249 EG. Allerdings kann der Europäische Beschluss generell oder individuell wirken. Siehe dazu Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EUVerfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (34); Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 184. 922 So verwendet die englische Fassung den Begriff „european decision“ und die französische Fassung den Begriff „décision européene“. Siehe dazu Wolfram Cremer, EuGRZ 2004, S. 577 (578). 923 Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (34). 924 Siehe zum Mandat der Regierungskonferenz Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http:// www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07. 2007), S. 19, 22. Siehe zur Regelung selbst Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 171 f.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
schlusses“ in Art. 288 AEUV eingeführt.925 Durch die Rückkehr zu den Begrifflichkeiten „Verordnung“ und „Richtlinie“ sollte vor allem verdeutlicht werden, dass die weiter bestehenden und durch den Vertrag von Lissabon zu ändernden Verträge gerade keinen Verfassungscharakter in formeller Hinsicht haben sollen. 4. Subsidiaritätsprinzip Die Einbindung von Partikularinteressen verhindert in einem föderalen System ein zentrifugales Auseinanderdriften gesellschaftlicher, religiöser oder ethnischer Kräfte. Wenn man unterschiedlichen Gruppierungen politische Gestaltungsräume zugesteht, kann durch deren Einbindung ein Zerfall des Gemeinwesens in Konfliktsituationen verhindert werden.926 Aus diesem Grund forcierte auch Smend in seiner Integrationslehre den Erhalt regionaler Identitäten.927 Mit dem Grundsatz der Subsidiarität in Art. 5 EG bzw. Art. I-11 Abs. 3 VVE hat ein föderales Element Eingang in das europäische Primärrecht gefunden, welches vor allem die Achtung der mitgliedstaatlichen bzw. nationalen Identität stützt.928 Allerdings wurden bisher dessen schwache Justiziabilität929 und das demokratische Defizit hinsichtlich der Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips bemängelt.930 Eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsvertrag könnte daher desintegrative Prozesse auf lokaler und regionaler Ebene in der Europäischen Union abmildern.931 Das Subsidiaritätsprinzip wurde in Art. I-11 Abs. 3 UA 2 VVE i.V. m. dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit932 ausgebaut. Nach Art. 2 des Protokolls führt die Kommission umfangreiche Anhörungen durch, bevor sie die Initiative zu einem Europäischen Gesetzgebungsakt ergreift. Dabei ist vor allem auch der lokalen und regionalen Bedeutung der Maßnahmen Rechnung zu tragen. Weiterhin sieht das genannte Protokoll eine stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente in den Normgebungsprozess vor. Nach Art. 4 des Protokolls leitet die Kommission ihre Ent925 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 171 f. 926 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 253. 927 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (226 ff.). Siehe dazu ausführlich oben S. 162 f. 928 Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 (2 Fn. 6). 929 Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 255. 930 Fischer, FS für Mantl II, S. 991 (1003 f.). 931 So Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163 (181). 932 Wenn im Folgenden von Artikeln „des Protokolls“ die Rede ist, ist damit das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gemeint.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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würfe für Europäische Gesetzgebungsakte den nationalen Parlamenten und gleichzeitig dem Unionsgesetzgeber zu. Gesetzesentwürfe müssen nach Art. 5 des Protokolls eine Begründung hinsichtlich der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit enthalten. Die nationalen Parlamente haben dann die Gelegenheit zu einer begründeten Stellungnahme nach Art. 6 des Protokolls, die gemäß Art. 7 auch berücksichtigt werden muss. Damit wird durch das Verfahren zur Subsidiaritätskontrolle ein neuer Mechanismus zur Verhinderung inakzeptabler Mehrheitsentscheidungen geschaffen.933 In Art. 8 Abs. 1 des Protokolls i.V. m. Art. III-365 VVE ist eine Erweiterung der Klagemöglichkeit eines Mitgliedstaates wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip vorgesehen. Zur verstärkten Sicherung regionaler Zuständigkeiten ist nach Art. 8 Abs. 2 des Protokolls i.V. m. Art. III-365 VVE auch ein Klagerecht für den Ausschuss der Regionen wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips folgerichtig. Durch das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit wird eine Stellungnahme und ein Klagerecht mitgliedstaatlicher legislativer Kompetenzträger in einer unionalen Rechtsmäßigkeitskontrolle erstmals normiert.934 Diese Regelungen sind unter dem Aspekt der Bündelung desintegrativer regionaler Elemente wegen der Heterogenität Europas sinnvoll. Die Etablierung eines Frühwarnmechanismus für die nationalen Parlamente und ihre Kammern935 kann integrativ wirken.936 Denn dieser Mechanismus verrechtlicht und versachlicht eventuelle Kompetenzkonflikte der kleineren regionalen und nationalen Einheiten mit der Europäischen Union. Der Europäische Gerichtshof fungiert diesbezüglich als ein neutrales und von allen Seiten anerkanntes Streitschlichtungsorgan und hilft so, die Eskalation von Konflikten zu vermeiden. Die Klagemöglichkeit zum Europäischen Gerichtshof wird aber erst effektiv, wenn in das Subsidiaritätsprinzip selbst justiziable materiell rechtliche Strukturen einbezogen werden.937 Es bleibt abzuwarten, ob der Subsidiaritätsgrundsatz in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes auch tatsächlich als justiziabel angesehen wird. Abschließend ist anzumerken, dass das neue Verfahren zur Subsidiaritätskontrolle unter dem Aspekt der Transparenz und Identitätsstiftung nicht ohne Schwierigkeiten ist. Denn mit diesen Beteiligungsrechten der 933
Hurrelmann, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 163
(182). 934
Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (311). In der Bundesrepublik Deutschland betrifft dies den Bundestag und den Bundesrat. Die Einbeziehung des Bundesrates ist aus Sicht der deutschen Bundesländer eine bemerkenswerte Verbesserung; Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (540). 936 Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (38). 937 So zutreffend Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (756); zurückhaltender Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (38). 935
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
nationalen Parlamente wird für den einzelnen Bürger die Verfahrenskomplexität erneut erhöht. Die Zuordnung der politischen Ergebnisverantwortung ist für die Bürger undurchschaubarer als nach bisherigem Primärrecht.938 5. Ergebnis Der Verfassungsvertrag verringert die Vielzahl der Gesetzgebungsverfahren von 50 auf 48.939 Insgesamt bleibt der Grad der Verfahrensdifferenzierung damit weiterhin trotz einer einheitlichen Rechtsbasis und gleicher Rechtsinstrumente sehr hoch.940 Daher dürfte vieles, was auf den ersten Blick als transparenzfördernde Vereinfachung erscheint, in der Rechtswirklichkeit zu weiterer Intransparenz führen und damit die Erwartungen der Bürger nach Vereinfachung enttäuschen.941 Die Komplexität des Verfassungsvertrages war bereits für 18% der Bürger ein Grund, den Europäischen Verfassungsvertrag abzulehnen.942 Die fortbestehende Intransparenz der Europäischen Union wirkt als Hindernis für die Stiftung europäischer Identität bei den Bürgern. Auch der Vertrag von Lissabon wird die Unübersichtlichkeit der Union für die Bürger kaum beseitigen. Das Subsidiaritätsprinzip wurde im Vertrag von Lissabon zwar nach dem Vorbild der Regelungen des Verfassungsvertrages in Art. 5 Abs. 3 EU n. F.943 in Verbindung mit dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit normiert, so dass das zum Verfassungsvertrag Gesagte auch hier gilt. Allerdings reduziert auch der Vertrag von Lissabon die Verfahrenskomplexität nicht weiter. Art. 12 EU n. F.944, 69 AEUV945 enthalten sogar eine Erweiterung der Verfahren gegenüber dem Verfassungsvertrag. Danach sollen die nationalen Parlamente dafür sorgen, dass der Grundsatz der Subsidiarität gemäß dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachtet wird.946 938
So auch Wessels, Integration 2003, S. 284 (293). Siehe zu einer ausführlichen Übersicht der Verfahrenskomplexität hinsichtlich des Verfassungsvertragsentwurfs Wessels, Integration 2003, S. 284 (290). 940 Wessels, Integration 2003, S. 284 (288). 941 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). 942 Eurobarometer 63, S. 148. 943 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 18. 944 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 21. 945 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 74. 946 Siehe dazu das Mandat der Regierungskonferenz zur Ausarbeitung eines Reformvertrages Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ue Docs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 26. 939
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Außerdem wird ein gegenüber dem Verfassungsvertrag verstärkter Subsidiaritätskontrollmechanismus vorgesehen. Demzufolge nimmt die Kommission bei Anfechtung eines Gesetzgebungsentwurfs durch die nationalen Parlamente eine Überprüfung des betreffenden Entwurfs vor. Sie kann in diesem Zusammenhang beschließen, den betreffenden Gesetzesentwurf beizubehalten, zu ändern oder zurückzuziehen, Art. 7 Abs. 2 UA 1 des geänderten Protokolls.947 Diese neue Regelung erhöht die Verfahrenskomplexität wiederum und birgt darüber hinaus die Gefahr einer Blockade der europäischen Gesetzgebungsverfahren durch die nationalen Parlamente. Sie ist aus Sicht einer erfolgreichen Identitätsstiftung daher nicht zu begrüßen. Die fortbestehende Intransparenz der Europäischen Union wirkt damit als Hindernis für die Stiftung europäischer Identität bei den Bürgern. III. Demokratisches Leben in der Union Der Verfassungsvertrag nimmt in den Art. I-45 ff. VVE weitere Elemente der im ersten Teil dieser Arbeit erörterten Integrationsmodelle auf. Sowohl bei denjenigen, die in der Tradition Smends948 einen Verfassungspatriotismus949 vertreten, als auch bei den Vertretern eines Liberalismus950 wird als ein wesentliches Element der kollektiven Identitätsfindung die Einbeziehung der Bürger in die politische Willensbildung angesehen. Positivrechtliche Anwendungsmöglichkeiten des Verfassungspatriotismus ergeben sich in Form der Etablierung von Elementen direkter Demokratie in einer Verfassung. Diese ermöglichen eine Artikulation der Präferenzen der Bürger in einzelnen Personal- und Sachfragen.951 Demzufolge müssen die in einer Verfassung geregelten politischen Verfahren so ausgestaltet werden, dass sich die Bürger als Mitglieder in einer staatsbürgerlichen Gemeinschaft erleben und sich mit ihr identifizieren.952 Eine Einbeziehung der Bürger in demokratische Verfahren wurde im Hinblick auf die Ermöglichung sozialpsychologischer Kategorisierungsprozesse als Modus mittelbarer Identitätsstiftung durch ein Verfassungsdokument hervorgehoben.953 Demzu947 Siehe ausführlich zu dem Subsidiaritätskontrollmechanismus Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec /94935.pdf (07.07.2007), S. 17 und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 206 ff. 948 In der Integrationslehre wird die Einbeziehung der Bürger durch Wahlen im Rahmen der funktionellen Integration beschrieben. Siehe dazu oben S. 157 f. 949 Siehe dazu oben S. 184 ff.; 216 ff. 950 Siehe zum Liberalismus oben S. 207 ff. 951 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (178); Lübbe-Wolff, VVDStRL 60 (2001), S. 246 (275). 952 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 156. 953 Siehe allgemein zum Modus mittelbarer Identitätsstiftung oben S. 193 f.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
folge dienen Elemente direkter Demokratie in einer Verfassung einer selbstreflexiven Identitätsstiftung durch öffentliche Diskurse.954 In den Art. I-45 ff. VVE wird ein Schwerpunkt auf eine aktivere Beteiligung der Bürger gelegt. Titel VI des Ersten Teils des Verfassungsvertrages ist mit der Überschrift „Das demokratische Leben der Union“ versehen. Die Art. I-45 ff. VVE intendieren das Leitbild des aktiven Bürgers, dessen Freiheitsgebrauch gefördert werden soll. Dahinter steht das Bemühen, Bürgernähe herzustellen und die Praxis des gesellschaftlichen Dialogs rechtlich zu untermauern.955 Die Art. I-45 ff. VVE sind auf eine Identitätsbildung mittels politischer Einbeziehung der Bürger durch direkt-demokratische Elemente ausgerichtet.956 Diese Ausrichtung erscheint angesichts der Umfragen von Eurobarometer zur Einbeziehung der Bürger auch notwendig. Denn 72% der Bürger in der Europäischen Union fühlen sich nach einer Umfrage aus dem Herbst 2005 nicht in die europäischen Angelegenheiten eingebunden. Fast die Hälfte würde gern mehr an den politischen Prozessen auf der Ebene der Europäischen Union teilnehmen.957 Außerdem sind 40% der Bürger nach einer Umfrage aus dem Frühjahr 2003 der Meinung, dass ihr Einfluss in der Europäischen Union vergrößert werden sollte.958 Daher stellt sich die Frage, wie der Verfassungsvertrag das Leitbild des aktiven Bürgers normativ in den Art. I-45 ff. VVE umsetzt. 1. Grundsatz der repräsentativen Demokratie Nach Art. I-46 Abs. 1 VVE beruht die Arbeitsweise der Europäischen Union auf dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie. Die Bürgerinnen und Bürger werden gemäß Art. I-46 Abs. 2 UA 1 VVE unmittelbar im europäischen Parlament vertreten und haben nach Art. I-46 Abs. 3 S. 1 VVE das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen. Damit verbürgt der Verfassungsvertrag zwar grundsätzlich Teilnahmerechte der europäischen Bürger. Diese haben aber normativ kaum Bestand. Denn Art. I-46 Abs. 3 S. 2 VVE schränkt die Anwendung der Grundsätze der Transparenz und Bürgernähe durch unbestimmte Rechtsbegriffe ein. Es wird lediglich festgelegt, dass die Entscheidungen nur so offen und bürgernah wie möglich getroffen werden sollen.959 Insofern handelt es sich nicht um harte Selbstverpflichtungen der Europäischen Union, sondern um vage Absichtserklärungen, die kaum justiziabel sind.
954 955 956 957 958 959
von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (178). Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 57. von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). Eurobarometer 64, S. 35, 37. Eurobarometer 59, S. 88. Siehe dazu Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 200.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Auf eine Einbindung der Bürger ist auch Art. I-46 Abs. 4 VVE ausgerichtet. Dieser Norm zufolge tragen die Parteien zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger bei.960 Damit wird der Zusammenhang zwischen einer aktiven Teilnahme der Bürger am Integrationsprozess und der Entstehung politischer Identität deutlich.961 Diese Bestimmung enthält keine wesentliche Neuerung gegenüber dem bisherigen Primärrecht. Der Beitrag der Parteien zur Willensbildung wird darüber hinaus in Art. II-72 Abs. 2 VVE angesprochen.962 Parlamentarische Demokratie ist weder auf nationaler noch auf supranationaler Ebene ohne Parteien denkbar.963 Parteien, Interessenverbände, zivilgesellschaftliche Vereinigungen und Medien, die eine politische Öffentlichkeit konstituieren und die Entscheidungen von EU-Organen vorstrukturieren und kontrollieren könnten, sind auf europäischer Ebene nur schwach ausgeprägt.964 Das weitgehende Fehlen von europäischen Parteien ist Ausdruck und gleichzeitig auch Grund für das demokratische Defizit auf der Ebene der Europäischen Union.965 Daher wird vertreten, dass eine demokratische Verfassung für die Europäische Union allenfalls demokratische Formen aber keine demokratische Substanz garantieren könne. Denn der demokratische politische Prozess erschöpft sich nicht in allgemeinen Wahlen. Wesentlich für ihn ist ein dichtes Gefüge von Partizipationsstrukturen, wodurch die Bürger am demokratischen Prozess aktiv teilnehmen können.966 Parteien fungieren als Bindeglied zwischen einem Gemeinwesen und seinen Bürgern. Ihre zentrale Aufgabe liegt in der Kommunikation politischer Inhalte und der Bündelung vielfältiger Interessen.967 Der Verfassungsvertrag hebt durch die Stärkung des Europäischen Parlaments mittelbar die Bedeutung der Parteien insbesondere auch im Hinblick auf die 960 Die Rolle der politischen Parteien wurde erstmals durch den Vertrag von Maastricht auf europäischer Ebene verankert. 961 Dieser Zusammenhang findet sich auch in der Integrationslehre Smends, wo auf die Bedeutung der Parteien im Integrationsprozess hingewiesen wird; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (190). Allerdings sind nach Smend weder die Parteien noch die Fraktionen zur Mitarbeit bei Koalitions- und Kabinettsbildungen verpflichtet; ihnen sind nur negative Schranken in dem Sinne gezogen, die integrierenden Vorgänge nicht im Widerspruch zu Verfassung und Geschäftsordnung zu stören, etwa durch Obstruktion. Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (248). 962 Dieser Artikel gehört systematisch zu den „Bürgerrechten“; Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 13 (18). 963 Leinen/Schönlau, Integration 2003, S. 218 (218). 964 Siehe ausführlich zu diesem Gedankengang Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 20 m.w. N. 965 Leinen/Schönlau, Integration 2003, S. 218 (218). 966 So Kielmannsegg, in: Jachtenfuchs/Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 (57); ebenso Grimm, in: ders., Die Verfassung und die Politik, S. 215 (243). 967 Leinen/Schönlau, Integration 2003, S. 218 (220).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Wahl des Kommissionspräsidenten hervor. Auf der Ebene der Europäischen Union stellt aber vor allem die ungeheure Sprachenvielfalt ein immenses Kommunikationsproblem für die Parteien dar. Die Sprachbarrieren könnten nur durch einen hohen Übersetzungsaufwand überwunden werden. Insofern ist ihre ausreichende Finanzierung die unabdingbare Voraussetzung für einen europaweiten Willensbildungsprozess durch politische Parteien. Art. III-331 VVE enthält die Rechtsgrundlage für ein Europäisches Gesetz zur Regelung der Parteienfinanzierung.968 Art. I-46 Abs. 4, III-331 VVE bilden eine institutionelle Grundlage zur Etablierung europäischer Parteien. Die Normierung des Grundsatzes der repräsentativen Demokratie ist auch in dem Reformvertrag von Lissabon enthalten.969 Art. III-331, I-46 Abs. 4 VVE sollen als Art. 10 EU n. F.970, Art. 224 AEUV971 in das europäische Primärrecht inkorporiert werden. Allerdings benötigt die Einbindung in politische Verfahren und ein entsprechendes Bürgerbewusstsein eine gewisse Zeit. Ob sich europäische Parteien mit der Zeit erfolgreich auf dieser Grundlage etablieren werden, bleibt abzuwarten. 2. Grundsatz der partizipativen Demokratie Art. I-47 VVE regelt ausweislich seiner Überschrift den Grundsatz der partizipativen Demokratie. Nach Art. I-47 Abs. 1 VVE geben die Organe den Bürgerinnen und Bürgern sowie den repräsentativen Verbänden in geeigneter Weise die Möglichkeit, ihre Ansichten in den Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben. Darüber hinaus normiert Art. I-47 Abs. 2 968 Im Jahr 2003 wurde die „Verordnung für das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien“ geschaffen. Die Verordnung versucht sicher zu stellen, dass keine versteckte Finanzierung nationaler Parteien über den Umweg der Europäischen Union möglich ist. Außerdem soll sie verhindern, dass rein national ausgerichtete Gruppen Mittel der europäischen Parteienfinanzierung erhalten. Daher enthält die Verordnung Mindestvoraussetzungen, die die Parteien erfüllen müssen um als „europäisch“ angesehen zu werden und dadurch in den Genuss der Finanzierung zu kommen. Demnach müssen die Parteien in den Parlamenten einer bestimmten Anzahl von Mitgliedstaaten vertreten sein; sie müssen verbindlich ihre Absicht erklären, an den Europawahlen teilzunehmen und die demokratischen Grundprinzipien und die Grundrechte achten. Siehe dazu Leinen/Schönlau, Integration 2003, S. 218 (224 f.). 969 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 17. 970 Diese Norm entspricht Art. I-46 VVE. Siehe zum Mandat der Regierungskonferenz für den Vertrag von Lissabon Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www. consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 17 und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 20. 971 Diese Regelung korrespondiert mit Art. III-331 VVE; siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 149.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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VVE die Notwendigkeit eines offenen, transparenten und regelmäßigen Dialogs der Organe der Union mit den Verbänden und der Zivilgesellschaft. Um die Kohäsion und die Transparenz des Handelns der Union zu gewährleisten, führt die Kommission darüber hinaus nach Art. I-47 Abs. 3 VVE umfangreiche Anhörungen durch. Diese Regelungen enthalten ebenfalls unbestimmte Begriffe, deren genauer Bedeutungsgehalt erst einer Klärung bedarf. Es besteht Konkretisierungsbedarf, wann eine „geeignete Weise“ der öffentlichen Bekanntgabe eigener Ansichten gemäß Art. I-47 Abs. 1 VVE vorliegt. Ebenso ist offen, wann das Kriterium eines „regelmäßigen Dialogs“ i. S. d. Art. I-47 Abs. 2 VVE erfüllt ist. In Art. 1-47 Abs. 4 VVE wird außerdem ein europäisches Bürgerbegehren geregelt. Es handelt sich um ein neues direkt-demokratisches Instrument zu einer stärkeren Bürgerbeteiligung.972 Hierfür ist ein Quorum von einer Million Bürgern erforderlich, die Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten sein müssen. Durch die Möglichkeit einer Bürgerinitiative wird das Initiativmonopol der Kommission durchbrochen. Mittels des europaweiten Plebiszits kann nach Art. I-47 Abs. 4 VVE nämlich eine Gesetzgebungsinitiative der Kommission veranlasst werden.973 So wird die Exekutivlastigkeit der Gesetzgebungsinitiative im Verfassungsvertrag durch direkt-demokratische Elemente aufgelockert. Allerdings wird auch der unbestimmte Rechtsbegriff der „erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten“ nicht definiert,974 wodurch sich normative Bedenken angesichts der Unbestimmtheit des Art. I-47 VVE ergeben. Denn es wird nicht klar, wann Erheblichkeit zahlenmäßig erreicht sein soll. Dieses Plebiszit führt darüber hinaus nicht zu einer eigenständigen Volksgesetzgebung. Es bleibt daher abzuwarten, ob die Bürger von dieser Möglichkeit in der Verfassungspraxis tatsächlich Gebrauch machen werden; zumindest könnten europäische Themen dadurch mehr in den Fokus der Öffentlichkeit treten.975 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben darüber hinaus nur 32% der Bürger überhaupt Kenntnis von der Einführung eines Initiativrechts der Bürger durch den Europäischen Verfassungsvertrag.976 Eine identitätsstiftende Wirkung durch eine direkte Einbeziehung der Bürger in politische Verfahren kann aus diesem Grund derzeit nicht angenommen werden. Art. I-47 Abs. 4 VVE wurde nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages nunmehr in den Vertrag von Lissabon aufgenommen und 972 Siehe dazu Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (425 f.). 973 Siehe dazu Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 202. 974 Siehe dazu Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 57; Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, S. 202. 975 So vertreten von Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (426). 976 24% der Befragten glauben nicht an die Existenz eines derartigen Initiativrechts im Verfassungsvertrag und 44% haben dazu keine Meinung; Eurobarometer 63, S. 140.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
soll als neuer Art. 11 Abs. 4 EU n. F. in den EU-Vertrag eingefügt werden,977 so dass es auch im Hinblick auf die zukünftige Rechtslage bei dem Gesagten bleibt. 3. Transparenzgebot Eine europaweite politische Öffentlichkeit setzt Bürgerkommunikation über politische Entscheidungen, die in der Union auf der Tagesordnung stehen, voraus.978 In der Europäischen Union fehlt aber weitgehend eine essentielle Grundvoraussetzung für Elemente direkter Demokratie, nämlich ein Mindestmaß an einschlägigen Kenntnissen der Bürger.979 Die Öffentlichkeit von Entscheidungsprozessen bewirkt dagegen eine bessere Information der Bürger. Nur wenn die Verhandlungen gesetzgebender Körperschaften zumindest von den Medien verfolgt werden können, haben die Einzelnen die Möglichkeit, diejenigen Informationen zu erhalten, welche für die Beeinflussung demokratischer Willensbildungsprozesse notwendig sind.980 Damit könnte durch ein Transparenzgebot dem demokratischen Defizit in Form mangelnder Kenntnisse der europäischen Bürger abgeholfen werden. Das Prinzip der Öffentlichkeit ist im bisherigen Primärrecht in Art. 255 EG enthalten und wird im Europäischen Verfassungsvertrag weiter gestärkt. Nach Art. I-50 Abs. 2 VVE tagt das Europäische Parlament öffentlich. Neu eingeführt wurde Art. Art. I-50 Abs. 2 HS. 2, Art. I-24 Abs. 6 VVE, wonach der Ministerrat als Legislativrat981 öffentlich berät und abstimmt.982 Diese Änderung der bisherigen Rechtslage kann zukünftig mehr Legitimität und demokratische Kontrolle der Entscheidungen des Ministerrates ermöglichen.983 Denn nur 977 Siehe zum Mandat der Regierungskonferenz für eine entsprechende Ausarbeitung dieser Regelung im Vertrag von Lissabon Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http:// www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07. 2007), S. 30 und zur Regelung selbst Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 21. 978 Meyer, Die Identität Europas, S. 169. 979 So Blumenwitz, ZfP 2004, S. 115 (132); Peters, EuR 2004, S. 372 (378). Dies bestätigen auch die Eurobarometer-Umfragen. Nur 28% bzw. 2% der Befragten geben an, viel bzw. sehr viel über die Europäische Union zu wissen. Diesen gegenüber stehen 52% der Bürger, die wenig Kenntnisse über die Europäische Union haben. 17% der Befragten meinen sogar, fast nichts über die Europäische Union zu wissen. Siehe dazu und zum Verlauf der subjektiven Wissenskurve Eurobarometer 65, S. 104 ff.; S. 110 f. 980 Hurrelmann, Integration und Verfassung in Europa, S. 153. 981 Gemäß Art. I-23 Abs. 1 VVE wird der Ministerrat gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig. 982 Siehe dazu Fischer, FS für Mantl II, S. 991 (1015). 983 Siehe dazu bei Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (72); Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (549).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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auf diese Weise wird für die nationalen Parlamente transparent, wie ihre jeweiligen Minister agieren. Dem Europäischen Parlament wird über diese Transparenzregel ebenfalls erstmals Einblick in die Entscheidungsfindung des Ministerrates ermöglicht und die Ergebnisverantwortung politischer Entscheidungen kann für die Bürger verdeutlicht werden. Eine bessere demokratische Kontrolle wäre gewährleistet. Allerdings ist der Europäische Konvent den entscheidenden Schritt zur Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit nur halbherzig gegangen. Gemäß Art. I-50 Abs. 2 HS. 2 VVE tagt der Ministerrat nämlich nur dann öffentlich, wenn er als Gesetzgeber handelt. Dies lässt in vielen Fällen ein Schlupfloch, um wie bisher die Politik Europas unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit zu betreiben. Mit der jetzigen Regelung besteht die Gefahr, dass ein öffentlich tagender Rat entweder zu keiner Entscheidung kommt oder dass die wesentlichen Entscheidungen bereits im Vorfeld der Ratssitzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen werden und der Öffentlichkeit eine Beratung nur vorgespielt wird.984 Eine ständige Öffentlichkeit der Sitzungen des Ministerrates würde bei den Bürgern mehr Interesse anregen. Es wäre also identitätsfördernder gewesen, wenn die Sitzungen des Ministerrates in Zukunft stets öffentlich zu erfolgen hätten. Nur dann hätten die europäischen Bürger die Debatten um die Zukunft Europas Punkt für Punkt verfolgen und ihre Kenntnisse verbessern können.985 Hier wurde identitätsstiftendes Potential zur Entstehung einer europaweiten Öffentlichkeit nicht genutzt. Daran wird auch der Vertrag von Lissabon kaum etwas ändern, denn er fügt die Regelung des Art. I-50 VVE wörtlich als Art. 16 Abs. 8 EU n. F.,986 Art. 15 Abs. 2 HS. 2 AEUV987 in die bisherigen Verträge ein. 4. Ergebnis Die Art. I-45 ff. VVE weisen Inhomogenitäten gegenüber den übrigen Normierungen des Verfassungsvertrages auf.988 Die Regelungen über das demokratische Leben der Union wiederholen gleichlautende oder inhaltlich entspre984 Pernice, in: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Ein Verfassungsentwurf für die EU, S. 53 (72). 985 So Meyer, Die Identität Europas, S. 210. 986 Diese Norm entspricht Art. I-24 Abs. 6 VVE. Siehe zur genauen Regelung Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 24. 987 Diese Norm korrespondiert mit Art. I-50 Abs. 2 HS. 2 VVE. Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 54. 988 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 57 ff.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
chende Normen. Sie weisen vor allem strukturelle Dopplungen zu den Gewährleistungen der Grundrechtecharta auf.989 Daher wirkt dieser Teil wie eine Verfassung in der Verfassung, aber ohne identitätsstiftende Kraft.990 Es gibt kaum rollenprägende Angebote für die Bürger in Form durchsetzbarer direkt-demokratischer Rechte.991 Demzufolge wird es als gewagt angesehen, die Demokratie als besonders herausgehoben unter dem Titel „Das demokratische Leben der Union“ darzustellen. Zwar schätzen die meisten Unionsbürger die Demokratie als hohen Wert ein.992 Demgegenüber sind aber auch 54% der Bürger der Meinung, dass ihre Stimme in Europa nicht zählt.993 Daher befürchtet von Bogdandy, dass die demokratischen Bekundungen des Verfassungsvertrages von den Bürgern als Täuschung wahrgenommen werden und so statt einer Identifikation vor allem Zynismus und Entfremdung befördern.994 Insgesamt widerspreche die Gegenwartskonstruktion der Demokratie des Verfassungsvertrages der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit in der Union. Dies könnte daher von manchen sogar als ein bewusstes Trugbild interpretiert werden. Eine europäische kollektive Identität könne auf diese Weise nicht gefördert werden. Dieser Ansicht von Bogdandys sind aber die in den Eurobarometer-Umfragen erfragten Meinungen der europäischen Bürger zur Verwirklichung von Demokratie auf europäischer Ebene entgegen zu halten. Denn immerhin 38% der EU-Bürger sehen den Wert der Demokratie durch die Europäische Union am besten repräsentiert.995 Darüber hinaus geben 50% der europäischen Bürger an, zufrieden mit der Demokratie in der Europäischen Union zu sein.996 Insofern ist
989 So handelt zum einen Art. I-51 VVE vom Schutz personenbezogener Daten und wird nach Abs. 2 durch eine Gesetzgebungskompetenz der Europäischen Union ergänzt, die eigentlich systemkonform in Teil III des Verfassungsvertrages hätte verortet werden müssen. Zum anderen enthält auch die Grundrechtecharta in Art. II-68 VVE den Schutz personenbezogener Daten; dieser wird aber völlig anders formuliert und enthält im Gegensatz zu Art. I-51 VVE auch keinen Gesetzgebungsvorbehalt. Siehe dazu Kingreen, EuGRZ 2004, S. 570 (571 ff.; 576); Mayer, Integration 2003, S. 398 (400); Grabenwarter, EuGRZ 2004, S. 563 (567). 990 Siehe ausführlich zum Folgenden Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 57 ff. 991 Siehe dazu Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (203). 992 Demokratie ist mit 24% der Wert, der an vierter Stelle der Werteskala der Bürger in der Europäischen Union steht; vgl. Eurobarometer 66, S. 35. 993 Dem stehen lediglich 36% gegenüber, die dieser Aussage nicht zustimmen; vgl. Eurobarometer 65, S. 58 f. 994 Siehe ausführlich zum folgenden Gedankengang von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (59). 995 Dieser Wert wird an zweiter Stelle nach den Menschenrechten genannt. Vgl. dazu Eurobarometer 66, S. 35. 996 34% der befragten Bürger sind es nicht; vgl. Eurobarometer 65, S. 47 f.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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es ungewiss, ob sich die genannten Befürchtungen bewahrheiten und die Art. I-45 ff. VVE als Trugbild von den Bürgern interpretiert werden. Diese Ungewissheit bleibt auch nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages weiter bestehen. Denn der Vertrag von Lissabon übernimmt die verfassungsvertraglichen Regelungen und normiert sie dementsprechend als Art. 10 ff., Art. 16 Abs. 8 EU n. F., Art. 15 AEUV im zukünftigen Europarecht.
G. Unionsbürgerschaft Die Unionsbürgerschaft wurde als Rechtsinstitut mit dem Vertrag von Maastricht in die Gemeinschaftsverträge eingeführt. Art. 17 Abs. 1 S. 1 EG begründet das Institut der Unionsbürgerschaft als ein spezifisches Rechtsverhältnis zwischen den Europäischen Gemeinschaften und den Bürgern der Mitgliedstaaten. Dadurch sollte eine Projektionsfläche für die Bürger geschaffen werden, um das europäische Gemeinwesen als politischen Herrschaftsverband nachvollziehbar darstellen zu können.997 Die Unionsbürgerschaft sollte als politisches Instrument die Identifikation der Bürger erleichtern und stärken.998 So sollte der Prozess der europäischen Integration über die wirtschaftliche Integration hinaus auf den politischen Bereich erweitert werden.999 Das Staatsangehörigkeitsrecht formalisiert auf nationalstaatlicher Ebene die Beziehung der Bürger zu ihrem Gemeinwesen.1000 In rechtlicher Hinsicht ist die Zugehörigkeit des Einzelnen zu seinem Gemeinwesen dadurch gekennzeichnet, dass er Träger besonderer Rechte und Pflichten ist.1001 Die integrative Bedeutung der Staatsbürgerschaft und der dadurch verliehenen Rechte und Pflichten auf nationaler Ebene wurde im Rahmen der Staatsbürger- bzw. Verfassungsnation1002 und der Integrationslehre Rudolf Smends1003 angesprochen. Die Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts wirkt in verfassungsrechtlicher Hinsicht durch die Beeinflussung der Kategorisierungsprozesse der Bürger mittelbar identitätsstiftend.1004 Die Unionsbürgerschaft bestimmt aus normativer 997
Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (428). Seyr/Rümke, EuR 2005, S. 667 (667). 999 Haag, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft I, Art. 17 EG, Rn. 5. 1000 Und zwar unabhängig davon, was als konstitutives Element eines politischen Gemeinwesens angesehen wird. 1001 Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (429); Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (422). 1002 Siehe allgemein zur Verfassungsnation S. 84 ff. 1003 Siehe dazu oben S. 172 f. 1004 Siehe dazu von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170 f.) und oben S. 193 f. 998
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Sicht, wer zu der Gruppe der Unionsbürger zu zählen ist. Insofern entfaltet die Unionsbürgerschaft nach innen einen Gleichbehandlungs- und nach außen einen Abgrenzungsimpuls.1005 Die Unionsbürgerschaft begrenzt den Anwendungsbereich der Verträge personell. Der Europäische Gerichtshof hat die Unionsbürgerschaft darüber hinaus zu einem weitreichenden Instrument gegen Diskriminierungen auf der Ebene der Europäischen Union ausgebaut.1006 Der Verfassungsvertrag erweitert gegenüber der bisherigen Rechtslage die Rechtsstellung der Unionsbürger in Art. I-10, Art. III-123 ff. VVE nicht wesentlich; vielmehr erfolgt eine enge Anlehnung an den bestehenden Rechtszustand.1007 Nach Art. I-10 Abs. 1 S. 1 VVE sind nur Staatsangehörige eines Mitgliedstaates Unionsbürger. In Art. I-10 Abs. 1 S. 2 VVE wird die Unionsbürgerschaft folgerichtig akzessorisch zur Staatsbürgerschaft ausgestaltet; sie ist weiterhin von der jeweiligen nationalen Staatsbürgerschaft abhängig. Der Unionsbürger bleibt gemäß Art. I-10 Abs. 1 S. 2 VVE in erster Linie Staatsbürger seines Mitgliedstaates.1008 Die Unionsbürgerschaft wird damit im Verfassungsvertrag lediglich als ein begrenztes europäisches Bürgerrecht und nicht als eine allgemeine umfassende Europabürgerschaft ausgestaltet. Dies schwächt die Legitimitäts- und Identitätsgehalte dieser Bürgerschaft erheblich.1009 Insofern ist der Begriff „Unionsbürgerschaft“ im Verfassungsvertrag irreführend, denn er suggeriert eine Art Staatsvolk.1010 Mit der Verwendung des Bürgerschaftsbegriffs in Art. I-10 VVE hat sich der Verfassungskonvent hauptsächlich an den Beständen der nationalstaatlichen Verfassungstheorien orientiert.1011 Die durch die Unionsbürgerschaft eingeräumten Rechtspositionen können aber keine mit den nationalen Staatsbürgerrechten vergleichbare rechtliche Treue- und Legitimationsbeziehung herstellen. Denn die den Bürgern verliehenen Unionsbürgerrechte richten sich nicht gegen die Europäische Union selbst, sondern gegen die Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten.1012 Dies wird anhand ei1005
Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (429). Denn das allgemeine Diskriminierungsverbot i. S. d. Art. 12 EG bzw. Art. I-4 Abs. 2 VVE verbietet eine Schlechterstellung Angehöriger anderer Mitgliedstaaten gegenüber den eigenen Mitgliedstaatsangehörigen aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Mittels der Unionsbürgerschaft wird dieses Diskriminierungsverbot vom EuGH über die Unionsbürgerschaft inzwischen auf immer neue Bereiche, vor allem den Bereich der Sozialleistungen ausgeweitet. Siehe dazu Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (196). 1007 Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (428). 1008 Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (422). 1009 So Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (436). 1010 Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (422). 1011 Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (429). 1012 Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (430). 1006
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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ner genaueren Betrachtung der durch die Unionsbürgerschaft verliehenen Rechte deutlich. I. Freizügigkeit Art. I-10 Abs. 2 lit. a), III-125 VVE regelt die Freizügigkeit, also das Recht des einzelnen Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union frei bewegen und aufhalten zu können. Die gewährte Freizügigkeit öffnet damit für die Bürger das Territorium der Mitgliedstaaten, die ihnen Aufenthalt gewähren müssen. Dazu ist aber nicht die Europäische Union verpflichtet. Dieses Recht wird darüber hinaus sekundärrechtlich nicht voraussetzungsfrei gewährt.1013 Daran ändert auch der Vertrag von Lissabon nichts, der das Recht der Freizügigkeit übernimmt und in den Vertrag über die Arbeitsweise der Union einfügt, Art. 20 Abs. 2 lit a) AEUV, 21 AEUV.1014 II. Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit Zu den Unionsbürgerrechten zählen weiterhin die Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nach Art. II-75 Abs. 2, Art. III-133, III-137, III-144 VVE.1015 Diese Rechtspositionen haben von ihrem Gehalt und ihrer Funktion her nicht einen politisch-bürgerschaftlichen, sondern einen funktionalökonomischen Zweck. Damit werden die Angehörigen der Mitgliedstaaten nicht als Bürger, sondern als Wirtschaftsfaktoren adressiert.1016 Aus diesem Grund wird vertreten, dass die Grundfreiheiten keine konstituierenden Elemente europäischer Bürgerlichkeit verleihen. Vielmehr handele es sich dabei um Anspruchspositionen, die nur in dem Umfang, wie es für die Marktöffnung und die Integration der nationalen Volkswirtschaften in den Gemeinsamen Markt erforderlich ist, gewährt werden. Auch das den Unionsbürgern nach Art. I-10 Abs. 2 lit. b), III-126 VVE gewährte Wahlrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten und 1013 Seine Wahrnehmung wird an die Bedingungen des Krankenversicherungsschutzes und der finanziellen Unabhängigkeit geknüpft. Auch steht die Freizügigkeit unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit; Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (429). Siehe dazu auch ausführlich Oppermann, Europarecht, § 25 Rn. 29. 1014 Diese Normen korrespondieren mit Art. I-10 Abs. 2 lit. a), III-125 VVE. Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 56 f. 1015 Siehe dazu auch Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (204). 1016 Siehe ausführlich zu diesem Gedankengang Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (429).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
nicht die Union zur Gewährung bestimmter politischer Rechte für EU-Ausländer.1017 Diese Grundfreiheiten enthält auch der Vertrag von Lissabon, sie bleiben mit geringfügigen Änderungen erhalten und werden in den Vertrag über die Arbeitsweise der Union eingefügt als Art. 45, 49, 56 AEUV1018 ebenso bleibt es bei dem Wahlrecht der Unionsbürger, Art. 20 Abs. 2 lit b), 22 AEUV.1019 III. Petitionsrecht Art. I-10 Abs. 2 lit. d); III-128 VVE regelt das Recht, Petitionen an das Europäische Parlament zu richten und sich an den Europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden, sowie das Recht, sich in einer der Sprachen der Verfassung an die Organe der Union zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten. Diese Rechte sind geeignet, ein direktes, persönlicheres Verhältnis der Bürger zur Europäischen Union herzustellen und so identitätsstiftend zu wirken.1020 Allerdings verleiht die Unionsbürgerschaft den Unionsbürgern diesbezüglich nicht mehr Rechte als einer Person, die lediglich ihren Wohnsitz in einem der Mitgliedstaaten hat und die Unionsbürgerschaft nicht besitzt. Denn Art. II-103 VVE sowie Art. II-104 VVE gewähren die genannten Rechte allen natürlichen oder juristischen Personen mit Wohnsitz in einem der Mitgliedstaaten. Diesbezüglich findet also eine Abgrenzung der Unionsbürgerschaft gegenüber sonstigen Rechten von Drittstaatsangehörigen, die in der Union ansässig sind, nicht statt. Die Etablierung einer identitätsstiftenden Projektionsfläche für die Bürger durch die Unionsbürgerschaft im Verfassungsvertrag wird daher verneint. Die Bildung einer auf die Union bezogenen Identität könne kaum dadurch gefördert werden, dass die Europäische Union ihren Bürgern Ansprüche gegen die Mitgliedstaaten gewährt.1021 Diese Aussage behält auch für die Rechtslage nach 1017 Der einzelne Bürger kann sich auf diese Rechtspositionen gegenüber den Behörden anderer Mitgliedstaaten berufen. Siehe dazu Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (423). Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (430). 1018 Diese Normen korrespondieren mit Art. II-75 Abs. 2, Art. III-133, III-137, III144 VVE. Siehe dazu auch Brodocz, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 191 (204). Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 65 ff. 1019 Diese Normen entsprechen Art. I-10 Abs. 2 lit. b), III-126 VVE. Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 57. 1020 So Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (423). 1021 Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (430). Eine a. A. dazu vertritt Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (423), der darin die Basis zu einer Bürgersolidarität erblickt.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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dem Vertrag von Lissabon ihre Gültigkeit, der das Petitionsrecht in Art. 20 Abs. 2 lit d), 24 AEUV regelt.1022 IV. Kritik Insgesamt sind trotz der geäußerten Bedenken die identitätsstiftenden Aspekte einer aktiven Teilnahme ausländischer Unionsbürger an den Kommunalwahlen in einem anderen Mitgliedstaat nicht zu unterschätzen.1023 Dadurch wird die Einheit der Gruppe der Unionsbürger für den Einzelnen verdeutlicht. Die Gleichstellung von Unionsbürgern im EU-Ausland mit den jeweiligen Inländern dürfte einen erheblichen identitätsprägenden Einfluss haben.1024 Dieser wird auch durch die Rechtsprechung des EuGH zum Gleichbehandlungsgehalt der Unionsbürgerschaft unterstützt.1025 Die identitätsstiftende Wirkung der Unionsbürgerschaft wird des Weiteren durch die Eurobarometer-Umfragen bestätigt. Denn für die Bürger sind gerade die Freizügigkeitsrechte ein maßgebliches Element europäischer Identität. Die Europäische Union wird von ihren Bürgern vornehmlich mit der Freiheit identifiziert, überall innerhalb der Union reisen, studieren und arbeiten zu können.1026 Die Unionsbürgerschaft trägt damit zu einer Homogenisierung der Gruppe der Unionsbürger durch die Verleihung bestimmter Freizügigkeits- und Gleichheitsrechte bei. Auch der Vertrag von Lissabon übernimmt die Regelung der Unionsbürgerschaft im Verfassungsvertrag wörtlich und will sie in den Vertrag über die Arbeitsweise der Union im Zweiten Teil eingliedern.1027 Der Vertrag von Lissabon orientiert sich an Art. I-10 und inkorporiert diese Regelung in Art. 9 S. 2 EU n. F.,1028 Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV1029. Damit wird sich die identitätsstiftende Wirkung der Unionsbürgerschaft auch in Zukunft trotz Nichtratifikation des Verfassungsvertrages entfalten. Im Ergebnis sind die Unionsbürgerschaft und 1022
Diese Normen entsprechen Art Art. I-10 Abs. 2 lit. d); III-128 VVE. Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 58. 1023 Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (423). 1024 von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (170). 1025 Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (430). 1026 Eurobarometer 65, S. 73. 1027 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 30. 1028 Diese Norm entspricht Art. I-10 Abs. 1 S. 1 VVE. Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 20. 1029 Diese Norm entspricht Art. I-10 Abs. 1 S. 2 VVE. Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 56.
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die durch sie verliehenen Rechte bei den Bürgern maßgebliche Kategorien für die Ausbildung einer europäischen Identität.
H. Rolle des EuGH Vor allem Rechtsbehelfe haben eine besondere Bedeutung für die Verrechtlichung der politischen Kultur. Denn diese ermöglichen den Bürgern und sonstigen am politischen Prozess Beteiligten erst die Möglichkeiten zur Wahrung und Durchsetzung ihrer Rechte.1030 Entscheidungen von Verfassungsgerichten, die konstitutionelle Bestimmungen autoritativ interpretieren und durchsetzen, können einen Einfluss auf die Formen konstitutioneller Integration haben. Ihre Deutung der in der Verfassung zum Ausdruck kommenden Sachgehalte kann die Bindekraft von Vorstellungen bei den Bürgern beeinflussen.1031 I. Integrationsfunktion einer Verfassungsgerichtsbarkeit Rudolf Smend hat die integrative Funktion einer Verfassungsgerichtsbarkeit in seiner Integrationslehre nicht ausgearbeitet.1032 Demgegenüber wird gerade in der deutschen Staats- und Verfassungslehre sowie in der Theorie des Verfassungspatriotismus dem deutschen Bundesverfassungsgericht eine integrative Rolle zugeschrieben. Auch in der liberalen Tradition wird einem Verfassungsgericht als Schlichtungsinstanz, die entgegen gesetzten Gruppen verbindliche Formen der Auseinandersetzung bereitstellt, eine integrative Funktion zugewiesen.1033 Das Bundesverfassungsgericht wird als Bestandteil eines allgemeinen 1030
Lepsius, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, S. 63 (78 f.). Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 149. 1032 Er hat in seiner Integrationslehre nur kurz angedeutet, dass ein oberstes Gericht Entscheidungen neutralisieren und entpolitisieren könne und in diesem Sinn die Rolle als „Schlussstein des Integrationssystems“ spielen könne, auch wenn dies eine Verfassung nicht ausdrücklich vorsieht; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (202 f.). In seinem Festvortrag zum zehnjährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts betonte Smend dann aber dessen „politische Erziehungswirkung“, die zur Legitimation der Bundesrepublik und ihres Grundgesetzes beitrage. Demzufolge erfülle das Bundesverfassungsgericht eine dreifache Aufgabe. Zum einen erfülle es eine Ordnungsfunktion in dem Bereich verfassungsrechtlicher Fragen, in dem nur eine unabhängige Justiz höchsten Ranges Ordnung schaffen kann. Zum anderen verstärke das Bundesverfassungsgericht die Fundamente des politischen Daseins, indem es die Rechtsstaatlichkeit des bundesrepublikanischen Gemeinwesens und die gewährleistete Würde des freien Bürgers als Wirklichkeit erleben lässt. Schließlich kämpfe das Bundesverfassungsgericht um die Herrschaft des Rechten und des Guten, indem es diese Werte zur Grundlage seiner Entscheidungen macht. Vgl. Smend, Das Bundesverfassungsgericht, S. 581 (593); dazu Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 169 f. Fn. 90. Siehe dazu auch oben S. 174 f. 1033 Limbach, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 315 (320 f.); Dubiel, in: Heitmeyer (Hrsg.) Was hält die Gesellschaft zusammen? Band 2, S. 425 (425, 428). Siehe dazu auch oben S. 209. 1031
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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Bürgerbewusstseins angesehen und als ein maßgeblicher Faktor im politischen Prozess identifiziert.1034 Maßgeblich für die integrative Kraft einer Verfassung sei, dass der Verfassungskonflikt nicht von einer politischen Instanz entschieden werde, sondern vom Bundesverfassungsgericht, das nicht auf die Wählergunst angewiesen ist.1035 In sozialpsychologischer Hinsicht kann gesagt werden, dass ein Verfassungsgericht die Verfassung präzisiert und konkretisiert, so dass gleichgerichtete Orientierungen für die Bürger möglich werden. Dies ist dann der Fall, wenn ein Verfassungsgericht durch seine Rechtsprechung die Akzeptanz der Ordnungsvorstellungen der Verfassung bei den Bürgern erhöht.1036 Vor allem die Rechtsschutzgarantien wirken in diesem Kontext für die Selbstverantwortung des Bürgers rollenprägend.1037 Daher erhöht ein Verfassungsgericht die Chance einer Verfassung, die symbolische Funktion der Identitätsstiftung zu erfüllen.1038 Allerdings ist eine integrative Wirkung der Entscheidungen eines Verfassungsgerichts nicht zwangsläufig gegeben. Denn für eine Identifikation der Einzelnen mit der Verfassung ihres Gemeinwesens ist auch entscheidend, dass dieselbe Verfassungsinstitution von verschiedenen Beteiligten jeweils unterschiedlich wahrgenommen werden kann.1039 Autoritative Interpretationen, die die Deutungsoffenheit der Verfassung1040 in Frage stellen, können daher das Zusammengehörigkeitsbewusstsein in einer Gesellschaft auch schwächen.1041 Denn 1034 Das vielstimmige Pro und Contra zu Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen wird als ein Zeichen für eine gesamtgesellschaftliche Rolle des Bundesverfassungsgerichts interpretiert. So Häberle, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, S. 55 (59 f.). 1035 Isensee, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (16). 1036 Herrmann, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 375 (375). 1037 Siehe dazu Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 147 und oben in Teil I, S. 193 f. 1038 Brodocz, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 101 (104); Herrmann, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 375 (375). 1039 Dies wurde in Teil I im Rahmen des versteckten Interpretationsdissenses einer Verfassung angesprochen, siehe S. 193. Siehe dazu auch Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 149. 1040 Siehe zu den Dimensionen der Deutungsoffenheit einer Verfassung Brodocz, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 101 (108 ff.); Brodocz, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, S. 191 (191 ff.) und oben S. 227 f. 1041 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 149. Dies gilt vor allem auch dann, wenn diese konflikthaften Entscheidungen eine soziomoralische Konfliktlinie in der Gesellschaft berühren. Als Beispiele für solche Grundsatzfragen wurden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch in BVerfGE 39, 1 (1 ff.); 88, 203 (203 ff.), die Beschlussfassungen des Bundesverfassungsgerichts zum Kruzifix in BVerfGE 85, 94 (94 ff.); 91, 1 (1 ff.) und die Beschlussfassungen bei parteipolitischen Kontroversen genannt. Siehe dazu Vorländer/ Schaal, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 343 (369). Beispiele aus der amerikanischen und kanadischen Verfassungstradition bei Heideking, in: Vor-
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durch die konkrete Deutung eines Verfassungsgerichts kann der bis dahin verdeckte Interpretationsdissens einzelner gesellschaftlicher Gruppen in Bezug auf bestimmte Verfassungsnormen erst offen zutage treten. Insofern besteht die Gefahr, dass gerade durch die richterliche Konkretisierungsarbeit die Verfassung ihre Konsensfähigkeit verliert.1042 Denn die Verfassung ist im Bereich der Konkretisierung nicht mehr offen für von der Gerichtsentscheidung abweichende Deutungen. Zur Vermeidung einer Eskalation von Verfassungskonflikten wird demgemäß durch das Instrument der abweichenden Meinung im Anschluss an ein Urteil dafür Sorge getragen, dass minoritäre Verfassungsdeutungen zumindest symbolisch Berücksichtigung finden.1043 Vor allem aber das Vertrauen der Bürger in die Rechtmäßigkeit der Verfahren ist maßgeblich für eine Akzeptanz der Entscheidungen und damit für die Integrationsfähigkeit eines Verfassungsgerichts.1044 Die entscheidende Voraussetzung für die integrative Wirkung eines Gerichts ist also der Zugang der Bürger zu diesem Gericht.1045 Dabei machen in der Bundesrepublik Deutschland die Verfassungsbeschwerden in etwa 95% der Arbeit des Bundesverfassungsgerichts aus.1046 Die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde macht das Bundesverfassungsgericht zum „Bürgergericht“. Denn vor allem der durch die Verfassungsbeschwerde gebührenfreie und ohne Beiziehung eines Rechtsanwalts jedem Bürger mögliche Zugang hat das Bundesverfassungsgericht tief im Bewusstsein der Bürger verankert und gegenüber der öffentlichen Gewalt gestärkt.1047 Auch wenn die Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerde numerisch eher gering ist (ca. 1%), ist der bürgerdemokratische Effekt davon nicht beeinflusst.1048 Das Bundesverfassungsgericht ist nach wie vor in den repräsentativen Umfragen die
länder (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 123 (123 ff.); Messerschmidt, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 399 (399). 1042 Bryde, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 329 (330). 1043 Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, S. 149 m.w. N. 1044 Siehe zu Beispielen, die dies belegen, bei Herrmann, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 375 (376 ff.). 1045 So für das Bundesverfassungsgericht Gebhardt, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 14/93, S. 29 (32). 1046 Jaeger, EuGRZ 2003, S. 149 (149). 1047 Häberle, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, S. 55 (61). 1048 Häberle, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, S. 55 (61); ebenso Jaeger, EuGRZ 2003, S. 149 (149). Die Bedeutung der Verfassungsbeschwerde zeigen vor allem auch berühmte Leitentscheidungen des BVerfG, die im Verfahren der Verfassungsbeschwerde ergangen sind, und große Wirkkraft entfaltet haben. Als Beispiele sind zu nennen das Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 189 ff.; das Spiegel-Urteil, BVerfGE 20, 162 ff.; das Mephisto-Urteil, BVerfGE 30, 173 ff.; das Numerus-clausus-Urteil, BVerfGE 33, 303 ff.; das Soldaten-Mörder Urteil, BVerfGE 93, 266 ff. und vor allem die europarechtlich bedeutsamen Urteile Solange II, BVerfGE 73, 339 ff. und Maastricht, BVerfGE 89, 155 ff.
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Institution, der die Bundesbürger am meisten Vertrauen schenken.1049 Die symbolische Integrationsfunktion einer Verfassung wird im Falle desintegrativer Konflikte durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit eher geschwächt; demgegenüber wird die rechtliche Normativität der Verfassung als höchste Norm eines Gemeinwesens gestärkt. II. Stellung des EuGH Das europäische Primärrecht enthält viele offene Normen und Zielbestimmungen, Generalklauseln, Lapidarformeln und Formelkompromisse. Aufgrund der daraus folgenden Konkretisierungsfunktion der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist diese im Grenzbereich zwischen Politik und Recht angesiedelt. Daraus könnte ein ähnlicher Einfluss auf die Identität der Bürger wie durch die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts resultieren.1050 Das integrative Potential des Europäischen Gerichtshofes könnte vor allem darin bestehen, Konflikte mit einem hohen desintegrativen Potential zu verrechtlichen und auf diese Weise zu versachlichen. Dies ist von dem Vertrauen der Bürger und von der Akzeptanz seiner Rechtsprechung abhängig. Der Europäische Gerichtshof ist als europäische Institution hoch angesehen. Das Institutionenvertrauen der Bürger in ihn ist mit dem des Europäischen Parlaments gleichauf.1051 In einem Drittel der Mitgliedstaaten – ebenso wie bei den Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland – steht der Europäische Gerichtshof an der ersten Stelle des Institutionenvertrauens.1052 Die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes wurde darüber hinaus weitgehend widerspruchslos in den Mitgliedstaaten akzeptiert. Vor allem die Rechtsprechung zur Deutung der Verträge als „Verfassungsurkunde“ einer Rechtsgemeinschaft hat das Gemeinschaftsrecht zu einem Integrationsfaktor ersten Ranges gemacht.1053 Die Entwicklung zur Rechtsgemeinschaft wäre ohne den Europäischen Gerichtshof, der mit seiner Rechtsprechung maßgeblich die europäische Integration vorangetrieben hat, nicht möglich gewesen.1054 Durch diese Rechtsprechung hat sich der Gerichtshof eine Dignität erworben, die dem eines staatenübergreifenden Verfassungsgerichts vergleichbar ist.1055 1049 Siehe dazu die Umfragewerte bei Vorländer/Schaal, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, S. 343 (351, v. a. S. 358 ff.). 1050 So Hitzel-Cassagnes, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 22 (25). 1051 Die Stellung der Institutionen zueinander variiert von Umfrage zu Umfrage. Dem EuGH vertrauten im Frühjahr 2006 mit 52% genauso viele Bürger wie dem Europäischen Parlament; vgl. Eurobarometer 65, S. 93. 1052 Niedermayer, Integration 2003, S. 141 (144 f.). 1053 Schneider, FS für Mantl II, S. 1151 (1167). Siehe dazu S. 89, 107 f. in den Fn. 1054 Siehe ausführlich dazu Hitzel-Cassagnes, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52– 53/2000, S. 22 (22, 25).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Die Rechtsstellung des Gerichtshofs hat durch den Europäischen Verfassungsvertrag einige inhaltliche Änderungen und einige terminologische Umbenennungen erfahren.1056 Der Verfassungsvertrag behält die Verschränkung des europäischen Gerichtswesens mit den mitgliedstaatlichen Gerichten bei.1057 Der Gerichtshof wird in Art. I-19 Abs. 1 VVE zusammen mit den anderen Hauptorganen der Europäischen Union in einen einheitlichen institutionellen Rahmen gestellt. Zentrale Reglungen des Gerichtshofes finden sich in Art. I-19, I-29 VVE sowie in den Art. III-353 ff. VVE.1058 Unter dem Begriff „Europäischer Gerichtshof“ ist gemäß Art. I-29 Abs. 1 VVE die gesamte gemeinschaftsunmittelbare Gerichtsbarkeit zu verstehen.1059 Dies soll die Einheitlichkeit des Rechtsprechungsorgans verdeutlichen.1060 III. Klagemöglichkeiten der Bürger Eine wichtige Voraussetzung für die identitätsstiftende Wirkung einer Verfassung ist, dass ihre Grundrechte juristisch und sozial operabel gemacht werden können.1061 Bloße politische Proklamationen sind für eine erfolgreiche Identitätsstiftung nicht ausreichend. Um eine ähnliche Wirkung auf das Bewusstsein der Unionsbürger wie derzeit das deutsche Bundesverfassungsgericht zu haben, müssten die Europäer ebenfalls in vergleichbarer Weise ihre Rechte vor dem EuGH geltend machen können. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 70 bis 80% des nationalen Rechtsbestandes europarechtlich beeinflusst 1055 Der Gerichtshof wird auch als „Quasi-Verfassungsgerichtsbarkeit“ beschrieben. Es werden diesbezüglich die normierten Zuständigkeiten, die Qualität der Vertragsgrundlage, die Organqualität als seit 1958 institutionell und funktionell unabhängiges Gericht sowie die richterliche Praxis als Akteur im Institutionengefüge angeführt; vgl. Hitzel-Cassagnes, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 22 (22); Schneider, FS für Mantl II, S. 1151 (1167). 1056 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 50. 1057 Läufer, Integration 2003, S. 510 (510). 1058 Ergänzende Zuständigkeitsregelungen finden sich im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. 1059 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 50. 1060 Unter dem Dach des Gerichtshofs fächert sich aber das Gerichtswesen der Europäischen Union in Zukunft in verschiedene Züge und Instanzen auf. Das Gericht erster Instanz (EuG) ist für die Rechtskontrolle der Europäischen Gesetze und Ratsgesetze sowie für die Rechtsetzungsbefugnisse der Organe der Union einschließlich der Organ- und Individualklagen und in besonders zugewiesenen Fällen auch für Vorabentscheidungen nach Art. III-358 VVE zuständig. Der Europäische Gerichtshof wird in Grundsatzentscheidungen und als Rechtsmittelinstanz des EuG nur in Rechtsfragen gemäß Art. III-358 Abs. 1 VVE tätig. Die Fachgerichte können nach Art. III-359 VVE dem EuG durch Europäisches Gesetz beigeordnet werden. Die besonderen Befugnisse der Fachgerichte werden gemäß Art. III-359 Abs. 2 VVE durch Europäisches Gesetz festgelegt. Siehe dazu Läufer, Integration 2003, S. 510 (510 f.). 1061 Siehe ausführlich zu dieser Argumentation von Bogdandy, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (172).
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oder sogar festgelegt ist.1062 Die Möglichkeiten juristischer und natürlicher Personen zur effektiven Durchsetzung ihrer Rechte sind von zentraler Bedeutung für eine Integrationswirkung durch Recht.1063 Daher kann durch die rechtliche Einklagbarkeit europäischer Rechte und Grundrechte bei den Bürgern eine höhere Akzeptanz und Transparenz erreicht werden.1064 1. Vorabentscheidungsverfahren, Art. III-369 VVE Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. III-369 VVE verknüpft nationale Rechtsschutzverfahren mit der europäischen Gerichtsbarkeit. Dabei wurde die Regelung des Art. 234 EG im Wesentlichen unverändert durch den Verfassungsvertrag übernommen. Im Vorabentscheidungsverfahren setzt eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof voraus, dass der jeweilige Europarechtsbezug durch das nationale Gericht erkannt wird.1065 Ob eine Vorabentscheidung durch das jeweilige mitgliedstaatliche Gericht tatsächlich beantragt wird, hängt also stark von der jeweiligen Europarechtssensibilität der einzelnen Richter sowie von der Einstellung bestimmter Gerichte oder Senate ab. Vor allem hinsichtlich der Auslegung von europarechtlichen Begriffen, für deren Verständnis die jeweilige Terminologie der unterschiedlichen und prinzipiell gleich berechtigten Sprachfassungen maßgeblich ist, kommt es auf die Rechtstraditionen der jeweiligen mitgliedstaatlichen Gerichte an.1066 Aufgrund unterschiedlicher Auslegungen der jeweiligen Begriffe, können sich Schwierigkeiten des Bürgers ergeben, in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten in gleicher Weise Zugang zum europäischen Recht mittels des Vorabentscheidungsverfahrens zu bekommen.1067 Durch dieses Verfahren wird dem Einzelnen nicht unmittelbar Zugang zum Europäischen Gerichtshof gewährt. Das Vorabentscheidungsverfahren dürfte kaum zu einer integrativen Wirkung des Europäischen Gerichtshofes und des europäischen Rechts bei den Bürgern beitragen. 2. Nichtigkeitsklage, Art. III-365 Abs. 4 VVE Neu wurde die Regelung des Art. III-365 Abs. 4 VVE zur Nichtigkeitsklage normiert. Die Reformüberlegungen des Konvents zur Direktklage nahmen Be1062
Rückle, FS für Mantl II, S. 1139 (1148). Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 76. 1064 Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (205). 1065 Die Zufälligkeit einer Vorlage an den EuGH verdeutlicht ein aktuelles Urteil des EuGH zum Umsatzsteuerrecht. Dabei hat der Bundesfinanzhof vorher in der gleichen Rechtsfrage, die der Bundesgerichthof dem EuGH vorlegte, keine Notwendigkeit für eine Prüfung des Europarechtsbezuges gesehen. Siehe zu diesem Beispiel aus dem Umsatzsteuerrecht ausführlich Rückle, FS für Mantl II, S. 1139 (1149 f. m.w. N.). 1066 Rückle, FS für Mantl II, S. 1139 (1149). 1067 So Rückle, FS für Mantl II, S. 1139 (1150). 1063
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
zug auf die Plaumann-Formel aus dem Jahr 1963.1068 Als Reaktion auf die Rechtsprechung zur unmittelbaren Betroffenheit des Einzelnen zu Art. 230 Abs. 4 EG1069 wurde diese in Art. III-365 Abs. 4 VVE erweitert. Gemäß dieser Norm wird eine Direktklagemöglichkeit des Bürgers gegen Rechtshandlungen der Europäischen Union eröffnet. Der Regelung zufolge können natürliche und juristische Personen gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter bereits dann Klage erheben, wenn diese sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen. Auf den ersten Blick wird damit die Möglichkeit von juristischen und natürlichen Personen erweitert, auch nicht an sie adressierte Rechtshandlungen, insbesondere auch abstrakt-generelle Handlungen anzugreifen Allerdings ist die Formulierung „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ in Art. III-365 Abs. 4 VVE dahingehend zu verstehen, dass es sich um einen Gesetzgebungsakt ohne Gesetzgebungscharakter handeln muss.1070 Demnach sind von der Direktklage nach Art. III-365 Abs. 4 VVE alle Rechtshandlungen mit Gesetzgebungscharakter ausgenommen.1071 Für eine Klage gegen das Europäische Gesetz und das Rahmengesetz i. S. d. Art. I-33 Abs. 1 UA 2, 3 VVE bleibt 1068 Nach der Plaumann-Formel wird eine individuelle Betroffenheit für die Erhebung einer Direktklage durch eine natürliche oder juristische Person gegen eine Entscheidung, die gegenüber einem Dritten oder der Form nach als Verordnung ergangen ist, neben der unmittelbaren Betroffenheit nach Art. 230 Abs. 4 EG gefordert. Diese liegt nur dann vor, wenn die Entscheidung den Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt oder ihn in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten. Siehe dazu EuGH 15.07.1963 – Rs. 25/62 (Plaumann), Slg. 1963, S. 211 (213 f.). Siehe zu der folgenden auf die Plaumann-Formel Bezug nehmenden Rechtsprechung EuG 03.05.2002 – Rs. T-177/01 (Jégo Quéré et Cie SA), Slg. 2002-5/6, S. II-2365 (II2383); EuGH 25.07.2002 – Rs. C-50/00 P (Unión de Pequenos Agricultores), Slg. 2002-7, S. I-6677 (I-6733 f.); EuGH 01.04.2004, Rs. C-263/02 P (Kommission (Jégo Quéré/Kommission), EuZW 2004, S. 343 (344). Siehe zum Ganzen Streinz/Ohler/ Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 76 f.; Wolfram Cremer, EuGRZ 2004, S. 577 (577 f.). 1069 Dies geht auf die Entscheidung des EuGH zurück, womit das ursprüngliche Urteil des EuG aufgehoben wird; vgl. EuGH 01.04.2004, Rs. C-263/02 P (Kommission (Jégo Quéré/Kommission), EuZW 2004, S. 343. Demzufolge ist zwar die Voraussetzung der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit einer natürlichen oder juristischen Person i. S. d. Art. 230 Abs. 4 EG im Licht des Grundsatzes eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes unter Berücksichtigung der verschiedenen Umstände, die einen Kläger individualisieren können, auszulegen. Allerdings kann eine solche Auslegung nicht zum Wegfall der ausdrücklich im Vertrag und Art. 230 Abs. 4 EG vorgesehenen Voraussetzung der individuellen Betroffenheit führen, da ansonsten das Gemeinschaftsgericht seine Befugnisse überschreiten würde. So hatte aber das Gericht erster Instanz, der EuG, entschieden, wonach eine unmittelbar betroffene Person auch als individuell betroffen anzusehen ist, wenn diese Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt; vgl. EuG 03.05.2002 – Rs. T-177/01 (Jégo Quéré et Cie SA), Slg. 2002-5/6, S. II-2365 (II-2383). 1070 Siehe ausführlich dazu Wolfram Cremer, EuGRZ 2004, S. 577 (579 ff.).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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es also bei der Plaumann-Formel. Damit führt Art. III-365 Abs. 4 VVE eine Art Normenkontrolle für untergesetzliche Rechtsnormen ein und verbessert nur in diesem Bereich das Direktklagerecht des Bürgers.1072 In der Sache bringt die Erweiterung der Klagegegenstände auf alle Handlungen der Union in Art. III365 Abs. 4 VVE kaum einen Fortschritt.1073 Der direkte Zugang der Bürger zum Europäischen Gerichtshof wird durch die erweiterte Regelung des Art. III365 Abs. 4 VVE nur unwesentlich erleichtert. 3. Individualrechtsbehelf Die Wahrnehmung des Teils II des Europäischen Verfassungsvertrages als ein Katalog dem Einzelnen zustehender Rechte und die Einforderung derselben kann auf die soziale Identität der Bürger großen rollenprägenden Einfluss haben. Vor allem die Geltendmachung einzelner Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers vor dem Europäischen Gerichtshof kann identitätsstiftende Wirkung entfalten.1074 Ein gemeinschaftsrechtliches Äquivalent zur Verfassungsbeschwerde wird durch den Europäischen Verfassungsvertrag jedoch nicht eingeführt; die Einführung eines grundrechtsspezifischen Rechtsbehelfs in Form einer europäischen Verfassungs- oder Individualbeschwerde wurde mit großer Mehrheit im Verfassungskonvent abgelehnt.1075 Die Notwendigkeit eines nach dem Vorbild der Verfassungsbeschwerde ausgestalteten Rechtsbehelfs ist darüber hinaus sehr umstritten. Gegen die Einführung einer Individualrechtsbeschwerde lässt sich argumentieren, dass gegenwärtig bereits ein Grundrechtskatalog durch die Kasuistik der langjährigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anhand der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der Schutzgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention besteht. Die Kontinuität des Grundrechtsschutzes werde aufgrund der bisherigen Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten auch ohne einen der Verfassungsbeschwerde ähnlichen Individualrechtsbehelf gewährleistet.1076 Denn der Europäische Gerichtshof hat bereits in der Vergangenheit die 1071 Ebenso Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 77; Wolfram Cremer, EuGRZ 2004, S. 577 (579 ff.). 1072 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 77; Wolfram Cremer, EuGRZ 2004, S. 577 (583). 1073 Wolfram Cremer, EuGRZ 2004, S. 577 (578). 1074 Busse, EuGRZ 2002, S. 559 (561). 1075 Calliess, EuZW 2001, S. 261 (267); Wolfram Cremer, EuGRZ 2004, S. 577 (580). Es wird aber von Läufer, Integration 2003, S. 510 (516) prognostiziert, dass der Gerichtshof der Union durch die Inkorporation der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag im Wege der Vorabentscheidung nach Art. III-369 VVE in erheblich größerem Umfang mit grundrechtsrelevanten Fragen befasst werden wird, als dies in der Vergangenheit der Fall war. 1076 Läufer, Integration 2003, S. 510 (515).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Wahrung der Grundrechte durch die europäischen Institutionen sowie durch die Mitgliedstaaten, wenn diese im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig wurden, überprüft und wird dies auch in Zukunft tun.1077 Weiterhin wird gegen einen derartigen Individualrechtsbehelf angeführt, dass der Europäische Gerichtshof in einer Europäischen Union mit ca. 500 Millionen Bürgern durch das Instrument einer Verfassungsbeschwerde völlig überlastet wäre.1078 Eine derartige Argumentation ist aber nicht haltbar. Beispielsweise gewährleistet der Gerichtshof für Menschenrechte in einem weit größeren Raum als dem der Europäischen Union erfolgreich den Schutz der Menschenrechte. Ebenso kann man bei steigendem Beschwerdeanfall Entlastungsmaßnahmen zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit eines Gerichts ergreifen.1079 Die Notwendigkeit einer Individualrechtsbeschwerde könnte sich außerdem bei Inkrafttreten der Grundrechtecharta aus der justiziellen Gewährleistung des Art. II-107 Abs. 1 VVE ergeben.1080 Art. II-107 Abs. 1 VVE gibt als justizielles Recht einen allgemeinen Anspruch auf Zugang zu den Gerichten und formuliert damit eine allgemeine Rechtsweggarantie.1081 Er verbrieft das Recht jeder Person, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.1082 Darüber hinaus könnte sich mittelbar ein spezifischer Grundrechtsschutz gegen das Handeln von Unionsorganen ergeben, wenn die Europäische Union gemäß Art. I-9 Abs. 2 VVE der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten beitritt.1083 Dies würde für den Einzelnen die Mög1077 Dabei sieht der EuGH als Quelle der Grundrechte die allgemeinen ungeschriebenen Rechtsgrundsätze an, die der Gerichtshof hauptsächlich durch wertende Rechtsvergleichung aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ableitet. Die positiven Referenzpunkte der allgemeinen ungeschriebenen Rechtsgrundsätze sind allerdings undurchsichtig und unter rechtsstaatlichen Aspekten problematisch. Es ist insbesondere unklar, welches Grundrecht durch den Eklektizismus des EuGH künftig zu einem gemeineuropäischen Grundrecht erklärt und inhaltlich konkretisiert wird. Siehe dazu Hitzel-Cassagnes, Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2000, S. 22 (24, 29). 1078 So vertreten von Cromme, Verfassungsvertrag der Europäischen Union, S. 172. Siehe dazu Läufer, Integration 2003, S. 510 (515). 1079 Siehe zu entsprechenden Entlastungsmaßnahmen Jaeger, EuGRZ 2003, S. 149 (149 ff.); Läufer, Integration 2003, S. 510 (515). 1080 So auch vertreten von Bast, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 34 (44). 1081 Diese ist vergleichbar mit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Damit geht II-107 VVE über Art. 6 EMRK hinaus, der eine Beschränkung auf Zivil- und Strafverfahren enthält; Calliess, EuZW 2001, S. 261 (263 f.). 1082 Diesbezüglich ist aber fraglich, ob unter „Gericht“ i. S. d. Art. II-107 Abs. 1 VVE ein europäisches Gericht gemeint ist oder ob ein mitgliedstaatliches Gericht ebenfalls ein „Gericht“ im Sinne dieser Norm darstellt. Zur Klärung dieser Frage muss die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes abgewartet werden. 1083 Durch den anstehenden von der Regierungskonferenz auszuarbeitenden Reformvertrag soll dies in einem geänderten Art. 6 Abs. 4 EU enthalten sein, wonach die Union der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfrei-
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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lichkeit einer Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK gegen Unionsakte nach Erschöpfung aller unionsrechtlichen Rechtsbehelfe nach Art. 35 Abs. 1 EMRK beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eröffnen.1084 Die Europäische Union würde sich damit demselben institutionellen Grundrechtsschutzsystem unterwerfen, dessen Anerkennung sie als Beitrittsvoraussetzung formuliert.1085 Prüfungsmaßstab wären in diesem Fall aber die Grundrechte der EMRK und nicht die des Teils II des Verfassungsvertrages. Nach der Regelung des Art. II122 Abs. 3 VVE sind die Gewährleistungen beider Vertragswerke zwar homogen auszulegen.1086 Art. II-122 Abs. 3 und 4 VVE zielt – ausgehend von der Grundrechtecharta – auf eine Einheitlichkeit der Grundrechtsinterpretationen. Die Grundrechtsgewährleistungen des Verfassungsvertrages können aber allein den Europäischen Gerichtshof – nicht jedoch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – binden.1087 Daher würden sich die Bürger über den Rechtsbehelf der Individualrechtsbeschwerde nach Art. 34 EMRK eher mit den Grundrechten der EMRK anstatt mit denen der Europäischen Union identifizieren. Darüber hinaus kann das Dreiecksverhältnis zwischen nationalem Grundrechtsschutz, dem Schutz der Grundrechtecharta und dem der Europäischen Menschenrechtskonvention zu Abstimmungsproblemen der Rechtssprechung der jeweiligen mitgliedstaatlichen obersten Gerichte, dem Europäischen Gerichtshof sowie dem Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte führen.1088 Zwar könnte die Pluralität der Grundrechtsordnungen den Grundrechtsschutz bei einer erfolgreichen Zusammenarbeit der Gerichte stärken. Allerdings drohen durch die verschiedenen Grundrechtsordnungen auch Effizienz- und Effektivitätseinbußen.1089 Denn die rechtsprägenden Umfeldbedingungen des Raumes der Europäischen Menschenrechtskonvention, des Gebietes der Europäischen Union und des jeweiligen Mitgliedstaates differieren stark voneinander.1090 Eventuelle Abstimmungsprobleme zwischen den verschiedenen Rechtsräumen gehen damit zu heiten beitritt; vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ue Docs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 26. 1084 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (547); Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (757). 1085 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (547). 1086 Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (757). 1087 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 81. Zum Verhältnis der „Grundrechtsschichten“ zueinander Grabenwarter, EuGRZ 2004, S. 563 (566 f.). 1088 Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (757). Siehe dazu auch Calliess, EuZW 2001, S. 261 (268), der von einer „Inflation des Grundrechtsschutzes“ spricht. 1089 Papier, EuGRZ 2004, S. 753 (757). 1090 Siehe dazu Hirsch, EuR Beiheft I/2006, S. 7 (18).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Lasten der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit. Die Rechtsschutzlücke durch die Nichteinführung eines Individualrechtsbehelfs ist vor allem im Bereich der Geltendmachung der gemeinschaftlichen Grundrechte gravierend.1091 IV. Ergebnis Insgesamt bestehen im Verfassungsvertrag Lücken beim Zugang natürlicher und juristischer Personen zum Europäischen Gerichtshof. Das Fehlen einer Individualrechtsbeschwerde nach dem Vorbild der Verfassungsbeschwerde stellt ein erhebliches Defizit im Hinblick auf eine Einbeziehung der Bürger dar.1092 Denn den Unionsbürgern werden im Verfassungsvertrag zwar eigene Grundrechte und Grundfreiheiten versprochen. Sie können sich aber nicht an das Gericht derjenigen Körperschaft wenden, die sich als Garant dieser Rechte begreift.1093 Die Grundrechte der Grundrechtecharta können von den Bürgern mangels einer Individualrechtsbeschwerde kaum als Abwehrrechte gegen die europäische Hoheitsgewalt in Anspruch genommen werden. Dadurch entsteht eine Situation, in der die unterschiedlichen Schutzsysteme der Europäischen Union, der Mitgliedstaaten und des Europarates in Konkurrenz miteinander treten und Widersprüche verursachen.1094 Abgesehen von der Nichtigkeitsklage gemäß Art. III-365 Abs. 4 VVE hat der Bürger keine Möglichkeit, Rechtsschutz unmittelbar vor dem EuGH zu erlangen. Insofern kann der EuGH kaum eine ähnlich integrative Wirkung in der Europäischen Union entfalten wie dies dem Bundesverfassungsgericht in der Bundesrepublik Deutschland geglückt ist. Mangels einer Individualrechtsbeschwerde kann die Einklagbarkeit von Grundrechten nicht rollenprägend wirken. Die Ausbildung einer europäischen Identität kann sich im Ergebnis kaum an den Grundrechten als Kategoriensystem für den Einzelnen orientieren. An diesem Befund wird auch der Vertrag von Lissabon nichts ändern, denn in den Regelungen der Art. 251 ff. AEUV1095, Art. 19 Abs. 1 EU n. F.1096 ist ein Indi1091 So auch zutreffend Dossi, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 29 (35). 1092 So auch Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 83. 1093 Läufer, Integration 2003, S. 510 (515). 1094 Siehe ausführlich zu den Schwierigkeiten des Schutzes der Grundrechte durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg infolge der Grundrechtepluralität Hirsch, EuR Beiheft I/2006, S. 7 (7 ff.). 1095 Diese Normen entsprechen Art. III-353 ff. VVE. Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 157 ff. 1096 Siehe dazu Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 27.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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vidualrechtsbehelf ebenfalls nicht vorgesehen, so dass es bei dem Mangel an identitätsprägenden Rechtsbehelfen für die Bürger bleiben wird.
J. Abgrenzung der Europäer Die Abgrenzung und Unterscheidbarkeit von Fremdgruppen ist maßgeblich für eine gleichgerichtete Wahrnehmung von Menschen, zu derselben Gruppe zu gehören. Damit muss nicht notwendig eine Ausgrenzung bestimmter Gruppen oder Personen verbunden sein.1097 Die Konzeption einer Abgrenzung der Europäer von anderen liegt auch dem Europäischen Verfassungsvertrag zugrunde.1098 Dies verdeutlicht die Formulierung des Art. I-4 Abs. 4 VVE „übrige Welt“. Diese Abgrenzung betrifft sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik. I. Innenpolitische Abgrenzung über das europäische Sozialmodell Durch die Ergänzung der liberalen Grundrechte um soziale Rechte können gesellschaftliche Ungleichheiten und damit einhergehende Integrationsprobleme abgebaut werden, die die Stabilität eines Gemeinwesens gefährden.1099 Auf die Integrationsfunktion des sozialen Ausgleichs hat bereits Hermann Heller hingewiesen.1100 Die friedensstiftende Wirkung sozialer Rechte besteht in der internen Homogenisierung einer Gruppe. Sozialpolitik kann darüber hinaus auch die Motivation der Bürger insgesamt steigern.1101 Diesen Gedanken greift der Verfassungsvertrag auf. Laut der zweiten Präambelerwägung wirkt das geeinte Europa „zum Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und Ärmsten“. Art. I-3 Abs. 3 UA 2 VVE legt die Union auf das Ziel der sozialen Gerechtigkeit fest. Schließlich werden in Teil II des Verfassungsvertrages in Titel IV unter der Überschrift „Solidarität“ soziale Grundrechte normiert, Art. I-87 ff. VVE. Die in Teil IV geregelten sozialen Rechte wurden im Schrifttum als Elemente eines Wandels von negativer zu positiver Integration eingefordert.1102 Dadurch soll die Herausbildung einer eigenen und
1097
Siehe dazu oben S. 50 f. So auch vertreten von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (59). 1099 Hurrelmann, Integration und Verfassung in Europa, S. 151. 1100 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (430 f.) und siehe dazu oben S. 134 f. 1101 Meessen, EuR 1999, S. 701 (706). 1102 So vertreten von Alston/Weiler, in: Alston (ed.), The EU and Human Rights, S. 3 (14 ff., 18, 31 ff.); Preuß, KJ 1998, S. 1 (5 f.). Siehe dazu Calliess, EuZW 2001, S. 261 (264); kritisch zu sozialen Grundrechten von Bogdandy, JZ 2001, S. 157 (159 f., 161 f.). 1098
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
unverwechselbaren Grundrechtsidentität der Europäischen Union gefördert werden.1103 Grundsätzlich ist eine Stärkung der sozialen Rechte aufgrund der mit ihnen verbundenen positiven Assoziationen begrüßenswert. Diese ist auch an den Eurobarometer-Umfragen ablesbar. Für 72% der Bürger in der Europäischen Union ist demzufolge der Begriff „Soziale Sicherheit“ positiv besetzt.1104 Nach Meinung der Bürger hat die Europäische Union gegenüber den USA auch einen Vorsprung bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheit.1105 Die Berücksichtigung sozialer Grundrechte grenzt die Europäische Union damit deutlich gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika ab.1106 Demgegenüber wird an der Aufnahme sozialer Rechte in den Europäischen Verfassungsvertrag in normativer Hinsicht kritisiert, dass diese die nationalen Grundrechtsordnungen weitgehend verdrängen könnten.1107 Ihre Verankerung im Verfassungsvertrag war und ist umstritten.1108 Als Kompromisslösung wurden daher die einschlägigen sozialen Rechtspositionen aufgrund der damit verbundenen ideologischen Gegensätzlichkeiten in den Art. I-87 ff. VVE sehr elastisch formuliert.1109 Darüber hinaus werden in Art. II-87 ff. VVE teilweise Rechte formuliert, die mangels Kompetenz seitens der Europäischen Union nicht eingelöst werden können.1110 Insoweit wird auch hier die Parallelität von Grundrecht und Kompetenz nicht beachtet.1111 Dieses Defizit wird durch die Regelungstechnik der Art. II-87 ff. VVE verdeutlicht. Die meisten Rechte werden nach Unionsrecht und „den einzelstaatlichen Rechts-
1103 So vertreten von Pache, EuR 2002, S. 767 (781); Lerch, in: Ulbert/Weller (Hrsg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, S. 215 (234); Meessen, EuR 1999, S. 701 (706); ähnlich Weber, NJW 2000, S. 537 (538). 1104 Damit steht die „soziale Sicherheit“ als Schlüsselbegriff in der positiven Wertung der europäischen Bürger ganz oben; nur für 22% ist dieser Begriff nicht positiv besetzt. Siehe dazu Eurobarometer 63, S. 57 f. 1105 Eurobarometer 64, S. 144 f. 1106 Die Vereinigten Staaten von Amerika nehmen für sich in Anspruch, das „Streben nach Glück“ zu fördern und haben insofern als Verfassungsnation eine ausgesprochen positive Konnotation ihrer Eigengruppe gegenüber dem Rest der Welt. Aus diesem Grund wird vertreten, dass viele der Besonderheiten, die der Europäische Verfassungsvertrag hinsichtlich der Gruppe der Europäer aufzählt, auf eine Abgrenzung von den Vereinigten Staaten von Amerika abzielen. Teilweise besteht sogar die Auffassung, dass sich die Europäer überhaupt nur gegen die Vereinigten Staaten konstituieren können. Siehe dazu von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (59). 1107 von Bogdandy, JZ 2001, S. 157 (161 f.). Siehe zu den Bedenken der deutschen Bundesländer im Hinblick auf die sozialen Rechte der Grundrechte-Charta Knöll, NJW 2000, S. 1845 (1846 f.). 1108 Siehe dazu auch Tettinger, NJW 2001, S. 1010 (1014). 1109 Bossi, in: Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse, S. 203 (230). 1110 Calliess, EuZW 2001, S. 261 (264). 1111 Siehe dazu oben S. 368.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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vorschriften und Gepflogenheiten“ gewährt.1112 Die Ausgestaltung der Sozialpolitik ist damit weiterhin Sache der Mitgliedstaaten.1113 Eine Abgrenzung gegenüber Drittstaaten über die Betonung einer sozialgerichteten Identität der Europäischen Union erscheint daher nicht gut gewählt. Es wird zwar vertreten, dass das europäische Sozialmodell als ein Zentralelement europäischer Identität nicht davon abhänge, dass alle diesbezüglichen politischen Handlungskompetenzen bei der Europäischen Union liegen oder die betreffenden Regelungen auf europäischer Ebene realisiert werden. Es müssten vielmehr in den europäischen Mitgliedstaaten verbindlich geltende Mindeststandards bestehen als Voraussetzung dafür, dass das Projekt einer sozialen Identität Europas zu einer realen Erfahrung werden kann und auf diese Weise Identität stiftet.1114 Diese Ansicht ist aber unter dem Aspekt einer erfolgreichen Identitätsstiftung nicht haltbar. Denn es besteht durch die Normierungen der Art. II-87 ff. VVE die Gefahr, durch Textlyrik dem Bürger uneinlösbare Versprechen in Aussicht zu stellen und so Enttäuschungen der Betroffenen herauszufordern, wenn diese mangels Kompetenz von der Europäischen Union nicht erfüllt werden können.1115 Weiterhin besteht ein rechtsnormatives Problem sozialer Rechte darin, dass soziale Gewährleistungen in hohem Maße konkretisierungsbedürftig und mangels einer Individualrechtsbeschwerde im Verfassungsvertrag nicht hinreichend justiziabel sind.1116 Die Normierung sozialer Rechte ist im Ergebnis für die Bürger kaum einklagbar und deshalb nicht glaubwürdig. Eine innenpolitische Abgrenzung über das europäische Sozialmodell gelingt nicht. Daran ändert auch der Vertrag von Lissabon nichts. Art. 3 Abs. 3 UA 2 und 3 EU n. F.1117 entspricht der Regelung des Art. I-3 Abs. 3 UA 2 VVE und legt die Union ebenfalls auf das Ziel der sozialen Gerechtigkeit fest. Zwar soll die Grundrechtecharta nicht mehr in die Verträge eingefügt werden, sondern selbständig in Kraft treten. Nach dem Vertrag von Lissabon wird die EU-Grundrechtecharta aber gemäß Art. 6 Abs. 1 EU n. F.1118 von der Union anerkannt und sie soll Rechtsverbindlichkeit erlangen. Desweiteren werden unter der Überschrift „Solidarität“ soziale Grundrechte in Art. 27 ff. EU-Grundrechtecharta
1112 Beispiele dafür sind die in Art. II-87, II-88, II-90, II-94, II-95, II-96 VVE normierten sozialen Rechte. 1113 Meessen, EuR 1999, S. 701 (706). 1114 So auch Meyer, Die Identität Europas, S. 195. 1115 Tettinger, NJW 2001, S. 1010 (1014). 1116 Hurrelmann, Integration und Verfassung in Europa, S. 151. 1117 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17. 1118 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 19.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
normiert,1119 die für den Bürger auch nach der Konzeption des Vertrages von Lissabon nicht einklagbar sein werden. II. Abgrenzung nach außen 1. Außenpolitische Abgrenzung zu den USA Nach Art. I-3 Abs. 4 VVE schützt und fördert die Europäische Union ihre Werte und Interessen in ihren Beziehungen zur übrigen Welt. Sie trägt insbesondere zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen bei. Diese Zielbestimmung wird in Art. III-292 f. VVE näher konkretisiert.1120 Zunächst waren es die USA, die zur Etablierung des Völkerrechts am Ende des Zweiten Weltkrieges beigetragen und viel für seinen Schutz getan haben.1121 Jedoch wird Art. I-3 Abs. 4 VVE als eine entschiedene völkerrechtsbezogene Abgrenzung der Europäischen Union gegenüber den USA interpretiert.1122 Das besondere Engagement der Europäischen Union zur Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts sei eine Folge der jüngsten Erfahrungen.1123 Die entschiedene Abgrenzung resultiere insbesondere aus den Auseinandersetzungen über die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes, unter dessen Rechtsprechung sich die USA nicht unterordnen wollen, und aus dem Beginn des Irakkrieges. Auch könne die Regelung des Art. III-292 Abs. 2 lit. f) VVE mit dem Ziel der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt als Reaktion auf die Nichtunterzeichnung des Kyoto-Protokolls durch die USA angesehen werden. Deshalb wurde den Vereinigten Staaten von Amerika in der letzten Zeit die Autorität abgesprochen, noch als Anwalt des Völkerrechts auftreten zu können.1124 Die Art. I-3 Abs. 4 VVE und Art. III-292 VVE normieren geradezu 1119 Siehe zu dem Vorhaben des Europäischen Rates, die Arbeiten zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme in der Europäischen Union energisch voranzutreiben Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_ Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 9. 1120 Nach Art. III-292 Abs. 1 VVE will die Union der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der universellen Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenwürde, dem Grundsatz der Gleichheit und dem Grundsatz der Solidarität sowie der Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts durch ihr Handeln weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen. 1121 Meyer, Die Identität Europas, S. 201. 1122 von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). Siehe dazu auch Rosenfeld, The European Treaty – Constitution and Constitutional Identity, S. 3 (18), der die Bedeutung einer Abgrenzung gegenüber den Vereinigten Staaten für eine europäische auf den Verfassungsvertrag bezogene Identität hervorhebt. 1123 Jopp/Regelsberger, Integration 2003, S. 550 (551). Siehe dazu auch Vernet, EuGRZ 2004, S. 584 (586 f.).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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ein Kontrastprogramm der europäischen Politik zur amerikanischen Außenpolitik des letzten Jahrzehnts.1125 Dieses Abgrenzungselement des Europäischen Verfassungsvertrages könnte aber ebenso dazu genutzt werden, ein antiamerikanisches Selbstbild innerhalb der Union zu fördern.1126 Dies ist unter dem Aspekt einer einheitlichen Wahrnehmung der Europäischen Union durch die Bürger heikel. Denn die Stimmungen gegenüber Amerika sind innerhalb der Union gespalten. Zwar wünschen sich 80% der Bürger eine von der Politik der USA unabhängige europäische Außenpolitik.1127 Darüber hinaus fällt auch das Urteil der Bürger über die Rolle der Vereinigten Staaten in den außenpolitischen Bereichen der Friedenssicherung, der Terrorismusbekämpfung, des Umweltschutzes, des Wachstums der Weltwirtschaft sowie des Kampfes gegen die Armut in der Welt nicht positiv aus; die Bürger halten die Europäische Union in allen genannten Bereichen für engagierter als die USA.1128 Eine zu intensive Abgrenzung des Europäischen Verfassungsvertrages zu den Vereinigten Staaten von Amerika ist aber auch mit Gefahren für die Einheit der Union und damit für die Stiftung einer kollektiven europäischen Identität verbunden. Die Bruchstelle einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik betraf in der Vergangenheit hauptsächlich das unterschiedliche Verhältnis der jeweiligen Mitgliedstaaten zu den USA.1129 Hier treffen hauptsächlich die konträren Positionen Großbritanniens und Frankreichs aufeinander. Großbritannien hat aufgrund seiner Geschichte und der gemeinsamen Sprache ein Sonderverhältnis zu den USA und verfolgt eine sehr enge Anbindung an deren Außenpolitik mit dem Ziel der Einflussnahme im Detail. Aber auch die neuen osteuropäischen Beitrittsländer qualifizieren die USA als einen wichtigen Bündnispartner, an dem sie sich orientieren.1130 Demgegenüber betreibt Frankreich eine europäische Gegenmachtbildung gegenüber den USA und setzt auf entschiedene Abgrenzung.1131 Eine einheitliche Einstellung der Mitgliedstaaten zu den USA ist daher auch in Zukunft schwer vorstellbar. Insofern könnte die Förderung eines antiamerikanischen Selbstbildes in Teilen der Union zu einer Spaltung der europäischen Außenpolitik und zu einer tief reichenden außenpolitischen Fraktionierung führen. Eine solche interne Spaltung der Union würde zu einer uneinheitlichen Wahrnehmung der europäischen Politik gegenüber den USA bei den Bürgern führen und so die Ausbildung einer kollektiven
1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131
Meyer, Die Identität Europas, S. 201. So Risse, Integration 2003, S. 564 (566). So von Bogdandy, JZ 2004, S. 53 (60). Eurobarometer 65, S. 127. Vgl. Eurobarometer 62, S. 125. Risse, Integration 2003, S. 564 (573). Meyer, Die Identität Europas, S. 198. Risse, Integration 2003, S. 564 (573).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
europäischen Identität behindern.1132 Eine europäische Identität sollte nicht über die Förderung eines anti-amerikanischen Selbstbildes etabliert werden. Diese Aussage behält auch vor dem Hintergrund des Vertrages von Lissabon ihre Gültigkeit, da die zukünftigen Art. 3 Abs. 5 EU n. F.1133, Art. 21 EU n. F.1134 den erörterten Art. I-3 Abs. 4 VVE, Art. III-292 VVE wörtlich entsprechen und so deren Regelungen in das europäische Primärrecht inkorporieren. 2. Abgrenzung nach Osten Am 01. Mai 2004 wurden 10 neue Mitgliedstaaten in die Europäische Union aufgenommen. Abgesehen von Malta und Zypern waren die übrigen Beitrittsländer Staaten des ehemaligen Ostblocks, die ein halbes Jahrhundert unter dem kommunistischen Einfluss der Sowjetunion standen.1135 Dem Beitritt gingen fünf- bis zehnjährige Verhandlungen voraus, die am 16. April 2003 zum Vertrag von Athen führten.1136 Am 01. Januar 2007 traten als bisher letzte Länder die ehemaligen Ostblockstaaten Rumänien und Bulgarien der Europäischen Union bei. Damit hat die Union gegenwärtig 27 Mitgliedstaaten. Noch nie ist sie innerhalb so kurzer Zeit um so viele Staaten gewachsen; immer schneller wurden in den letzten Jahren neue Staaten in die Europäische Union aufgenommen. Die Osterweiterung lässt sich indessen weder aus der Perspektive der Beitrittsstaaten noch aus der Perspektive der alten Union allein mit ökonomischen Erwägungen erklären.1137 Denn mit ihr wurde ein Hauptziel der europäischen Integration – nämlich die endgültige Überwindung des Ost-West-Konfliktes zur Festigung und Stabilisierung des Friedens in Europa – erreicht.1138 Das Ziel war in politischer Hinsicht angesichts der Überwindung der Teilung des Kontinents sehr wünschenswert. Es soll vorliegend aber nicht um eine politische Bestimmung der Grenzen Europas gehen, sondern um deren Auswirkung auf identitäre Kategorisierungsprozesse bei den Bürgern.
1132
So die Befürchtung von Bogdandys, JZ 2004, S. 53 (60). Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 17. 1134 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 28. 1135 Blanke, EuR 2005, S. 787 (791). 1136 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Amtsblatt der Europäischen Union, L 236, abrufbar unter: http://europa.eu.int/eur-lex/lex /JOHtml.do?uri=OJ:L:2003:236:SOM:DE:HTML (15.02.2007). 1137 Blanke, EuR 2005, S. 787 (797). 1138 So hat beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland die Erweiterungsrunde nicht zuletzt aus geopolitischen Gründen unterstützt, um das Risiko instabiler Staaten und ethnischer Konflikte an den östlichen Grenzen zu verringern; Blanke, EuR 2005, S. 787 (797). 1133
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
441
Aus sozialpsychologischer Sicht steht der Erweiterung einer Gruppe um eine andere Gruppe grundsätzlich nichts entgegen. Durch den Abbau der Unterschiede und Abgrenzungen zwischen den beiden Gruppen wird eine gemeinsame kollektive Identität anhand von Kommunikationsprozessen neu kategorisiert.1139 Die Häufigkeit der Erweiterungen sowie ihr Umfang und die Frage der offenen Finalität können aber zu einem ernsthaften Hinderungsgrund für die Ausbildung kollektiver Identität bei den Bürgern werden.1140 Eine qualitative und quantitative Überdehnung kann jede Gemeinschaft nach einer gewissen Zeit desintegrieren und ihr Bestehen in Frage stellen.1141 Eine offene Finalität der europäischen Integration ist demzufolge auch unter sozialpsychologischen Erwägungen ein Hindernis für eine erfolgreiche Identitätsstiftung. Wenn die rechtlichen Kategorien einer Verfassung infolge ihrer Elastizität zu unbestimmt sind, können die verfassungsrechtlichen Kategorien nicht mehr als Ordnungsrahmen für die eingehenden Informationen bei den Individuen wirken.1142 Für die intersubjektiven Kategorien der Raumbezogenheit und Zukunftsbezogenheit europäischer Identität ist die Finalität der Integration Europas maßgeblich. Vertiefung in einem umfassenderen Sinn muss daher über institutionell-strukturelle Reformen hinaus auch auf die Klärung der politischen Finalität der Europäischen Union gerichtet sein.1143 Dessen ungeachtet wird die Finalität der europäischen Integration im Verfassungsvertrag nicht klar umrissen. Der Verfassungsvertrag übernimmt in Art. I58 Abs. 1 VVE die Formulierung des „europäischen Staates“ gemäß Art. 49 Abs. 1 EU. Auch der infolge des Scheiterns des Verfassungsvertrages notwendig gewordene Vertrag von Lissabon behält in Art. 49 EU n. F.1144 die Formulierung des „europäischen Staates“.1145 Damit bleibt die Frage nach den Grenzen 1139 Sanchez-Mazas et al., in: Mummendey/Simon (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 149 (153 f.). 1140 Dies problematisiert auch Depenheuer, in: Buchstab/Uertz (Hrsg.), Nationale Identität im vereinten Europa, S. 55 (55 ff. v. a. 68). 1141 So Depenheuer, in: Buchstab/Uertz (Hrsg.), Nationale Identität im vereinten Europa, S. 55 (58). 1142 Vgl. Angelucci, Zur Ökologie einer europäischen Identität, S. 38 f.; Tajfel/Forgas, in: Forgas (ed.), Social Cognition, S. 113 (113 ff.); Weidenfeld, in: ders./Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Identität, S. 376. Siehe dazu auch oben S. 227 f. 1143 Blanke, EuR 2005, S. 787 (790); Nettesheim, FS für Häberle, S. 193 (197). 1144 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 43. 1145 Der Vertrag von Lissabon sieht eine Änderung des Art. 49 Abs. 1 EU lediglich dahingehend vor, dass ein neuer letzter Satz im Anschluss an die bisherige Regelung aufgenommen wird. Demzufolge wird ausdrücklich die Berücksichtigung der vom Europäischen Rat vereinbarten Kriterien angeordnet. Siehe dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec /94935.pdf (07.07.2007), S. 27.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Europas nach wie vor ungeklärt. Gemäß der Erklärung von Laeken1146 sind die einzigen Grenzen der Europäischen Union die der Demokratie und der Menschenrechte. Die Union steht nach dieser Erklärung allen Ländern offen, die ihre Grundwerte, wie freie Wahlen, Achtung der Minderheiten und Rechtsstaatlichkeit, teilen.1147 Deswegen stellt sich angesichts der Regelung des Art. I-58 Abs. 1 VVE weiterhin die Frage der Abgrenzung der Europäischen Union gegenüber außerhalb des europäischen Subkontinents liegender Staaten. Denn die bislang bekannte Randunschärfe der adjektivischen Eigenschaft eines Staates als „europäisch“ bleibt weiter bestehen.1148 Auch die Präambel des Europäischen Verfassungsvertrages enthält keinen Hinweis auf die Grenzen der Union. Es wird lediglich der Begriff „Europa“ verwendet. Die Eingangsformulierung des Art. I-1 Abs. 1 VVE rekurriert ebenfalls nicht auf die Unionsbürger, sondern auf alle Bürger der Staaten Europas.1149 Dadurch sollte kein Staat aus der Europäischen Union ausgeschlossen werden. Damit wurde der für eine Identitätsstiftung wichtige Aspekt der Abgrenzung nicht berücksichtigt. Hinzu kommt ein weiteres Element, das für die Ausbildung kollektiver Identität hinderlich ist. Die Abwehr einer externen Bedrohung führt zu einer deutlich stärker ausgeprägten kollektiven Identität als dies durch die Benennung und Vergewisserung der eigenen positiven Gemeinsamkeiten in komplexen Gesellschaften möglich ist.1150 Diesen Gedanken hat bereits Hermann Heller in seinem Konzept einer Schicksalsgemeinschaft ausgeführt.1151 Der Druck von außen auf Westeuropa war einer der maßgeblichen Gründe für die europäische Integration und der ursprüngliche Identitätsmotor Europas. Die Ansätze einer europäischen Identität bei den Bürgern der „alten Union“ haben sich maßgeblich an der Abgrenzung gegenüber dem kommunistischen Ost-Block orientiert. In welchem Maße die einzelnen Mitglieder einer bisherigen Gruppe bereit sind, auch die neuen Mitglieder als eine Gruppe zu begreifen, mit der sie sich identifizieren können, hängt von ihrer jeweiligen Einstellung gegenüber den neuen Gruppenmitgliedern ab.1152 Insofern könnte der Kategorienwechsel von Out-
1146 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Laeken am 14./15. Dezember 2001, abrufbar unter: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs /pressData/de/ec/68829.pdf (12.02.2007), S. 20. 1147 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Laeken am 14./15. Dezember 2001, abrufbar unter: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs /pressData/de/ec/68829.pdf (12.02.2007), S. 20. Siehe dazu Blanke, EuR 2005, S. 787 (800). 1148 Die ungenaue Abgrenzung resultiert aus der Unschärfe des Subkontinents nach Osten. Siehe dazu oben S. 35 f.; S. 82 m.w. N. 1149 So der Hinweis von Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (420). 1150 Giesen, in: Viehoff/Segers (Hrsg.), Kultur Identität Europa, S. 130 (133). 1151 Siehe dazu oben S. 131 und S. 307; Heller, Staatslehre, S. 266; Heller, Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (429).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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group zu Ingroup durch die Osterweiterung innerhalb von ca. 15 Jahren nach dem Zusammenbruch des Ost-Blocks zu schnell gegangen sein. Kollektive Identitäten sind zwar nicht starr und unveränderlich. Es ist aber ein gewisser Zeitraum notwendig, damit die Gruppenmitglieder ihre Kategorisierungsprozesse an veränderte Kategorien anpassen.1153 Die Ost-West-Spaltung Europas währte fast ein halbes Jahrhundert. Insofern besteht die Gefahr, dass der Transitionszeitraum von 15 Jahren für die Mehrzahl der Europäer zu kurz für derartige kategoriale Anpassungsprozesse ist.1154 Als Grund für längere Anpassungszeiträume kann die vorherige starke Abgrenzung Westeuropas gegenüber den Ostblockstaaten und der lange Zeitraum der Spaltung Europas angegeben werden. Ein Indiz dafür sind auch die Umfragewerte von Eurobarometer, wonach die Staaten in Richtung Osten als immer weniger europäisch bei den Bürgern angesehen werden.1155 Bisher hat die Europäische Union aufgrund der ständig wechselnden Grenzen keinen stabilen Bezugspunkt für die Ausbildung einer europäischen Identität.1156 Ebenso wenig kann sie eine nach dem historischen Identitätsbegriff relevante Zukunftsorientierung anbieten, denn das Ziel des europäischen Integrationsprozesses wird bewusst offen gelassen.1157 Insoweit wird sogar ein Auseinanderfallen der Europäischen Union oder ihre Rückentwicklung zu einer rein ökonomisch integrierten Freihandelszone befürchtet.1158 Im Ergebnis wirken sich die schnellen Erweiterungsrunden in Kombination mit einer Offenhaltung der Finalität der europäischen Integration ungünstig auf den sozialpsychologischen Faktor der Abgrenzung gegenüber anderen aus. 3. Abgrenzung zur Türkei Die Herausforderung von Außen durch den Islam ist nach einer Ansicht schon immer relevant für die Abgrenzung und das Selbstbewusstsein Europas gewesen; der Islam sei von dem Ende der Antike an bis zur Neuzeit der eigent1152 Sanchez-Mazas et al., in: Mummendey/Simon (Hrsg.), Identität und Verschiedenheit, S. 149 (154). 1153 Angelucci, S. 160 f., 163 f. 1154 Siehe dazu Blanke, EuR 2005, S. 787 (797). 1155 So befürworten viele Bürger eine Aufnahme Norwegens (77%), der Schweiz (77%) und Islands (68%) in die Europäische Union. Die Zustimmung eines Beitritts von Mazedonien und Bosnien-Herzegowina liegt bei 41 bzw. 40%; der Zustimmungswert für die Ukraine bei 36%, für Serbien und Montenegro bei 36% und für einen Beitritt Albaniens sprechen sich mit 33% ähnlich wenige wie für die Türkei (31%) aus. Je weiter nach Osten die genannten Staaten liegen, desto weniger Bürger stimmen ihrer Aufnahme in die Europäische Union zu. Siehe dazu Eurobarometer 64, S. 136 f. 1156 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 170. 1157 Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 170. 1158 So Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, S. 542 (543).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
liche geistige Gegenspieler Europas gewesen.1159 Das Problem eines Beitritts der Türkei soll vorliegend aber nicht anhand einer Beurteilung der mehrheitlich politischen Argumente für und wider eine Aufnahme der Türkei erörtert werden.1160 Denn an dieser Fragestellung werden die Ideologisierbarkeit und die Politisierung der jeweiligen Integrationsmodelle besonders deutlich. Diejenigen, die traditionell von einem Wertekonsens oder einer wie auch immer gearteten Homogenität als Voraussetzung für die Integration eines Gemeinwesens ausgehen, müssen den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union folgerichtig ablehnen. Denn aufgrund der unterschiedlichen Kulturräume werden die Kategorien für eine europäische Identität zwangsläufig abstrakter und es lässt sich noch weniger ein gemeinsamer vorrechtlicher historischer, kultureller oder sonstiger substantieller Nenner finden. Demgegenüber werden diejenigen, die eine kollektive Identität in Bezug auf die Legitimität eines Gemeinwesens für entbehrlich halten und rechtsförmige Verfahren als ausreichend für die Integration eines Gemeinwesens ansehen, einem Beitritt der Türkei neutral oder befürwortend gegenüber stehen. Aufgrund ihrer ideologischen Aufladung soll die Frage eines Beitritts der Türkei auf rechtliche und sozialpsychologische Erkenntnisse eingegrenzt werden. a) Fehlen eines Gottesbezuges Die letztlich nicht erfolgte Normierung eines Gottesbezuges in den Präambeln des Verfassungsvertrages wurde als der gescheiterte Versuch angesehen, die Türkei frühzeitig aus der Europäischen Union herauszudefinieren.1161 Die Europäische Union hätte sich aber anhand eines Gottesbezuges in der Präambel des Verfassungsvertrages oder des Vertrages von Lissabon nicht gegenüber der Türkei abgrenzen können. Bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt leben ca. 15 Millionen Muslime in der Europäischen Union.1162 Darüber hinaus ist die Türkei kein islamisches Land. Vielmehr hat im Zuge der Entwicklungen nach 1926 1159
So vertreten von Weidenfeld, in: ders. (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 13 (18). In der Pro- und Contra-Argumentation hinsichtlich der Beitrittsfrage der Türkei lassen sich außen-, sicherheits- und geopolitische Überlegungen ausmachen. Auch kulturelle und religiöse Aspekte werden ebenso wie die Gefahr einer Überforderung der Union angeführt. Weitere Gegenargumente stellen demokratiepolitische Bedenken, die Menschenrechts- und Minderheitenproblematik sowie die wirtschaftliche und politische Situation der Türkei dar. Siehe ausführlich dazu Isak, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 175 (175 ff.; 181 ff.). Zur rechtlichen Bewertung eines möglichen Anspruchs auf Beitritt siehe Zeh, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 81 (81 ff.). 1161 Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (52). Bezüglich der Aufnahme eines Gottesbezuges in die Präambel der Grundrechtecharta Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 32. 1162 So die Zahlen von Riedel, EuR 2005, S. 676 (678). 1160
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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eine radikale Laizisierung des türkischen Rechts nach französischem Vorbild stattgefunden.1163 Aus diesem Grund lehnt die Türkei einen Gottesbezug in der Präambel aufgrund ihrer laizistischen Tradition, nicht aber aufgrund der Tatsache, dass die Mehrheit ihrer Bevölkerung muslimischen Glaubens ist, ab.1164 Die normative Wirkung eines Gottesbezuges in der Präambel eines europäischen Vertrages ginge darüber hinaus nicht so weit, dass eine etwaige Bezugnahme auf das Christentum in der Präambel als Argument gegen den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ausgelegt werden könnte.1165 Denn wenigstens die drei monotheistischen Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – lassen sich zwanglos dem Gottesbegriff zuordnen.1166 Ein Gottesbezug kann auch nicht als Bekenntnis für eine bestimmte Religion, etwa für das Christentum, als prägende Kraft des christlichen Abendlandes verstanden werden. Dies wäre mit dem unbestrittenen Grundrecht der Religionsfreiheit unvereinbar.1167 Die Religionsfreiheit war auch schon früh Gegenstand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes.1168 Sie wird nach gegenwärtig geltendem Primärrecht von Art. 13 Abs. 1 EG als Nichtdiskriminierungsgebot vorausgesetzt.1169 Dieses Grundrecht gewährleistet die Freiheit des Glaubens wie auch des Nichtglaubens oder Unglaubens. Außerdem gewährleistet jede einzelne europäische Konstitution und auch der Verfassungsvertrag in Art. II-70 Abs. 1 VVE die Religionsfreiheit als die Freiheit zur Religionsausübung und als die Freiheit von jeder Religion.1170 Auch auf der Ebene der Europäischen Union dürfen Glaubensinhalte im Ergebnis weder vorgeschrieben noch privilegiert werden.1171 Dies gilt auch vor dem Hintergrund des Vertrages von Lissabon, denn die Religionsfreiheit wird ebenfalls von Art. 6 Abs. 1 EU n. F.1172 i.V. m. 1163 Pritsch, ZVglRWiss 1957, S. 123 (139 f.); Bandak, Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches in der Türkei, S. 72. 1164 Siehe zu der Diskussion um einen Gottesbezug Riedel, EuR 2005, S. 676 (677); Metz, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, S. 49 (51 f.) und oben S. 301 ff. 1165 So vertreten von Isak, FS für Mantl II, S. 1035 (1050); Epping, JZ 2003, S. 821 (825); Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 30; Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (27 f.). 1166 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar I, Präambel, Rn. 20. 1167 Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 32. 1168 Siehe dazu m.w. N. Isak, FS für Mantl II, S. 1035 (1043 f.). 1169 Isak, FS für Mantl II, S. 1035 (1044 f. m.w. N.). 1170 Siehe hinsichtlich der Aufnahme eines Gottesbezuges in die Präambel der Grundrechtecharta Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 32. 1171 So auch Isak, FS für Mantl II, S. 1035 (1045). 1172 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 19.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
der verbindlich zu erklärenden Charta der Grundrechte in Art. 10 Abs. 1 EUGrundrechtecharta in Zukunft gewährt werden. Aus dem religiösen Neutralitätsgebot resultiert für die Europäische Union in rechtlicher Hinsicht, dass sie sich weder mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren darf noch dass sie notwendig atheistisch sein muss.1173 Damit wäre ein Gottesbezug hinsichtlich einer bestimmten Religion neutral, so dass auch ein Land mit überwiegend muslimischer Bevölkerung in die Europäische Union aufgenommen werden könnte. Ein Gottesbezug in der Präambel wäre gleichsam nur ein Platzhalter für eine Macht über der hoheitlichen Gewalt. Dieser Platz dürfte einerseits von keiner Religion, Partei oder einer Ideologie, welcher Art auch immer, besetzt werden; auf der anderen Seite müsste aber die hoheitliche Gewalt immer damit rechnen, dass er besetzt ist.1174 Daher wäre die ausdrückliche Nennung Gottes in der Präambel des Europäischen Verfassungsvertrages eher als Anerkennung der Grenzen der eigenen Reichweite zu interpretieren. Ein Gottesbezug hätte die Bereitschaft der Europäischen Union ausgedrückt, einen Bereich menschlichen Lebens anzuerkennen, der dem Zugriff ihrer Hoheitsgewalt entzogen ist.1175 Die Aufnahme Gottes in die Präambel in den Verfassungsvertrag oder in den Vertrag von Lissabon hätte im Ergebnis die Türkei nicht als möglichen Beitrittskandidaten zur Union ausgrenzen können. b) Türkei als „europäischer Staat“ i. S. d. Art. I-58 Abs. 1 VVE bzw. Art. 49 EU Bereits die geographische Zugehörigkeit der Türkei zur Europäischen Union ist nicht eindeutig. Von ihren 779.452 km2 Gesamtfläche liegen 755.688 km2 in (Klein-)Asien und nur 24.688 km2 auf dem europäischen Subkontinent.1176 Allerdings gehört die Türkei nach der Meinung von 54% der europäischen Bürger geographisch zu Europa.1177 Welcher Staat ein „europäischer“ i. S. d. Art. I-58 VVE ist, wird nicht definiert.1178 Darüber hinaus spricht die Präambel des Verfassungsvertrages stets 1173 Robbers, FS für Häberle, S. 251 (256); Kopetz, in: Becker et al. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 9 (30); ebenso Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, Rn. 32. 1174 Blumenwitz, ZfP 2004, S. 115 (123). 1175 So vertreten von Robbers, FS für Häberle, S. 251 (260). 1176 Isak, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung, S. 175 (184). Siehe zu den unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs „Europa“ in geographischer, politischer, christlicher und kultureller Hinsicht Dorau, EuR 1999, S. 736 (738 ff.). 1177 Eurobarometer 64, S. 138.
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von „Europa“ und nicht von der Europäischen Union. Wegen der geographischen Unschärfe des Subkontinents nach Osten ist es daher vor allem eine politische Frage, welcher Staat als „europäisch“ i. S. d. Art. I-58 VVE qualifiziert wird.1179 Dies verdeutlicht auch der Beitritt des griechischen Teils von Zypern zur Europäischen Union; dieser Staat liegt geographisch nicht mehr auf dem europäischen Subkontinent, sondern bereits in Asien. Gemäß dem von den Außenministern der Mitgliedstaten beschlossenen Verhandlungsrahmen1180 werden derzeit Gespräche zwischen der Europäischen Union und der Türkei geführt, deren gemeinsames Ziel der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ist.1181 Diese Verhandlungen sind als ein Prozess mit offenem Ende beschrieben worden, dessen Ausgang sich nicht garantieren lässt. Voraussetzung für den erfolgreichen Abschluss der Beitrittsverhandlungen ist die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen durch die Türkei.1182 Es wurde im Hinblick auf einen möglichen Beitritt der Türkei im Europäischen Rat nicht diskutiert, ob die Türkei als ein „europäischer Staat“ i. S. d. Art. I-58 VVE zu qualifizieren sei.1183 Die Staats- und Regierungschefs verwiesen lediglich auf die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien1184 aus dem Jahr 1993.1185 Auch bei der Verabschiedung des Vertrages von Lissabon wurde das Erfordernis eines europäischen Staates ohne weitere Präzisierung beibehalten und findet sich demnach in Art. 49 EU n. F.1186 Lediglich der Satz, dass die vom Europäischen Rat vereinbarten Kriterien berücksichtigt werden, wird nach dem Vertrag von Lissabon in den bisherigen Art. 49 EU eingefügt.
1178 Dorau, EuR 1999, S. 736 (736). Es ist gegenwärtig nicht ersichtlich, ob der anstehende Reformvertrag eine solche Definition enthalten wird; jedenfalls wird die Formulierung des „europäischen Staates“ übernommen, vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935. pdf (07.07.2007), S. 27. 1179 Siehe dazu Blanke, EuR 2005, S. 787 (798); Dorau, EuR 1999, S. 736 (739). 1180 Siehe dazu Rat der Europäischen Union, Tagung des Europäischen Rates, Brüssel 16./17. Dezember 2004, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, abrufbar unter: http:// ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/83221.pdf (15.02.2007), S. 4 ff.; 6 ff. 1181 Siehe dazu Isak, in: Calliess/Isak (Hrsg.), Der Konventsentwurf für eine EUVerfassung im Kontext der Erweiterung, S. 175 (176, 180). 1182 Siehe dazu auch Blanke, EuR 2005, S. 787 (798 m.w. N.). 1183 Blanke, EuR 2005, S. 787 (798). 1184 Siehe dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Kopenhagen am 21./22. Juni 1993, abrufbar unter: http://www.consilium.europa. eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/72924.pdf (12.02.2007), S. 13. 1185 Siehe dazu Rat der Europäischen Union, Tagung des Europäischen Rates, Brüssel 16./17. Dezember 2004, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, abrufbar unter: http:// ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/83221.pdf (15.02.2007), S. 4 f. 1186 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 43.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
Grenzziehungen und Abgrenzungen gegenüber anderen sind jedoch konstitutive Elemente jeder Gruppenidentität. Angesichts ständiger Erweiterungen der Union konnte sich eine europäische Identität bisher kaum verfestigen.1187 Insofern kann auch der Beitritt der Türkei ein Hindernis für die Stiftung einer europäischen Identität der Bürger und für den Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Union sein. Dass dem so ist, verdeutlichen vor allem die Eurobarometer-Umfragen zu dem Thema des Türkeibeitritts. Die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union stößt insgesamt auf große Ablehnung bei den befragten Bürgern. Nur 31% der Bürger der Europäischen Union befürworten einen Beitritt der Türkei; demgegenüber sind 50% der Befragten gegen eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union.1188 Die kulturellen Unterschiede zwischen den bisherigen Mitgliedstaaten und der Türkei werden von 55% der Bürger als zu groß für einen Beitritt angesehen.1189 45% der befragten Bürger sind der Meinung, dass die Türkei aufgrund ihrer Geschichte nicht zu Europa gehöre.1190 Darüber hinaus sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt 42% der Bürger der Europäischen Union generell gegen eine nochmalige Erweiterung der Europäischen Union.1191 Angesichts dieser Umfrageergebnisse erscheint es im Hinblick auf eine europäische Identitätsstiftung nicht sinnvoll, einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union anzustreben.
K. Endergebnis zum Zweiten Teil Die Stiftung europäischer Identität ist nach wie vor aktuell und wurde seitens der europäischen Politik mittels des Europäischen Verfassungsvertrag und des Vertrages von Lissabon, der die meisten Normierungen des Verfassungsvertrages übernimmt, angestrebt. I. Gemeinschaftsaufgabe Identitätsstiftung Das Anliegen europäischer Identitätsstiftung wird an den Formulierungen der Präambel und an den identitätsgerichteten Bestimmungen des Verfassungsvertrages deutlich. In der Präambel des Verfassungsvertrages werden die histori1187 Piazolo, in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 411 (432). 1188 14% der Bürger haben keine Meinung; vgl. Eurobarometer 64, S. 136. 1189 Demgegenüber sehen nur 31% der Befragten die kulturellen Unterschiede als nicht so gravierend an; Eurobarometer 64, S. 138. 1190 Eine Zugehörigkeit der Türkei zu Europa aufgrund einer gemeinsamen Geschichte bejahen nur 40%; Eurobarometer 64, S. 138. 1191 Demgegenüber sind 46% für eine Erweiterung und 12% wissen es nicht; Eurobarometer 66, S. 29 f. Allerdings nimmt die Zahl der Erweiterungsgegner zu; vgl. Eurobarometer 65, S. 158 f.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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schen Grundlagen der europäischen Integration und eine konstante positive Entwicklung in eine viel versprechende Zukunft der Europäer propagiert. Um den Beginn einer neue Ära zu dokumentieren, wird in Art. I-1 Abs. 1 VVE eine neue Union gegründet, die gemäß Art. IV-438 Abs. 1 VVE die Rechtsnachfolgerin der bisherigen Union und der Europäischen Gemeinschaften ist. Die in Art. I-5 Abs. 1 VVE normierte Achtungsklausel der Europäischen Union vor der nationalen Identität der Mitgliedstaaten verdeutlicht, dass europäische und nationale Identität rechtlich nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander stehen. Der Verfassungsvertrag regelt damit das Verhältnis von nationaler und europäischer Identität. Die erstmalige primärrechtliche Kodifizierung der europäischen Symbole in Art. I-8 VVE sowie die öffentliche Verwendung des Begriffs „Verfassung“ zielten auf die Etablierung eines Gemeinschaftsgefühls der Europäer als eine Gruppe ab und es sollten positive Emotionen der Bürger geweckt werden. Dem dient auch der Versuch der Etablierung einer Wertegemeinschaft durch Art. I-2 VVE. In Teil II des Verfassungsvertrages sind die Grundrechte kodifiziert, um sie für die Unionsbürger sichtbar zu machen. Dem Demokratiedefizit der Europäischen Union sollte durch eine stärkere parlamentarische Legitimation der Integrationspolitik und eine stärkere Personalisierung abgeholfen werden, indem der Verfassungsvertrag die Rolle des Kommissionspräsidenten nach Art. I-27 VVE stärkt und die Ämter des Präsidenten des Europäischen Rates in Art. I-22 VVE und eines europäischen Außenministers gemäß Art. I-28 VVE neu institutionalisiert. Eine weitere Intention des Verfassungsvertrages ist die Vereinfachung der rechtlichen Handlungsformen in Art. I-33 ff. VVE und der Zuständigkeitsabgrenzungen nach Art. I-11 ff. VVE sowie die Stärkung direkt-demokratischer Elemente in den Vorschriften der Art. I-45 ff. VVE über das demokratische Leben. Die Normierung der Unionsbürgerschaft in Art. I-10 VVE grenzt die Gruppe der Europäer personell gegenüber anderen ab und beabsichtigt eine Homogenisierung der Gruppe der Europäer durch die Grundfreiheiten. Dem Europäischen Gerichtshof wird im Verfassungsvertrag keine besondere integrative Funktion für die Bürger zugewiesen. Zwar erweitert Art. III-365 Abs. 4 VVE die Klagemöglichkeiten für den einzelnen Bürger, es wird aber kein Individualrechtsbehelf für die Bürger im Verfassungsvertrag kodifiziert. Im Hinblick auf eine Abgrenzung der Union gegenüber Drittstaaten bleibt es bei der bislang auch gegebenen offenen Finalität der europäischen Integration, denn in Art. I-1 Abs. 2, I-58 Abs. 1 VVE wird der Begriff „europäischer Staat“ nicht näher umschrieben. Insgesamt lässt sich die Stiftung einer europäischen Identität aufgrund der genannten identitätsgerichteten Bestimmungen des Verfassungsvertrages als eine Gemeinschaftsaufgabe qualifizieren.1192 Im Gegensatz zu dem gefundenen Er1192 So auch vertreten von Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 11.
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
gebnis des Teil I dieser Arbeit wählt der Verfassungsvertrag eine kollektive Identität als Grundlage für seine Legitimität. Darin spiegelt sich ein Denken wider, welches eine instrumentalistische Repräsentation Europas anstrebt.1193 II. Widersprüche und Konflikte Im Europäischen Verfassungsvertrag lassen sich verschiedene Theorieelemente der in Teil I erörterten nationalstaatlichen Konzepte wieder finden. Die politische Identität der Europäer sollte offensichtlich in Anlehnung an nationalstaatliche Ansätze und Erfahrungen der Identitätsbildung geformt werden,1194 wodurch eine zusätzliche Loyalität der Bürger gegenüber der Europäischen Union aufgebaut werden sollte. Der Verfassungsvertrag versuchte diesbezüglich Erkenntnisse der Sozialpsychologie und einiger Theorien zur Integration von Gesellschaften in eine rechtliche Form zu bringen. Der Verfassungsvertrag analogisiert einerseits mit der historischen Anknüpfung in der Gesamtpräambel das Modell der Geschichtsnation. Einige der untersuchten Bestimmungen des Verfassungsvertrages können außerdem den persönlichen, sachlichen und funktionellen Integrationsfaktoren, die Rudolf Smend in seiner Integrationslehre herausgearbeitet hat, zugeordnet werden. Diese Bestimmungen können auch in einem sozialpsychologischen Sinn als unmittelbar oder mittelbar identitätsstiftend beschrieben werden. Es lassen sich aber auch Elemente aus anderen Theorien nachweisen. Solche sind zum Beispiel die Bezeichnung des Vertrages als Verfassungsvertrag, die auf Carl Schmitt zurückgeht, sowie das Konzept einer Schicksalsgemeinschaft und das Prinzip des sozialen Ausgleichs, welches in der Lehre Hermann Hellers enthalten ist. Darüber hinaus enthält der Verfassungsvertrag mit den direkt-demokratischen Bestimmungen und der Regelung des Konventsverfahrens auch Ideen, die in dem Konzept eines europäischen Verfassungspatriotismus zur diskursiven Entstehung einer kollektiven Identität entwickelt wurden. Schließlich greift der Verfassungsvertrag zur Etablierung einer Wertegemeinschaft auch stark kommunitaristische Elemente auf, hält aber gleichzeitig die Finalität der europäischen Union offen. Es ist folglich angesichts der in Teil I dargestellten Widersprüche und Unterschiede der jeweiligen Theorien nicht gelungen, sich darüber zu einigen, wie die im Verfassungsvertrag angestrebte identitäre Projektionsfläche für die Bürger konstruiert werden soll. Das Identitätskonzept des Verfassungsvertrages weist demzufolge Schwierigkeiten tatsächlicher und normativer Art auf.
1193 Ähnlich Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (829). 1194 Ebenso Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (435).
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
451
1. Art. I-5 Abs. 1 VVE Zum einen bewegt sich der Anspruch einer europäischen Identitätsstiftung im Verfassungsvertrag zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite steht der Anspruch der Union, einen möglichst einheitlichen europäischen Raum zu schaffen. Auf der anderen Seite muss die Union die nationalstaatlichen Identitäten respektieren.1195 Die Identitätsstiftung im Verfassungsvertrag zielt aber nicht lediglich auf eine Ergänzung der nationalstaatlichen Identitäten. Die Identitätskonstruktion orientiert sich vielmehr an der Formensprache, derer sich der Nationalstaat bedient.1196 Der Verfassungsvertrag übernimmt nationalstaatliche Identitätskonstruktionen für das supranationale Gemeinwesen der Europäischen Union, ohne die erforderlichen Anpassungen vorzunehmen. Die sprachliche Neufassung der europäischen Rechtsakte gemäß Art. I-33 VVE entspricht beispielsweise mit dem Rückgriff auf den Gesetzesbegriff der traditionellen dogmatischen Terminologie der Nationalstaaten für hoheitlich gesetzte verbindliche allgemeine Regeln.1197 Außerdem wird in der Präambel des Verfassungsvertrages, in Art. I-8, I-2, I-10 VVE sowie durch eine stärkere Personalisierung angestrebt, die Europäische Union als ein gegenüber dem Nationalstaat „verbessertes“ Gemeinwesen darzustellen. Europa wird im Verfassungsvertrag gleichsam als Staat „vorgedacht“ und soll im Vorgriff auf eine künftige Realität bereits heute rational verfasst werden.1198 Gleichzeitig wird der Anspruch der Europäischen Union zur Überwindung nationalstaatlicher Egoismen erhoben. Die nationalstaatlichen Identitäten sind aber gerade das Fundament für eine europäische Identität.1199 Dies verdeutlicht die Regelung des Art. I-5 Abs. 1 VVE. Aus diesem Grund ist eine konstitutionelle Verankerung identitätsgerichteter Bestimmungen des Verfassungsvertrages in Analogie zu den Nationalstaaten nicht schlüssig.1200 In dem Versuch der Stiftung europäischer Identität liegt eine Einflussnahme auf die von der Achtungsverpflichtung des Art. I-5 Abs. 1 VVE umfasste nationale Identität durch deren Europäisierung vor. Dies steht im Widerspruch zu Art. I-5 Abs. 1 VVE.
1195 1196
Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität, S. 210. Nettesheim, Integration 2003, S. 428 (435); Nettesheim, FS für Häberle, S. 193
(196). 1197
Müller-Graff, Integration 2003, S. 301 (310). Depenheuer, in: Buchstab/Uertz (Hrsg.), Nationale Identität im vereinten Europa, S. 55 (67). 1199 Depenheuer, in: Buchstab/Uertz (Hrsg.), Nationale Identität im vereinten Europa, S. 55 (70). 1200 So auch für die Symbolik der Union Haltern, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 803 (829). 1198
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
2. Supranationalität und Intergouvernementalität Die Problematik einer Identitätsstiftung auf europäischer Ebene besteht weiterhin in dem Spannungsfeld zwischen Supranationalität und Intergouvernementalität der neuen Union. In den Bereichen, in denen der Verfassungsvertrag intergouvernementale Bestimmungen – wie beispielsweise bei der Normierung des Rates und der Außenpolitik – enthält, wird eine kollektive Identität der Bürger nicht verfolgt. Hier ist das Konzept der Vermeidung des Auseinanderbrechens der Mitgliedstaaten durch die „Hegung“ desintegrativer Tendenzen anhand von Einstimmigkeitsregeln oder Vetorechten vorrangig. Die Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten ist gegenüber der Stiftung einer europäischen Identität vorrangig. In den Bereichen aber, die die Supranationalität der Union im Blick haben – wie bei der Normierung der neuen Ämter oder der Symbole der Union – wird das Ziel einer Identitätsstiftung als Gemeinschaftsaufgabe angestrebt. Dadurch, dass der Verfassungsvertrag das Spannungsfeld zwischen Intergouvernementalität und Supranationalität der Union durch eine Prolongierung der Säulenstruktur nicht auflöst, ist seine Identitätskonstruktion nicht in sich konsistent. 3. Widersprüche zwischen den Integrationsvorstellungen Die Normierungen des Verfassungsvertrages stellen eher den größtmöglichen Kompromiss als eine tatsächliche Einigung auf eine Integrationsvorstellung für die Europäische Union dar. So wird in seiner Präambel ein gemeinsames Erbe Europas behauptet und damit an ethische homogenisierende Einheitsvorstellungen angeknüpft. Allerdings steht dieser Vorstellung der in Art. I-8 UA 3 VVE normierte Leitspruch der Union „in Vielfalt geeint“ entgegen, der sich gegen jede Homogenisierungstendenz wendet. Anhand der voneinander abweichenden Sprachfassungen hinsichtlich des „geistig-religiösen Erbes“ in der zweiten Präambelerwägung der Grundrechtecharta zeigt sich ebenfalls ein kaum verborgener Dissens in religiösen Fragen. Auch die Verankerung der sozialen Grundrechte verdeutlicht, dass ihre Normierung nicht das Ergebnis eines Konsenses ist. Vielmehr wurden diese besonders elastisch formuliert, um den Dissens hinsichtlich ihrer Normierung nicht zutage treten zu lassen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen politischen Integrationsvorstellungen sind zu groß, als dass sie in einem juristischen Dokument auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden könnten. Aufgrund dessen, dass der Verfassungsvertrag sich nicht für ein einheitliches Identitätskonzept entschied, sondern versuchte, es allen politischen Richtungen recht zu machen, konnte er keine eindeutigen Kategorien für die Ausbildung kollektiver Identität schaffen.
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
453
4. Sozialpsychologische Sichtweise Außerdem ist eine Analogisierung nationalstaatlicher Konzepte unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten ungünstig. Denn die Europäische Union bringt damit ihre Identität in eine Konkurrenzsituation zu den nationalstaatlichen Identitäten. Diese sind aber stärker ausgeprägt und daher in Krisensituationen einer europäischen Identität überlegen. Dadurch dass der Verfassungsvertrag die nationalstaatlichen identitären Prozesse zu analogisieren versuchte, wurde bei den Bürgern die Angst vor dem Verlust ihrer nationalstaatlichen Identität geweckt. Dies löste Renationalisierungsbestrebungen aus, wodurch die regionalen und nationalen Identitäten gestärkt und eine europäische Identität diesen gegenüber abgewertet und so geschwächt wurde. Insofern konterkarierte die Analogisierung der nationalstaatlichen Identitätskonstruktionen das Ziel einer europäischen Identitätsstiftung. Hinzu kommt, dass die Europäische Union in ihrer Komplexität den Bürgern kaum noch zu vermitteln ist im Gegensatz zu den überschaubareren regionalen Identitäten. Diesbezüglich wird auch eine „Komplexitätsfalle“ der europäischen Integration erkannt.1201 Das System der Europäischen Union kann den Bürgern in Anbetracht der Komplexität der Materie kaum vereinfacht vermittelt werden. Die Darstellung der Europäischen Union in der Öffentlichkeit ist angesichts der Schwierigkeit der rechtlichen Materie und der Quantität der Diskussionsteilnehmer kaum weiter reduzierbar, um für die Bürger verständlich zu werden. Ein weiterer Mangel des Verfassungsvertrages ist, dass er die für eine kollektive Identität konstitutive Abgrenzung gegenüber Dritten außer Acht lässt. Die Offenhaltung der Finalität lässt sich zum einen an der Präambel des Europäischen Verfassungsvertrages und zum anderen an Art. I-1 Abs. 1, I-58 VVE festmachen. Auch die Etablierung der Unionssymbole in Art. I-8 VVE ist nicht eindeutig, denn die Flagge und Hymne der Union werden ebenfalls vom Europarat verwendet, dem einige Staaten im Osten Europas und außerhalb der Europäischen Union angehören. Mit den schnellen und umfangreichen Erweiterungsrunden der letzten Jahre und der Diskussion um einen Beitritt der Türkei hat sich das Problem der mangelnden Abgrenzung der Europäischen Union gegenüber anderen noch verschärft. Die Zustimmung der Bürger zu weiteren Erweiterungsrunden hat demzufolge rapide abgenommen, der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union wird überwiegend abgelehnt. III. Normative Bedenken In normativer Hinsicht begegnet der Versuch einer Identitätsstiftung im Verfassungsvertrag ähnlichen rechtlichen Bedenken wie dies in Teil I dieser Arbeit 1201
So Peters, EuR, S. 375 (385).
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2. Teil: Identitätsstiftende Ansatzpunkte
für Identitätskonstruktionen auf nationalstaatlicher Ebene konstatiert wird. Die Gefahr der Abwertung der Normativität der Verfassung und der Ideologisierbarkeit von Recht besteht auch hier. Es ist normativ ungewiss, welche Zielsetzung mit einer europäischen Identität verfolgt werden soll. 1. Normierung von Werten Die Werteklausel des Art. I-2 VVE mindert angesichts der in Teil I erörterten Gefahr der Ideologisierbarkeit von Werten die juristische Qualität des Verfassungsvertrages. Mit der Stiftung einer Wertegemeinschaft geht der Verfassungsvertrag deutlich über die von Walter Hallstein propagierte Rechtsgemeinschaft hinaus. Damit wendet er sich gegen die Trennung von Faktizität und Normativität, die nach der Lehre Hans Kelsens postuliert wurde. Der Verfassungsvertrag sieht soziologische Faktoren als normativ erheblich an. Damit können die Werte der Union von der jeweils herrschenden politischen Gruppierung oder aufgrund der subjektiven und sich ändernden Einstellungen der Richter am Europäischen Gerichtshof jeweils unterschiedlich ausgelegt werden. Der integrativen Wirkung einer Wertegemeinschaft wird aufgrund der Stellung des Art. I-2 VVE der Vorzug vor der Normativität einer Verfassung gegeben. Das Spannungsfeld zwischen kollektiver Identität als faktischer Einheitsbedingung und Normativität löst der Verfassungsvertrag zu Gunsten der Stiftung einer europäischen Identität auf. Die rechtspraktische Qualität einer Verfassung ist in Konfliktsituationen aber das entscheidende vermittelnde Instrument zur einvernehmlichen Lösung desintegrativer Konflikte in einem Gemeinwesen. Wenn eine Verfassung dagegen einseitig instrumentalisierbar ist und auf die Wertvorstellungen der Bürger abstellt, kann sie eine freiheitsgefährdende Wirkung für Andersdenkende und Minderheiten entfalten und ihre Vermittlungsfunktion nicht mehr ausüben. 2. Einbeziehung der Bürger Es wird deutlich, dass nicht der Abwehrcharakter der Grundrechte gegen hoheitliche Gewalt, sondern deren Integrationsfunktion zur Einbindung der Bürger in das Gemeinwesen im Vordergrund stehen sollte. Der Verfassungsvertrag enthält Identitätszumutungen für die Bürger, indem er versucht, auf eine Gleichrichtung der sozialen Identitäten Einfluss zu nehmen. Er forciert eine europäische Identität, was unter den von ihm gewährleisteten Grundrecht der Gewissensfreiheit des Art. II-70 Abs. 1 VVE höchst problematisch ist. Dieser normative Mangel des Verfassungsvertrages wird durch das Fehlen einer Individualrechtsbeschwerde für die Bürger zur Geltendmachung ihrer Grundrechte erheblich verstärkt. Es wird den Bürgern nicht die Möglichkeit eingeräumt, sich gegen derartige Identitätserwartungen durch die europäische Hoheitsgewalt unmittelbar vor dem Gerichtshof zu wehren. Der Europäische Ver-
3. Kap.: Identitätselemente des Vertrages
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fassungsvertrag gewährt damit den Unionsbürgern keinen Schutz vor aufgedrängten Identitätszumutungen rechtlicher Art. Insofern sind hier eine starke Vereinnahmung Einzelner und eine Tendenz zur Totalisierung im Bereich des rechtlich Möglichen. Zwar muss die Möglichkeit der Ideologisierung von Recht in der gelebten Rechtspraxis nicht zwangsläufig zu den negativen rechtlichen Implikationen führen. Allerdings besteht auf der Ebene der europäischen Institutionen immer auch die Sorge, dass der europäische Integrationsprozess am Negativvotum der Bürger scheitern könnte. Dass diese Befürchtung nicht abwegig ist, zeigen die aktuellen Eurobarometer-Umfragen und die Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrages in dem französischen und dem niederländischem Referendum im Jahr 2005. Daher wird eine identitätsstiftende Politik auf der Ebene der Europäischen Union auch besonders intensiv angestrebt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Ideologisierung des Verfassungsvertrages durch den Versuch kollektiver Identitätsstiftung unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Freiheitsgewährung besonders problematisch. Den Bürgern wird im Verfassungsvertrag kaum Schutz in Form von individuell einklagbaren Rechtsbehelfen vor aufgedrängten Identitätszumutungen gewährt. Der Abwehrcharakter der in Teil II gewährleisteten Grundrechte wird nach dem System des verfassungsvertraglichen Rechtsschutzes völlig vernachlässigt zu Gunsten der integrativen Funktion der Grundrechte. Im Ergebnis überwiegen normative Bedenken angesichts einer Identitätsstiftung durch den Europäischen Verfassungsvertrag.
Schluss und Ausblick Die Zustimmung der Bürger zu einem politischen Gemeinwesen macht sich nur zu einem geringen Teil am Verfassungstext selbst fest, sie wird vielmehr durch die tatsächliche Verfassungswirklichkeit und den vorherigen Ratifikationsprozess geprägt. Eine europäische Identität kann weder durch ein Verfassungsdokument herbeigezwungen werden, noch ist eine primärrechtliche Gemeinschaftsaufgabe, die auf die Stiftung kollektiver Identität gerichtet ist, in normativer Hinsicht wünschenswert. Diese Bedenken konnten durch die vorliegende Untersuchung nicht vollständig ausgeräumt werden. Keines der dargestellten Modelle zur Integration von Gemeinwesen konnte das Spannungsverhältnis zwischen der erwünschten Stabilität eines Gemeinwesens durch die Stiftung kollektiver Identität und der freiheitsbedrohenden Wirkung von Identitätsbeständen zufrieden stellend auflösen. Dies ist auch dem Europäischen Verfassungsvertrag nicht gelungen. Er scheiterte bereits in der Wirklichkeit des Ratifikationsprozesses in dem französischen und niederländischen Referendum. Auf der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel am 21./22. Juni 2007 hat man sich nunmehr darauf geeinigt, nach zwei Jahren der Ungewissheit über den Fortgang der Verfassungsreform das Verfassungskonzept gänzlich aufzugeben.1 Der Versuch einer erfolgreichen Identitätsstiftung durch den Europäischen Verfassungsvertrag ist damit bereits im Ratifikationsprozess missglückt. Angesichts der dargestellten Bedenken hinsichtlich des Europäischen Verfassungsvertrages war dies folgerichtig. Damit ist aber der Prozess der weiteren Integration Europas nicht insgesamt gescheitert. Denn der Europäische Rat erteilte am 21./22. Juni 2007 einer Regierungskonferenz das Mandat zur Ausarbeitung eines Reformvertrages bis zum Ende des Jahres 2007. Der geplante Reformvertrag soll als Vertrag von Lissabon bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 von allen Mitgliedstaaten der Union ratifiziert werden.2 Er enthält substantielle Elemente des in der vorliegenden Arbeit untersuchten Europäischen Verfassungsvertrages. Der Vertrag von Lissabon leidet damit an vergleichbaren Schwächen wie der Verfassungsvertrag und kann keine eindeutigen Kategorien für die Ausbildung kollektiver Identität 1 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data /docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 2, 15. 2 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data /docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 2, 15.
Schluss und Ausblick
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schaffen. Er übernimmt verschiedene Theorieelemente der in Teil I erörterten nationalstaatlichen Konzepte. Desweiteren strebt auch der Vertrag von Lissabon eine dem Verfassungsvertrag entsprechende Personalisierung der europäischen Politik an. Auch aus der wörtlichen Übernahme der Formulierung des Art. I-2 VVE durch den Vertrag von Lissabon in Art. 2 EU n. F., wonach eine Wertegemeinschaft für die Europäische Union postuliert wird, kann geschlossen werden, dass der Vertrag von Lissabon das Konzept der Stiftung einer europäischen Identität nicht vollständig aufgibt. Denn dieser Vertrag übernimmt die historische Bezugnahme der Erbesklausel in der Präambel des Verfassungsvertrages und sieht vor, diese als zweite Präambelerwägung in die Präambel des EU-Vertrages einzufügen. Damit analogisiert der Vertrag von Lissabon ebenfalls das Modell der Geschichtsnation. Desweiteren wird zwar durch den Vertrag von Lissabon keine neue Union mehr gegründet, allerdings soll auch nach dieser Konzeption die Europäische Union der einheitliche Bezugspunkt für die Bürger sein. Daher wird die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon gemäß Art. 1 Abs. 3 EU n. F.3 Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaften. Ebenso übernimmt der Vertrag von Lissabon in Art. 4 Abs. 2 EU n. F.4 die Achtungsklausel des Verfassungsvertrages und regelt damit für die Zukunft das Verhältnis von nationaler und europäischer Identität im Sinne des Verfassungsvertrages. Desgleichen unternimmt der Vertrag von Lissabon den Versuch durch die Beschwörung einer Wertegemeinschaft in Art. 3 EU n. F.5 ein Gemeinschaftsgefühl der Europäer zu etablieren. Die EU-Grundrechtecharta wird zwar nicht in die bisherigen Verträge aufgenommen, sie soll aber eigenständig ratifiziert werden. In dem neuen Art. 6 Abs. 1 EU n. F. soll darüber hinaus die Achtung der Grundrechtecharta normiert werden. Desweiteren stärkt der Vertrag von Lissabon ebenso wie der Verfassungsvertrag die Rolle des Kommissionspräsidenten nach Art. 17 Abs. 6 und 7 EU n. F. und institutionalisiert die Ämter des Präsidenten des Europäischen Rates in Art. 15 Abs. 5 und 6 EU n. F. und des europäischen Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik gemäß Art. 18 EU n. F. Die Zuständigkeitsabgrenzungen nach Art. 5 EU n. F., Art. 2 ff. AEUV sowie die Stärkung direkt-demokratischer Elemente in den Vorschriften der Art. 9 ff., 16 Abs. 8 EU n. F., Art. 15 AEUV über das demokratische Leben werden ebenfalls aus dem Verfassungsvertrag übernommen und sollen der Vereinfachung und Transparenz dienen. Die Normierung der Unionsbürgerschaft wird in Art. 9 S. 2 EU n. F., 20 AEUV beibehalten. Damit lässt sich auch im Vertrag von Lis3 Amt für amtliche Veröffentlichungen der dierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 4 Amt für amtliche Veröffentlichungen der dierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 5 Amt für amtliche Veröffentlichungen der dierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S.
Europäischen Gemeinschaften, konsoli16. Europäischen Gemeinschaften, konsoli18. Europäischen Gemeinschaften, konsoli17.
458
Schluss und Ausblick
sabon nachweisen, dass er eine kollektive Identität als Grundlage für seine Legitimität favorisiert. Es lassen sich im Vertrag von Lissabon aber nicht in gleichem Umfang wie im Verfassungsvertrag Elemente anderer politischer und juristischer Theorien nachweisen. Denn der Vertrag von Lissabon nimmt die weitgehende Analogisierung der nationalstaatlichen Ansätze, die im Verfassungsvertrag vorgesehen waren, zurück und versucht die Erfahrungen, die durch das Scheitern des Verfassungsvertrages gewonnen wurden, rechtlich umzusetzen. Im Vertrag von Lissabon ist beispielsweise im Gegensatz zum Verfassungsvertrag nicht mehr das Element aus der Theorie Carl Schmitts, nämlich die Bezeichnung des Vertrages als Verfassungsvertrag enthalten. Desweiteren fehlt auch das in der Präambel des Verfassungsvertrages verfolgte Konzept einer Schicksalsgemeinschaft, welches der Lehre Hermann Hellers entstammt. Allerdings enthält der Vertrag von Lissabon dadurch, dass er die entsprechenden Regelungen des Verfassungsvertrages fast wortgleich in die bisherigen Verträge inkorporieren will, ebenfalls zueinander widersprüchliche Elemente verschiedener Theorien. Er nimmt beispielsweise mit den direkt-demokratischen Bestimmungen und der Regelung des Konventsverfahrens Ideen auf, die in dem Konzept eines europäischen Verfassungspatriotismus zur diskursiven Entstehung einer kollektiven Identität entwickelt wurden. Außerdem greift der Vertrag von Lissabon ebenso wie die ursprünglichen Normierungen des Verfassungsvertrages in seinem Art. 2 EU n. F. zur Etablierung einer Wertegemeinschaft auch stark kommunitaristische Elemente auf, hält aber gleichzeitig die Finalität der europäischen Union in Art. 49 EU n. F. weiterhin offen. Der Vertrag von Lissabon ist hinsichtlich der von ihm angestrebten Identitätskonstruktion ebenfalls nicht in sich konsistent. Das Spannungsfeld zwischen Supranationalität und Intergouvernementalität wird im Vertrag von Lissabon aber eher zu Gunsten der Intergouvernementalität aufgelöst. Eine kollektive Identität der Bürger ist im Gegensatz zum Verfassungsvertrag damit nicht das vorrangige Ziel des Vertrages von Lissabon. Im Vertrag von Lissabon soll im Gegensatz zu der Konzeption des Verfassungsvertrages eine staatsnahe Terminologie gerade vermieden werden. Das Konzept eines einheitlichen Grundlagendokuments, das den Anforderungen an eine Verfassung im formellen Sinn entsprochen hätte, wurde aufgrund der in den negativen Referenden deutlich gewordenen Ängste der Bürger vor einem europäischen Superstaat aufgegeben. Auch das Vorhaben einer Gesamtpräambel für ein europäisches Grundlagendokument nimmt der Vertrag von Lissabon zurück. Es bleibt bei der Präambel des EU- und des bisherigen EG-Vertrages.6 Der EUVertrag und der zukünftige Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden in 6 Allerdings soll die Erbesklausel, die für die Präambel des Verfassungsvertrages entworfen wurde, als zweiter Erwägungsgrund in die Präambel des EU-Vertrages eingefügt werden.
Schluss und Ausblick
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der politischen Öffentlichkeit nicht als Verfassungen dargestellt werden. Der Vertrag von Lissabon vermeidet die staatsnahe Terminologie des Begriffes Verfassung, um das Projekt des Vertrages von Lissabon nicht erneut zu gefährden. Desweiteren werden die Bezeichnungen „Gesetz“ und „Rahmengesetz“ des Verfassungsvertrages wieder aufgegeben. Die sprachliche Neufassung der europäischen Rechtsakte gemäß Art. I-33 VVE wurde in Art. 288 AEUV wieder zurückgenommen. Die Analogisierung nationalstaatlicher Identitäten wird aufgegeben. Der Vertrag von Lissabon enthält folgerichtig keine Art. I-8 VVE vergleichbare Normierung der Symbolik der Europäischen Union.7 An der Umbenennung des in Art. I-28 VVE normierten Außenministers durch die neue Regelung des Art. 18 EU n. F. wird ebenfalls deutlich, dass der Vertrag von Lissabon eine staatsnahe Terminologie vermeiden will. Denn die im Verfassungsvertrag verwendete Bezeichnung „Außenminister“ ist typisch für ein Staatswesen, nicht aber für eine supranationale Organisation. Dadurch, dass der Vertrag von Lissabon in Abweichung zum Verfassungsvertrag die bisherige Terminologie der Benennung dieses Amtsträgers als Hohen Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik in Art. 18 EU n. F. beibehält, wird klargestellt, dass es sich bei der Europäischen Union gerade nicht um einen Staat handelt. Damit zielt die Identitätsstiftung im Vertrag von Lissabon auf eine Ergänzung der nationalstaatlichen Identitäten. Der Vertrag von Lissabon übernimmt nur begrenzt nationalstaatliche Identitätskonstruktionen für das supranationale Gemeinwesen der Europäischen Union. Die politische Identität der Europäer wird damit nicht mehr in enger Anlehnung an nationalstaatliche Ansätze und Erfahrungen der Identitätsbildung geformt. Diese vom Verfassungsvertrag abweichende Zielsetzung des Vertrages von Lissabon ist als programmatischer Entwurf zwar nicht mit dem einer „Verfassung für Europa“ zu vergleichen. Sie erscheint aber angesichts der in den Eurobarometer-Umfragen deutlich gewordenen Befürchtungen der Bürger vor einem europäischen Superstaat eher Erfolg versprechend als das gescheiterte Konzept des Verfassungsvertrages. Denn die nationalstaatlichen Identitäten sind nach wie vor in rechtlicher Hinsicht gemäß Art. 6 Abs. 3 EU und auch in sozialpsychologischer Hinsicht die Grundlage europäischer Identität. Der Vertrag von Lissabon gibt damit angesichts des Scheiterns des Verfassungsvertrages den Versuch auf, die Europäische Union als ein gegenüber dem Nationalstaat „verbessertes“ Gemeinwesen darzustellen. Diese Änderungen sind angesichts der in dem nach dem Vertrag von Lissabon in Art. 4 Abs. 2 EU n. F.8 enthaltenen Achtungsver7 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat Brüssel am 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data /docs/pressData/de/ec/94935.pdf (07.07.2007), S. 16. 8 Diese Norm korrespondiert mit Art. 6 Abs. 3 EU und Art. I-5 Abs. 1 VVE. Siehe auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, konsolidierte Fassung des Vertrages von Lissabon, S. 18
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Schluss und Ausblick
pflichtung zu begrüßen. Denn der Vertrag von Lissabon verfolgt zwar weiterhin eine Identitätsstiftung durch Recht, er setzt sich aber nicht mehr in Widerspruch zu der von Art. 4 Abs. 2 EU n. F. umfassten Achtungsverpflichtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten der zukünftigen Europäischen Union. Nach dem Konzept des Vertrages von Lissabon soll eine europäische Identität nicht als Ersatz für die jeweiligen nationalstaatlichen Identitäten konstruiert werden. Damit steht das Konzept einer europäischen Identität nicht mehr in unmittelbarer Konkurrenz zu den jeweiligen mitgliedstaatlichen Identitäten. Der EU-Vertrag und der zukünftige Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden nach ihrer Änderung durch den Vertrag von Lissabon weniger nationalstaatlich orientiertes Pathos, dafür aber umso mehr Normen enthalten, die dem staatenübergreifenden Modell der Europäischen Union entsprechen. Angesichts der misslungenen Ratifikation des Europäischen Verfassungsvertrages ist dies bezüglich der Realisierbarkeit des Reformvorhabens zu begrüßen. Durch das Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages und die dafür ausschlaggebenden Gründe konnten auf diese Weise wesentliche Erkenntnisse für die Realisierungschancen supranationaler Integration und Identitätsstiftung gewonnen werden. Allerdings bleiben einige der festgestellten Mängel des Verfassungsvertrages auch nach dem Vertrag von Lissabon bestehen. Bedenken bestehen beispielsweise hinsichtlich der fortbestehenden Offenhaltung der Finalität der Europäischen Union und der geplanten Integration der Werteklausel in den EU-Vertrag. Die Problematik einer Identitätsstiftung auf europäischer Ebene besteht weiterhin in dem Spannungsfeld zwischen Supranationalität und Intergouvernementalität der Union. Dieses löst der Vertrag von Lissabon ebenfalls nicht vollständig auf. Auch er behält die Säulenstruktur des bisherigen Primärrechts bei. Dem Europäischen Gerichtshof wird im Vertrag von Lissabon ebenso wenig wie im Verfassungsvertrag eine besondere integrative Funktion für die Bürger zugewiesen, da auch hier kein Individualrechtsbehelf für die Bürger vorgesehen wird. Desweiteren beinhaltet auch der Vertrag von Lissabon keine tatsächliche Einigung auf eine bestimmte Integrationsvorstellung der Europäischen Union. Dies verdeutlicht Art. 6 Abs. 1 EU n. F. in Verbindung mit der Grundrechtecharta, die Rechtsverbindlichkeit erlangen soll. In der Präambel der Grundrechtecharta bleiben nach dem Vertrag von Lissabon die voneinander abweichenden Sprachfassungen des „geistig-religiösen Erbes“ in der zweiten Präambelerwägung, die schon beim Verfassungsvertrag als problematisch angesehen wurden, weiterhin bestehen. Dadurch zeigt sich auch zukünftig der kaum verborgene Dissens in religiösen Fragen. Daneben bleibt auch die elastische Formulierung der Grundrechte in der Grundrechtecharta weiter bestehen und verdeutlicht auch zukünftig, dass ihre Normierung nicht das Ergebnis eines Konsenses ist. Das Vorgehen des Vertrags von Lissabon, die bestehenden Verträge zu belassen und in diese die weitgehend unveränderte Substanz des EU-Verfassungsver-
Schluss und Ausblick
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trags einzubauen, kann daher dahingehend interpretiert werden, dass der Forderung nach nationalen Referenden die Grundlage entzogen werden sollte. Dies wird durch die Querelen um die Benennung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik veranschaulicht. Denn hinsichtlich der Befugnisse des Hohen Vertreters wurden die institutionellen Neuerungen, die der Europäische Verfassungsvertrag vorgesehen hatte, in den Vertrag von Lissabon wörtlich aufgenommen. Lediglich die Bezeichnung als Außenminister im Verfassungsvertrag wurde zurückgenommen. Hier wird unmittelbar deutlich, dass nur eine Umbenennung dieses Amtes stattgefunden hat. Damit enthält der Vertrag von Lissabon zwar dieselben rechtlichen Regelungen, vermeidet aber die staatsnahe Terminologie des Verfassungsvertrages. Ein wesentliches Manko des Vertrages von Lissabon besteht folglich darin, dass er gegenüber dem gescheiterten Europäischen Verfassungsvertrag im Wesentlichen kosmetische terminologische Änderungen vornimmt. Die Inhalte des Verfassungsvertrages werden lediglich anders dargestellt, um diese für die Bürger „leichter verdaulich“ zu machen und Referenden zu vermeiden. Damit ist der Vertrag von Lissabon als eine Taktik des Europäischen Rates zu interpretieren, die notwendigen Reformen des Verfassungsvertrages in terminologisch anderer Gestalt an den europäischen Bürgern im Ratifikationsprozess vorbei zu schleusen. Dass dies zu gelingen scheint, zeigt die nunmehr völlig unproblematische Ratifikation des Vertrages von Lissabon in Frankreich am 14. Februar 2008 durch die Unterschrift von Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Die französische Nationalversammlung hatte am 7. Februar den Vertrag mit 336 Ja-Stimmen bei 52 Gegenstimmen und 22 Enthaltungen angenommen, woraufhin auch der französische Senat in der Nacht zum 8. Februar 2008 den Vertrag mit 265 JaStimmen bei 42 Gegenstimmen und 13 Enthaltungen annahm. Der Europäische Verfassungsvertrag war dagegen trotz fast inhaltsgleicher Regelungen noch im Frühsommer 2005 mit 54,68% Nein-Stimmen in Frankreich abgelehnt worden.9 Auch in den Niederlanden, in denen kurz darauf sogar 61,6% der Abstimmenden gegen den Verfassungsvertrag votierten,10 ist nunmehr beim Vertrag von Lissabon eine Ratifikation durch ein Referendum nicht mehr vorgesehen. In dem niederländischen Ratifikationsverfahren im Herbst 2008 stimmten nur noch die Erste und Zweite Kammer der Generalstaaten über den Vertrag von Lissabon ab. Ein Referendum stand lediglich noch in Irland zur Diskussion. Dort wurde der Vertrag von Lissabon in dem Referendum vom 12. Juni 2008 prompt von der Bevölkerung abgelehnt, so dass der Vertrag nicht wie 9 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobaromètre, La Constitution européenne, sondage post-référendum en France, Juni 2005, abrufbar unter: http://europa.eu.int/comm/public_opinion/flash/fl171_fr.pdf (01.02.2006), S. 13. 10 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Flash Eurobarometer, The European Constitution: post referendum survey in The Netherlands, Juni 2005, abrufbar unter: http://europa.eu.int/comm/public_opinion/flash/fl172_en.pdf (01.02.2006), S. 11.
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Schluss und Ausblick
geplant zum 1. Januar 2009 in Kraft treten konnte. Auf der Tagung des Europäischen Rates am 11./12. Dezember 2008 wurde daraufhin vereinbart, dass Irland in nächster Zukunft ein zweites Referendum abhalten soll. Um dessen Ausgang positiv zu beeinflussen, wurde der irischen Forderung nach einem eigenen Kommissar für jedes Land der Europäischen Union nachgegeben. Allerdings ist der Ausgang des zweiten irischen Referendums aus heutiger Sicht ungewiss. Aufgrund des erneuten Scheiterns eines europäischen Vertrages in einem Referendum stellt sich die Frage, ob die Verschleierungstaktik des Vertrages von Lissabon, der im Wesentlichen die Regelungen des Verfassungsvertrages in das europäische Primärrecht inkorporieren soll, überhaupt Erfolg haben kann. Es drängt sich der Eindruck auf, die Bürger so lange abstimmen zu lassen bis das Ergebnis aus Sicht der europäischen Institutionen passt. Mit einer derartigen Umgehung ihrer Ansichten kann sich kaum die Zustimmung der europäischen Bürger zum Vertrag von Lissabon in Form eines europäischen Patriotismus entwickeln. Denn es wird deutlich, dass die europäische Politik zwar einen Patriotismus ihrer Bürger anstrebt, gleichzeitig aber in der Wirklichkeit des Ratifikationsprozesses ihren Bürgern die Kompetenz für eigenverantwortliche und selbstreflexive Entscheidungen nicht zutraut und Referenden entweder nicht mehr im Ratifikationsprozess vorsieht oder die Bürger nach einer erfolgten Ablehnung erneut abstimmen lässt. Mit einem derartigen Vorgehen setzt sich das Ratifikationsverfahren des Vertrages von Lissabon in einen deutlichen Widerspruch zu den erörterten Voraussetzungen für einen europäischen Patriotismus. Die Zustimmung der Menschen zu einem politischen Gemeinwesen macht sich nur zu einem geringen Teil am Rechtstext selbst fest. Patriotische Einstellungen der Bürger werden vielmehr durch die tatsächliche Rechtswirklichkeit und den vorherigen Ratifikationsprozess geprägt. Ein europäischer Patriotismus kann daher nicht durch ein Grundlagendokument, welches an den Bürgern vorbei ratifiziert wird, herbeigezwungen werden. Für ihre Zukunft ist der Europäischen Union vor allem zu empfehlen, sich bei den anstehenden und dringend notwendigen institutionellen Reformen, mit der Zielsetzung der Stiftung europäischer Identität zurückzuhalten, um nicht den europäischen Integrationsprozess erneut zu gefährden.
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Personen- und Sachverzeichnis Abstammungsgemeinschaft 76, 77, 78, 86, 299 Allport, Floyd H. 42, 50 Alternativklausel 304 Ambiance 149 Antipositivismus 113 Arbeitnehmerfreiheit 255, 421 Aristoteles 34, 203 Ausschuss der Regionen 260, 409 Außenminister 341, 378, 392, 393, 399, 400 Außenpolitik 243, 316, 393, 394, 395, 396, 398, 400, 401, 435, 439, 452 Beethoven, Ludwig van 330, 331, 332 Begriff des Politischen 114, 116, 139, 152, 221, 222 Belgien 339 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 127 Bogdandy, Armin von 190, 195 Bundesverfassungsgericht 53, 54, 55, 99, 129, 179, 185, 364, 424, 426, 428, 434 Bürgerbegehren 415 Cassirer, Ernst 56 Cooley, Charles Horton 39 Coudenhove Kalergi, Richard Nikolaus Graf 330 Dahrendorf, Ralf 39 Demokratiedefizit 269, 370, 403, 408, 413, 449 Demokratieprinzip 187, 216, 217, 229, 289, 373, 374, 391 Depenheuer, Otto 221, 222 Dezisionismus 121, 122, 146
Dienstleistungsfreiheit 421 Diskursprinzip 216, 223, 259 Diskurstheorie 214, 223, 259 Dissens 452 Dokument über die europäische Identität 24, 242, 245 Durkheim, Èmile 39 Easton, David 200 EGKS-Vertrag 241, 341 Einheitliche Europäische Akte 245 Einstimmigkeitsprinzip 376 Erbesklausel 291, 292 Ergebnisverantwortung 370, 379, 381, 385, 388, 403, 410, 417 Erikson, Erik 38 Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union 258, 261, 318, 442 Eurobarometer-Umfrage 251, 252 Europa – europäische Kultur 82, 132 – geographische Einheit 35 – Grenze 36 – kulturelle Herkunftseinheit 35 – Mythos 23, 79 – Vereintes Europa 84 Europäische Gemeinschaften 89 Europäische Kommission 260, 338, 370, 378, 381, 382, 383, 389, 391, 394, 395, 400, 401, 408, 415 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 432 Europäische Verordnung 407 Europäischer Beschluss 407 Europäischer Bundesstaat 140, 142, 170
Personen- und Sachverzeichnis Europäischer Konvent 417 Europäischer Rat 245, 254, 259, 375, 376, 377, 378, 379, 380, 386, 401 Europäisches Gesetz 407, 430 Europäisches Parlament 225, 370, 371, 372, 373, 374, 389, 390, 416, 422 Europarat 326, 329, 330, 332, 453 EWG 24, 165, 188, 242, 243, 244 Faktizität 137, 215, 454 Feierliche Deklaration zur Europäischen Union 245 Finalität 441, 443, 449, 450, 453 Finnland 339 Fischer, Joschka 257 Föderalismus 119, 143, 160, 170, 333 Frankreich 339 Freiheitsrechte 234, 366 Freizügigkeit 421 Freud, Sigmund 34, 38, 41, 52 Freund-Feind-Schema 50, 116, 117, 123, 124, 181, 221, 222 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 246, 315, 395, 398, 400 Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften 286, 365, 369, 371, 378, 399, 409, 420, 423, 424, 427, 431, 432, 434 Geschichtsnation 65, 73, 74, 288, 292, 450 Gewissensfreiheit 230, 366, 454 Giscard d’Estaing, Valery 264, 285, 363 Gleichheit – Gleichheit der Bürger 373 – Gleichheit der Konventsmitglieder 264, 265, 266 – Gleichheit der Staaten 373, 380 Gleichheitsrechte 137, 366, 423 Goffman, Erving 39 Gottesbezug 291, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 444, 445, 446 – Invocatio Dei 301 – Nominatio Dei 301
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Group-Mind-Theorien 41 Grundkonsens 96, 135, 202, 204, 266 – Demokratievoraussetzung 203, 204, 205 – Entbehrlichkeit eines Konsenses als Demokratievoraussetzung 207 Grundnorm 106, 111, 112 Grundrechte – Abwehrfunktion 128, 177, 231, 232, 431, 434, 454 – Grundrechtsverständnis Hermann Hellers 137, 146, 149 – Grundrechtsverständnis Paul Kirchhofs 128 – Grundrechtsverständnis Rudolf Smends 161, 177 – Integrationsfunktion 137, 146, 149, 161, 177, 454 – soziale Grundrechte 435 – Wert-und Kultursystem 159, 185 Grundrechtecharta 231, 247, 258, 274, 359, 364, 418, 432, 433, 434 Grundrechtekonvent 247, 257, 258, 303, 359, 362 Grundsatz der partizipativen Demokratie 414 Grundsatz der repräsentativen Demokratie 412 Häberle, Peter 187, 189, 282 Habermas, Jürgen 39, 189, 196, 202, 213, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 225, 226, 259, 269, 270, 335 Hallstein, Walter 89, 454 Haltern, Ulrich 197 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 203 Heller, Hermann 56, 99, 113, 130, 131, 134, 138, 140, 142, 145, 149, 155, 170, 307, 435, 442 Herzog, Roman 247, 258 Heterogenität 105, 241, 256, 320, 376, 409 Hobbes, Thomas 207
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Personen- und Sachverzeichnis
Homogenisierung 49, 51, 123, 170, 191, 243, 323, 366, 423, 435, 449 Homogenität 51, 76, 78, 96, 112, 123, 132, 133, 151, 234, 242, 299, 333, 444 – Homogenitätsbegriff Carl Schmitts 114, 115, 116, 119, 120, 121, 122, 124, 125 – Homogenitätsbegriff des Bundesverfassungsgerichts 129, 130, 131 – Homogenitätsbegriff Ernst-Wolfgang Böckenfördes 127 – Homogenitätsbegriff Paul Kirchhofs 128 – national-kultureller Homogenitätsbegriff 126, 127, 132, 134 – sozialer Homogenitätsbegriff Hermann Hellers 130, 134, 135, 136, 145, 146 – sprachliche Homogenität 149, 150 Identifikation 52, 53 Identität 33, 34, 37, 53 – affektiver Identitätsbegriff 48, 51, 52, 198, 199, 202, 208, 247, 283, 305 – deutsche Identität 81, 86, 335 – europäische Identität 84, 94, 242, 243, 245, 246, 249, 250, 251, 283, 299, 304, 314, 315, 316, 317, 321, 326, 449 – genetischer Identitätsbegriff 49, 51, 112, 127, 171, 174, 222 – Grenzen einer Identitätsstiftung 181, 229 – Gruppenidentität 42, 48, 56, 234, 242, 448 – historischer Identitätsbegriff 48, 49, 284, 292, 306, 309, 443 – Identität von Regierenden und Regierten 116, 118, 122, 125 – Identität von Staat und Recht 102, 104, 109 – Identitätsbegriff Carl Schmitts 116, 124 – Identitätsbegriff der europäischen Institutionen 55
– Identitätsbegriff Hans Kelsens 102, 103, 104, 109 – kollektive Identität 41, 42, 46, 47, 95 – Konsumidentität 197 – kulturelle Identität 35, 69, 82 – multiple Identitäten 310 – nationale Identität 57, 60, 66, 68, 86, 93, 218, 246, 312, 313, 314, 316, 317, 320, 349, 408, 449, 452 – organisationsbezogene Identität 36 – personale Identität 37, 38, 39, 40 – persönliche Identität 39, 40 – postnationale Identität 217, 218 – regionale Identität 169, 311 – religiöse Identität 303 – soziale Identität 40, 42, 45, 47, 57, 60, 133, 191, 194, 204, 211, 232, 241, 297, 310, 311, 322, 351, 365, 366, 384 – sozialpsychologischer Identitätsbegriff 37, 297 – supranationale Identität 217 – Teilidentität 54, 55 – Verfassungsidentität 129, 312, 314 – verfassungsorientierte Identität 88, 91 – völkerrechtliche Identität 54, 315 Identitätsstiftung – mittelbare Identitätsstiftung 411, 419, 450 – unmittelbare Identitätsstiftung 345 Identitätstheorie des Bundesverfassungsgerichts 54 Individualrechtsbeschwerde 431, 432, 433, 434, 437, 454 Initiativmonopol 381, 415 Institutionenvertrauen 379, 427 Integration 63, 96, 153 – formelle Integration 166 – funktionelle Integration 156, 157, 158, 160, 166, 388, 404 – gesellschaftliche Integration 255 – institutionelle/wirtschaftliche Integration 255 – Integrationsbegriff Rudolf Smends 159, 167, 183
Personen- und Sachverzeichnis – Kompensation von Integrationsdefiziten 181 – Konflikt als Modus der Integration 209 – mittelbarer Integrationsmodus 193, 345 – persönliche Integration 156, 194, 384 – sachliche Integration 156, 158, 160, 166, 170, 173, 184, 194, 276, 282, 323, 350 – unmittelbarer Integrationsmodus 192, 269, 385 Integrationswert 174 Intergouvernementalität 59, 373, 452 Intergruppen-Beziehungen 42 Internationaler Strafgerichtshof 438 Intersubjektivität 48 Intra-Gruppen-Prozesse 44 James, William 38 Jellinek, Georg 103 Justiziabilität 87, 179, 408 Kant, Immanuel 207, 208 Karajan, Herbert von 332 Kelsen, Hans 100, 101, 106, 109, 113, 175 Kirchhof, Paul 128 Kommunitarismus 202, 203, 204, 205, 206, 364 Kompetenz-Kompetenz 58, 100, 119, 143 Kompetenzverteilung 170, 274, 402 konflikttheoretische Modelle 208, 211 Konsensprinzip 398 Konsenstheorien 206 Konventsmethode 258, 259, 267 Kopenhagener Identitätserklärung 243, 244, 248, 315 Kopenhagener Kriterien 447 Kulturgemeinschaft 82, 148 Kulturnation 65, 79, 80, 81, 83
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Laizismus 302, 304 LeBon, Gustave 41, 42 Legalität 94, 105, 107, 116, 138, 196, 199, 200 Legitimation 95 – diskurstheoretische Legitimation 219, 221, 222 Legitimität 94, 95, 99, 107, 112 – formale Legitimität 200 – juristisch-ethisches Verständnis 232 – kollektive Identität als Legitimitätsbedingung 232, 233, 234 – Legitimitätsbegriff Carl Schmitts 115, 116, 117 – Legitimitätsbegriff der postmodernen Theorieansätze 197 – Legitimitätsbegriff des Kommunitarismus 202, 204 – Legitimitätsbegriff des Liberalismus 207 – Legitimitätsbegriff Hermann Hellers 138, 145 – Legitimitätsbegriff Max Webers 199 – Legitimitätsbegriff Niklas Luhmanns 196 – Legitimitätsbegriff Rudolf Smends 152, 153, 159, 183 – Legitimitätsbegriff von Jürgen Habermas 214, 215, 216, 219 – rechtspositivistischer Legitimitätsbegriff Hans Kelsens 105, 108 – soziale Legitimität 200 Liberalismus 202, 207, 211, 259, 411 Litt, Theodor 154 Luhmann, Niklas 196 Lyotard, Jean-Francois 197 Maastricht-Entscheidung 55, 99, 129, 145 McDougall, William 41 Mead, George Herbert 38 Mehrsprachigkeit 69 Meinungsfreiheit 222 Menschenwürde 124, 174, 229
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Personen- und Sachverzeichnis
Ministerrat 373, 379, 380, 381, 416, 417 Mitentscheidungsverfahren 372, 373, 382 Monnet, Jean 341 Morlok, Martin 188 Napoleon 80 Nationalismus 224 Nationalsozialismus 76, 86 Nationalsprache 67, 68 Nationalstaatsbildung 61, 67, 233 NATO 144, 294 Nichtigkeitsklage 429, 434 Nicolaysen, Gert 69 Niederlassungsfreiheit 421 Öffentlichkeit 261, 268, 305 Osterweiterung 294, 296, 331, 440, 443 Ost-West-Konflikt 294, 295, 440 Parlamentarismus 136, 166 Parteien 246, 248, 389, 390, 413 Partikularismus 229 Patriotismus 224 Pernice, Ingolf 188, 189 Petitionsrecht 422 Plaumann-Formel 430, 431 Pluralismus 124, 229, 230 Postmoderne 197 Präambel 283, 297, 298, 299, 300, 306, 310, 444, 448, 451 – Gegenwartsbestimmung 297 – Präambel der Grundrechtecharta 247, 285, 317, 360, 363, 452 – Präambel des EU-Vertrages 246 – Präambel des Verfassungsvertrages 282, 284, 285, 286, 287, 295, 302, 306, 317, 361, 363, 450 – Vergangenheitsbezug 288 – Zukunftsbezug 306 Präsident der Europäischen Kommission 375, 378, 385, 388, 391, 401
Präsident des Europäischen Rates 375, 378, 385, 386, 392, 400, 401, 449 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 405 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit 408, 409 Rahmengesetz 407, 430 Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts 355 Rechtpositivismus 112 Rechtsgemeinschaft 89, 107, 109, 138, 175, 312, 350, 427, 454 Rechtsnachfolge 55, 449 Rechtspersönlichkeit 281 Rechtspositivismus 101, 112, 114 Rechtsstaatlichkeit 110, 243, 291, 442 Referendum zum Verfassungsvertrag 26, 99, 252, 253, 254, 263, 268, 269, 272, 348, 455 Referenzsprachmodell 72 Regierungskonferenz 266, 302, 317, 349, 375 Reine Rechtslehre 108, 110 Religionsfreiheit 222, 304, 445 Reversibilitätsbedingung 151 Richtlinienkompetenz 388 Rollentheorie 39 Ross, Edward Alsworth 41 Rousseau, Jean-Jacques 115, 203 Säulenstruktur 452 Schicksalsgemeinschaft 307, 308, 442, 450 Schiller, Friedrich von 331 Schindler, Alexandra 188 Schmitt, Carl 50, 76, 100, 102, 111, 113, 114, 115, 119, 123, 131, 138, 174, 186, 221, 222, 450 Schuman, Robert 241, 341 Schuman-Plan 341 Simmel, Georg 39, 104, 167
Personen- und Sachverzeichnis Smend, Rudolf 56, 100, 113, 152, 161, 162, 170, 180, 181, 282, 312, 323, 333, 424, 450 Solidarität 244, 306, 323, 435 Souveränität 143, 144, 272, 313 – absoluter Souveränitätsbegriff Hermann Hellers 140, 141, 142, 405 – Souveränitätsbegriff Carl Schmitts 119 Spaltung Europas 294, 295, 296, 443 Sprachenstreit 70 Sprachnation 65, 66, 68 Staat 121 – Staatsbegriff Carl Schmitts 115 – Staatsbegriff Hans Kelsens 102, 103, 104, 105 – Staatsbegriff Hermann Hellers 138, 139, 142 – Staatsbegriff Rudolf Smends 152, 153, 154, 155, 166 – Staatsgebiet 67, 121, 144, 159 – Staatsgewalt 100, 121, 185 – Staatsvolk 64, 86, 105, 121, 128, 129, 157, 162, 194, 420 Staatenbund 60, 93, 118, 129 Staatenverbund 129, 132, 142 Staatsbürgernation 65, 85, 93, 419 Sternberger, Dolf 212, 213, 217, 218, 224 Subsidiaritätskontrolle 409 Subsidiaritätsprinzip 408, 409 supranationale Rechtsordnung 90 Supranationalität 58, 59, 189, 373, 452 Symboldefinition 321 Symbole der Europäischen Union – Euro 334, 335, 339 – Europatag 340, 341 – Flagge 325, 328 – Hymne 326, 330 – Leitspruch 242, 332, 334, 452 Symbolik – Integrationsfunktion 162 – Symbolbegriff Rudolf Smends 161, 162 Systemtheorie 196
505
Tajfel, Henri 42 Teampräsidentschaften 381 Theorie der Selbstkategorisierung 42, 44 Theorie der Sozialen Identität 42, 50, 52, 53, 60, 207, 311 Thukydides 288, 289 Tindemans Bericht 244 Tindemans, Leo 244 Tocqueville, Alexis de 211 Transparenzgebot 416 Türkei, Beitritt zur Europäischen Union 35, 132, 302, 329, 332, 443, 444, 446, 447, 448, 453 Turner, John C. 42 Überpositive Rechtsgrundsätze 138, 145, 148, 149 Unionsbürgerschaft 419, 420, 422, 423, 449 United Nations 60 Vereinigte Staaten von Amerika 83, 85, 92, 93, 193, 244, 333, 336, 346, 436, 438, 439 Verfassung – Deutungsoffenheit 227, 228, 425 – etatistischer Verfassungsbegriff 189 – funktionaler Verfassungsbegriff 91, 92, 257 – Instrumentalfunktion 85 – Integrationsfunktion 86, 96, 97, 112, 125, 133, 137, 149, 159, 168, 170, 174, 186, 228, 236, 309, 427 – konstitutionalistischer Verfassungsbegriff 91 – mittelbarer Wirkungsmodus 193 – nationalstaatlicher Verfassungsbegriff 92 – Normativität 137, 149, 174, 178, 179, 180, 184, 197, 220, 229, 276, 346, 427, 454 – Staat als Verfassungsvoraussetzung 126, 165, 187 – Steuerungs- und Ordnungsfunktion 85
506
Personen- und Sachverzeichnis
– Symbolfunktion 85, 345, 346 – unmittelbarer Wirkungsmodus 192 – Verfassungsbegriff Carl Schmitts 117, 118, 121, 124 – Verfassungsbegriff Hans Kelsens 106 – Verfassungsbegriff Hermann Hellers 136 – Verfassungsbegriff Rudolf Smends 159 – Verfassungsbegriff von Ingolf Pernice 189 Verfassungsbeschwerde 426, 431, 432, 434 Verfassungsgesetz 117, 118, 269 Verfassungskonvent 248, 257, 266, 302, 304, 420, 431 Verfassungsnation 56, 65, 80, 84, 85, 87, 88, 90, 93, 96, 162, 220, 419, 431 Verfassungspatriotismus 202, 211, 212, 213, 218, 224, 226, 257, 411, 424, 450 – europäischer Verfassungspatriotismus 216, 225, 226, 269, 283 – Konzeption Dolf Sternbergers 212, 217
– Konzeption von Jürgen Habermas 213, 222 Verfassungsverbund 190 Vertrag von Athen 440 Vertrag von Maastricht 36, 270, 419 Volksnation 65, 76, 93 Vorabentscheidungsverfahren 429 Warschauer Pakt 294 Weber, Max 199 Weimarer Republik 86, 99, 164 Weimarer Richtungsstreit 56 Weimarer Staats- und Verfassungslehre 97, 98, 99, 100 Wertegemeinschaft 138, 161, 165, 172, 182, 205, 214, 291, 298, 328, 350, 364, 369, 449, 450, 454 Werteklausel 352, 454 Wesensgehaltsgarantie 313, 317 Westeuropa 331, 442 Wiener Kongress 94 World Trade Organisation 60