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German Pages 696 [697] Year 2023
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1492
Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst Von
Jannis Vogt
Duncker & Humblot · Berlin
JANNIS VOGT
Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1492
Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst
Von
Jannis Vogt
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Wintersemester 2021/2022 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D6 Alle Rechte vorbehalten
© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany
ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18664-8 (Print) ISBN 978-3-428-58664-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2021/2022 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Sie befindet sich im Wesentlichen auf dem Stand von März 2021. Literatur, Rechtsprechung und Gesetzgebung konnten danach nur noch vereinzelt berücksichtigt werden. Seit der Fertigstellung des Manuskriptes hat der Gesetzgeber – maßgeblich als Reaktion auf die breite Beanstandung einfachgesetzlicher Vorschriften des Sicherheitsrechts durch das Bundesverfassungsgericht – zahlreiche Änderungen in den Fachgesetzen der Nachrichtendienste vorgenommen. Insbesondere die gänzliche Neuordnung des BNDG durch das Gesetz zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des BVerfG und des BVerwG vom 19.4.2021 (BGBl. I S. 771) konnte nur noch fragmentarisch berücksichtigt werden. Auf die Novelle wird in einer separaten Veröffentlichung des Verfassers detailliert und vergleichend zur vorherigen Rechtslage eingegangen1. Die Vielzahl an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Sicherheitsrecht und explizit auch zu den nachrichtendienstlichen Fachgesetzen unterstreicht die fortwährende Bedeutung einer rechtswissenschaftlichen Begleitung der technisch hochkomplexen klandestinen strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung des Bundesnachrichtendienstes. Ein Ende ist dabei einstweilen nicht in Sicht: Erneut wurde von der Gesellschaft für Freiheitsrechte und Reporter ohne Grenzen Verfassungsbeschwerde gegen das reformierte BNDG erhoben – das Recht der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung steht somit weiterhin unter scharfer Beobachtung. Das Bundesverfassungsgericht wird abermals Gelegenheit haben, diese nachrichtendienstliche Eingriffsbefugnis zu vermessen und gegebenenfalls noch passgenauer einzuhegen; insoweit besteht vereinzelt noch verfassungsrechtliches Differenzierungspotential. Zugleich wird gerade aufgrund der aktuellen geopolitischen Entwicklung durch den Krieg in der Ukraine die Relevanz der nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung, insbesondere zur Sicherung der Information politischer Entscheidungsträger, überdeutlich. Mein besonderer Dank gilt Professor Dr. Fabian Wittreck, der die Betreuung der Arbeit bereitwillig übernommen und ihren Fortgang, von der Erstellung des Exposés bis zur Drucklegung, stets äußerst wohlwollend gefördert hat. Bei Zu1
Ein entsprechender Aufsatz liegt der Schriftleitung der DÖV zur Prüfung vor.
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Vorwort
schnitt und thematischer Ausrichtung der Studie hat er mir größtmögliche Freiheit gelassen. Dabei hatte er stets ein offenes Ohr für alle Anliegen, Fragen und gelegentliche Zweifel eines Doktoranden. Herrn Professor Dr. Bernd Holznagel, LL.M. schulde ich Dank für die Erstellung des Zweitgutachtens. Ebenfalls dankbar bin ich der Studienstiftung des Deutschen Volkes e. V., die die Erstellung dieser Arbeit mit der großzügigen Gewährung eines Promotionsstipendiums unterstützt hat. Mein herzlichster Dank gilt meinen Eltern, die mich stets gefördert und mir das Studium und die Promotion erst ermöglicht haben. In ganz besonderem Maße gilt dies auch für Anji, die mich immer bestärkt und als Fachfremde die Mühen der Korrektur bereitwillig auf sich genommen hat. Ihnen sowie meinen Großeltern und meinem Großonkel und meiner Großtante, die die Fertigstellung des Manuskriptes leider nicht mehr erleben konnten, ist diese Arbeit gewidmet. Dortmund, im Juni 2022
Jannis Vogt
Inhaltsverzeichnis A. Snowden, der Bundesnachrichtendienst und eine sicherheitsrechtliche Ausnahmebefugnis im Lichte des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriffsbestimmung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur . . . . I. Nachrichten- oder Geheimdienst? Terminologische Unterscheidung im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat qua Einhegung operativer Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Polizeibrief “ als historische Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Organisatorische Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Befugnisrechtliche Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesicherter Stand einfachgesetzlicher Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausschluss der Polizei von nachrichtendienstlichen Mitteln? . . . . . . . aa) Faktische Ausweitung heimlicher Überwachungsmaßnahmen im Polizei- und Strafverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grundsätzliche Anbindung der Polizei und Strafverfolgungsbehörden an den Gefahrbegriff und Verdachtsgrade . . . . . . . . . . . . . 4. Funktionale Trennung: Aufgaben von Polizei und Nachrichtendiensten im Koordinatensystem der Sicherheitsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsgerichtliche Standortbestimmung durch Urteile zum Antiterrordateigesetz und zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung . . b) Vermischung tradierter Aufgabenbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Materiell-rechtliche Konsequenzen organisationsrechtlicher Differenzierung – (De-)Privilegierung der Nachrichtendienste? . . . . . . . . . . . . 5. Informationelles Trennungsprinzip als hypothetische Datenneuerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verfassungsrang des Trennungsgebotes als rechtsstaatliche Sicherung . . III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bundesamt für Verfassungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aufgaben und Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befugnisse jenseits der Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25 31 32 33 35 35 39 42 44 45 45 46 46 50 51 51 54 59 69 76 81 82 84 85 91
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Inhaltsverzeichnis a) Aufgaben und Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befugnisse jenseits der Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bundesnachrichtendienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Historischer Hintergrund des Dienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auftrag zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland . . . . . . . aa) Das Produkt „intelligence“: Von Rohdaten zu Lageeinschätzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung . . (1) Auftrag Auslandsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gegenspionage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Sonderaufträge des Bundeskanzlers und der Bundesregierung als Relikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Spionageabwehr zur Eigensicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Signals und Communications Intelligence als bundesnachrichtendienstliche Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Organisation und Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Befugnisse jenseits der Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kontrollstrukturen im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Historie und Bestandsaufnahme der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Abschichtung der Individualkontrollen durch Nachrichtendienste . . . . . . . . . 1. Individualmaßnahmen zur Erfassung der Telekommunikationsinhalte nach § 3 G 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Individualmaßnahmen zur Einholung von Telekommunikationsverkehrsdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anordnungsverfahren und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung – übergeordnete Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historischer Abriss: Von der Fernmeldeaufklärung des Kalten Krieges hin zur digitalen Welt – politischer und technischer Wandel im Lichte der Verfassungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Notstandsgesetzgebung und erstes Abhörurteil – BVerfGE 30, 1 . . . . b) Strategische Kontrolle im Kalten Krieg und zweite Abhörentscheidung – BVerfGE 67, 157 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 und dritte Abhörentscheidung – BVerfGE 100, 313 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Neufassung des G 10 und jüngere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Entwicklungslinien der Rechtsprechung zur strategischen Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einfachrechtliche Ausgestaltung der strategischen Beschränkungen . . . . a) Voraussetzungen und Ziele der Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis b) „Internationale Telekommunikationsbeziehungen“ als verfassungsdogmatische Prämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bisheriges ständiges Verfassungsverständnis der Staatspraxis . . . bb) Ausschluss rein nationaler Telekommunikation aus der strategischen Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Durchsuchung des Rohdatenstromes mittels Selektoren und Löschpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Teilverbot der Überwachung einzelner Kommunikationsanschlüsse . . aa) Kernbereichsschutz mit Unklarheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kein Schutz für besondere Vertrauensbeziehungen . . . . . . . . . . . . e) Übermittlung von personenbezogenen Daten aus der strategischen Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Übermittlung an inländische Behörden, insbesondere an operative Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Übermittlung an ausländische Nachrichtendienste . . . . . . . . . . . . . f) Anordnungsverfahren und Mitwirkungspflichten der Telekommunikationsdienstleister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beschränkungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mitwirkungspflichten der Telekommunikationsdienstleister . . . . g) G 10-Kommission als Richtervorbehalt ersetzende Kontrollinstanz sui generis mit komplementärer Datenschutzkontrolle . . . . . . . . . . . . . IV. Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – vom Datenfischen im grundrechtsfreien Raum zur vorerst gescheiterten Legalisierung des Faktischen . . 1. § 1 II 1 BNDG als Generalklausel oder der Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Weltraumtheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Theorie des virtuellen Auslands“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – ein verfassungsrechtlicher Spagat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zentralnorm des § 6 BNDG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus ohne Ermächtigungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eingeschränkte Datenverarbeitungsregelungen und Löschpflichten . . d) Kein Schutz besonderer Vertrauensbeziehungen und unkontrollierte Kernbereichssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Anordnungsverfahren, Mitwirkungspflichten und eingeschränkte Regeln für Selektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Allgemeines Übermittlungsregime statt angepasster leges speciales . . g) Grundzüge des Kooperationsrechts – Die Ausnahme von der Ausnahmebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Zaghafte Kontrolle durch das Unabhängige Gremium – keine zweite G 10-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
D. Grundsatzurteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – eine erste Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strategisch ausgewählte Beschwerdeführer und ihr Vortrag . . . . . . . . . . . . . . II. Wiederholung größtenteils bekannter Linien: Der Vortrag der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die wesentlichen Erwägungen des Ersten Senats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zulässigkeit als Ausblick auf die Grundsatzentscheidung . . . . . . . . . . . . . 2. Lehrbuchartige Ausführungen zum Grundrechtsschutz samt detaillierter „Segelanweisung“ für den Gesetzgeber im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Technische Hintergründe, praktische Umsetzung und Differenzierungsprobleme der technischen Fernmeldeaufklärung: Erkenntnisse der PostSnowden-Ära I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überwachung paket- statt leitungsvermittelter Telekommunikation auf unterschiedlichen Strecken: Technische Evolution respektive Revolution der Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geringeres Volumen nicht-leitungsgebundener Übertragung . . . . . . . . . . . 2. Unterschiedliche technische Vermittlung von Kommunikation . . . . . . . . . a) Leitungs- und paketvermittelte Datenübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) All-IP-Kommunikation als einheitlicher Standard – Funktionsweise der Paketvermittlung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Internet als Netz von Netzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Glasfaserkabel als physische Netzstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Netzwerkarchitektur, IP und Routing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) OSI-Schichten- und TCP/IP-Referenzmodell . . . . . . . . . . (b) IP-Adresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Festnetzanschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) IP-Adresse im Mobilfunk und bei öffentlichen Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Ermittlung von Kommunikationsanschlüssen und Kommunikationsteilnehmern mittels IP-Adressen . . (c) IP-Pakete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Routing – stetig wechselnde Übertragungswege von Datenpaketen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zugriff auf Telekommunikationssatelliten und Strecken durch den Bundesnachrichtendienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Identifizierung relevanter und legal erhebbarer Verkehre bei paketvermittelter Kommunikation als konstitutive technische Herausforderung . . . . . . . . 1. Streckenauswahl mittels Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Separator und „Daten-Filter-System“ als technischer Grundrechtsschutz a) Separator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) DAFIS-Filter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis aa) Geolokalisation von IP-Adressen mittels Separator nicht gänzlich fehlerfrei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Aussonderung von geschützten Telekommunikationsteilnehmern als komplexe Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Mehrere Übertragungswege bei Client-Server-Architektur . . (2) Einschränkungen der DAFIS-Filter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit: Technische Herausforderungen als drohendes Vollzugsdefizit normativer Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Verfassungsrechtliche Anforderungen an eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutzdimensionen und territorialer Geltungsbereich des Fernmeldegeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachlicher Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses aus praxisorientierter Warte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertraulichkeitsschutz von Fernkommunikation durch formalen Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neue Kommunikationsformen als Herausforderung für den Grundrechtsschutz: Vermischung von Massen- und Individualkommunikation in der digitalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Theoretische Fragen der Abgrenzung anhand des Mediums und der Telekommunikationsteilnehmer im Überblick . . . . . . . . . . . . . bb) Technologische Praxisperspektive: Ununterscheidbarkeit in Zeiten paketvermittelter Telekommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Lex specialis zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . d) Verhältnis zum Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme und zur Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jedermann-Grundrecht unter Bewährungsdruck – die „Funktionsträgertheorie“ des Bundesnachrichtendienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutz natürlicher Personen durch das Menschenrecht des Fernmeldegeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wesensmäßiger Schutz von juristischen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Funktionsträgertheorie“ bei juristischen Personen des Privatrechts unanwendbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts: Unterscheidung von Organwaltern und grundrechtsberechtigten Individuen „hinter dem Amt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausländische Staaten, inter- und supranationale Organisationen jenseits des nationalen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Territoriale Reichweite des Fernmeldegeheimnisses: Räumlich begrenzter Schutzbereich oder globales Freiheitsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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258 262 268 269
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Inhaltsverzeichnis a) Begriffsklärung der Termini und Abschichtung rein objektivrechtlicher Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Definition von Extraterritorialität im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 c) Abschichtung allgemein grundrechtsdogmatischer Ansätze oder eines „Verfassungskollisionsrechtes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 d) Status negativus des Fernmeldegeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 e) Die zentralen Eckpfeiler der bisherigen Rechtsprechungsentwicklung des Bundesverfassungsgerichts: Vom Washingtoner Abkommen zur dritten Abhörentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 aa) Meilensteine der Rechtsprechung bis zur dritten Abhörentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 bb) Urteil zur strategischen Fernmeldeaufklärung – BVerfGE 100, 313 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 (1) Fortführung bekannter Argumentationslinien . . . . . . . . . . . . . . 287 (2) Geographische Belegenheit der Überwachungsanlagen als genuine link des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 (3) Vermeintliche und tatsächliche Unsicherheiten nach der Entscheidung 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 cc) Extraterritoriale Datentransfers im BKAG-Urteil . . . . . . . . . . . . . . 291 f) Überblick über die bisherigen Strömungen der Debatte im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 aa) Anknüpfung an die Rechtsprechung zum Gebietskontakt . . . . . . . 293 bb) Technologiespezifische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 cc) Wirkungsprinzip bei der Grundrechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 dd) Territorialprinzip als abgeschwächte Demarkation zur Vermeidung völkerrechtlicher Konflikte und Beschneidung außenpolitischer Gestaltungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 ee) Grundrechtsschutz durch Subordination unter staatliche Herrschaftsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 (1) Verfassungskollisionsrecht nach Isensee als gangbarer Mittelweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 (2) Rein völkerrechtlich determinierte Zuständigkeitsabgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 (3) Überhöhung verfassungspolitischer und völkerrechtlicher Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 ff) Der Bundesnachrichtendienst als illegaler Akteur im Ausland? . . 308 g) Zäsur durch das Urteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung . . 311 aa) Art. 1 III GG als verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung einer umfassenden Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt . . 312 bb) Internationale Einbindung durch das Grundgesetz und der Blick Richtung Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
Inhaltsverzeichnis cc) Konkret: Grundrechtsbindung des Bundesnachrichtendienstes als rechtsstaatliche Kompensation ubiquitärer Überwachungstechnologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Kraftvolles Plädoyer für eine grundsätzlich umfassende Bindung staatlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Stellungnahme: Art. 10 I GG als Sonderfall einer grundrechtsimmanenten extraterritorialen Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Extraterritoriale Geltung des Fernmeldegeheimnisses durch teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Keine völkerrechtliche Grenze extraterritorialer Geltung des Fernmeldegeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Ergebnis: Globales Freiheitsrecht durch formalen Geheimnisschutz . j) Unmodifizierte Übertragung des Grundrechtsverhältnisses auf Ausländer im Ausland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eingriffscharakter der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eingriffsbegriff und Abgrenzungsfragen bei technisch induzierten Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verlagerung des Eingriffes durch hoheitliche Indienstnahme Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Massendatenabgleich als Herausforderung an die Eingriffsdogmatik aa) Geolokalisation ohne Eingriffswirkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Irrelevanz der Differenzierung zwischen „Treffern“ und „Nichttreffern“ – Relativierung einer verfehlten Eingriffsdogmatik . . . (1) Datenabgleich als „Akt der Auswahl“ und bisherige Nichttrefferfälle-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beschluss zur Kennzeichenerfassung II – Rücknahme der Nichttreffer-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung und Teilübertragung der Rechtsprechung zur Kennzeichenerfassung II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Selektorenabgleich auf „Datenautobahnen“ als Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Exkurs: Grundrechtseingriff durch Einschüchterungseffekte? – Zum Wert einer juristischen Argumentationsfigur . . . . . (a) Einschüchterungseffekte als vermeintlich nicht validierter Gefühlsschutz für irrationale Ängste . . . . . . . . . . . . . . (b) Antikritik: Einschüchterungseffekte als überindividueller Freiheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Plädoyer für eine Argumentation mit Einschüchterungseffekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Alles auf Anfang: Das Urteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Ungelöste Vorstufe: Separator und DAFIS-Filter als eigene Grundrechtseingriffe – Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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316 318 319 320 324 326 327 332 333 335 338 338 339 340 344 346 348 350 354 357 362 362 364
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Inhaltsverzeichnis c) Individualisierbarkeit von Grundrechtsträgern als konstitutive Eingriffsvoraussetzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unbeachtlichkeit des Personenbezuges für den Ersteingriff . . . . . bb) Relevanz für Folgeeingriffe sowie Eingriffsintensität . . . . . . . . . . . (1) Auskunftsrechte bei der strategischen Fernmeldeaufklärung . . (2) Metadatenauswertung durch full take und nachrichtendienstliche Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Datenerhebungen in der Verantwortlichkeit deutscher Staatsorgane . . e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingriffsintensität der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Parameter der Eingriffsintensität und Praxistest – zugleich PostSnowden-Erkenntnisse II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art und Aussagekraft von Inhalts- und Metadaten im digitalen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ebenenanalyse jenseits der rechtswissenschaftlichen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) XKeyscore-Nutzung im Rahmen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Befund für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anlasslosigkeit der Überwachung bei korrespondierender hoher Streubreite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Parlamentarische Berichte: Sehr hohe Streubreite der strategischen Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Lichtschein ins Dunkle: Außerordentlich hohe Streubreite der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . (a) Normative Streubreitenbegrenzungen bei Erhebung vom Inland aus gering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Datenerhebung vom Ausland aus ohne nennenswerte Streubreitenbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Klandestine Überwachung als eingriffsintensive Ausnahme im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Drohende Nachteile durch Folgeeingriffe – Erneut: Privilegierung der Nachrichtendienste? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ausschluss von operativen Maßnahmen und Aufenthalt jenseits der Zugriffsmöglichkeiten deutscher Staatsgewalt . . . . . (a) Staatliche Zugriffsmöglichkeiten auf Individuen als entscheidender Faktor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Übermittlungstatbestände mit weiten beziehungsweise ohne Rechtsgüterkataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Begrenzung durch Beschränkung auf finished intelligence? . .
369 372 374 374 375 377 379 380 381 383 385 391 392 393 396 401 403 407 407 411 411 413 415 419 420
Inhaltsverzeichnis b) These: Besonders schwere Grundrechtseingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Befundsicherung durch Rückkoppelung an andere höchstinvasive Informationseingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtfertigungsmöglichkeiten und Grenzen strategischer Auslandstelekommunikationsüberwachung unter dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kompetenzrechtliche Beschränkung auf Gefahren der äußeren Sicherheit als Ausdruck eines auch föderalen Trennungsgebots . . . . . . . . . . . . . a) G 10-Aufklärung kompetenzkonform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung und innere Sicherheit? . . . . . 2. Zitiergebot als formelle Sicherung mit Nichtigkeitsfolge . . . . . . . . . . . . . 3. Universelle Geltung des Gesetzesvorbehaltes für Grundrechtseingriffe . a) Fehlende Ermächtigungsgrundlage für die Filterkaskade . . . . . . . . . . . b) Fehlende Ermächtigungsgrundlage für die Aufklärung vom Ausland aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Normenklare, hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlagen – auch insoweit keine Privilegierung der Nachrichtendienste . . . . . . . . . 4. Verhältnismäßigkeit einer strategischen Datenerhebung zur Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nachrichtendienstliche Auslandsaufklärung als legitimer Zweck . . . . b) Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung als geeignetes technisches Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erforderlichkeit der technisch-strategischen Auslandsaufklärung . . . d) Verfassungsrechtliches Herzstück: Die Angemessenheitsanforderungen an die Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Überragendes öffentliches Interesse am Auftrag Auslandsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besonders schwere Grundrechtseingriffe ohne Bindung an eine Einschreitschwelle – Aufklärung „ins Blaue hinein“? . . . . . . . . . . (1) Konkretisierungsanforderungen an eine präventive Einschreitschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Grundsätzliche Unzulässigkeit rein final angeleiteter und begrenzter Grundrechtseingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ausnahmebefugnis im Rechtsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Geltungserhaltende Reduktion durch Verzahnung unterschiedlicher Datenebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Strengste Limitierung einer Nutzung rein inländischer Telekommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Abstufungen grundrechtlicher Schutzintensität: Fortsetzung territorialer Demarkationslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Alleiniges Ziel: Außen- und sicherheitspolitische Information der Bundesregierung in ihrer Regierungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Verfahrensrechtliche Grundrechtssicherungen . . . . . . . . .
15 421 423 428 428 433 434 436 442 443 445 447 453 454 455 458 459 461 463 465 468 470 474 475 478
479 482
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Inhaltsverzeichnis (aa) Hochzonung politischer Verantwortlichkeit unabhängig von geographischen Parametern . . . . . . . . . . (bb) Selektorenbestimmung in der Anordnung nicht generell erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Gezielte Erfassung konkreter Personen: Grundrechtsschutz doch aufgrund Personalhoheit? . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Bevorratung und Auswertung von Daten: Verhältnismäßigkeit durch Datenverwendungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Kernbereichsabschirmung und Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Tradierter Kernbereichsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Personen- und kontextabhängige Schutzabwägung besonderer Vertraulichkeitsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Löschpflichten: Wesentlicher Verhältnismäßigkeitsschutz statt reiner Formvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Geltungserhaltende Reduktion auf Übermittlungsebene . . . . . . . . . . . . . . . a) Übermittlungs- als Einschreitschwellen: Konkretisierungsanforderungen II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Besonders gewichtige Rechtsgüter und besonders schwere Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strafprozessualer Verdachtsgrad analog § 100c StPO: Begrenzter Ausfall verfassungsgerichtlicher Detaillierungsbestrebungen . . . . cc) Hinreichend konkretisierte versus konkrete Gefahr: Einhegung gezielter Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Internationale Datentransfers und Kooperationen unverzichtbar für Auslandsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Angemessenes Datenschutzniveau und Ausschluss menschenrechtswidriger Datennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtsstaatlichkeitsvergewisserung als politische Prognose . . . . . cc) Formalisierte Kooperationen: An der verfassungsrechtlichen Grenze oder darüber hinaus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übermittlung von Erkenntnissen für außenpolitische Regierungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit: Datenübermittlung komplementiert verfassungsrechtlichen Erhebungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gerichtsähnliche und administrative Kontrolle statt Transparenz und Individualrechtsschutz: Reset der bisherigen Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . a) Transparenz und Benachrichtigungspflichten weit zurückgenommen . . b) Gerichtsähnliche und administrative Kontrolle als umfassende operative Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Third Party Rule: Anpassung des Verfassungsrechts an etablierte internationale Praktiken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
483 484 485 489 494 494 497 500 501 501 503 503 505 506 508 510 511 515 520 524 525 527 529 535
Inhaltsverzeichnis
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7. Resümee: Effektiver Grundrechtsschutz durch einen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an der Belastungsgrenze – BKAG-Urteil reloaded für die technische Auslandsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 IV. Anwendung der Maßstäbe: Kontrolle einfachrechtlicher Vorschriften anhand der Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsparameter . . . . . . . . . . . 540 1. Beziehung des Bestimmtheitsgrundsatzes zur Verhältnismäßigkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 2. BNDG von durchgreifenden verfassungsrechtlichen Mängeln durchzogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 a) Vielfache Mängel der Normenklarheit und Bestimmtheit im BNDG 542 aa) Keine normenklare Beschränkung auf differenzierte Datenerhebungszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 bb) Verweisungskaskaden statt normenklarer Übermittlungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 cc) Unbestimmtheit des Kooperationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 dd) Teilweise unzureichende Normenklarheit der Eignungsprüfung . . 549 ee) Fazit: Bestimmtheitsmängel determinieren und reduzieren Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 b) Vielfache Mängel in Ansehung der Verhältnismäßigkeitsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 aa) Datenerhebungs- und Verarbeitungsvorschriften unangemessen ausgestaltet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 bb) Übermittlungsbefugnisse ohne belastbare Einschreitschwellen und Rechtsgüterkataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 cc) Kooperationsrecht mit äquivalenten Mängeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 dd) Unabhängiges Gremium und administrativer Datenschutz grundlegend unzureichend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 ee) Eignungsprüfung unzureichend begrenzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 3. Veraltete G 10-Regelungsstrukturen verfassungsrechtlich nicht mehr tragbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 a) Graduelle Bestimmtheitsmängel im G 10 de lege lata . . . . . . . . . . . . . 559 aa) Datenerhebungsebene mit Verstößen gegen das Gebot einer normenklaren Aussonderung rein inländischer Telekommunikation 559 bb) Datenübermittlungen nach §§ 7, 7a G 10 in Teilen zu unbestimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 b) Partielle Verstöße gegen Verhältnismäßigkeitsanforderungen im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 aa) Gezielte Erfassung von Inländern im weiteren Sinne rechtswidrig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 bb) Datenauswertungsrecht ohne besondere Qualifikation . . . . . . . . . 564 cc) Durchgreifende Defizite beim Schutz von Vertrauensbeziehungen und des Kernbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
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Inhaltsverzeichnis dd) Übermittlungsschwellen als zentrales verfassungsrechtliches Defizit auch im G 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 ee) G 10-Kommission statt umfassender gerichtsähnlicher und administrativer Kontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 4. Fazit: Erheblicher gesetzgeberischer Handlungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . 573
G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen an eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . 1. Rang und Bedeutung der EMRK in der nationalen Rechtsordnung . . . . . 2. Art. 1 und 8 EMRK als konventionsrechtliche Maßstäbe nachrichtendienstlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutz des Privatlebens und der Korrespondenz als Oberbegriff . . . . . b) Grundrechtsberechtigte nach der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ratione loci bei grenzüberschreitenden und extraterritorialen Sachverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Abriss des allgemeinen case law zu extraterritorialem Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Keine Festlegung des Gerichtshofes bezüglich extraterritorialer Überwachung durch Nachrichtendienste . . . . . . . . . . . . . (3) Übertragung der allgemeinen judiziellen Parameter auf die nationale Überwachungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Grenzüberschreitende Überwachung vom Inland aus – physischer Aufenthalt als konstitutive Anwendbarkeitsvoraussetzung der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus jenseits deutscher Hoheitsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis: Territoriale Zersplitterung des Konventionsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ratione personae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konventionseingriff durch bloße Existenz von Befugnisnormen . . . . . . . . 4. Anforderungen an die Rechtfertigung einer strategischen Fernmeldeaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formelle Anforderungen an eine „gesetzlich vorgesehene“ Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Weber“-Katalog der materiell-rechtlichen Mindestanforderungen – kein substantielles update . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft – kontrollierte margin of appreciation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Garantien gegen staatlichen Missbrauch im nationalen Recht weitgehend implementiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mangelhafter Schutz besonderer Vertraulichkeitsbeziehungen im G 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis: G 10-Regime mit partiellen konventionsrechtlichen Defiziten
574 576 576 579 579 581 582 583 587 591
591 594 596 596 598 599 599 600 606 608 613 615
Inhaltsverzeichnis II. Anforderungen der EU-Grundrechtecharta und des sonstigen Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung als Durchführung bzw. im Anwendungsbereich des Unionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . a) Durchführung von Unionsrecht im Sinne des Art. 51 I 1 GRCh . . . . b) Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine unionsrechtliche Determinierung technischer Aufklärung durch Nachrichtendienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine sekundärrechtliche Öffnung im Kernbereich nationaler Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Beschränkung von Grundfreiheiten durch technische Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Zusammenfassende Reformimpulse: Perspektivische (Neu-)Regelung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungspolitischer Appell: Rechtsstaatliche Einhegung und Effizienzsicherung der Nachrichtendienste unmittelbar im Grundgesetz verankern . . II. Vereinheitlichung der einfachrechtlichen Grundlagen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gestufte Ermächtigungsgrundlage für die Datenfilterung aller Telekommunikationsverkehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Datenerhebungsstruktur des G 10 dem Grunde nach erhalten . . . . . . . . . . 3. Datenauswertungsrecht qualifizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Übermittlungsbefugnisse im BKAG als Vorlage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vereinheitlichung der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
616 617 617 620 622 627 633 636 637 640 643 646 649 652 655
I. Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695
Abkürzungsverzeichnis AEMR AEUV a. F. ANISKI AöR APuZ ARD ATDG AufenthG AVR AWG BayPAG BayVBl. BDSG BeckOK BfDI BfV BGBl. BHO BKA BKAG BMAD BMI BND BNDG BNDG-E
BSI BSIG BVerfG BVerfGE
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Aufklärung nicht standardisierter Kommunikation im Internet Archiv des öffentlichen Rechts Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Gesetz zur Errichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet Archiv des Völkerrechts Außenwirtschaftsgesetz Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei Bayerische Verwaltungsblätter Bundesdatenschutzgesetz Beck’scher Online-Kommentar Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Bundesamt für Verfassungsschutz Bundesgesetzblatt Bundeshaushaltsordnung Bundeskriminalamt Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat Bundesnachrichtendienst Gesetz über den Bundesnachrichtendienst Entwurf eines Gesetzes zur Änderung BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesverwaltungsgerichts Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Abkürzungsverzeichnis BVerfGG BVerfSchG
BVerwG BVerwGE Ch. CIA COMINT CR DAFIS DÖV DPI DRiZ DSG-VO DV DV DVBl. EGMR EMRK EuGH EuGRZ EUV EZB FHO FISA FlugDaG G 10 GCHQ GG GLJ GRCh GSZ GTAZ GYIL HmbPolDVG Hrsg. HSOG HUMINT IMEI IMSI
21
Bundesverfassungsgerichtsgesetz Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Chapter Central Intelligence Agency Communications Intelligence Computer und Recht Datenfilterungssystem Die öffentliche Verwaltung Deep Packet Inspection Deutsche Richterzeitung Datenschutzgrundverordnung Die Verwaltung Dienstvorschrift Deutsches Verwaltungsblatt Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Vertrag über die Europäische Union Europäische Zentralbank Fremde Heere Ost Foreign Intelligence Surveillance Act Gesetz über die Verarbeitung von Fluggastdaten zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/681 Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses Government Communications Headquarters Grundgesetz German Law Journal Charta der Grundrechte der Europäischen Union Zeitschrift für das Gesamte Sicherheitsrecht Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum German Yearbook of International Law Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei Herausgeber Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung Human Intelligence International Mobile Station Equipment Identity International Mobile Subscriber Identity
22 INPOL IP IPbpR IRG ITRB i.V. m. JA JR Jura JuS JZ Kap. K&R KJ KritV KrWaffKontrG LKV MADG MI5 MMR NATO n. F. NJ NJOZ NJW NRW NSA NSA-UA NStZ NVwZ NWVBl. NZWiSt OKH OSINT OVG PinG PKGr PKGrG PolG NRW
Abkürzungsverzeichnis Informationssystem der Polizei Internet Protokoll Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen IT-Rechtsberater in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristen Zeitung Kapitel Kommunikation und Recht Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung Ausführungsgesetz zu Artikel 26 Abs. 2 des Grundgesetzes (Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen) Landes- und Kommunalverwaltung Gesetz über den Militärischen Abschirmdienst Security Service Multimedia und Recht North Atlantic Treaty Organization neue Fassung Neue Justiz Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nordrhein-Westfalen National Security Agency 1. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode gemäß Art. 44 des Grundgesetzes Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer-, und Unternehmensstrafrecht Oberkommando des Heeres Open Source Intelligence Oberverwaltungsgericht Privacy in Germany Parlamentarisches Kontrollgremium Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen
Abkürzungsverzeichnis PUAG RabelsZ RED-G
Rn. S. SIGINT SOCMINT StGB StPO SWR TBEG TKG UA VBlBW VERAS VereinsG VoIP VR VStGB VVDStRL VwGO VwVfG ZA-NTS
ZD ZfWG ZG ZRP ZUM
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Gesetz zur Regelung der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Gesetz zur Errichtung einer standardisierten zentralen Datei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern zur Bekämpfung des gewaltbezogenen Rechtsextremismus Randnummer Seite Signals Intelligence Social Media Intelligence Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Südwestrundfunk Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz Telekommunikationsgesetz Untersuchungsausschuss Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verkehrs-Analyse-System Vereinsgesetz Voice over Internet Protokoll Verwaltungsrundschau Völkerstrafgesetzbuch Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Zusatzabkommen zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen Zeitschrift für Datenschutz Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht
A. Snowden, der Bundesnachrichtendienst und eine sicherheitsrechtliche Ausnahmebefugnis im Lichte des Verfassungsrechts Geheim- bzw. Nachrichtendienste umgibt der Mythos des Wirkens im Schatten. Sie generieren Informationen auf verschiedenste Weise, um ihrer Auftraggeberin, der Staatsleitung und Exekutive, exklusive Erkenntnisse und Lageberichte zu liefern, die einen Wissens- und damit auch Handlungsvorsprung vor anderen Mächten und sonstigen Einflussquellen ermöglichen. Dabei handelt es sich nicht um Vorgänge, die sich ausschließlich weit entfernt von der bundesrepublikanischen Lebenswirklichkeit, gleichsam in mondänen Kasinos an der Côte d’Azur durch Agenten in Abendgarderobe zutragen, sondern, die sich bisweilen mitten in der deutschen Hauptstadt – „Der Hauptstadt der Spione“ – entfalten1. Gleichwohl ranken sich viele Legenden und Halbwahrheiten um das klandestine Geschäft der Geheim- und Nachrichtendienste, ebenso vieles bleibt im Dunkeln und wird allenfalls durch echte oder vermeintliche Skandale – wobei schon die diesbezügliche Wertung freilich in der Regel vom jeweiligen (rechts-)politischen Standpunkt abhängig ist – ans Licht der Öffentlichkeit gespült. Die Veröffentlichungen des ehemaligen Mitarbeiters des US-amerikanischen Nachrichtendienstes National Security Agency (NSA) Edward Snowden2 warfen ein solches Schlaglicht, jenseits von James Bond-Szenarios, auf die technische Auslandsaufklärung der Nachrichtendienste, die in Deutschland der Bundesnachrichtendienst betreibt. Bekanntermaßen wurde nicht zuletzt aufgrund der enormen öffentlichen Resonanz auf die sich regelrecht überschlagenden Publikationen in der nationalen wie internationalen Presse3 der sogenannte NSA-Untersuchungsausschuss des 1 Pointiert der Präsident des BfV T. Haldenwang bei der jährlichen öffentlichen Befragung der Präsidenten der Nachrichtendienste gemäß § 10 III PKGrG im Juni 2020, zit. nach https://www.tagesspiegel.de/politik/berlin-ist-hauptstadt-der-spione-das-sind-diewichtigsten-aussagen-der-geheimdienstchefs/25960848.html (22.9.2020). Man denke zudem an den sogenannten Tiergartenmord, bei dem mutmaßlich russische nachrichtendienstliche Stellen in die Ermordung eines georgischen Staatsbürgers im Berliner Tiergarten im August 2019 involviert gewesen sein sollen, siehe dazu die entsprechenden Feststellungen in der Entscheidung des KG Berlin, Urteil vom 15.12.2021 – 2 StE 2/20. 2 Siehe zur Geschichte der Veröffentlichungen, zu ihren zentralen Aussagen – unter Abbildung von nicht verifizierbaren Dokumenten der NSA – sowie zur öffentlichen Rezeption stellvertretend wie instruktiv G. Greenwald, Die globale Überwachung, 2015, S. 9 ff. et passim. 3 Siehe stellvertretend die Veröffentlichungen der britischen Tageszeitung The Guardian, zusammengestellt in einer chronologischen Übersicht, abrufbar unter https:// www.theguardian.com/us-news/edward-snowden (22.9.2020).
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A. Snowden, der BND und eine sicherheitsrechtliche Ausnahmebefugnis
Deutschen Bundestages eingesetzt4, der die Tätigkeiten von Nachrichtendiensten ausländischer Provenienz, aber auch die Rolle des Bundesnachrichtendienstes beleuchten sollte. Dabei standen die grundsätzlich strenger Geheimhaltung unterliegenden Fähigkeiten zur technischen Aufklärung von Telekommunikation im Zentrum des Interesses, die im Jargon der Nachrichtendienste unter dem – mittlerweile schillernden – Begriff der Signals Intelligence (SIGINT) firmieren5. Diese Geheimhaltung – für die praktische Arbeit des Bundesnachrichtendienstes schlechterdings unverzichtbar – umgibt die Details der SIGINT-Aufklärung noch immer, wenngleich durch den Untersuchungsausschuss, flankierende Presseberichte und die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht6 über die Verfassungsbeschwerde gegen Teile des Bundesnachrichtendienstgesetzes grundlegende Einblicke in die Vorgehensweise gewonnen werden konnten7. Im Laufe des Untersuchungsausschusses wurde schnell deutlich, dass es sich um ein technisch enorm anspruchsvolles Aufklärungsinstrument handelt, welches in Zeiten ubiquitärer Bereitstellung und Nutzung von Telekommunikation in globalisierten Datennetzten, auch durch die Kooperation mit ausländischen Partnerdiensten, sehr große Datenmengen erfassen und verarbeiten kann. Das „Internet“ – hier zunächst als pauschaler, untechnischer Oberbegriff untereinander verbundener Netze verstanden – durchdringt mittlerweile jeden gesellschaftlichen Lebensbereich, wobei ein übergeordneter Ordnungsrahmen durch den Gesetzgeber, jenseits von Reaktionen auf einzelne sicherheits- wie strafrechtliche relevante Phänomene mit besonderer gesellschaftlicher Sprengkraft, wie etwa „Hate Speech“, bislang fehlt8. Nicht zuletzt infolge dieser technischen Entwicklung ist Telekommunikation heute omnipräsent, wird in nahezu allen privaten wie beruflichen Kontexten mittels verschiedenster Anwendungen und Dienstleister genutzt und umfasst ganz selbstverständlich den Austausch auch höchstpersönlicher Inhalte,
4 1. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode (NSA-UA); Abschlussbericht des NSA-Untersuchungsausschusses in BT-Drs. 18/12850. 5 Vgl. ausführlich zum Begriff der Signals Intelligence und deren Entwicklung aus der anglo-amerikanischen Literatur im Einstieg J. Ferris, Signals Intelligence in War and Power Politics, 1914–2010, in: L. K. Johnson (Hrsg.), The Oxford Handbook of National Security Intelligence, Oxford 2010, S. 155 (155 ff.). 6 Mündliche Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung am 14. und 15. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17. 7 Siehe dazu Kapitel E. und F. II. 2. 8 Stellvertretend J. Masing, Balance wahren – Interview, in: ZRP 2020, S. 194 (195 f.), der das Netzwerkdurchsetzungsgesetz als eine erste regulatorische Anstrengung des Gesetzgebers für den digitalen Raum nennt. Das Gesetz wurde nunmehr seitens des Gesetzgebers durch das Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität vom 30.03.2021 (BGBl. I, S. 441) ergänzt und ausgeweitet. Zuvor hatte der Bundespräsident verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet, siehe dazu https:// netzpolitik.org/2020/gesetz-gegen-rechte-hetze-steinmeier-laesst-grosse-koalition-nach arbeiten/ (10.10.2021).
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Bilder und Dokumente9. Zugleich sind die Telekommunikationsströme für den Bundesnachrichtendienst von großem Interesse, da sich durch deren strategische, d. h. anlasslose und vom Einzelfall losgelöste Durchsuchung und Analyse Erkenntnisse über außen- und sicherheitspolitische10 Gefahrlagen und Vorgänge gewinnen lassen, die anderenfalls so nicht verfügbar wären11. Mit der Überwachung von Telekommunikation geht grundsätzlich ein beachtliches grundrechtliches Gefährdungspotential einher, was die rechtswissenschaftliche Debatte im Umfeld des Untersuchungsausschusses schnell auf potentielle Defizite normativer Einhegung der nachrichtendienstrechtlichen Überwachungsbefugnisse kanalisierte12. Gleichzeitig wurde die der technischen Aufklärung immanente territoriale Entgrenzung staatlicher Hoheitsmacht – die selbstredend nicht auf die Nachrichtendienste begrenzt ist13 – durch globalisierte Erfassungsansätze als Antwort auf ebenso internationalisierte Bedrohungslagen für die öffentliche wie individuelle Sicherheit14 prominent offenbart. Damit stand eine zunächst simpel anmutende aber letztlich fundamentale Frage im Zentrum des rechtswissenschaftlichen aber auch des allgemeinen gesellschaftspolitischen Interesses: Wo finden die Grundrechte des Grundgesetzes, vor allem das Fernmeldegeheimnis, in räumlicher Dimension Anwendung15? Ohne Kenntnis der mit 9 Anschaulich im hier interessierenden Kontext der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung BVerfGE 154, 152 (243 f., Rn. 151); siehe allgemein zur Durchdringung des Alltags durch digitale Kommunikationsmittel exemplarisch M. Schröder, Neue Grundrechte für ein digitales Zeitalter?, in: JZ 2019, S. 953 (953). 10 Vgl. § 1 II BNDG. 11 Siehe nur den Vortrag der Bundesregierung im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde gegen das BNDG, BVerfGE 154, 152 (196 ff., Rn. 44). 12 Maßgeblich – wenngleich keinesfalls ausschließlich – sind hier die Gutachten zu nennen, die seinerzeit für den NSA-Untersuchungsausschuss erstattet wurden, H.-J. Papier, Gutachtliche Stellungnahme Beweisbeschluss SV-2 des ersten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages der 18. Wahlperiode, MAT A SV-2/2 zu A.-Drs. 54; W. Hoffmann-Riem, Stellungnahme zur Anhörung des NSA-Untersuchungsausschusses am 22. Mai 2014, MAT A SV-2/1 neu zu A.-Drs. 54; M. Bäcker, Erhebung, Bevorratung und Übermittlung von Telekommunikationsdaten durch die Nachrichtendienste des Bundes, Stellungnahme zur Anhörung des NSA-Untersuchungsausschusses am 22. Mai 2014, MAT A SV-2/3 zu AS-Drs. 54. 13 Vgl. zur grundlegenden Diskussion um eine allgemeine Entterritorialisierung des Rechts und wie der Staat als genuine Ordnungs- und Kontrollmacht dem begegnen kann stellvertretend wie instruktiv K. Schmalenbach, Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entterritorialisierung des Rechts, in: VVDStRL 76 (2017), S. 246 ff., mit zahlreichen Nachweisen der Debatte. 14 Zur Entterritorialisierung des Sicherheitsrechts und der Globalisierung von Bedrohungslagen siehe im ersten Zugriff etwa K. F. Gärditz, Sicherheitsrecht als Perspektive, in: GSZ 2017, S. 1 (5 f.). 15 Siehe für die Debatte im Fahrwasser des NSA-UA exemplarisch Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 18 ff.; schon früh zur territorialen Reichweite des Art. 10 GG M. Hochreiter, Die heimliche Überwachung internationaler Telekommunikation, 2002. Im Kontext einer möglichen Amtshaftung der Bundesrepublik für den durch einen deutschen Bundeswehroberst angeordneten Bombenangriff auf zwei Tanklaster in Afghanistan durch
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großem Aufwand geführten Debatte über den territorialen Geltungs- oder Wirkungsbereich der Grundrechte16 überrascht es, dass 72 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht abschließend geklärt ist bzw. war, wo die Grundrechte – untechnisch gesprochen – denn nun eigentlich gelten. Die Staatspraxis und der Bundesnachrichtendienst gingen jedenfalls davon aus, dass Ausländer im Ausland nicht dem Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses unterfielen, weswegen nur Telekommunikationsverkehre deutscher Staatsbürger und solche von und nach Deutschland grundrechtlichen Schutz genössen17. An dieser Prämisse war die derzeitige einfachgesetzliche Rechtslage ausgerichtet. Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr eine in territorialer Demarkation verhaftete Grundrechtsdogmatik jedenfalls für die Praxis zurückgewiesen und das Fernmeldegeheimnis sowie den gegebenenfalls komplementär hinzutretenden Grundrechtsschutz für besondere Berufs- und Personengruppen grundsätzlich auch auf Ausländer im Ausland erstreckt18. Dem wird bezüglich des Ergebnisses wie der Begründung ausführlich nachzugehen sein. In der Folge war die Diskussion damit häufig an der Demarkationslinie des „Ob“ der Grundrechtsgeltung bzw. deren Intensität ausgerichtet, was weitergehende Fragen materieller Maßstabsbildung – wenngleich freilich nicht absolut19 – bisweilen in den Hintergrund drängte. Sollten grundrechtliche Bindungen indes bestehen, beginnt ein Großteil der Arbeit jedoch erst: Dann muss die Frage aufgeworfen werden, welche normativen Strukturen und verfassungsrechtlichen Anforderungen, maßgeblich auch bedingt durch die organisationsrechtliche Verortung von Nachrichtendiensten im Rechtsstaat20, für eine strategische ÜberwaUS-Kampfjets im Rahmen der internationalen, UN-mandatierten Militärmission in Afghanistan – Stichwort: Kunduz-Affäre – betont das BVerfG nunmehr auch die grundsätzliche Bindung der deutschen Staatsgewalt im Ausland über das Fernmeldegeheimnis hinaus, BVerfG-K, Beschluss vom 18.11.2020, 2 BvR 477/17, Rn. 31. Im Ergebnis hat die Kammer die Entscheidung des BGH – trotz Zweifeln an der verfassungsrechtlichen Wertung – nicht aufgehoben, da diese nicht hierauf beruhte (Rn. 33); vgl. zur konventionsrechtlichen Einschätzung der Vorfälle in Kunduz nunmehr auch EGMR, Urteil vom 16.2.2021 (GK), No. 4871/16 – Hanan. 16 Siehe monographisch etwa aus jüngster Zeit B. Schneider, Fernmeldegeheimnis und Fernmeldeaufklärung, 2020; D. Wolff, Der Einzelne in der offenen Staatlichkeit, 2020, der Kooperationssachverhalte analysiert, bei denen deutsche Staatsgewalt von deutschem Territorium aus wirkt; zu genuin extraterritorialen Sachverhalten und der Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt in diesen T. Schwander, Extraterritoriale Wirkungen von Grundrechten im Mehrebenensystem, 2019. 17 Zum bisherigen Verfassungsverständnis der Staatspraxis siehe noch eingehend unter C. III. 2. b), C. IV. 1. sowie F. I. 3. 18 BVerfGE 154, 152, 1. Leitsatz a. E. 19 Unlängst mit einer Analyse der einfachrechtlichen Grundlagen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung im G 10 und BNDG etwa Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 277 ff., der freilich die neueste Entscheidung des BVerfG noch nicht berücksichtigen konnte. 20 Zur Bedeutung von organisationsrechtlichen Fragen im Sicherheitsrecht instruktiv etwa Gärditz, Perspektive (Fn. 14), S. 2.
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chung der Telekommunikation durch den Bundesnachrichtendienst gelten und wie Regelungen in concreto ausgestaltet sein müssen. Auch hierfür bestehen nunmehr höchstrichterliche Vorgaben, die es zu analysieren und gegebenenfalls kritisch zu begleiten gilt. Anschließend müssen die – derzeit (noch) geltenden – einfachrechtlichen Vorschriften an den Anforderungen gemessen werden – insbesondere auch solche, die in ihrem Kern durch den Gesetzgeber nicht angetastet werden sollen, namentlich das G 1021. Darüber hinaus empfiehlt sich gerade 21 Die Neuregelung des BNDG (BT-Drs. 19/26103) durch das Gesetz zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des BVerfG sowie des BVerwG vom 19.4.2021 (BGBl. I S. 771), die – abgesehen von administrativen Vorbereitungsschritten zum Aufbau der Kontrollinfrastruktur – weit überwiegend im Januar 2022 in Kraft tritt, wird an geeigneter Stelle perspektivisch mit einzubeziehen sein. Eine weitergehende Analyse der Reform ist einer separaten Veröffentlichung des Verfassers überantwortet (vgl. Fn. 1). Der Bundestag hat die Reform am 25.3.2021 nunmehr beschlossen, siehe zum jeweils aktuellen Stand https://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP19/2722/272232. html. Ganz grundlegend ist die Neuregelung des 4. Abschnitts des BNDG-E („Technische Aufklärung“) wie folgt gegliedert: §§ 19 ff. BNDG-E (Unterabschnitt 1) bilden die Rechtsgrundlage für die strategische Erfassung von Inhalts- und Verkehrsdaten von Ausländern im Ausland („strategische Ausland-Fernmeldeaufklärung“) mit Verfahrensvorschriften, dem Kernbereichsschutz (§ 22 BNDG-E) und der Eignungsprüfung (§ 24 BNDG-E); die gezielte Erfassung von Ausländern im Ausland ist in § 20 BNDG-E als lex specialis vorgesehen. §§ 29 f. BNDG-E (Unterabschnitt 2) sind künftig Grundlage für die Übermittlung von Daten, die mit Mitteln der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung gewonnen werden; Kooperationen mit anderen Nachrichtendiensten unterfallen dem Unterabschnitt 3 mit den §§ 31 ff. BNDG-E. §§ 34 ff. BNDG-E (Unterabschnitt 4) regeln sodann den Zugriff auf informationstechnische Systeme (siehe dazu auch Fn. 55 und 510) und die Übermittlung von hierdurch erlangten Daten. §§ 40 ff. BNDG-E normieren schließlich die neugestaltete Kontrollandschaft durch den „Unabhängigen Kontrollrat“ in einem sehr ausführlichen Unterabschnitt 5. Abgeschlossen wird die Novelle durch Mitteilungs- und Evaluierungsvorschriften in Unterabschnitt 6 (§§ 59 ff. BNDG-E). Eine erste Einschätzung zum BNDG-E vermitteln derzeit maßgeblich die Gutachten für den Innenausschuss des Deutschen Bundestages von N. Markard, Stellungnahme. Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesverwaltungsgerichts, AS-Drs. 19(4)731 D, die Kritik übt; ferner mit einzelnen Verbesserungsvorschlägen K. F. Gärditz, Stellungnahme. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesverwaltungsgerichts, AS-Drs. 19(4)731 A; J.-H. Dietrich, Schriftliche Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesverwaltungsgerichts“ (BT-Drucksache 19/26103) sowie zu weiteren Vorlagen der Fraktionen FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (BT-Drucksachen 19/19502, 19/19509 und 19/26221), AS-Drs. 19(4)731 G; kritisch auch BfDI, Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des BND-Gesetzes, AS-Drs. 19(4)682; differenziert M. Löffelmann, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 18. Februar 2021 zu BT-Drs. 19/26103, 19/26221, 19/19502 und 19/905, AS-Drs. 19(4)731 C; dezidiert kritisch Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des BND-Gesetztes zur Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.01.2021 (BT-Drs. 19/26103), AS-Drs. 19(4)731 I, S. 21: Der Entwurf „bleibt weit hinter den Anforderungen zurück, die das BVerfG an eine verfassungskonforme Ausgestaltung des BNDG stellt.“; primär zur Nachrichtendienstkontrolle
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A. Snowden, der BND und eine sicherheitsrechtliche Ausnahmebefugnis
beim Thema Auslandsaufklärung ein Blick über die deutsche Rechtsordnung hinaus. Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch, einen Beitrag hierzu zu leisten. Die rechtswissenschaftliche Analyse der strategischen Überwachung der Telekommunikation durch den Bundesnachrichtendienst ist dabei selbstredend nicht frei von Einschränkungen, die aus den Umständen einer operativen Tätigkeit in absoluter Verschwiegenheiten herrühren. Zwar hat der besagte Untersuchungsausschuss etwas Licht ins Dunkel gebracht, dennoch vollzieht sich die Überwachung im Kernbereich der Exekutive ohne Einsichtsmöglichkeit für Externe, weswegen wissenschaftliche Betrachtungen stets mit dem Hemmnis konfrontiert sind, dass der Untersuchungsgegenstand als solcher – jedenfalls in seiner spezifischen Funktionsweise – nicht greifbar ist22. Hinzu tritt die technische Dimension, die den Jurist aus seiner vertrauten Umgebung der Textwissenschaft zwangsweise hinauslockt und mit dem „Neuland“23 und dessen strategischer Überwachung konfrontiert. Nimmt man diesen Befund zusammen, lässt sich mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts insoweit von einer „Ausnahmebefugnis“ im Rechtsstaat sprechen24 – eine Ausnahme von einer rechtswissenschaftlichen Durchdringung soll und kann, trotz der dargelegten Besonderheiten und damit einhergehender Unsicherheiten, dennoch nicht gemacht werden25. Dabei wird freilich nicht der Anspruch erhoben, alle Facetten und Nuancen in extenso abgedeckt und sämtliche informationstechnischen Details gänzlich erfasst zu haben. F. Meinel, Stellungnahme zur Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesverwaltungsgerichts (BNDG-E, BT-Drucksache 19/26103) sowie weiterer Gesetzentwürfe, AS-Drs. 19(4)731 B; T. Wetzling, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts, AS-Drs. 19(4)731 F; sehr kritisch gegenüber den bisherigen gesetzgeberischen Ambitionen im Bereich des BNDG sowie häufig rechtspolitisch – und bisweilen polemisch – M. Elicker, Stellungnahme zur Anhörung des Innenausschuss des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesverwaltungsgerichts (BNDG-E, BTDrucksache [sic] 19/26103), AS-Drs. 19(4)731 H; aus informationstechnisch-praktischer Warte blickt auf den Entwurf eco, Hauptkritik zum Gesetzentwurf zur Reform des BND-G (BT-Drs. 19/26103), AS-Drs. 19(4)731 E. 22 Zu diesem Dilemma einer wissenschaftlichen Annäherung an nachrichtendienstrechtliche Themenstellungen kürzlich auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 19 f. 23 Angelehnt an den Ausspruch von Bundeskanzlerin Merkel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem damaligen US-Präsidenten Obama bezüglich des NSA-Überwachungsprogrammes PRISM und der insoweit durchgeführten Internetüberwachung, siehe etwa den Bericht unter https://www.tagesspiegel.de/politik/die-kanzlerin-und-dasinternet-merkels-neuland-wird-zur-lachnummer-im-netz/8375974.html (22.9.2020). 24 BVerfGE 154, 152 (250, Rn. 166) sowie der 5. Leitsatz der Entscheidung. 25 Für einen diesbezüglichen Forschungsauftrag auch erneut Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 19 f., der ebenfalls eine realistische Einschränkung der Eindringtiefe formuliert.
I. Begriffsbestimmung der Auslandstelekommunikationsüberwachung
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I. Begriffsbestimmung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung Bevor eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Telekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst unternommen werden kann, ist zunächst der Untersuchungsgegenstand begrifflich genauer zu bestimmen. Die strategische Überwachung von Telekommunikation wird häufig mit den Synonymen der Fernmeldeüberwachung26, Telekommunikationsüberwachung27, Telekommunikationsbeschränkungen28 oder Rasterfahndung29 umschrieben. Der Terminus „Fernmeldeaufklärung“ entstammt eigentlich dem nachrichtendienstlichen Sprachgebrauch, allerdings benutzt auch der Gesetzgeber im BNDG diesen Begriff, um die Erfassung von Inhalt und Umständen von Telekommunikationsverbindungen im Ausland zu umschreiben30. Diese Begriffsvielfalt erschwert die präzise Bestimmung des jeweiligen Untersuchungsobjekts und impliziert bisweilen auch schon eine inhaltliche Festlegung. In dieser Studie soll, angelehnt an die Terminologie des Bundesverfassungsgerichts, als übergeordnetem Begriff von „strategischer Auslandstelekommunikationsüberwachung“ gesprochen werden31. Damit sind sämtliche Ansätze strategischer Telekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst gemeint, unabhängig davon, auf welcher einfachrechtlichen Grundlage sie basieren. Ebenjene haben eine unterschiedliche Historie, weswegen sich verschiedene Termini etabliert haben oder durch den Gesetzgeber geprägt wurden32. Die langjährige strategische Telekommunikationsüberwachung im G 10 wird hier unter den hergebrachten Begriff der „strategischen Fernmeldeaufklärung“ gefasst, die Kompetenzstrukturen im BNDG werden, entsprechend § 6 BNDG, als „AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung“ bezeichnet33. Ob aus dem inklusiven Terminus 26 So etwa H.-J. Papier, Strategische Fernmeldeüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst, in: DRiZ 2017, S. 18 (18). 27 Terminus bei Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 18. 28 So im Einklang mit dem G 10 Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 8. 29 Umschreibung bei B. Huber, Die strategische Rasterfahndung des Bundesnachrichtendienstes – Eingriffsbefugnisse und Regelungsdefizite, in: NJW 2013, S. 2572 (2572 ff.) et passim, in Bezug auf die strategische Fernmeldeaufklärung nach dem G 10. 30 So bereits der Titel des Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes vom 23.12.2016, BGBl. I, S. 3346. 31 BVerfGE 154, 152, 5. Leitsatz. Der Erste Senat hält diese Wortwahl indes nicht streng durch, sondern spricht auch von „Auslandsfernmeldeaufklärung“ oder „strategischer Telekommunikationsüberwachung“. 32 Siehe dazu in Kap. C. 33 Gemäß der Legaldefinition in § 19 BNDG-E spricht der Gesetzgeber in Zukunft von einer „strategische[n] Ausland-Fernmeldeaufklärung“. Es hätte näher gelegen, den Terminus des Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen. Die nunmehr beabsichtigte Bezeichnung fügt wiederum eine weitere Bezeichnung hinzu, was einer Unterscheidbarkeit der jeweiligen Instrumente wenig dienlich ist.
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der „strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung“ auch inhaltliche Parallelen folgen, ist im Laufe der Untersuchung zu erörtern.
II. Gang der Untersuchung Zur Analyse der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung werden folgende Arbeitsschritte zu unternehmen sein: Zunächst soll der Bundesnachrichtendienst, als einer von drei Nachrichtendiensten des Bundes, in die deutsche Sicherheitsarchitektur eingeordnet werden (B.). Dabei wird eine terminologische wie inhaltliche Verortung der Nachrichtendienste vorgenommen und insbesondere das Trennungsgebot mit seinen verschiedenen Dimensionen betrachtet. Anschließend sollen die Nachrichtendienste des Bundes mit ihren jeweiligen Aufgaben sowie die Kontrollinstanzen im Überblick dargelegt werden. Im Weiteren folgt eine Bestandsaufnahme der einfachrechtlich Grundlagen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung mit ihrem historischen Hintergrund und ihrer bisherigen verfassungsgerichtlichen Bewertung (C.). Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes soll sodann mit ihren wesentlichen Erwägungen im Anschluss dargelegt werden, um sie für eine spätere inzidente Detailanalyse handhabbar zu machen (D.). Die komplexen technischen Hintergründe der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung – gleichsam die Annäherung an den empirischen Teil der Untersuchung – und deren praktische Umsetzung, die durch die einfachrechtlichen Vorgaben prädeterminiert ist, sollen im Anschluss an die Bestandsaufnahme erläutert werden (E.), um einen Eindruck von den realen Wirkumständen zu vermitteln. Das Verständnis der technischen Gegebenheiten ist zentral für die ausführliche Bestimmung der verfassungsrechtlichen Anforderungen (F.). Das Fernmeldegeheimnis wird mit seinen Schutzbereichsdimensionen darzulegen sein, wobei der sachliche Schutzbereich insbesondere im Lichte der Spezifika moderner Telekommunikationstechnik beleuchtet werden soll (F. I. 1.)34. Bei der Analyse des persönlichen Schutzbereichs sollen spezifische Fragen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung und bisherige Rechtsauffassungen des Bundesnachrichtendienstes im Fokus stehen (F. I. 2.); der Schwerpunkt ist schließlich bei der territorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses verortet (F. I. 3.). Anschließend wird detailliert zu betrachten sein, wann und unter welchen Umständen die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung einen Grundrechtseingriff darstellt (F. II. 1.) und wie schwer dieser angesichts heutiger Technologien und der Verbreitung von Telekommunikation, auch im Vergleich mit anderen sicherheitsrechtlichen Befugnissen, wiegt (F. II. 2.). Herzstück der Untersuchung ist die Ana34 Eine erschöpfende, kommentargleiche Auflistung sämtlicher medienspezifischer Einzelfragen des Fernmeldegeheimnisses wird in dieser Studie von vornherein nicht angestrebt; siehe dazu zuletzt etwa Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 60 ff.
III. Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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lyse der verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine – potentielle, da ergebnisoffene – Rechtfertigung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung unter Einbeziehung der höchstrichterlich unlängst neu vermessenen Parameter (F. III.). Besonders im Fokus sollen hierbei die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne an die Datenerhebung (F. III. 4.) sowie diejenigen an Übermittlungen von Daten aus der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung stehen (F. III. 5.). Anschließend sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die einfachrechtlichen Normen des BNDG und des G 10 anzulegen (F. IV.). Der Blick soll danach – ganz im Sinne der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung – noch über den nationalen Rechtsrahmen hinaus geweitet werden. Dafür sollen die menschen- und unionsrechtlichen Anforderungen, sofern einschlägig, analysiert und die nationalen Normen gegebenenfalls an diesen gespiegelt werden (G.). Die Untersuchung schließt mit einer Zusammenfassung von Ergebnissen, aus denen Reformimpulse für eine zukünftige Perspektive der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung im Rechtsstaat gewonnen werden sollen (H.), sowie einer kurzen finalen Bilanz (I.).
III. Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes Das Themenfeld der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung ist enorm breit gefächert, weswegen es einer Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes bedarf. Die vorliegende Studie beschränkt sich daher auf die Tätigkeiten und Rechtsgrundlagen des Bundesnachrichtendienstes zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung. Individualüberwachungsmaßnahmen werden an gegebener Stelle nur kurz und zu Abgrenzungszwecken beleuchtet. Das Wirken ausländischer Nachrichtendienste auf dem Feld der Auslandsaufklärung ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Deshalb werden mögliche Schutzpflichten des deutschen Staates gegen die Überwachung durch ausländische Nachrichtendienste35 oder Handlungen fremder Mächte auf deutschem Staatsgebiet nicht untersucht36. Ebenso wird die Entgegennahme nachrichtendienstlicher Erkenntnisse und Daten, die von ausländischen Partnerdiensten generiert wurden, durch 35 Dazu etwa S. Lenski, Alter Grundrechtsschutz und neue Datenströme im Lichte der NSA-Affäre, in: ZG 29 (2014), S. 324 (329 ff.); vgl. zu staatlichen Schutzpflichten für die telekommunikationstechnische Infrastruktur und deren Umsetzung in den Realitäten des 21. Jahrhunderts auch W. Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation, 2016, S. 670 ff. 36 Für die strategische Telekommunikationsüberwachung durch fremde Nachrichtendienste von deutschem Territorium aus hat das BVerfG nunmehr festgehalten, dass die Einräumung einer derartigen Befugnis allenfalls anlassbezogen, aufgrund ausdifferenzierter Rechtsgrundlagen sowie unter vollständiger Beachtung der deutschen (Grund-) Rechte aus verfassungsrechtlicher Sicht in Betracht kommen könne. Ebenso hat der Erste Senat ausgesprochen, dass der deutsche Staat Personen im Inland vor „grundrechtswidrigen Überwachungsmaßnahmen anderer Staaten“ schützen müsse, siehe dazu BVerfGE 154, 152 (280, Rn. 249).
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A. Snowden, der BND und eine sicherheitsrechtliche Ausnahmebefugnis
den Bundesnachrichtendienst nur am Rande angesprochen37. Gemeinsame Dateien mit inländischen oder ausländischen öffentlichen Stellen stehen gleichfalls nicht im Fokus, da sie jedenfalls über die konkrete Kooperation unter Partnerdiensten bei der Durchführung einer strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung hinausgehen; gleiches gilt für inländische Kooperationsplattformen wie etwa das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ). Das militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr und die von ihr betriebene Fernmeldeaufklärung sind schon deswegen nicht Gegenstand der Erörterungen, da sie nicht durch einen Nachrichtendienst durchgeführt werden, sondern Teil der Streitkräfte sind und unter anderen technisch-faktischen Bedingungen operieren38.
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Siehe C. IV. 2. g) sowie F. III. 5. b) bb). Vgl. zum militärischen Nachrichtenwesen etwa A. Conradi, Das Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr: Operative und rechtliche Dimensionen, in: J.-H. Dietrich/K. F. Gärditz/K. Graulich u. a. (Hrsg.), Nachrichtendienste in vernetzter Sicherheitsarchitektur, 2020, S. 117 ff.; aus praktischer Warte A. Binder, Das Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, ebda., S. 127 ff.; ferner zur Fernmeldeaufklärung der Bundeswehr auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 350 ff. 38
B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur Der Bundesnachrichtendienst betreibt als einziger Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik Auslandsaufklärung. Schon die Behördenbezeichnung des Dienstes impliziert, dass es sich um einen Nachrichtendienst handelt, wobei in der Alltagssprache, aber auch in der Wissenschaft, ebenso von Geheimdiensten die Rede ist, was eine kurze Abgrenzung der Organisationsformen voneinander erforderlich macht (I.). Sodann soll eine allgemeine Einordnung der Nachrichtendienste in die deutsche Sicherheitsarchitektur erfolgen, um Spezifika ihrer Arbeit – in Abgrenzung zu operativ tätigen präventiv-polizeilichen Behörden – zu verdeutlichen und erste, hieraus resultierenden, Ansätze für eine spätere verfassungsrechtliche Bewertung der Rechtsgrundlagen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung zu gewinnen (II.). Im Anschluss werden die deutschen Nachrichtendienste im Überblick dargestellt, wobei der Fokus auf dem Bundesnachrichtendienst und in Sonderheit seinem Auftrag zur (technischen) Auslandsaufklärung liegt (III.). Das Kapitel schließt mit einem Abriss der nachrichtendienstlichen Kontrollstrukturen (IV.).
I. Nachrichten- oder Geheimdienst? Terminologische Unterscheidung im Wandel Der Begriff des Nachrichten- bzw. Geheimdienstes wird im allgemeinen Sprachgebrauch gemeinhin synonym verwendet, wenn geheim operierende Behörden gemeint sind39. Es handelt sich hierbei nicht um feststehende Rechtsbegriffe, sondern vielmehr um Termini der Praxis40. Dabei lassen sich Unterschiede in Bezug auf Handlungsweisen und Befugnisse von Geheim- bzw. Nachrichtendiensten identifizieren, womit sogleich eine inhaltliche Bewertung einhergeht41. Ein Geheimdienst ist – so eine breit genutzte Definition der Literatur – eine staatliche Organisation, die eng an die politische Führung eines Landes gebunden ist und versucht, politisch, militärisch und wirtschaftlich bedeutsame Nach39 Siehe zur Terminologie im ersten Zugriff etwa D. Hörauf, Die demokratische Kontrolle des Bundesnachrichtendienstes, 2011, S. 11; C. Gröpl, Die Nachrichtendienste im Regelwerk der deutschen Sicherheitsverwaltung, 1993, S. 35. 40 In Bezug auf Nachrichtendienste B. Droste, Handbuch des Verfassungsschutzrechts, 2007, S. 27. 41 Deshalb sei auf die terminologische Abgrenzung – obschon bereits vielfach in der Literatur vorgenommen – hier erneut eingegangen.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
richten zu beschaffen, auszuwerten und an politische Entscheidungsträger weiterzugeben und dabei auch aktiv Maßnahmen zur Störung oder Beeinflussung des politischen Gegners vornimmt, wobei ein Höchstmaß an Geheimhaltung gewahrt wird42. Kennzeichnend für den Geheimdienst ist daher das operative Element, welches von Agitation, Diversion und Sabotage bis hin zur Zersetzung gegnerischer Strukturen und politischem Mord reicht43. Geheimdienstliche Befugnisse sind somit sehr weitgehend, und ihre Einhaltung wird häufig nur von den jeweiligen Auftraggebern kontrolliert; oppositionelle Kräfte haben hingegen keinen Einblick, geschweige denn Kontrollmöglichkeiten44. Ein Nachrichtendienst hingegen beschafft Informationen von Interesse für die Regierung auf diversen Wegen, analysiert diese, bereitet sie sachgerecht auf und leitet sie letztendlich an verantwortliche Entscheidungsträger weiter45. Dabei kann er Informationen sowohl verdeckt als auch offen erheben46. Ziel des reinen Nachrichtendienstes ist daher ausschließlich das Sammeln von Erkenntnissen und die Generierung von Lagebildern auf Grundlage der erhobenen Informationen. Die Bekämpfung von staats- und verfassungsfeindlichen Bestrebungen hingegen überlässt er anderen Sicherheitsbehörden47. Seine Befugnisse sind damit erheblich enger gefasst, insbesondere ist er von aktiven Maßnahmen ausgeschlossen48. Bisweilen wird hierzu kumulativ noch eine effektive demokratische Kontrolle als Kennzeichen eines Nachrichtendienstes verlangt, die eine Einhaltung gesetzlicher Beschränkungen sicherstellen soll49.
42 Definition in Anlehnung an den seinerzeit wohl als Standardwerk einzuordnenden Kommentar von H. Roewer, in: ders. (Hrsg.), Nachrichtendienstrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1987, § 3 BVerfSchG Rn. 4, der Geheimdienste als Nachrichtendienste im weiteren Sinne qualifiziert; dem folgend etwa P. Spitzer, Die Nachrichtendienste Deutschlands und die Geheimdienste Russlands, 2011, S. 11; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 36; zur Bedeutung des „Geheimen“ im Kontext nachrichtendienstlicher Tätigkeit J. Erasmus, Der geheime Nachrichtendienst, 1952, S. 16. 43 T. Kornblum, Rechtsschutz gegen geheimdienstliche Aktivitäten, 2011, S. 30 f.; Hörauf, Kontrolle (Fn. 39), S. 12 f., verweist auf mutmaßliche Einsätze des israelischen Mossad, bei denen der Verdacht eines politisch angeordneten Mordes besteht; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 36 f. 44 J. P. Singer, Die rechtlichen Vorgaben für die Beobachtung der Organisierten Kriminalität durch die Nachrichtendienste der Bundesrepublik Deutschland, 2002, S. 11. 45 So die gemeinsame Definition bei M. Hempel, Der Bundestag und die Nachrichtendienste – eine Neubestimmung durch Art. 45 GG?, 2014, S. 19; Hörauf, Kontrolle (Fn. 39), S. 12 f.; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 37. 46 Statt vieler Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 31. 47 Stellvertretend C. Gusy, Architektur und Rolle der Nachrichtendienste in Deutschland, in: APuZ 18–19 (2014), S. 9 (9). 48 Hierzu etwa J.-H. Dietrich, Intelligence Law in Germany, in: ders./S. Sule (Hrsg.), Intelligence Law and Policies in Europe, 2019, Part 5 Ch. 1 Rn. 7; Roewer (Fn. 42), § 3 BVerfSchG Rn. 4. 49 Aus Sicht der Nachrichtendienstkontrolle plädiert hierfür Hörauf, Kontrolle (Fn. 39), S. 14.
I. Nachrichten- oder Geheimdienst?
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Die deutschen Dienste sind allesamt dadurch gekennzeichnet, dass sie keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden dürfen, nicht über polizeiliche oder gar staatsanwaltschaftliche Befugnisse verfügen und auch im Wege der Amtshilfe nicht um solche ersuchen dürfen50. Ihre Aufgabe ist primär auf das Sammeln und Auswerten von Informationen zur Erstellung von Lagebildern beschränkt51. Rein von ihrer Konzeption her sind sie dadurch bereits als Nachrichtendienste ausgestaltet, da ihnen keinerlei Zwangsbefugnisse zustehen52. Ein aktives Mittel für die Nachrichtendienste zur Gegnerbeeinflussung könnte jedoch in der Berechtigung zu aktiven Cyberabwehrmaßnahmen bzw. sogenannten Hackbacks gesehen werden, die sowohl vom Bundesamt für Verfassungsschutz als auch vom Bundesnachrichtendienst gewünscht wurden53. Dies würde den Diensten die Möglichkeit zum virtuellen Gegenangriff bei einer digitalen Attacke bieten und die deutschen Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste nicht mehr auf die reine Abwehr von derartigen Schadangriffen verweisen. So könnten etwa die Server angegriffen werden, von denen eine Attacke ursprünglich ausging, und diese dadurch ausgeschaltet werden, um den fortlaufenden Angriff zu beenden54. Die Einführung von aktiven Cyberabwehrmaßnahmen würde, zumindest in diesem isolierten Bereich, eine Qualifikation etwa des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Bundesnachrichtendienstes als Nachrichtendienst hingegen zweifelhaft erscheinen lassen, da ein aktives Element zu ihrem Auftragsprofil hinzutreten würden, welches nicht mehr als bloße Nachrichtensammlung verstanden werden könnte. In diesem Falle könnte partiell von einem als Geheimdienst agierenden Sicherheitsorgan die Rede sein. Jedenfalls für den Bereich der Quellen-Telekommunikationsüberwachung und auch der Online-Durchsuchung wird den Nachrichtendiensten des Bundes nunmehr eine operative Fähigkeit – für den Bundesnachrichtendienst auch bezüglich ausländischer Tele50 Dies unterstreichen stellvertretend N. Gazeas, Übermittlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse an Strafverfolgungsbehörden, 2014, S. 53; N.-F. Weisser, Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) – Rechtsprobleme, Rechtsform und Rechtsgrundlage, in: NVwZ 2011, S. 142 (144); Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 27; M. König, Trennung und Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 2005, S. 221 ff. Zum sog. Trennungsgebot sogleich unter B. II. 51 Statt vieler Gazeas, ebda., S. 55; M. Soiné, Die Aufklärung der organisierten Kriminalität durch den Bundesnachrichtendienst, in: DÖV 2006, S. 204 (209 f., insb. Fn. 60); Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 36 ff. 52 Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 32; in Bezug auf den BND Hörauf, Kontrolle (Fn. 39), S. 15; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 37 f. 53 Siehe den Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, abrufbar unter http:// www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/hackback-wenn-der-staat-zum-hacker-werden-willa-1179423.html (22.9.2020). Siehe auch T. Barczak, Lizenz zum Hacken?, in: NJW 2020, S. 595 (596 ff.); für die Einbindung des BND in die aktive Cyberabwehr P. Amthor, Aktive sicherheitsbehördliche Cyberabwehr: Dogmatische Defizite und verfassungsrechtlicher Reformbedarf, in: GSZ 2020, S. 251 (257 f.). 54 Zu möglichen Angriffsmustern T. Keber, Völkerrechtliche Aspekte, Cyberwarfare, in: D.-K. Kipker (Hrsg.), Cybersecurity, 2020, Kap. 17 Rn. 3 ff.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
kommunikationsanbieter – eingeräumt werden55. Dabei handelt es sich jedoch wohl (noch) nicht um klassische Fähigkeiten der aktiven Cyberabwehr mit ihren offensiven, militärisch anmutenden Elementen, wenngleich eine Grenze zum „Hacking“ überschritten wird. Bei klassischer aktiver Cyberabwehr wird eine Vielzahl von technischen als auch völker-, verfassungs- und einfachrechtlichen Fragestellungen aufgeworfen, die noch nicht annähernd abschließend beantwortet sind und nicht Ziel dieser Arbeit seien sollen56 – diese können sich jedoch auch in den nunmehr durch den Gesetzgeber avisierten Konstellationen ergeben. Schon heute nimmt der Bundesnachrichtendienst mit seinen Fähigkeiten zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung passiv, d. h. informationsgewinnend, eine wichtige Funktion im Rahmen der Cyberabwehr wahr57. 55 § 11 Ia G 10 n. F. nach dem Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts vom 5.7.2021 (BGBl. I S. 2274) – dazu im ersten Zugriff R. Gitter/D. Marscholleck, Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts, in: GSZ 2021, S. 191 (192 f.) – sieht eine Möglichkeit zu Quellen-Telekommunikationsüberwachung vor; §§ 34 ff. BNDG-E erlauben eine Online-Durchsuchung bei Telekommunikationsteilnehmern von Ausländern im Ausland. § 19 VI BNDG-E wird eine solche für den Zugriff auf ausländische Telekommunikationsanbieter erlauben, siehe Löffelmann, Stellungnahme (Fn. 21), S. 8; sehr kritisch eco, Stellungnahme (Fn. 21), S. 2, 5. In anderen Ländern sind offensive Cyberfähigkeiten von Nachrichtendiensten und bzw. oder Militärs schon längst Realität. Die größten offensiven Potentiale dürften insoweit in den USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich bestehen. Die USA haben ein eigenes Cyber Command eingerichtet, welches vom Direktor der NSA befehligt wird. Ebenso hat Großbritannien bereits 2011 eine cyber security strategy veröffentlicht, die aktive Maßnahmen vorsieht. Zur Verbreitung der internationalen Cyberfähigkeiten bei Nachrichtendiensten und Streitkräften aus geschichtswissenschaftlicher Warte W. Krieger, Geschichte der Geheimdienste, 3. Aufl. 2014, S. 347 f. 56 Die hiermit verbundenen zahlreichen technischen Probleme, wie die konkrete Zuordnung von Cyberattacken und völkerrechtliche Fragen einer Zulässigkeit von Gegenmaßnahmen bespricht C. Schaller, Aktive Cyberabwehr und Notstand im Völkerrecht, in: GSZ 2018, S. 57 (57 ff., et passim), der für ein internationales Regelwerk für die aktive Cyberabwehr plädiert; vgl. zum Phänomen der Cyberangriffe und dem Problem der technisch sehr beschränkten Rückverfolgbarkeit aus völkerrechtlicher Sicht auch Keber (Fn. 54), Kap. 17 Rn. 5 ff.; G. Warg, Nachrichtendienstrecht, in: Kipker, Cybersecurity (Fn. 54), Kap. 14 Rn. 48a; monographisch S.-V. Schulze, Cyber-„War“ – Testfall der Staatenverantwortlichkeit, 2015; zur Vereinbarkeit von aktiver Cyberabwehr mit Art. 26 GG vgl. auch die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, Verfassungsmäßigkeit von sog. „Hackbacks“ (sic) im Ausland, WD 3 – 3000 – 159/18; kritisch zu „Hackbacks“ im Lichte von Art. 26 GG M. Bothe, Stellungnahme zu Rechtsfragen des Cyberwar für den Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, AS-Drs. 18(12)633, S. 2; ebenso mit Zweifeln aus Sicht des Trennungsgebotes zwischen Nachrichtendiensten und Polizei D.-K. Kipker, Hackback in Deutschland: Wer, was, wie und warum?, in GSZ 2020, S. 26 (27); allgemein kritisch zu der Nutzung von technischen Lücken durch Staaten in der Cyberverteidigung S. Herpig, Zurückhacken ist keine Lösung, in: Zeit Online v. 21.4.2017, https://www.zeit.de/digi tal/internet/2017-04/cyberangriffe-bundesregierung-hackback-gegenangriff (20.10.2018). 57 Dazu eingehend aus der Binnenperspektive des Bundesnachrichtendienstes W. Karl, SIGINT Support to Cyber Defense, in: J.-H. Dietrich/K. F. Gärditz/K. Graulich u. a. (Hrsg.), Nachrichtendienste im demokratischen Rechtsstaat, 2018, S. 129 (131 ff.); siehe auch H. Leisterer, Internetsicherheit in Europa, 2018, S. 122 ff.
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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Der jedenfalls derzeit noch rein informationsbeschaffenden Ausrichtung der deutschen Dienste trägt der Gesetzgeber Rechnung, indem er sie in allen Bundesgesetzen explizit als Nachrichtendienste tituliert und den Begriff des Geheimdienstes in der Normierung vermeidet58. Im Folgenden soll aufgrund der momentanen Ausrichtung der deutschen Dienste – und unter Berücksichtigung der mit der sprachlichen Bezeichnung einhergehenden inhaltlichen Befugnisbeschreibung – der Terminus Nachrichtendienst Verwendung finden59.
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat qua Einhegung operativer Fähigkeiten Mit der Einordnung der deutschen Dienste als Nachrichtendienste wird zugleich die Frage ihrer Stellung im Gefüge der Sicherheitsbehörden aufgeworfen, insbesondere ihr Verhältnis zu Polizei und Strafverfolgungsbehörden60. Schon per definitionem stehen Nachrichtendiensten im Gegensatz zu Geheimdiensten und Polizei keine Vollzugsmöglichkeiten zu, da sie von aktiven Maßnahmen ausgeschlossen sind; jedoch sind sie mit weitreichenden Möglichkeiten der Informationsbeschaffung versehen61. Eine Behörde, die mit umfangreichem Wissen ausgestattet ist, das überdies heimlich erhoben wurde, soll nicht hieraus unmittelbare Konsequenzen ziehen und direkt zur Gefahrenabwehr oder sogar zur Strafverfolgung einschreiten dürfen62. Mit dieser Aufteilung von Vorfeldinformations- und 58 Dies zeigt Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 55, der zudem die inhaltliche Differenzierung zwischen Nachrichten- und Geheimdienst auch durch den Bundesgesetzgeber in Bezug auf die ehemalige DDR und das nationalsozialistische Deutschland nachzeichnet; J. Lampe, Die Schwierigkeiten mit der Rechtfertigung nachrichtendienstlicher Tätigkeit, in: NStZ 2015 S. 361 (363), geht hingegen davon aus, dass die Unterscheidung von Geheim- und Nachrichtendienst im Bundesrecht keine Stützte fände und deshalb die Begriffe synonym gebraucht werden könnten. Auch das BVerfG verwendet teils den Begriff des Geheimdienstes, etwa in BVerfG NJW 2011, S. 2417 (2420, Rn. 59); in der neuesten Entscheidung zum Nachrichtendienstrecht ist indes durchgängig nur noch von einem „Nachrichtendienst“ in Bezug auf den BND die Rede, BVerfGE 154, 152. Damit trägt das BVerfG nunmehr auch terminologisch der Funktion des BND Rechnung. 59 Die Bezeichnung „Geheimdienst“ wird gleichwohl in Bezug auf die deutschen Nachrichtendienste weiterhin verwendet, zumeist einhergehend mit einer kritischen Grundhaltung gegen allzu weite Befugnisse und eine Privilegierung der Dienste, exemplarisch hierfür unlängst F. Roggan, Die (deutschen) Geheimdienste und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, in: DÖV 2019, S. 425 (425 ff.) m.w. N. 60 Affirmativ zur Einbeziehung von Strafverfolgungsbehörden in die Diskussion um das Trennungsgebot Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 57. 61 Statt vieler siehe die knappe Zusammenfassung der mit dem Begriff des Nachrichtendienstes verknüpften Essentialia des Trennungsgebotes bei König, Trennung (Fn. 50), S. 32; einen komprimierten Überblick präsentiert K. Baumann, Vernetzte Terrorismusbekämpfung oder Trennungsgebot?, in: DVBl. 2005, S. 798 (800 f.). 62 So R. Müller-Terpitz, Die „strategische Kontrolle“ des internationalen Telekommunikationsverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst, in: Jura 2000, S. 296 (296);
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
Repressionsbefugnissen assoziiert ist das ebenso „schillernde“63 wie umstrittene Schlagwort des Trennungsgebotes. Das Trennungsgebot findet sich als konkreter Begriff in der wissenschaftlichen Diskussion seit den 1980er Jahren und beschreibt grundlegend die Probleme und Rechtsfragen, die sich bei Berührungspunkten zwischen Nachrichtendiensten und der „klassischen“ Polizei – seinerzeit zwischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesgrenzschutz64 – ergeben oder wenn gar eine Zusammenarbeit dieser Behörden angezeigt ist65. Unter dem Schlagwort der „neuen Sicherheitsarchitektur“ ist die faktische Entwicklung hin zu einem maßgeblich an der Terrorismusbekämpfung ausgerichteten Sicherheitsrecht als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 in New York beschrieben worden66. Diese Tendenz ist dabei durch die Aufhebung strikter Kompetenztrennungen zwischen Polizei und Nachrichtendiensten und deren stärkere Vernetzung, einer Befugniserweiterung, gerade im Bereich der Informationserhebung, einem verstärkten Informationsaustausch zwischen den jeweiligen Sicherheitsbehörden sowie der Schaffung eines Bekämpfungsrechtes, welches die Strafbarkeit vorverlagert und abstrakte Gefahren kriminalisiert, gekennzeichnet67. Im Angesicht dieser diffusen terroristischen Bedrohungslagen – deren Abwehr alle Sicherheitsorgane herausfordert – wird verstärkt über Fragen einer etwa notwen-
M. Möstl, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die strategische Fernmeldeaufklärung und die informationelle Vorfeldarbeit im allgemeinen, in: DVBl. 1999, S. 1394 (1400). 63 Pointiert K. F. Gärditz, Strafprozeß und Prävention, 2003, S. 414. 64 K. M. Linzbach/K. F. Gärditz, Das nachrichtendienstliche Trennungsgebot – ein verfassungsrechtlicher Totenschein, in: ZG 35 (2020), S. 314 (314 f.). 65 Einführung in die Diskussion bei C. Streiß, Das Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten, 2011, S. 147; K. L. Lang, Das Antiterrordateigesetz, 2011, S. 3 ff.; wer den Begriff eigentlich prägte, ist unklar und lässt sich, soweit ersichtlich, nicht mehr eindeutig ermitteln, dazu H. Roewer, Trennung von Polizei und Verfassungsschutzbehörden, in: DVBl. 1986, S. 205 (205). 66 Vgl. allgemein zur Herausbildung des Sicherheitsrechts als eigenes Rechtsgebiet, maßgeblich befeuert durch die Bestrebungen zur Terrorismusbekämpfung T. Barczak, Terrorismus als Rechtsbegriff, in: A. Kulick/M. Goldhammer (Hrsg.), Der Terrorist als Feind?, 2020, S. 99 (108 f., m. Fn. 68). 67 Zusammenfassung der Eckpfeiler der „neuen Sicherheitsarchitektur“ nach H. Kuschewitz, Das Bundesverfassungsgericht und die neue „Sicherheitsarchitektur“, 2014, S. 8; zum übergeordneten Phänomen einer grundlegenden Verschiebung des rechtsstaatlichen Normalzustands hin zu einem „Ausnahmezustand, den niemand beim Namen nennt“, der durch die stetige Herabsetzung einfachrechtlicher Einhegung sicherheitsbehördlicher Befugnisse als Ausdruck einer „Entkonstitutionalisierung“ gekennzeichnet ist instruktiv T. Barczak, Renaissancen des Ausnahmezustands – Terrorismusbekämpfung im „Deutschen“ und „Französischen Herbst“, in: T. Brings-Wiesen/F. Ferreau (Hrsg.), 40 Jahre „Deutscher Herbst“, 2019, S. 165 (165 ff., 171 (Zitat)); vgl. auch monographisch ausführlich ders., Der nervöse Staat, 2020; zur Frage, was ein solcher Normalzustand sein könnte und ob dieser überhaupt erreicht werden kann vgl. B. Rusteberg, Auf der Suche nach dem verlorenen Normalzustand, in: Brings-Wiesen/Ferreau, ebda., S. 191 ff.
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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digen (informationellen) Annäherung oder der Beibehaltung tradierter Abgrenzungen von Polizei und Nachrichtendiensten debattiert68. Das Trennungsgebot ist Gegenstand einer Vielzahl von Ausarbeitungen und Monographien gewesen69. Im Folgenden soll sein Inhalt dennoch – trotz der immanenten Gefahr einer partiellen Reproduktion sicherheitsverfassungsrechtlichen Allgemeinguts –, freilich unter Auslassung von Detailfragen, dargestellt werden, um auf Implikationen des Trennungsgebotes – am hiesigen Ort oder im Laufe der Untersuchung – eingehen zu können, die für die Standortbestimmung der Nachrichtendienste im System der Sicherheitsbehörden allgemein und für den Bereich der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung fruchtbar gemacht werden können. Zuvorderst stellt sich die Frage, ob aus den organisationsrechtlichen Überlegungen des Trennungsgebotes grundlegende Folgerungen für das materielle Recht der Nachrichtendienste im Allgemeinen und für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung des Bundesnachrichtendienstes im Be-
68 Dazu etwa der Beitrag von M. L. Fremuth, Wächst zusammen, was zusammengehört? Das Trennungsgebot zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten im Lichte der Reform der deutschen Sicherheitsarchitektur, in: AöR 139 (2014), S. 32 (34 ff.); siehe auch T. Schwabenbauer, Heimliche Grundrechtseingriffe, 2013, S. 23 ff. 69 Siehe aus der großen Bandbreite der Publikationen jeweils m.w. N. exemplarisch Linzbach/Gärditz, Totenschein (Fn. 64), S. 314 ff.; J. Unterreitmeier, Das informationelle Trennungsprinzip – eine historisch-kritische Relecture, in: AöR 144 (2019), S. 234 (234 ff.); N. Schneider, Das Gebot der Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten im Spannungsfeld von Freiheitsschutz und effektiver Gefahrenabwehr, 2019, S. 177 ff.; I. A. Matz, Die Anti-Terrorismusgesetzgebung und ihre Vereinbarkeit mit Verfassungsrecht, 2017, S. 266 ff.; D.-K. Kipker, Informationelle Freiheit und staatliche Sicherheit, 2016, S. 119 ff.; mit selbiger Feststellung wie hier Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 57 ff.; C. Arzt, Antiterrordatei verfassungsgemäß – Trennungsgebot tot?, in: NVwZ 2013, S. 1328 (1329 f.); Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 141 ff.; Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 99 ff.; M. Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, 2011, S. 367 ff.; J. Stubenrauch, Gemeinsame Verbunddateien von Polizei und Nachrichtendiensten, 2009, S. 24 ff.; R. Klee, Neue Instrumente der Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 2009, S. 47 ff.; K. Nehm, Das nachrichtendienstrechtliche Trennungsgebot und die neue Sicherheitsarchitektur, in: NJW 2004, S. 3289 (3289 ff.); M. A. Zöller, Informationssysteme und Vorfeldmaßnahmen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten, 2002, S. 311 ff.; H.-U. Paeffgen/K. F. Gärditz, Die föderale Seite des „Trennungsgebotes“ oder: Art. 87 III, 73 GG und das G 10Urteil, in: KritV 83 (2000), S. 65 (65 ff.); rechtshistorische Analyse bei A. Dorn, Das Trennungsgebot in verfassungshistorischer Perspektive, 2004, S. 17 ff. sowie S. 59 ff.; aus der älteren Literatur die gleichwohl grundlegenden Arbeiten von C. Gusy, Das gesetzliche Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungsschutz, in: DV 24 (1991), S. 467 (467 ff.); ders., Das verfassungsrechtliche Gebot der Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten, in: ZRP 1987, S. 45 (45 ff.); E. Denninger, Die Trennung von Verfassungsschutz und Polizei und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, in: ZRP 1981, S. 231 (231 ff.); eine „Neuinterpretation“ des Trennungsgebotes hin zu einem Gebot, nachrichtendienstliche Informationen nur dann für aktionelle Grundrechtseingriffe nutzbar zu machen, wenn der Staat sich nicht gleichfalls auf Geheimhaltungsinteressen beruft, postuliert T. Rusteberg, Informationsherrschaft durch Polizei und Nachrichtendienste, in: Kulick/Goldhammer, Feind (Fn. 66), S. 215 (234 ff.).
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sonderen gezogen werden können oder gar müssen. Zwar hat der Bundesnachrichtendienst als Auslandsnachrichtendienst, im Gegensatz zum Verfassungsschutz, weit weniger direkte Berührungspunkte zur Polizei und damit zum Kern des Diskussionskomplexes Trennungsgebot; ihn deshalb pauschal aus der Debatte um das Trennungsgebot auszuklammern, erscheint jedoch voreilig. Der Bundesnachrichtendienst ist bei der aktiven Cyberabwehr, bei der grundlegenden Aufgabenfestlegung der Nachrichtendienste in der Sicherheitsarchitektur, im Rahmen der weiträumigen Erstreckung der strategischen Fernmeldeaufklärung auf die organisierte Kriminalität, bei Überlegungen zu materiell-rechtlichen Konsequenzen der organisationsrechtlichen Ausgestaltung der Sicherheitsarchitektur und nicht zuletzt bei der verhältnismäßigen Konzeption von Übermittlungsbefugnissen mit dem Themenkomplex des Trennungsgebotes konfrontiert70. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem Trennungsgebot und den hieraus resultierenden Konsequenzen für den Bundesnachrichtendienst zur verfassungsrechtlichen Vermessung seiner strategisch-technischen Aufklärungskompetenzen notwendig. 1. „Polizeibrief “ als historische Ausgangslage Das Trennungsgebot findet im Grundgesetz und im einfachen Recht keine explizite Erwähnung71. Es lässt sich dennoch im Wesentlichen in vier Ausprägungen gliedern: Die organisatorische, befugnisrechtliche, funktionale sowie informationelle Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten, die jeweils mit unterschiedlicher Intensität umstritten sind72. Noch streitiger ist freilich die Frage, ob dem Trennungsgebot Verfassungsrang zukommt. Um diese Kernfrage wird seit Jahrzehnten gerungen ohne bislang ein eindeutig bestimmbares Ergebnis zu erzielen73. Gesicherter entstehungsgeschichtlicher Ausgangpunkt des Trennungsgebotes ist der „Polizeibrief “ der alliierten Militärgouverneure vom 14. April 1949, auf den wiederum im Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 70 Deshalb auch ausführlich zum Verhältnis des BND zum Trennungsgebot K. v. Lampe, Bekämpfung der organisierten Kriminalität, in: J.-H. Dietrich/S.-R. Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, Kap. V § 6 Rn. 16 ff.; ablehnend Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 173 unter Verweis auf die Einschränkung bei M. Brenner, Bundesnachrichtendienst im Rechtsstaat, 1990, S. 52, der zumindest den „Polizeibrief “ (dazu sogleich) nicht auf den BND erstrecken möchte; für eine Einbeziehung des BND in den Geltungsbereich des „Polizeibriefs“ hingegen ausdrücklich C. Gusy, Der Bundesnachrichtendienst, in: DV 17 (1984), S. 273 (284). 71 Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 153; Gusy, Gebot (Fn. 69), S. 45. 72 Auflistung der Kategorien bei C. Timu, Das Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungsschutz, in: VR 2017, S. 121 (122); Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 58; Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 110; Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 85. 73 C. Gusy, Organisation und Aufbau der deutschen Nachrichtendienste, in: Dietrich/ Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. IV § 1 Rn. 29, betont die analytische Trennbarkeit von konkretem Inhalt und der Frage nach dem Rang des Trennungsgebotes innerhalb der Rechtsordnung.
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1949 Bezug genommen wurde74. Nach der Nummer 2 des „Polizeibriefes“ wurde die Bundesregierung durch die Militärgouverneure ermächtigt, eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Informationen über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten. Diese Stelle sollte indes „no police authority“ haben, was gemeinhin mit polizeilichen Befugnissen bzw. Polizeibefugnissen übersetzt wird75. Damit erlaubte der – für den Parlamentarischen Rat zu diesem weit fortgeschrittenen Zeitpunkt der Beratungen über eine neue Verfassung für Deutschland völlig überraschende76 – „Polizeibrief “ die Errichtung eines Inlandsnachrichtendienstes auf Bundesebene, allerdings mit der Maßgabe, dass diese Stelle von Polizeibefugnissen mit Grundrechtseingriffscharakter ausgeschlossen wurde77. Die Beweggründe der Alliierten für diesen Schritt sind nicht gänzlich geklärt78. Mehrheitlich findet die Diktion Anklang, dass seitens der Siegermächte ein Wiederaufleben der unterdrückerischen Strukturen des NS-Machtapparates mit seinen in Geheimer Staatspolizei und Reichssicherheitshauptamt geballten Befugnissen durch eine Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten verhindert werden sollte79. Andere verweisen auf das Eigeninteresse der Alliierten, die eine starke, Besatzungszonen übergreifende Zentralgewalt mit Exekutivbefugnissen wegen ihrer mangelnden Kontrollierbarkeit ablehnten80. Denkbar erscheint auch eine Kombination der beiden Beweggründe81; ohne eindeutige historische Quellenlage lässt sich indes keine eindeutige Klärung herbeiführen82. Nachvollziehbar ist jedoch, dass die Alliierten wahrscheinlich ein ihnen vertrautes anglo-amerikanisches Modell etablieren wollten, nachdem Nachrichten-
74 Eingehend zur Genese des Polizeibriefes mit seinen politischen Vorläufen Dorn, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 59 ff.; zum Polizeibrief auch Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 235 f.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 25 f.; Paeffgen/Gärditz, G 10-Urteil (Fn. 69), S. 66; Abdruck des Polizeibriefs u. a. bei Roewer, Trennung (Fn. 65), S. 206 Fn. 11. 75 Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 104; Nehm, Sicherheitsarchitektur (Fn. 69), S. 3290; Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 83. 76 Dies belegt Dorn, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 123. 77 Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 146; Gusy, Gebot (Fn. 69), S. 46; Denninger, Trennung (Fn. 69), S. 231. 78 So auch Nehm, Sicherheitsarchitektur (Fn. 69), S. 3290; Gärditz, Strafprozeß (Fn. 63), S. 415; Gusy, Gebot (Fn. 69), S. 46. 79 Dahingehend Timu, Trennungsgebot (Fn. 72), S. 121; Kipker, Freiheit (Fn. 69), S. 120; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 58; Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 109 f.; Klee, Instrumente (Fn. 69), S. 41 f. 80 Maßgeblich Roewer, Trennung (Fn. 65), S. 206; dem folgen aus neuerer Zeit Nehm, Sicherheitsarchitektur (Fn. 69), S. 3290; Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 83 f. 81 Weitere Differenzierungen und Erklärungsansätze mit den jeweiligen Nachweisen finden sich bei K. F. Gärditz, Zentralisierung von Verfassungsschutzaufgaben und bundesstaatliche Kompetenzarchitektur, in: AöR 144 (2019), S. 81 (84) m. Fn. 10. 82 Die nicht gesicherte historische Quellenlage sieht auch Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 236, als Hindernis an.
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dienste, wie die Central Intelligence Agency in den USA und der MI5 in Großbritannien nicht über polizeiliche Exekutivbefugnisse verfügten83. Unabhängig von der historischen Motivlage begründet der „Polizeibrief “ die Idee des Trennungsgebotes. Als Folge des „Polizeibriefes“ wurden schließlich die Art. 87 I 2 und 73 Nr. 10 in das Grundgesetz aufgenommen, ohne jedoch ausdrücklich ein Trennungsgebot zu formulieren84. Der Bund erhielt die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen und verfassungsschutzrechtlichen Angelegenheiten sowie die Verwaltungskompetenz, durch Bundesgesetz Zentralstellen für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen, für die Kriminalpolizei und zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes einzurichten85. Die Entstehungsgeschichte ist auch heute noch wirkmächtig; die Debatte um das Trennungsgebot kann ohne sie nicht nachvollzogen werden86. Zunächst sollen jedoch die einzelnen Ausprägungen des Trennungsgebotes kurz beleuchtet werden, bevor auf die verfassungsrechtliche Dimension zurückzukommen ist87. 2. Organisatorische Trennung Unproblematisch lässt sich eine organisatorische Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten als Teil des Trennungsgebotes festhalten, da sie ausdrücklich Eingang in die nachrichtendienstlichen Fachgesetze gefunden hat. Gemäß §§ 2 I 3 BVerfSchG, 1 I 2 BNDG sowie 1 IV MADG dürfen die Dienste einer polizeilichen Dienststelle nicht angegliedert werden. Dies unterstreicht die Wertung der deutschen Dienste als Nachrichtendienste im Sinne der hier verwendeten Definition. Auf Länderebene bestehen vergleichbare Regelungen88. Im Umkehrschluss gilt auch das Verbot der Angliederung einer polizeilichen Einrichtung an 83 Zur Diskussion in den USA und Großbritannien über die Ausgestaltung der Nachrichtendienste nach dem Zweiten Weltkrieg Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 236 ff.; die historischen Beweggründe, zumindest der amerikanischen und britischen Besatzungsmacht in Deutschland, unterstreicht ders., Überwachung durch Nachrichtendienste und Polizei – kein Unterschied?, in: GSZ 2018, S. 1 (2); dazu auch W. Cremer, Organisationen zum Schutz von Staat und Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 278 Rn. 24. 84 Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 146; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 26; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 302. 85 Zusammenfassung bei A. Gudermann, Online-Durchsuchung im Lichte des Verfassungsrechts, 2010, S. 44; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 26. 86 Die historische Dimension der Auslegung für die Evaluation des Verfassungsranges des Trennungsgebotes betont auch H. A. Wolff, Die Grenzverschiebung von polizeilicher und nachrichtendienstlicher Tätigkeit, in: DÖV 2009, S. 597 (601). 87 Zu den vier geläufigen Ausprägungen des Trennungsgebots statt aller Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 4. 88 Tabellarische Übersicht aller landesrechtlichen Regelungen bei Timu, Trennungsgebot (Fn. 72), S. 122.
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einen Nachrichtendienst89. Als Folge der organisatorischen Trennung ist ebenso eine personelle Vermengung zwischen diesen Sicherheitsbehörden untersagt90. Sofern bei einer Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, wie etwa am Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), nicht die Form einer eigenen fusionierenden Behörde gewählt wird und die Mitarbeiter von Polizei und Diensten zwar gemeinsam ermitteln, dabei jedoch in ihrem originären behördlichen Organisationsverbund verbleiben und keine Vollverflechtung stattfindet, ist auch eine derartige Kooperation mit dem Trennungsgebot zu vereinbaren91. Unzulässig wäre indes die Bildung einer „joint section“, bei der in Form einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe unter Leitung des Verfassungsschutzes oder des Bundesnachrichtendienstes polizeiliche Ermittlungen unternommen würden92. 3. Befugnisrechtliche Trennung a) Gesicherter Stand einfachgesetzlicher Regelung Ebenfalls einfachgesetzlich ist die befugnisrechtliche Trennung fixiert, weswegen auch hier insofern Einigkeit über den Umfang des Trennungsgebotes besteht. Gemäß § 8 III BVerfSchG, § 2 III BNDG und § 4 IV MADG stehen den Nachrichtendiensten zur Erfüllung ihrer Aufgaben keine polizeilichen – konkret operativ-exekutiven – Befugnisse oder Weisungsbefugnisse zu. Somit sind sie nicht berechtigt, traditionelle Standardmaßnahmen wie etwa Verhaftungen, Vernehmungen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen durchzuführen oder Zwangsmaßnahmen auf die polizeiliche Generalklausel zu stützen93. Unter die ausgeschlossenen Befugnisse fallen freilich nicht die Sammlung und Auswertung (personenbezogener) Daten, dies ist vielmehr gerade die Aufgabe der Nachrichtendienste94. Der Ausschluss von Zwangsbefugnissen, der im Kern auf die Formulierung „no police authority“ des „Polizeibriefs“ zurückgeht, ist die „Essen89
Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 483. Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 172; Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 88. 91 Vertiefend dazu Weisser, Terrorismusabwehrzentrum (Fn. 50), S. 144; Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 173; Klee, Instrumente (Fn. 69), S. 130 ff.; ebenso Baumann, Terrorismusbekämpfung (Fn. 61), S. 804 ff.; kritisch zu gemeinsamen Zentren wie dem GTAZ oder dem Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) insbesondere mit Blick auf deren Wirksamkeit M. Kutscha, Die Antinomie des Verfassungsschutzes, in: NVwZ 2013, S. 324 (325). 92 C. Bormann, Transnationale Informationsgewinnung durch Nachrichtendienste und Polizei, 2016, S. 45; H. Borgs-Maciejewski, in: ders./F. Ebert, Das Recht der Geheimdienste, 1986, § 3 BVerfSchG Rn. 130. 93 Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 110; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 45; Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 86; F. P. Schafranek, Die Kompetenzverteilung zwischen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden in der Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 90; aus der älteren Literatur bereits H.-U. Evers, Privatsphäre und Ämter für Verfassungsschutz, 1960, S. 98. 94 Klarstellung bei Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 54. 90
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tiale des Trennungsprinzips“ 95. Ebenso wenig dürfen die Nachrichtendienste im Wege der Amtshilfe um Befugnisse ersuchen, zu denen sie selber nicht befugt sind, oder Weisungen an die Polizei erteilen bzw. solche von dieser empfangen96. Dieser einfachrechtliche Aspekt des Trennungsgebotes darf als gesichert gelten. b) Ausschluss der Polizei von nachrichtendienstlichen Mitteln? Umstritten ist, ob auf Grund des Trennungsgebotes die Polizei im Umkehrschluss ebenfalls nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln bzw. Befugnissen ausgestattet werden darf 97. § 8 II BVerfSchG, der den Begriff des nachrichtendienstlichen Mittels in den Fachgesetzen prägt, listet (mittlerweile) exemplarisch Beispiele für klandestine Befugnisse auf 98. Traditionell werden unter den Terminus des nachrichtendienstlichen Mittel etwa der Einsatz von Vertrauensleuten, Observationen, heimliche Bild- und Tonaufzeichnungen sowie die Überwachung des Brief- und Fernmeldeverkehrs subsumiert99. Letztere hat freilich im G 10-Gesetz eine spezialgesetzliche Regelung erfahren. aa) Faktische Ausweitung heimlicher Überwachungsmaßnahmen im Polizei- und Strafverfahrensrecht Die Diskussion wird indes teils durch faktische Veränderungen überlagert, da sich seit Mitte der siebziger Jahre eine Entwicklung nachzeichnen lässt, die mit 95 So das Zitat bei W. Gaßner, Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei, in: BayVBl. 1983, S. 711 (712). Ein Unterschied zwischen Trennungsgebot und Trennungsprinzip scheint von Gaßner nicht intendiert. Es ist insofern von einem synonymen Gebrauch der Begriffe auszugehen. Siehe zur grundlegenden Zielrichtung des Trennungsgebotes ferner Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 110; Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 85; Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 483. 96 BVerfGE 133, 277 (326 f.); E. Denninger, Die Polizei im Verfassungsgefüge, in: M. Bäcker/ders./K. Graulich (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Kap. B. Rn. 44; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 58 f. 97 Für ein grundsätzliches Verbot nachrichtendienstlicher Mittel bei der Polizei streiten etwa Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 112 f.; Baumann, Terrorismusbekämpfung (Fn. 61), S. 805; Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 86 f.; dagegen Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 328; Paeffgen/Gärditz, G 10-Urteil (Fn. 69), S. 66; Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 485 f.; vermittelnd Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 46 f.; für eine Einzelfallprüfung der Befugnisse, insbesondere mit Blick auf den polizeilichen Gefahrbegriff als Eingriffsschwelle auch bei genuin nachrichtendienstlichen Mitteln, plädiert Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 171 f.; in diese Richtung ebenfalls bereits H. Albert, Das „Trennungsgebot“ – ein für Polizei und Verfassungsschutz überholtes Entwicklungskonzept?, in: ZRP 1995, S. 105 (106). 98 Die Verfassungsmäßigkeit von § 8 BVerfSchG wurde ausdrücklich offengelassen von BVerfGE 141, 220 (339, Rn. 320); von einem „deutlichen Fingerzeig“ des Senats spricht T. Siems, Folgewirkungen des BVerfG-Urteils zum BKAG bei den Sicherheitsbehörden – eine erste Bilanz, in: NWVBl. 2018, S. 1 (4). 99 Zum Begriff des nachrichtendienstlichen Mittels nur Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 36; Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 104 ff.
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der Verlagerung von Polizeikompetenzen in das Gefahrenvorfeld einhergeht und mit dem Schlagwort der „Vernachrichtendienstlichung der Polizei“ 100 beschrieben wird101. Die Trennschärfe zwischen nachrichtendienstlichen und polizeilichen Befugnissen ging sukzessive verloren und ist teils nur noch schwerlich auszumachen102. Die Tendenz zu klandestinen Polizeibefugnissen soll hier nur kursorisch an Hand von Beispielen skizziert werden: So wurde (und wird103) den Polizeibehörden in den jeweiligen Polizeigesetzen der Länder etwa der Einsatz verdeckter Ermittler und von Vertrauensleuten, die Abfrage von Telekommunikationsdaten, der Einsatz von sogenannten IMSI-Catchern zur Standort und Kartenwie Gerätenummernerkennung von Mobiltelefonen, die sogenannte Schleierfahndung, die Rasterfahndung, die präventive Videoüberwachung öffentlicher Räume, der sogenannte große und kleine Lauschangriff und teils sogar die Online-Durchsuchung sowie die Quellen-Telekommunikationsüberwachung ermöglicht, um nur einige, genuin nachrichtendienstlich anmutende Instrumente zu nennen104. Als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 wurde zudem auf Bundesebene das Bundeskriminalamt im Rahmen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus – für die der Bund gemäß Art. 73 I Nr. 9a GG die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz erhielt105 – mit weitreichenden heimlichen Ermittlungs100 Pointiert M. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 408. 101 Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 116 ff.; Schafranek, Kompetenzverteilung (Fn. 93), S. 102; Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 319 und Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 472 ff., datieren das Einsetzen dieser Tendenz auf die Mitte der achtziger Jahre. Eingehend zum präventivpolizeilichen Vorfeldrecht monographisch M. Bäcker, Kriminalpräventionsrecht, 2015, S. 191 ff.; ferner Gärditz, Strafprozeß (Fn. 63), S. 22. 102 Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 65; so bereits schon H.-U. Evers, Verfassungsschutz und Polizei, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutz und Rechtsstaat, 1981, S. 65 (66). 103 Zum aktuellen, bundesweiten Trend der Novellierung der Polizeigesetze der Länder und der hiermit einhergehenden Vergrößerung des Arsenals an Überwachungsbefugnissen, maßgeblich der Quellen-Telekommunikationsüberwachung und der OnlineDurchsuchung, siehe stellvertretend die Übersicht der Gesellschaft für Freiheitsrechte zu den bereits in Kraft getretenen bzw. angestrebten Regelungen (Stand vom 13.6. 2019), abrufbar unter https://freiheitsrechte.org/home/wp-content/uploads/2019/06/ 2019-06_Uebersicht_neue_Polizeigesetze_GFF_Amnesty.pdf (17.10.2019). 104 Zu den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen vgl. T. Kingreen/R. Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl. 2020, §§ 13, 14; eine ausführliche Auflistung von heimlichen polizeirechtlichen wie strafprozessualen Eingriffsregelungen bietet Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 17 ff.; knappere Übersicht auch bei Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 41; ebenso Wolff, Grenzverschiebung (Fn. 86), S. 600; H. U. Paeffgen, Vernachrichtendienstlichung des Strafprozesses, in: GA 150 (2003), S. 647 (652); Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 325 ff.; vgl. explizit zu den nachrichtendienstlichen wie polizeirechtlichen und strafprozessualen Ermächtigungsgrundlagen der Online-Durchsuchung monographisch Gudermann, Online-Durchsuchung (Fn. 85), S. 41 ff. 105 Zur Reichweite der Gesetzgebungskompetenz und zu Grenzen der Zentralisierung der Terrorismusabwehr auf Bundesebene im Bereich der präventivpolizeilichen Gefah-
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befugnissen ausgestattet, wie der Online-Durchsuchung, der Rasterfahndung, den Lauschangriffen und der (Quellen-)Telekommunikationsüberwachung, die teils über das Arsenal der Länderpolizeien sogar hinausgingen und nach wie vor gehen106. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht Teile des BKAG für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber vor allem bei der Ausgestaltung der Maßnahmen in einigen Fällen erheblichen Änderungsbedarf mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit attestiert, die Erhebungsvorschriften aber in ihrem Kern für verfassungsrechtlich möglich gehalten107. Im Bereich der Strafverfolgung wurden ebenso etliche, größtenteils analog zu den polizeirechtlichen Vorschriften, heimliche Ermittlungsbefugnisse etabliert: Genannt seien nur die Telekommunikationsüberwachung (§ 100a StPO), die Rasterfahndung (§§ 98a–98c StPO), der kleine und große Lauschangriff (§§ 100c–100f StPO), die Auskunft über Telekommunikationsverkehrsdaten (§§ 100g StPO), der Einsatz des sogenannten IMSI-Catchers (§ 100i StPO) sowie die neu eingeführten Mittel108 der strafprozessualen Quellen-Telekommunikationsüberwachung (§ 100a I 2, 3 StPO) und der Online-Durchsuchung (§ 100b StPO)109, 110. Dadurch steht renabwehr etwa M. Bäcker, Weitere Zentralisierung der Terrorismusbekämpfung?, in: GSZ 2018, S. 213 (214 f.). 106 Ursprüngliches BKA-Gesetz v. 1.1.2009, BGBl. I S. 3083 (BKAG 2009), zentral mit den §§ 20k, 20j, 20h, 20l BKAG a. F., dazu Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 93; kritisch zum BKAG 2009 mit Besprechung der einzelnen heimlichen Ermittlungsbefugnisse F. Roggan, Das neue BKA-Gesetz – Zur weiteren Zentralisierung der deutschen Sicherheitsarchitektur, in: NJW 2009, S. 257 (257 ff.). 107 BVerfGE 141, 220, Leitsatz Nr. 1a); Deutung des Urteils wie hier bei K. F. Gärditz, BVerfG v. 20.04.2016, 1 BvR 966/09 u. a. – BKA-Gesetz, Terrorismusbekämpfung durch heimliche Ermittlungen zwischen grundrechtlicher Rationalisierung und verfassungsdogmatischem Overkill, in: J. Menzel/R. Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 988 (990), der jedoch insgesamt eine kritische Bilanz des Urteils zieht; zu der Verfassungskonformität der Instrumente des BKAG zumindest dem Grunde nach auch G. Buchholz, Kein Sonderopfer für die Sicherheit, in: NVwZ 2016, S. 906 (907 ff.); zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber das BKAG nach den höchstrichterlichen Vorgaben angepasst, Gesetz zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes v. 1.7.2017, BGBl. I S. 1354. Auch gegen die Neuregelung bestehen freilich verfassungsrechtliche Bedenken, vgl. hierzu die Verfassungsbeschwerde der Gesellschaft für Freiheitsrechte, abrufbar unter https://freiheitsrechte.org/themen/freiheitim-digitalen/bka-gesetz (19.5.2020). 108 Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 17.9.2017, BGBl. I S. 3202. 109 Zu den letztgenannten Neuerungen in der StPO aus der jüngsten Literatur J. P. Graf, in: ders. (Hrsg.), Strafprozessordnung-Kommentar, 4. Aufl. 2021, § 100a Rn. 113 ff., § 100b Rn. 1 ff.; M. Soiné, Die strafprozessuale Online-Durchsuchung, in: NStZ 2018, S. 497 (497 ff.); kritisch B. Derin/S. J. Golla, Der Staat als Manipulant der IT-Sicherheit?, in: NJW 2019, S. 1111 (1111 ff.), insbesondere mit Blick auf die Auswirkungen auf die allgemeine Sicherheit von IT-Systemen; B. Kruse/M. Grzesiek, Die Online-Durchsuchung als „digitale Allzweckwaffe“ – Zur Kritik an überbordenden Ermittlungsmethoden, in: KritV 100 (2017), S. 331 (334 ff.). 110 Ausführlich monographisch zur Entwicklung der heimlichen strafprozessualen Erhebungsbefugnisse mit ihren jeweiligen gesetzlichen Änderungen in Folge intensiver
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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heute der Polizei und den Strafverfolgungsbehörden ein Arsenal mit überkommenen nachrichtendienstlichen Mitteln zur Verfügung111. Zugleich wurden materielle Straftatbestände wie etwa §§ 89b, 89c StGB zur strafrechtlichen Terrorismusbekämpfung sowie §§ 129a, 130a StGB im Bereich der Staatsschutzdelikte geschaffen, die die Strafbarkeit in das Tatvorfeld ausweiten und mithin auch staatsanwaltschaftliche und zu ihrer Hilfe polizeiliche Ermittlungen in selbigem erfordern112. Freilich sind nicht alle Befugnisse der Polizei faktisch neu. Einige Maßnahmen, die die Polizei vormals ohne konkrete Ermächtigungsgrundlage durchführte, wurden im Nachgang des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichtes113 lediglich kodifiziert, als sich die Erkenntnis der Eingriffsqualität von Datenerhebungen in das erstmalig in diesem Urteil konkretisierte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG etablierte114. Die Ausdehnung der heimlichen polizeilichen und strafprozessualen Befugnisse ist damit auch eine Tendenz der Verrechtlichung und der Anerkennung der Grundrechtsbeeinträchtigung durch derartige Überwachungsmaßnahmen, die mit immer feiner ausdifferenzierten Normen einhergeht115.
verfassungsgerichtlicher Aufmerksamkeit D. Brodowski, Verdeckte technische Überwachungsmaßnahmen im Polizei- und Strafverfahrensrecht, 2016, S. 157 ff.; König, Trennung (Fn. 50), S. 232; Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 479. 111 Bilanz bei Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 87. 112 Zur Vorverlagerung von Strafbarkeiten unter dem Schlagwort des Terrorismus in Bezug auf §§ 89b, 89c StGB F. Wittreck, Wer trägt die Kosten und Lasten der Terrorabwehr?, in: J. Bruns/T. Gumpp/N. Mommsen u. a. (Hrsg.), Terror – Von der (Ohn-)Macht des Staates und der Rechtmäßigkeit von Handlungsalternativen, 2019, S. 119 (132); von einer „Verschleifung“ von Strafverfolgung und Gefahrenabwehr im Bereich des Terrorismusstrafrechts in der Praxis, insbesondere bei Überwachungsmaßnahmen, spricht Bäcker, Zentralisierung (Fn. 105), S. 217 f.; zur Ausweitung der Staatsschutzdelikte mit Beispiel der §§ 129a, 130a StGB ferner Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 70; siehe auch Wolff, Grenzverschiebung (Fn. 86), S. 600; Nehm, Sicherheitsarchitektur (Fn. 69), S. 3292; vgl. zum Ganzen monographisch auch V. Bützler, Staatsschutz mittels Vorfeldkriminalisierung, 2017. 113 BVerfGE 65, 1. 114 Ausführlich zu der Verrechtlichung der heimlichen Ermittlungsmaßnahmen des Polizeirechts sowie der Umsetzung in den einzelnen Landesgesetzen monographisch Brodowski, Überwachungsmaßnahmen (Fn. 110), S. 34 ff.; dazu gleichfalls Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 116; Wolff, Grenzverschiebung (Fn. 86), S. 600; König, Trennung (Fn. 50), S. 105 f.; Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 478 f.; a. A. R. Poscher, Eingriffsschwellen im Recht der inneren Sicherheit, in: DV 41 (2008), S. 345 (346 f.), der stärker eine qualitative Erweiterung des polizeilichen Arsenals, jenseits einer bloßen Kodifizierung bereits bekannter Maßnahmen, annimmt. 115 So auch B. W. Wegener, Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegenbewegungen im Sicherheitsrecht, in: VVDStRL 75 (2016), S. 293 (298 f.).
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bb) Grundsätzliche Anbindung der Polizei und Strafverfolgungsbehörden an den Gefahrbegriff und Verdachtsgrade Die Befürworter eines Ausschlusses der Polizei von originär nachrichtendienstlichen Mitteln stellen zwar die aus ihrer Sicht faktische Aufhebung des befugnisrechtlichen Trennungsgebotes fest, verbleiben aber bei der grundsätzlichen Notwendigkeit einer Beschränkung der verdeckten Vorfeldermittlungsmethoden im polizeirechtlichen Arsenal116. Indes spricht viel für eine vermittelnde Auslegung, die das befugnisrechtliche Trennungsgebot jedenfalls beidseitig gewahrt sieht, solange die heimlichen Erhebungsmaßnahmen der Polizei und Strafverfolgungsbehörden ganz grundsätzlich noch an das Vorliegen bestimmter bzw. konkreter oder abstrakter Gefahrbegriffe bzw. Verdachtsgrade und verdachtsbegründender Tatsachen geknüpft ist117. Die hergebrachten Befugnisnormen des Gefahrenabwehrrechts setzen schließlich – immer noch – tradierte Tatbestandsmerkmale wie die „Gefahr“ und die „Störung“ voraus118. Dies gilt auch in Fällen, in denen gleichsam ein „Gefahrbegriff zweiten Grades“ genutzt wird, wenn Normen daran gekoppelt werden, dass „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“ 119. Offen bleibt zurzeit noch, inwieweit durch die Einführung des Tatbestandsmerkmales der „drohenden Gefahr“ in den Polizeigesetzen des Bundes – vor allem im BKAG – und einiger Länder auch in Zukunft eine einigermaßen sichere Abgrenzung erhalten bleiben kann120 bzw. ob die Einschreitschwellen aufgrund neuester Recht116 So Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 112 f.; Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 86 ff.; E. Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S. 230. 117 Für das in diesem Kontext maßgeblich limitierende Element des Gefahrbegriffes plädieren Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 39, 70 f.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 46 f. Dabei ist über die Ausprägung der Gefahr bzw. die sie jeweils definierenden Wahrscheinlichkeitsprognosen noch nichts gesagt. 118 Statt aller etwa Barczak, Staat (Fn. 67), S. 464 ff.; C. Gusy, Die „Schwere“ des Informationseingriffs, in: P. Baumeister/W. Roth/J. Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz, FS Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 395 (395). 119 Instruktiv zu dieser Absenkung des Konkretisierungsgrades im Vergleich zum klassischen Gefahrbegriff und zur sprachlichen Einordnung mit Anbindung an die Strafrechtswissenschaft B. Pieroth, Ein Musterentwurf mit Schlagseite zulasten der Freiheit, in: DV 53 (2020), S. 39 (48). 120 Zur „drohenden Gefahr“ BVerfGE 141, 220 (272 ff., Rn. 111 ff.); eine Zusammenfassung der mittlerweile kaum mehr unüberblickbaren Literatur- und Meinungsvielfalt zum Begriff der „drohenden Gefahr“ sowie eine Einordnung in den dogmatischen Grundkonflikt der Wechselwirkung zwischen Gefahr und Vorfeld bietet im ersten Zugriff M. Möstl, Staatsaufgabe Sicherheit in Zeiten des Terrorismus – der rechtsstaatliche Rahmen, in: Kulick/Goldhammer, Feind (Fn. 66), S. 67 (71 ff.); Barczak, Staat (Fn. 67), S. 522 ff.; zur Ausweitung polizeilicher Befugnisse durch das Tatbestandsmerkmal der „drohenden Gefahr“ in den Polizeigesetzen von Bayern und – zwischenzeitlich geplant – NRW etwa A. Kießling, Die aktionelle Maßnahme im Vorfeld, in: Kulick/Goldhammer, Feind (Fn. 66), S. 262 (264 ff.); ferner allgemein M. Bäcker, Terrorismusbekämpfung und Sicherheitsverfassungsrecht in Deutschland, in: A. Scherzberg/O. Can/ ˙I. Dog˘an (Hrsg.), Der Rechtsstaat in Zeiten von Notstand und Terrorabwehr, 2019, S. 117 (135 ff.).
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sprechung – dazu sogleich – eine konvergente Entwicklung erfahren werden. Die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden dürfen die ihnen zugestandenen verdeckten Erhebungsmaßnahmen jedenfalls dann einsetzen, sofern dies immer noch auf konkrete, individualisierbare Fälle oder abstrakte Gefahren beschränkt bleibt und nicht das Gefahrenvorfeld als Ganzes in den Fokus der Maßnahmen fällt121. Hier beginnt traditionell das Feld der nachrichtendienstlichen Aufklärung. 4. Funktionale Trennung: Aufgaben von Polizei und Nachrichtendiensten im Koordinatensystem der Sicherheitsbehörden Die funktionale Dimension des Trennungsgebotes betrifft die grundlegende Zuweisung von Aufgabenfeldern an Polizei und Nachrichtendienste. In der Literatur wird darüber gestritten, ob sich aus dem Gesetz ergänzend zur organisatorischen und befugnisrechtlichen Trennung auch, zumindest im Ansatz, eine funktionale ergibt122. Im Interesse des Untersuchungsziels soll hier indes die Abgrenzung der Aufgabenfelder und die damit möglicherweise assoziierten Ansätze zur Ausgestaltung des materiell nachrichtendiensterechtlichen Befugnisspektrums im Fokus stehen. a) Verfassungsgerichtliche Standortbestimmung durch Urteile zum Antiterrordateigesetz und zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner für den Bereich der Nachrichtendienste wegweisenden Entscheidung zur Antiterrordatei I – teilweise ergänzt und erweitert konkret für den Bundesnachrichtendienst durch das Urteil des Ersten Senats zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung123 – ausführlich und anschaulich die Aufgabe und Eigenart der Nachrichtendienste beschrieben und diese zu derjenigen der Polizei abgegrenzt124. Die Kernaussagen aus seiner ersten Ent121 BVerfGE 156, 11 (50 f., Rn. 102 f.). Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass insbesondere die Verbindung von Polizei und Verfassungsschutz in gemeinsamen Informationsplattformen das für den Vorfeldbereich geltende „Monopol“ der Nachrichtendienste bereichsspezifisch „nivelliert“ hat, wie Barczak, Staat (Fn. 67), S. 500 m. Fn. 303 betont. Dennoch sind polizeiliche Maßnahmen nach wie vor grundsätzlich einzelfall- und anlassbezogen. 122 Dafür Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 60; Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 124; Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 89 f.; von einer Vorzeichnung der Aufgaben durch die Verfassung selbst spricht P. Badura, Die Legitimation des Verfassungsschutzes, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Verfassungsschutz in der Demokratie, 1990, S. 27 (33 f.); dagegen etwa Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 36; Nehm, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 3293; für eine Zusammenführung der beiden Aufgabentypen von Nachrichtendiensten und polizeilichen Behörden plädiert unlängst Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 5 mit Verweis auf gemischte Behörden in anderen Ländern, etwa Österreich. 123 BVerfGE 154, 152 (233 ff., Rn. 127 ff.). 124 K. F. Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht und technische Aufklärung durch Nachrichtendienste, in: EuGRZ 2018, S. 6 (8) spricht insoweit von einer „Referenzentschei-
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scheidung zum ATDG wiederholt der erste Senat – wenngleich in abgeschwächter Form – nunmehr auch in seinem jüngsten Beschluss zur Antiterrordatei II125. Demnach hätten Polizeibehörden und Nachrichtendienste „deutlich voneinander unterschiedene Aufgaben“ 126. In der Diktion des Senats sollen die Nachrichtendienste im Vorfeld von Gefährdungslagen aufklären. Ihre Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung dienten deswegen weit formulierten Zielen wie z. B. dem Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen im Inland, dem Schutz vor gewaltbereiten Strömungen, der Aufklärung des Auslandes und Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder das friedliche Zusammenleben gerichtet sind127. In ihren jeweiligen Aufgabengebieten beobachteten die Nachrichtendienste „fundamentale Gefährdungen, die das Gemeinwesen als Ganzes destabilisieren können“ und berichteten hierüber, um „eine politische Einschätzung der Sicherheitslage zu ermöglichen“ 128. Deshalb muss auch innerhalb der Nachrichtendienste eine Binnendifferenzierung hinsichtlich der jeweiligen spezifischen Aufgabenzuschnitte erfolgen129. Dazu unterrichte etwa der Bundesnachrichtendienst die Bundesregierung in Form von Lageberichten, Analysen und Berichten über einzelne Ereignisse mit Bedeutung für die außen- und sicherheitspolitische Lage der Bundesrepublik Deutschland und befähige diese damit, Gefahrenlagen rechtzeitig politisch begegnen zu können130. Mit diesen Informationen helfe er, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in sicherheits- und außenpolitischen Sachverhalten zu wahren, möglicherweise folgenschwere Fehlentscheidungen zu verhindern und die Bundesrepublik im „machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen“ zu behaupten131. Dabei könne der Bundesnachrichtendienst – so nunmehr der Erste Senat – indes auch mit der Aufdung“ für die verfassungsrechtliche Determination des Nachrichtendiensterechts; allgemein zur Funktionsweise der Antiterrordatei ausführlich C. Arzt, in: W.-R. Schenke/ K. Graulich/J. Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 1 ATDG Rn. 6 ff. 125 BVerfGE 156, 11 (49 ff., Rn. 99 ff.); zur Entscheidung siehe im ersten Zugriff S. J. Golla, Algorithmen, die nach Terroristen schürfen – „Data-Mining“ zur Gefahrenabwehr und zur Strafverfolgung, in: NJW 2021, S. 667 (667 ff.); grundlegende Kritik äußert M. Löffelmann, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15, in: GSZ 2021, S. 33 (33 ff.). Einen Überblick über die dogmatische Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG zur Funktion der Nachrichtendienste, angefangen mit dem dritten Abhörurteil von 1999 bis hin zum ATDG II-Beschluss, bietet J. Unterreitmeier, Funktion und Zweckbindung der Nachrichtendienste, in: JZ 2021, S. 175 (176 ff.). 126 BVerfGE 133, 277 (324 f., Rn. 115). 127 BVerfGE 133, 277 (325, Rn. 116). 128 BVerfGE 156, 11 (46 f., Rn. 91); Zitat in BVerfGE 133, 277 (326, Rn. 118). 129 So die Analyse des ATDG-Urteils bei M. Löffelmann, Heimliche Ton- und Bildaufzeichnungen, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. VI § 3 Rn. 3. 130 BVerfGE, 154, 152 (233 f., Rn. 128, 240 f., Rn. 144, 245 f., Rn. 158, 248 f., Rn. 162 f., 254, Rn. 177); BVerfGE 133, 277 (326, Rn. 118); 100, 313 (371). 131 BVerfGE 154, 152 (240 f., Rn. 144, 248 f., 162 (mit hiesigem Zitat)).
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gabe betraut werden, eine Früherkennung aus dem Ausland drohender Gefahren zu leisten, sofern diese eine „internationale Dimension“ aufwiesen132. Damit ist der Bundesnachrichtendienst nicht allein auf die politische Vorfeldaufklärung beschränkt133. Dabei würden die Nachrichtendienste weit im Vorfeld und unabhängig von einer konkreten Gefahr tätig, hätten weitreichende Befugnisse zur Datensammlung und erhöben ihre Informationen überdies geheim134. Dazu stünden ihnen nachrichtendienstliche Mittel im Sinne des § 8 II BVerfSchG zur Verfügung, wie Observationen, Bild- und Tonaufzeichnungen, der Einsatz von Vertrauensleuten und Tarnpapieren sowie Identitäten; im Bereich des Bundesnachrichtendienstes zudem die strategische Fernmeldeaufklärung gemäß § 5 G 10135 und die AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung. Es sei demgegenüber weder Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes noch des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Straftaten als solche zu bekämpfen zu verhüten oder zu verhindern, sondern die politisch verantwortlichen Staatsorgane zu informieren und zu Entscheidungen zu befähigen136. Polizeiliche, operative Exekutivbefugnisse stünden den Diensten schließlich gerade nicht zu und dürften diesen auch nicht im Wege der Amtshilfe seitens der Polizei zuteilwerden137. Die Nachrichtendienste sind nach diesem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts weder eine auf „IT-Aufklärung spezialisierte Geheimpolizei, noch eine Terrorismuspolizei“ 138. Sie sind keine Gefahrenabwehroder gar Strafverfolgungsbehörden und dienen der staatlichen Sicherheitsaufgabe durch ihre Informationserhebungen „allenfalls mittelbar“ 139. Das primäre Ziel der Nachrichtendienste sei „nicht die operative Gefahrenabwehr, sondern die politische Information“ 140.
132 BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 104); Zitat bei BVerfGE 154, 152 (233 f., Rn. 127 f.); K. F. Gärditz, Grundrechtliche Grenzen strategischer Ausland-Ausland-Telekommunikationsüberwachung, in: JZ 2020, S. 825 (828). 133 Unterstrichen in BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 104). 134 BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 103 f.); 133, 277 (325 f., Rn. 117). 135 BVerfGE 133, 277 (325, Rn. 117). 136 BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 127); BVerfGE 133, 277 (326, Rn. 118); 100, 313 (370 f.); dazu auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828; S. Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S. 333. 137 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 149, 249 f., Rn. 165 f., 267, Rn. 217); BVerfGE 133, 277 (326 f., Rn. 119). 138 So eindrücklich J. Masing, Nachrichtendienste im freiheitlichen Rechtsstaat, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Nachrichtendienste (Fn. 57), S. 3 (10), anlässlich des 1. Symposiums zum Recht der Nachrichtendienste in Berlin 2016. 139 Möstl, Garantie (Fn. 100), S. 407; von einer „mittelbaren“ Funktion geht auch Schafranek, Kompetenzverteilung (Fn. 93), S. 75, aus. 140 BVerfGE 133, 277 (326, Rn. 118); sehr kritisch zu dieser Beschränkung auf politische Information Unterreitmeier, Überwachung (Fn. 83), S. 3; so allerdings nunmehr erneut BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 103).
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Den „Polizei- und Sicherheitsbehörden“ obliege demgegenüber die Verhütung, Verhinderung und Verfolgung von Straftaten sowie die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung141. Ihre Aufgaben seien geprägt von einer „operativen Verantwortung“ und der Befugnis Maßnahmen gegenüber Einzelnen erforderlichenfalls auch mit (unmittelbarem) Zwang durchzusetzen142. Zwar handelten auch Polizei- und Sicherheitsbehörden in Ausübung gewisser Aufgaben bereits im Gefahrenvorfeld, jedoch sei ihr Einschreiten grundsätzlich an einen konkreten Anlass gebunden143. Dabei sei in aller Regel Vorrausetzung, dass Anhaltspunkte für einen Tatverdacht oder eine Gefahr vorlägen144. Zudem handele die Polizei in der Regel offen, indem sie zumindest die – wenn auch zuerst verdeckt erhobenen – Ermittlungsergebnisse gegenüber Betroffenen offenlege145. Die Rechtsordnung unterscheide mithin grundlegend zwischen der durch normenklare Vorgaben eingehegten, operativ sowie grundsätzlich offen arbeitenden Polizei und den im Verborgenen operierenden, zwecks politischer Information auf Beobachtung und Aufklärung im Vorfeld ausgelegten Nachrichtendiensten, die sich auf „weniger ausdifferenzierte Rechtsgrundlagen stützen können“ 146. Eine Geheimpolizei, die polizeiliche und nachrichtendienstliche Elemente vereine, sei unter dem Grundgesetz nicht vorgesehen147. b) Vermischung tradierter Aufgabenbereiche Die beinahe lehrbuchhafte Standortbestimmung des Bundesverfassungsgerichtes, insbesondere in der Entscheidung zur Antiterrordatei I, beschreibt ganz grundlegend das funktionelle bzw. aufgabenbezogene Verhältnis von Polizei und Nachrichtendiensten und dient – entgegen breiter Kritik – damit als guter Ausgangspunkt148. Polizei und Nachrichtendienste sind jedenfalls nach den Ausfüh141
BVerfGE 156, 11 (50 f., Rn. 102); 133, 277 (327, Rn. 120). BVerfGE 156, 11 (50 f., Rn. 102); 133, 277 (327, Rn. 120). 143 BVerfGE 133, 277 (327, Rn. 120); deutlich so auch Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 10. Dies unterstreicht den befugnisrechtlichen Befund einer grundsätzlichen Anbindung der Polizei an Einzelfälle, die durch die Anbindung an den Gefahrbegriff gekennzeichnet sind. 144 BVerfGE 133, 277 (327, Rn. 120). 145 BVerfGE 133, 277 (328, Rn. 121); kritisch zur Aussage des Gerichts, die Polizei arbeite „grundsätzlich offen“ mit Blick auf die Vielzahl verdeckter polizeilicher Maßnahmen Arzt (Fn. 124), § 1 ATDG Rn. 37. 146 So die eindrückliche wie komprimierte Zusammenfassung in BVerfGE 133, 277 (328 f., Rn. 122). 147 Ausdrücklich klargestellt in BVerfGE 133, 277 (328, Rn. 122). 148 Kritisch hingegen aus Sicht des Zweiten Senats des BVerfG W. Schluckebier, Sicherheitsgewährleistung zwischen politischer Gestaltung und verfassungsrechtlicher Bindung, in: J.-H. Dietrich/K. F. Gärditz/K. Graulich u. a. (Hrsg.), Reform der Nachrichtendienste zwischen Vergesetzlichung und Internationalisierung, 2019, S. 3 (7); zweifelnd ebenfalls Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 266 ff., konkret in Bezug auf das informationelle Trennungsprinzip, ferner S. 276 ff.; allgemein Arzt (Fn. 124), § 1 ATDG 142
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rungen des Senats zum (ursprünglichen) ATDG I von ihren hergebrachten Aufgaben erst einmal schlicht unterschiedlich149. Die Polizei dient der Gefahrenabwehr und die Nachrichtendienste der Vorfeldaufklärung als Frühwarnsystem zur Information von politischen Entscheidungsträgern150. Damit legte das Bundesverfassungsgericht die Grundlagen für die verfassungsgemäße Ausgestaltung der Sicherheitsarchitektur in Deutschland (seinerzeit) jedenfalls im Ansatz fest151. Allerdings unterliegen die Aufgaben von Nachrichtendiensten und Polizei, analog zu ihren Befugnissen, mannigfaltigen Änderungen und Vermischungstendenzen152. Ursprünglich waren für die Beobachtung des Gefahrenvorfeldes die Nachrichtendienste ausschließlich zuständig, eine Aufgabenüberschneidung mit
Rn. 24 jeweils m.w. N.; Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 8, kritisiert die Ausführungen indes als zu „schablonenhaft und unterkomplex“; sehr kritisch auch G. Warg, Der gesetzliche Auftrag der deutschen Nachrichtendienste, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. V § 1 Rn. 7 f., „etwas lebensfremd“; ablehnend ebenfalls M. Möstl, Stellungnahme im Rahmen der Anhörung des Ausschusses für Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Sport sowie für Verfassung, Recht und Parlamentsfragen des Bayerischen Landtags zu den Gesetzentwürfen der Staatsregierung für ein Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (Drs. 17/20425) und zur Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (Drs. 17/20763), S. 10, abrufbar unter https:// www.nopagby.de/wp-content/uploads/2018/05/Stellungnahme_M%C3%B6stl.pdf (20.10. 2018); kritisch zu der „etwas idealtypischen Typisierung“ ebenso S. Tanneberger, Eine Trendwende in der Sicherheitsverfassung?, in: VBlBW 2014, S. 41 (43). 149 M. Bäcker, Die Polizei im Verfassungsgefüge, in: ders./Denninger/Graulich, Handbuch Polizeirecht (Fn. 96), Kap. B. Rn. 246 f. betont freilich zu Recht, dass die jüngere BVerfG Rechtsprechung mehrere Deutungen zulasse, sich die Aufgabe der Nachrichtendienste jedoch zumindest nach der Prämisse des ATDG I-Urteils von derjenigen der Polizei zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung unterscheide; dem Senat beim ATDG I-Urteil zustimmend ebenfalls N. Bergemann, Die Freiheit im Kopf? – Neue Befugnisse für die Nachrichtendienste, in: NVwZ 2015, S. 1705 (1707). 150 Erneut betont in BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 103) – „Demgegenüber dienen die Nachrichtendienste primär der Information der politischen Entscheidungsträger“. Zum Ganzen auch komprimiert Bäcker, Terrorismusbekämpfung (Fn. 120), S. 127 f.; Roggan, Geheimdienste (Fn. 59), S. 426 m.w. N.; in Bezug auf den Verfassungsschutz auch ausdrücklich R. Poscher/B. Rusteberg, Die Aufgabe des Verfassungsschutzes, Zur funktionalen Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten, in: KJ 47 (2014), S. 57 (71). 151 M. Löffelmann, Gemeinsame Anhörung der Ausschüsse für Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Sport sowie für Verfassung, Recht und Parlamentsfragen am Mittwoch, den 21. März 2018 im Konferenzsaal des Maximilianeums, zu den Gesetzentwürfen der Staatsregierung für ein Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz, Drs. 17/20425) und zur Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (Drs. 17/20763), S. 7, abrufbar unter https://www.nopagby.de/wpcontent/uploads/2018/05/Stellungnahme-L%C3%B6ffelmann-PAG-E3.pdf (4.7.2018), spricht von einer „fundamentalen Bedeutung“ der Entscheidung. 152 Dazu vertieft Bormann, Informationsgewinnung (Fn. 92), S. 49 ff.; M. Baldus, Entgrenzung des Sicherheitsrechts – Neue Polizeirechtsdogmatik?, in: DV 47 (2014), S. 1 (1 ff.); Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 65), S. 116 ff.; F. Roggan/N. Bergemann, Die neue Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland – Anti-Terror-Datei, gemeinsame Projektdateien und Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz, in: NJW 2007, S. 876 (877 ff.); ebenso bereits Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 305 ff.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
der Polizei gab es insoweit nicht153. Ein wesentlicher Baustein der Erweiterung des polizeilichen Aufgabenfeldes kann in dem ausdrücklichen Auftrag zur Vorbeugung von Straftaten im Vorfeld an die Polizei gesehen werden (z. B. in § 1 I 2 PolG NRW), womit die Polizei in dem vormals Nachrichtendiensten vorbehaltenen Bereich des Vorfeldes agieren kann154. Dies gilt – bzw. galt bin in die jüngste Vergangenheit – indes grundsätzlich nur für den Bereich der Datenverarbeitung und den hiermit assoziierten Erhebungsbefugnissen, etwa normiert in § 1 V 2 PolG NRW155. Die Nachrichtendienste haben ebenfalls eine partielle Annäherung an originäre Gefahrenabwehraufgaben erfahren. Gerade bei der strategischen Fernmeldeaufklärung wurde – spiegelbildlich zur Erweiterung polizeilicher Vorfeldbefugnisse – bekanntermaßen vielfach eine aufgabenbezogene „Verpolizeilichung der Nachrichtendienste“ 156 diagnostiziert157. Durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 wurde die strategische Fernmeldeaufklärung erstmals und weitreichend auf Bereiche der internationalen Kriminalität ausgeweitet sowie eine Übermittlung von hieraus erlangten Daten und Erkenntnissen an Polizei und Strafverfolgungsbehörden eingeführt158. Teils ist hierin die Transformation des Bundesnachrichtendienst hin zu einer „geheimen Bundeskriminalpolizei“ 159 gesehen
153
Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 474. Bormann, Informationsgewinnung (Fn. 92), S. 53; Wolff, Grenzverschiebung (Fn. 86), S. 600; Schafranek, Kompetenzverteilung (Fn. 93), S. 111; Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 474. 155 Für die hergebrachte Rechtslage einer Unterscheidung von informationellen und aktionellen Befugnisnormen statt aller Barczak, Staat (Fn. 67), S. 496 ff., 504 ff., 521 ff. mit umfassenden Nachweisen; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 308; zu neuartigen Verschiebungstendenzen hin zu aktionellen Maßnahmen auch im Vorfeld durch die ex- bzw. implizite Aufnahme des Tatbestandmerkmals der „drohenden Gefahr“ im BayPAG und einzelnen Eingriffsschwellen im PolG NRW aber Kießling, Vorfeld (Fn. 120), S. 264 ff., 267; entschieden für eine Beschränkung der BKAG-Rechtsprechung auf Maßnahmen der Überwachung und Datenerhebung indes C. Enders, Verfassungsgrenzen der „drohenden Gefahr“, in: DÖV 2019, S. 205 (210); vgl. zur Debatte um die Implementierung des Tatbestandsmerkmals in den Polizeigesetzen der Länder auch jenseits terroristischer Gefahrenlagen ferner exemplarisch T. Holzner, Die drohende Gefahr, in: DÖV 2018, S. 946 ff.; A. Leisner-Egensperger, Polizeirecht im Umbruch: Die drohende Gefahr, in: DÖV 2018, S. 677 ff. 156 M. Kniesel, Gefahrenvorsorge, operatives Polizeirecht und Kriminalitätskontrolle, in: PFA-Schriftenreihe 3/96, S. 77 zit. nach Möstl, Garantie (Fn. 100), S. 408. 157 Zu der Diskussion um die Entwicklung der nachrichtendienstlichen Aufgaben etwa J.-H. Dietrich, Das Recht der Nachrichtendienste, in: ders./Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. III § 3 Rn. 7 f.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69); Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 168 ff., 236 ff.; Bäcker (Fn. 149), B. Rn. 251. 158 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz), BGBl. I, S. 3186. 159 Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 2 Rn. 22; Zustimmung bei F. Roggan, Strategische Rasterfahndung – der BND als Bundesgeheimpolizei?, in: ders./M. Kutscha (Hrsg.), Handbuch zum Recht der inneren Sicherheit, 2. Aufl. 2006, S. 435. 154
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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worden. Auf die Positionen ist an späterer Stelle noch allgemein wie kompetenzbezogen einzugehen160. Vorweggenommen werden kann aber schon, dass jedenfalls aus Sicht des Bundesverfassungsgerichtes – auch nach neuester, konkretisierter Rechtsprechung im BNDG-Urteil – eine Betrauung des Bundesnachrichtendienstes mit Aufgaben der Bekämpfung der organisierten Kriminalität mit dem Grundgesetz vereinbar ist, solange noch ein Bezug zur eigentlichen Kernaufgaben Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes gegeben ist und die anderweitigen Verwendungsmöglichkeiten diese Hauptaufgabe nicht überlagern161. Dem Dienst könnten deshalb nur Aufgaben und Befugnisse überantwortet werden, die außen- und sicherheitspolitisch von Bedeutung seien und eine „internationale Dimension“ aufwiesen162. Dies beinhalte aber auch die „Früherkennung von aus dem Ausland drohenden Gefahren“, solange diese sich nach Art und Bedeutung auf die Stellung der Bundesrepublik als Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt auswirken könnten163. Ferner wurden die Nachrichtendienste verstärkt in die Abwehr des Terrorismus eingebunden, womit eine Fokussierung auf konkretere Gefahrenlagen und eine personenbezogenere Überwachung einherging, wodurch sich die Dienste ein Stück weit vom Instrument der politischen Information entfernten164. Konkret für den Bundesnachrichtendienst sind hier Terrorakte, deren politische Ursprünge aus ungelösten internationalen Konfliktlagen herrühren, sowie Cyberattacken zu nennen165. Mit seiner jüngsten Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht – dies wird man nicht bestreiten können – jedenfalls für den Bundesnachrichtendienst eine Präzisierung seines Aufgabenbildes vorgenommen und die Gefahrenfrüherkennung stärker in den Fokus gerückt166. Eine grundlegende Änderung der Ausrichtung der Nachrichtendienste, konkret des Bundesnachrichtendienstes, kann hieran aber 160 Zu den Positionen aus der Literatur im Zusammenhang mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz noch unter C. III. 1. c); siehe zur kompetenzrechtlichen Frage der formellen verfassungsrechtlichen Anforderungen E. III. 1. 161 BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 127), mit Verweis auf BVerfGE 100, 313 (370); zum Urteil zur strategischen Fernmeldeaufklärung Zusammenfassung durch V. Götz, Innere Sicherheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 85 Rn. 40. 162 BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 127). 163 BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 104); 154, 152 (233 f., Rn. 128). 164 Dazu Bäcker, Terrorismusbekämpfung (Fn. 120), S. 134 f.; konzise Zusammenfassung der Verpolizeilichung der Nachrichtendienste in der Analyse von H. A. Wolff, Überblick über die föderale Sicherheitsstruktur. Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung vor dem Ersten Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages der 19. Wahlperiode, AS-Drs. 18(25)240, S. 27. 165 BVerfGE 154, 152 (233 f., Rn. 128). 166 Siehe J.-H. Dietrich, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nach §§ 6 ff. BNDG – Zusammenfassung und Anmerkung, in: GSZ 2020, S. 173 (175), der hierin zugleich eine Einordnung des BND als „Sicherheitsbehörde im Gefüge vernetzter Sicherheitsakteure“ sieht; ähnlich Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828, 830, der hierin eine Abkehr vom Bild des BND, wie es in der ATDG I-Entscheidung entworfen wurde, sieht.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
nicht festgemacht werden167. Die Absicherung und Ermöglichung außenpolitischer Entscheidungen bleibt auch nach neuester Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts168 ausdrücklich „primäre Aufgabe der Auslandsaufklärung“ 169. Die Aufgabenbereiche von Polizei und Nachrichtendiensten können aufgrund der vorgenannten Entwicklungen nicht mehr durchgehend randscharf voneinander abgegrenzt werden, was auch die Kritiker des Bundesverfassungsgerichts und der schematischen Aufteilung von Kompetenzbereichen in seiner Rechtsprechung, jedenfalls in der ATDG I-Entscheidung, maßgeblich vorbringen170. Allerdings verbleibt den Nachrichtendiensten die Beobachtung legaler Bestrebungen, die sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten, als originär eigener Bereich171. Der Bundesnachrichtendienst hat in seinem hergebrachten Aufgabenfeld der reinen Auslandsaufklärung mit Informationen für die außenund sicherheitspolitische Lage der Bundesrepublik ebenso ein eindeutiges Alleinstellungsmerkmal172. Wie das Bundesverfassungsgericht betont, obliegt den Nachrichtendiensten zudem die Aufklärung von Bestrebungen, die sich gegen das Gemeinwesen und die verfassungsrechtliche Ordnung als Ganzes richten, also der grundlegende Staats- und Verfassungsschutz173. Die Polizei als Sicherheitsbehörde wehrt demgegenüber sämtliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ab und verfolgt zusammen mit den Staatsanwaltschaften Delikte der gesamten Bandbreite der Kriminalität. Überschneidungen der Aufgabenbereiche können sich mithin nur im Feld des Staatsschutzes ergeben – hier sind beide tätig174. In diesem Überschneidungsbereich übernehmen Nachrichtendienste neben der politischen Information teils auch die Funktion von Sicherheitsbehörden, wenn sie etwa Anschlagspläne aufdecken und die Informationen zur Gefahrenabwehr weiterleiten oder wenn der Bundesnachrichtendienst mittels strategischer Fernmeldeaufklärung internationale Migrationsbewegungen analysiert, mit denen sogenannte Gefährder in die Bundesrepublik eingeschleust werden sollen175. Die 167
Einschränkend auch BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 104). Unterreitmeier, Funktion (Fn. 125), S. 179 sieht im ATDG II-Beschluss sogar eine „Rückkehr zur politischen ,Primärfunktion‘“. 169 Pointiert BVerfGE 154, 152 (233 f., Rn. 128) – Hervorhebung nur hier; hierauf geht Dietrich, ebda., S. 180, erst im Übermittlungskontext ein. 170 Siehe für die Positionen die Nachweise in Fn. 148. Nunmehr auch dahingehend BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 104). 171 Darauf weist Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 477, hin. 172 BVerfGE 154, 152 (233 f., Rn. 127 f.). 173 Zu diesen globalen Bedrohungslagen, namentlich durch den internationalen Terrorismus BVerfGE 143, 101 (139, Rn. 125); 141; 220 (266, Rn. 96); zur Funktion der Nachrichtendienste insoweit BVerfGE 133, 277 (326, Rn. 118). 174 Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 43 f. 175 Insoweit ist Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828; sowie dems., Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 9, insb. Fn. 35 zuzustimmen; allgemein und weitergehender für eine Einordnung der Nachrichtendienste als Sicherheitsbehörden ders., Zustand der föderalen Sicherheitsarchitektur und Terrorismusbekämpfung. Stellungnahme zur Sach168
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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Dienste sind jedoch keine genuinen Gefahrenabwehr- oder gar Strafverfolgungsbehörden, wie das Bundesverfassungsgericht in der ATDG I-Entscheidung überzeugend klargestellt hat176, sondern bilden in der Sicherheitsarchitektur unter dem Grundgesetz richtigerweise eine eigene, dritte Kategorie als primär originäre Informationsdienstleister177. Sie sind – mit den Worten des Ersten Senats – aber Teil des übergeordneten „Sicherheitssystems“ der Bundesrepublik Deutschland178. Überschneidungen in Einzelfeldern bleiben hiervon freilich unberührt – diese sind jedoch nur Folge, nicht originärer Zweck nachrichtendienstlicher Tätigkeit. An der grundlegenden Unterscheidung – die Zusammenarbeit in der Sicherheitsarchitektur freilich nicht von vornherein ausschließt –, sollte indes festgehalten werden. c) Materiell-rechtliche Konsequenzen organisationsrechtlicher Differenzierung – (De-)Privilegierung der Nachrichtendienste? Die unterschiedliche Aufgabenverteilung von Polizei (Gefahrenabwehr) und Nachrichtendiensten (politische Information mittels Vorfeldaufklärung) bietet – eigentlich – den Ansatz einer Differenzierungsmöglichkeit hinsichtlich der verfassungsrechtlich determinierten Mindesteingriffsschwelle von polizeilichen und nachrichtendienstlichen Mitteln179. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes war es gerade aufgrund der Andersartigkeit von Polizei und Diensten verfassungsrechtlich ganz grundsätzlich vertretbar, die Eingriffsschwelle für nachrichtendienstliche Maßnahmen niedriger anzusetzen sowie verständigenanhörung am 17. Mai 2018, AS-Drs. 19(25)251, S. 19; ferner Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 289 ff.; Dietrich (Fn. 157), § 3 Rn. 5, 28 f.; ausdrücklich gegen eine Einordnung von „Geheimdiensten“ als Sicherheitsbehörden etwa F. Rachor/ F. Roggan, Organisation der Sicherheitsbehörden und Geheimdienste, in: Bäcker/Denninger/Graulich, Handbuch Polizeirecht (Fn. 96), Kap. C. Rn. 101; F. Roggan, Legislative Entgrenzungen im Bereich der „Terrorismusbekämpfung“ – Eine unvollständige Bilanz der letzten zehn Jahre, in: ZRP 2017, S. 208 (210 f.). 176 BVerfGE 133, 277 (326, Rn. 118, 327, Rn. 120). 177 Möstl, Garantie (Fn. 100), S. 407, spricht diesbezüglich von einer „Hilfsfunktion“ – Hervorhebung im Original; a. A. erneut Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 289 ff.; ferner Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 11; ders. (Fn. 148), § 1 Rn. 8, der die Nachrichtendienste generell als Gefahrenabwehrbehörden einstufen will; a. A. in Ansehung der BNDG-Entscheidung wohl auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 175. 178 So jedenfalls BVerfGE 143, 101 (139, Rn. 126), jedoch ohne konkretere Festlegung zum Bezug zu präventiv-polizeilichen und Strafverfolgungsbehörden. Allerdings wohnt der Entscheidung eine gewisse Tendenz inne, die Nachrichtendienste als unmittelbare Antwort auf terroristische Bestrebungen zu verstehen. Hier soll der Begriff des „Sicherheitssystems“ indes als übergeordneter Terminus verstanden werden, der alle drei Arten von Behörden – bei Aufrechterhaltung ihrer spezifischen Eigenständigkeit – vereint. 179 Ausführlich zu materiell-rechtlichen Auswirkungen des Aufgabenprofils in Bezug auf das Bundesamt für Verfassungsschutz auch Poscher/Rusteberg, Aufgabe (Fn. 150), S. 65 ff.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
die Befugnisse weniger ausdifferenziert zu gestalten, sowohl hinsichtlich der konkreten Beobachtungsfelder als auch der jeweils einsetzbaren Mittel180. Diesem Aufgabenprofil entspricht die Tatsache, dass die Nachrichtendienste keine polizeilichen Zwangsbefugnisse besitzen181. Durch die Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten ergab sich für letztere erst eine weitgefächerte Einsatzbreite und grundsätzlich die Möglichkeit, grundrechtsinvasive Maßnahmen durchzuführen, ohne den detaillierten, formalisierten Eingriffsvoraussetzungen präventiv-polizeilicher Natur unterworfen zu werden182. Aus dem spezifischen Aufgabenprofil der Nachrichtendienste folgte hiernach durchaus ein „verfassungsrechtliches Privileg“ 183. Die Nachrichtendienste konnten nach dieser Grundkonzeption somit grundsätzlich auch jenseits der tradierten Gefahrenschwelle Informationseingriffe vornehmen184. Sie waren nicht an die „sicherheitsrechtliche Normallage“ des klassischen Polizeirechts mit seiner Generalklausel und der Gefahr-StörerDogmatik gebunden185. Das befugnisrechtliche und funktionale Trennungsgebot wirkten sich mithin auf den materiellen Rechtsrahmen der Nachrichtendienste aus. Würden hingegen Nachrichtendienste in vergleichbarem Rahmen wie die Polizei den präventiv agierenden Sicherheitsbehörden zugeordnet, müssten die Dienste nach diesem Modell folgerichtig wohl den für den Bereich der Gefahrenabwehr jeweils geltenden Eingriffshürden und formalen Anforderungen unterstellt werden186.
180 BVerfGE 133, 277 (325, Rn. 117); 130, 151 (206); 125, 260 (331 f.); 120, 274 (330) auch in Bezug auf die strategische Fernmeldeaufklärung; grundlegend BVerfGE 100, 313 (383); für die Literatur stellvertretend Barczak, Staat (Fn. 67), S. 499 f.; Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 260 f.; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 218 f.; insbesondere so auch bereits Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 358. Nunmehr allerdings wieder mehr betont in BVerfGE 156, 11 (50 ff., 102 ff.). 181 BVerfGE 133, 277 (326 f., Rn. 119). 182 Dies sieht Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 21 aus Sicht der Nachrichtendienste positiv; dahingehend auch J. Unterreitmeier, Folgewirkungen des BKAG-Urteils für die Nachrichtendienste?, Eine Erwiderung auf Siems, NWVBl. 2018, 1 ff., in: NWVBl. 2018, S. 227 (231); Poscher/Rusteberg, Aufgabe (Fn. 150), S. 65 f.; Möstl, Garantie (Fn. 100), S. 407. 183 So die Wertung bei M. Bäcker, Sicherheitsarchitektur und Terrorismusbekämpfung. Stellungnahme für die Anhörung des 1. Untersuchungsausschusses der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages am 17. Mai 2018, AS-Drs. 19(25)249, S. 17, allerdings explizit auf Verfassungsschutzbehörden bezogen, was jedoch auf den Bundesnachrichtendienst unmittelbar übertragbar ist; allgemein auch ders. (Fn. 149), B. Rn. 249; mit Verweis auf Möstl, Garantie (Fn. 100), S. 407. 184 So auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 364; Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 358 f. 185 Zu dieser Normallage ausführlich Barczak, Staat (Fn. 67), S. 464 ff. 186 Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 21; Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 17; ders. (Fn. 149), B. Rn. 250; gegen eine undifferenzierte Übertragung Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 4.
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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Das nachrichtendienstliche Privileg galt jedoch nie per se und in allen Eingriffskonstellationen. So hat das Bundesverfassungsgericht – schon vor der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – in den hochinvasiven Fällen der Vorratsdatenspeicherung und Online-Durchsuchung eine Privilegierung der Nachrichtendienste ausdrücklich abgelehnt187. Damit galten die von der Rechtsprechung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entwickelten Grenzen jedenfalls bei besonders eingriffsintensiven Maßnahmen grundsätzlich auch für die Nachrichtendienste188. Je höher also die Eingriffsintensität einer heimlichen Überwachungsmaßnahme ist, desto weiter werden die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die nachrichtendienstlichen Erhebungsbefugnisse denen des allgemeinen Gefahrenabwehrrechtes angenähert (sogenannte Konvergenztheorie)189. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sich bei den ver187 BVerfGE 125, 260 (331 f.) allgemein, allerdings mit Privilegierung der strategischen Fernmeldeaufklärung auf S. 330, BVerfGE 120, 274 (329 ff.); dahingehend auch BVerfGE 115, 320 (359 f.) zur präventiv-polizeilichen Rasterfahndung im Vergleich zur strategischen Fernmeldeaufklärung, auf die explizit Bezug genommen wird; zu Datenübermittlungen an die Nachrichtendienste bei präventiv-polizeilicher Wohnraumüberwachung und bei Online-Durchsuchungen BVerfGE 141, 220 (S. 339 f., Rn. 320); Art. 13 IV GG sieht ferner eine Differenzierung hinsichtlich der handelnden Behörden bei einer Wohnraumüberwachung nicht vor; zu dieser Einschränkung des nachrichtendienstlichen Privilegs maßgeblich Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 22; Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 12 ff.; zur Konvergenz der Eingriffsschwellen von Polizei und Nachrichtendienste bei der Vorratsdatenspeicherung C. Dieterle, Neuer Zugriff des Verfassungsschutzes auf Vorratsdaten, in: ZD 2016, S. 517 (518 ff.); allgemein ferner Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 357 f.; ausführlich zu den Besonderheiten der Eingriffsschwellen nachrichtendienstlicher Befugnisse Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 334, 363 ff., mit Hinweis auf Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 164; dies blendet aus Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 260 f., der das Eingriffsgewicht nicht berücksichtigt und somit – entgegen der Rechtsprechung des BVerfG – letztlich unterkomplex zu einer pauschalen Privilegierung der Nachrichtendienste gelangt. 188 Ausdrücklich BVerfGE 125, 260 (331); instruktiv Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 8, der tendenziell noch weitergeht und eine Annäherung auch bei „lediglich“ eingriffsintensiven Maßnahmen annimmt; siehe auch erneut Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 22; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 219; anders noch BVerfGE 100, 313 (383 ff.) – Privilegierung der strategischen Fernmeldeaufklärung trotz hoher Eingriffsintensität. 189 Zum Begriff Roggan, Geheimdienste (Fn. 59), S. 426; pointiert mit klarer Darlegung dieser Annäherungslinien erneut der Beitrag von Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 8 f., der überdies eine generelle Tendenz der Rechtsprechung zur Angleichung von nachrichtendienstlichen Befugnissen an die Bestimmtheitsanforderungen, die auch für andere Sicherheitsbehörden gelten, diagnostiziert. Dies ist deswegen besonders interessant, da Masing Berichterstatter im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung war. Maßgeblich für eine Konvergenz von nachrichtendienstlichen und polizeirechtlichen Anforderungen an Eingriffsgrundlagen bei besonders eingriffsintensiven Maßnahmen der Beitrag von Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 22; ders. (Fn. 149), B. Rn. 249; ders., Terrorismusbekämpfung (Fn. 120), S. 145 f.; ihm folgt M. Hong, Der Einsatz von V-Leuten und verdeckten Mitarbeitern zwischen sicherheitspolitischer Notwendigkeit und verfassungsrechtlichen Grenzen, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Vergesetzlichung (Fn. 148), S. 45 (61 ff.); a. A.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
fassungsgerichtlichen Judikaten zu nachrichtendienstlichen Befugnissen bisher nur um vereinzelte Entscheidungen zu sehr spezifischen Eingriffsinstrumenten handelte190. Eine konsolidierte Dogmatik zu den spezifischen Anforderungen an heimliche, nachrichtendienstliche Überwachungsmaßnahmen existiert, jedenfalls im Schrifttum, noch nicht191. Die wissenschaftliche Diskussion über eine kohärente, übergreifende Ordnungsidee, jenseits fragmentarischer Einzelansätze, für das Recht der Nachrichtendienste unter dem Grundgesetz ist noch nicht annähernd abgeschlossen192. Dabei gilt es grundsätzlich, den genauen Standort der Nachrichtendienste in der bundesdeutschen Sicherheitsarchitektur, nämlich als primäre Informationsdienstleister der politisch Verantwortlichen mit eigenen Vorfeldaufklärungsbefugnissen, zu berücksichtigen193. Anders stellt sich die Lage derweil im polizeilichen Gefahrenabwehrrecht dar. Eine Diskussion im Schrifttum rankt sich um die Frage, inwieweit die zu den heimlichen präventiv-polizeirechtlichen informationellen Vorfeldbefugnissen des BKAG ergangene Rechtsprechung auf das Recht der Nachrichtendienste übertragbar ist194. In der ausladenden Entscheidung führt das Gericht nach eigener Aussage eine lange Rechtsprechung zu den Voraussetzungen heimlicher Überwa-
entschieden J. F. Lindner/J. Unterreitmeier, Grundlagen einer Dogmatik des Nachrichtendienstrechts, in: DÖV 2019, S. 165 (172 f.), die eine „sicherheitsrechtliche Konvergenztheorie“ ablehnen, da aufgrund der fehlenden Exekutivbefugnisse der Nachrichtendienste diesen gerade bei eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen weitreichendere Überwachungsbefugnisse zustehen müssten als den präventiv-polizeilichen Behörden; im Ergebnis wohl auch a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 206 f., allerdings ohne Auseinandersetzung mit der Konvergenztheorie. 190 Zu nachrichtendienstlichen Ermächtigungen bislang BVerfGE 133, 277; 130, 151 (206); 125, 260 (331 f.); 120, 274 sowie zur hier besonders interessierenden strategischen Fernmeldeaufklärung BVerfGE 100, 313; 67, 157; 30, 1; eine sehr gute tabellarische Übersicht über die Verfassungsgerichtsrechtsprechung zum Sicherheitsrecht – nicht begrenzt auf rein nachrichtendienstliche Entscheidungen – mit Verweis auf die amtliche Entscheidungssammlung bietet Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 2. 191 So Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 21; Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 9 fordert die Ausbildung einer eigenständigen „Sonderdogmatik“ für den Bereich der nachrichtendienstlichen Aufklärung; für eine „Deprivilegierung“ der „Geheimdienste“ und damit auch gegen eine isolierte nachrichtendienstliche Seperatdogmatik hingegen pointiert Wegener, Verfassung (Fn. 115), S. 312 ff.; eine inkonsistente Rechtsprechung, insbesondere mit Blick auf die strategische Fernmeldeaufklärung, diagnostiziert Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 365 ff. 192 Instruktiv hierzu Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 165, unter Verweis auf Dietrich (Fn. 157), § 3 Rn. 71; siehe zur Diskussion über die Reformbedürftigkeit der nachrichtendienstlichen Eingriffstatbestände mit Lösungsmöglichkeiten maßgeblich M. Bäcker, Zur Reform der Eingriffstatbestände im Nachrichtendienstrecht, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Nachrichtendienste (Fn. 57), S. 137 (137 ff.). 193 So der korrekte Appell von C. Gusy, Reformperspektiven des Rechts der Nachrichtendienste, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Vergesetzlichung (Fn. 148), S. 19 (26). 194 BVerfGE 141, 220; zur Diskussion über die Übertragbarkeit auf Nachrichtendienste im Überblick Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 166 m. Fn. 16.
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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chungsmaßnahmen zusammen195. Insgesamt ist das Urteil als Leitentscheidung abgefasst, die – nicht unumstritten – verschiedene Linien im Sicherheitsrecht verbinden und konsolidieren soll196. Dazu werden tief ins Detail gehende Anforderungen an heimliche Überwachungsmaßnahmen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, namentlich der Angemessenheit, abgeleitet197. Trotz des selbst gesteckten holistischen Anspruchs des Bundesverfassungsgerichts bleiben freilich auch nach der Entscheidung Unsicherheiten bestehen oder werden gar vermehrt, da die Ausführungen des Gerichts, insbesondere hinsichtlich der Grenzen des präventiv-polizeilichen informationellen Vorfeldrechts und der (Neu-)Bestimmung des „drohenden“ bzw. „hinreichend konkretisierten“ Gefahrbegriffes durch Personalisierungstendenzen, reichlich Interpretationsspielräume – nicht zuletzt auf Seiten des Gesetzgebers – lassen198. In dem grundsätzlich zu befürwor195 Pressemitteilung des BVerfG zum BKAG-Urteil, abrufbar unter https://www. bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/bvg16-019.html (22.10.2018); hierzu auch Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 71; zur BKAG-Entscheidung als Grundsatzurteil aus der Binnenperspektive J. Masing, Überwachung durch Polizei oder Nachrichtendienste – Stellungnahme zum Beitrag von Johannes Unterreitmeier, in: GSZ 2018, S. 6 (6); Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 889, spricht von einer eher „akademischen Buchbesprechung“, die sich das BVerfG in eigener Sache attestiere. 196 So die Wertung bei J. F. Lindner/J. Unterreitmeier, Die „Karlsruher Republik“ – wehrlos in Zeiten des Terrors?, in: DÖV 2017, S. 90 (91); eine Konsolidierung seitens des BVerfG nimmt auch Siems, Folgewirkungen (Fn. 98), S. 1, an. Zur weitreichenden Kritik am BVerfG, dass sich der Senat mit dieser detaillierten Entscheidung zum Ersatzgesetzgeber aufschwinge, statt vieler H.-H. Trute, Rechtsprechungsanalyse, Zur Entwicklung des Polizei- und Ordnungsrechts 2013–2019, in: DV 53 (2020), S. 99 (104 f.) – „enzyklopädische Gebrauchsanweisung für den Gesetzgeber“; Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 990 ff. m.w. N.; kritisch auch Unterreitmeier, Überwachung (Fn. 83), S. 1 ff.; Siems, Folgewirkungen (Fn. 98), S. 7; siehe auch die Sondervoten der Richter Eichberger, BVerfGE 141, 220 (353 ff., Rn. 2 ff.) und Schluckebier, BVerfGE 141, 220 (362 ff., Rn. 2 ff.); zur Antikritik Bäcker, Terrorismusbekämpfung (Fn. 120), S. 149 ff., der betont, dass eine rein „kassatorische“ Rechtsprechung des BVerfG jenseits des konkreten Einzelfalles auch nicht weiterhelfe, da offenbliebe, welche Vorgaben genau eine verfassungskonforme Regelung von Überwachungsbefugnissen denn ermöglichten; positive Rezeption des Urteils auch bei Buchholz, Sonderopfer (Fn. 107), S. 909; differenziert ferner Gusy, Reformperspektiven (Fn. 193), S. 23. 197 Kritische Analyse bei Schluckebier, Sicherheitsgewährleistung (Fn. 148), S. 14 f.; Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 889 ff. 198 Siehe dazu etwa ausführlich M. Bäcker, Von der Gefahr zum „Gefährder“, in: Kulick/Goldhammer, Feind (Fn. 66), S. 147 (148 ff.); Barczak, Staat (Fn. 67), S. 521 ff. – „überwiegend personenbezogener Gefahrverdacht“; Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 73 ff., mit Andeutung und Nachweis der unterschiedlichsten Positionen zum Stichwort „drohende Gefahr“; Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 8 Rn. 15 ff. Begrifflich wählt der Erste Senat in einer seiner jüngsten Entscheidungen zur Bestandsdatenauskunft II auch den Terminus einer „hinreichend konkretisierten Gefahr“, BVerfGE 155, 119 (187 f., Rn. 148), freilich unter Verweis auf BVerfGE 141, 220 (272, Rn. 112), parallel zur weiterhin bemühten „im Einzelfall drohenden Gefahr“; zu dieser Entscheidung bisweilen kritisch wie zum Begriff der „drohenden Gefahr“ M. Löffelmann, Regelungen zur Bestandsdatenauskunft verfassungswidrig (Bestandsdatenauskunft II) – Anmerkung, in: GSZ 2020, S. 182 (184 ff.), der auch durch diese sicherheitsrechtliche
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
tenden Bestreben, einheitliche Maßstäbe zumindest für präventiv-polizeiliche Ermächtigungen zu finden, kann durchaus die Ausdifferenzierung einer eigenen Sicherheitsverfassung199 gesehen werden, die maßgeblich auf Verhältnismäßigkeitserwägungen beruht und durch ebensolche Leitentscheidungen geprägt ist200. Teils wird von einer grundsätzlichen Übertragbarkeit des Judikats, jedenfalls auf eingriffsintensive nachrichtendienstliche Befugnisse, ausgegangen, da das Bundesverfassungsgericht sich ausschweifend mit heimlichen Erhebungsmaßnahmen des Bundeskriminalamtes befasst habe, was gerade eine Anwendung der Maßstäbe auf die klandestin operierenden Dienste besonders nahelege201. Dem wird mit dem Verweis auf eine wesentlich geminderte grundrechtliche Gefährdungslage von nachrichtendienstlichen Eingriffen und unter Rekurs auf die vom Entscheidung – wohl in einer Linie mit der Kritik am BKAG-Urteil – eine drohende „Hypertrophie des Rechts“ durch die Rechtsprechung des BVerfG befürchtet. Zu den Einschreitschwellen noch unter F. III. 4. d) bb). 199 Zum Begriff und seinem Inhalt ausführlich monographisch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 8 ff.; zur Sicherheitsverfassung als Teilverfassungsrechtsordnung unlängst Bäcker, Terrorismusbekämpfung (Fn. 120), S. 119 f.; maßgeblich bereits so schon R. Poscher, Sicherheitsverfassungsrecht im Wandel, in: T. Vesting/ S. Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S. 245 (260 ff.). 200 Wertung bei Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 7; das BVerfG spricht mittlerweile von den Grundsätzen eines „allgemeinen Sicherheitsrechts“, BVerfG NVwZ 2019, 381 (389, Rn. 105, 392, Rn. 128, 392, Rn. 131, 392, Rn. 133); eine durch langjährige Rechtsprechung entwickelte Kasuistik im Sicherheitsrecht, die so weit fortgeschritten sei, dass das Gericht nicht mehr auf einzelne Entscheidungen, sondern auf die Grundsätze eben dieses „allgemeine[n] Sicherheitsrecht[s]“ verweisen könne, diagnostiziert zu Recht B. Rusteberg, Zwischen modernem Sicherheitsrecht und klassischem Polizeirecht – Die Entscheidungen zur automatisierten Kennzeichenkontrolle, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/zwischen-modernem-sicherheitsrechtund-klassischem-polizeirecht-die-entscheidungen-zur-automatisierten-kennzeichenkon trolle (8.2.2019); siehe dazu auch Barczak, Rechtsbegriff (Fn. 66), S. 108 f. 201 Siems, Folgewirkungen (Fn. 98), S. 3 f.; bei der Diskussion um eine Anpassung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes wurde im Rahmen der parlamentarischen Beratungen ebenfalls die Frage nach der Übertragbarkeit der Entscheidung zum BKAG auf die Nachrichtendienste bzw. das Verhältnis der Entscheidung zum BKAG zu derjenigen zum ATDG I virulent. Aus dieser Sachverständigenanhörung siehe die einschlägigen Gutachten von T. Petri, Gemeinsame Anhörung zu den Gesetzentwürfen der Staatsregierung für ein Gesetz zur Neuordnung des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (Drs. 17/20425) und zur Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (Drs. 17/20763), Stellungnahme zum Fragenkatalog, abrufbar unter https://www.nopagby. de/wp-content/uploads/2018/05/Stellungnahme_Datenschutzbeauftragter_BayVSG.pdf (20.10.2018), S. 2 ff.; K. Graulich, Gutachterliche Anmerkungen zu den Gesetzentwürfen der Bayerischen Staatsregierung vom 20.02.2018 zur Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (LT-Drs. 17/20763) und vom 30.01.2018 für ein Gesetz zur Neuordnung des Bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz (LT-Drs. 17/20425), abrufbar unter https://www.nopagby.de/wp-content/uploads/2018/05/Stellungnahme_ Graulich1.pdf (20.10.2018), S. 22); Zusammenfassung der Sachverständigenbeiträge und der gesetzlichen Änderungen am BayVSG, mit dezidiert kritischem Blick auf die unmittelbare Übertragbarkeit der BKAG-Rechtsprechung auf Nachrichtendienste, bei J. Unterreitmeier, Das Gesetz zur Änderung des Bayrischen Verfassungsschutzgesetzes 2018 – ein Update zum BKAG-Urteil des BVerfG, in: BayVBl. 2019, S. 37 (37 ff.).
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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Bundesverfassungsgericht im ATDG I-Urteil getroffene Unterscheidung teils vehement entgegengetreten202. Dabei wird maßgeblich auch mit der befugnisrechtlichen Trennung und den fehlenden Exekutivbefugnissen der Nachrichtendienste argumentiert, was eine erhebliche Minderung der Eingriffsintensität bewirke203. Bei einer möglichen Übertragbarkeit der Maßgaben des BKAG-Urteils wird teils sogar der Sinn der Nachrichtendienste als solcher in Frage gestellt – für das bloße Ausschneiden und Sammeln von Zeitungsartikeln benötige man keine eigenständigen Behörden; dann sei der Weg zu einer tatsächlichen Geheimpolizei geebnet, die Vorfeld- mit polizeilichen Eingriffsbefugnissen kombiniere204. Das Bundesverfassungsgericht hat indes unlängst in der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – weitergeführt im Beschluss zur Bestandsdatenauskunft II – neue Fakten geschaffen205: Ohne auf die in der Literatur geäußerten Meinungen und Bedenken sowie grundsätzliche Überlegungen – noch weithin ausstehender – übergreifender Dogmatikbildung im Bereich der Nachrichtendienste einzugehen, erklärt der Erste Senat in einem Nebensatz, dass die im Urteil zum BKAG entwickelten Anforderungen für „geheime Überwachungsmaßnahmen durch Sicherheitsbehörden“ auch maßstäblich für Überwachungsmaßnahmen der Nachrichtendienste seien206. Ob nach dieser Rechtsprechung die Nachrichtendienste selbst gleichfalls als Sicherheitsbehörden eingestuft werden oder auch weiterhin neben diesen funktional eigenständig sind – wie hier vertreten – bleibt offen; dieser Aspekt wird aber von einer materiell-rechtlichen Frage zu einer terminologischen. Das Ergebnis der neuesten Rechtsprechung ist in der Sache nämlich eindeutig: Das Erfordernis einer konkrete Umstände voraus202 Ostentativ der Beitrag von Unterreitmeier, Überwachung (Fn. 83), S. 1 ff. et passim; ders., Folgewirkungen (Fn. 182), S. 227 ff.; milder indes Lindner/ders., Grundlagen (Fn. 189), S. 171, die zumindest ganz grundsätzlich eine Übertragbarkeit bejahen; gegen eine Übertragbarkeit des BKAG-Urteils indes auch Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 8; differenziert Gusy, Reformperspektiven (Fn. 193), S. 23, der jedenfalls eine Übertragbarkeit „eins zu eins“ ablehnt. Dies dürfte den Mittelweg der Positionen darstellen. 203 Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 12. 204 Unterreitmeier, Überwachung (Fn. 83), S. 5 f. 205 Zur Tendenz einer Konvergenz der Anforderungen an die präventiv-polizeiliche und nachrichtendienstliche Tätigkeit in der Rechtsprechung des BVerfG schon vor dem BKAG- und BNDG-Urteil vorsichtig schon Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 365 ff. 206 BVerfGE 154, 152 (239 f., Rn. 141, 244 f. Rn. 155 f.); nunmehr dahingehend auch BVerfGE 155, 119 (186 f., Rn. 146, 200 f., Rn. 177); T. Petri, Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nach dem BND-Gesetz in ihrer derzeitigen Form, Anmerkung, in: ZD 2020, S. 410 (411), betont ebenfalls, dass der Erste Senat im BNDG-Urteil „überwiegend auf seine Rspr. zur heimlichen polizeilichen Datenverarbeitung“ zurückgreife und „die dort entwickelten Maßstäbe ausdrücklich auch auf Überwachungsmaßnahmen der Nachrichtendienstes (also nicht nur des BND)“ erstrecke“ – Hervorhebung im Original. Dies gilt – insoweit erscheint die Formulierung zu pauschal – freilich nur grundsätzlich; die Tendenz des Ersten Senats dahingehend bereits angedeutet durch Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 8 f.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
setzenden Eingriffsschwelle, welche Grundrechtseingriffe begrenze, diese an „objektivierte Voraussetzungen“ binde und mithin eine „Kontrolle anhand für sich stehender Kriterien“ ermögliche, gelte „im Grundsatz“ auch für Nachrichtendienste207. Aus allgemeiner sicherheitsrechtlicher Warte – insbesondere aus Sicht des Nachrichtendiensterechts insgesamt – ist dies das punctum saliens der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Der Erste Senat beruft sich zur Untermauerung dieses fulminanten Ergebnisses208 gerade auch auf seine Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung und zur Online-Durchsuchung, in denen er – richtigerweise und insoweit im Einklang mit der zustimmungswürdigen Konvergenztheorie – ohnehin schon eine Privilegierung der Nachrichtendienste angesichts der besonders hohen Intensität dieser Grundrechtseingriffe abgelehnt hatte209. Die bisherige Linie des Gerichts, die den Nachrichtendiensten zumindest jenseits hoch- und höchstinvasiver Überwachungsmaßnahmen (erheblich) mehr rechtsstaatliche Beinfreiheit – jeweils freilich abhängig von den konkret in Rede stehenden Befugnissen – gelassen hatte, bleibt jedoch unerwähnt210. Die Aussage des Ersten Senats überrascht und ist in dieser – möglicherweise im Ansatz nicht erstrebten211 – Pauschalität sicherlich zumindest diskussionswürdig212. Es wird jedenfalls einer nuancierten Prüfung von jeweiligen Einzelbefugnissen der Nachrichtendienste und deren Eingriffsintensität – als zentraler Maßstab, an dem sich die materiellen Anforderungen in der Folge ausrichten213 – 207 So ausdrücklich BVerfGE 154, 152 (244 f. Rn. 155 f.). Die vorhergehende abstrakte Maßstabsbeschreibung in der Rn. 141 kommt noch gänzlich ohne eine solche Einschränkung aus. So auch schon vor der Entscheidung tendenziell der Berichterstatter im BNDG-Verfahren Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 8 f.; ähnlich jetzt auch BVerfGE 155, 119 (187, Rn. 146) zu Übermittlungsbefugnissen – „Das grundsätzliche Erfordernis einer auf Anhaltspunkte im Tatsächlichen gestützten konkretisierten Gefahr [im Sinne des Polizeirechts] gilt für die Nachrichtendienste ebenso wie für alle zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zuständigen Behörden (vgl. BVerfGE 125, 260 [343 f.])“; Bäcker (Fn. 149), B. Rn. 254 unterstreicht zu Recht, dass dann aber das „grundrechtliche Privileg der Nachrichtendienste entfällt“ (Original im Fettdruck). 208 M. Bäcker, Stellungnahme zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung, AS-Drs. 19(4)627 B, S. 5, spricht in Bezug auf den Bestandsdatenbeschluss II des BVerfG von einer zunächst überraschenden Maßstabsbildung. 209 BVerfGE 154, 152 (245, Rn. 156). 210 Dies rückt nunmehr wieder stärker in den Vordergrund in BVerfGE 156, 11 (50 ff., Rn. 102 ff.). 211 Sofern man BVerfGE 154, 152 (244 f., Rn. 155 f.) mit seiner Relativierung, dass die Anforderungen des BKAG-Urteils auch „im Grundsatz“ für Nachrichtendienste gelten würden, als Leitlinie nimmt, mindert dies die Aussage des Gerichts freilich partiell ab und eröffnet mehr Spielräume. 212 Kritisch auch schon vor der Entscheidung hinsichtlich pauschaler Lösungen Gusy, Reformperspektiven (Fn. 193), S. 23. 213 Einer Kopplung von Eingriffen mit erheblichem Gewicht an qualifizierte Eingriffsschwellen insoweit zustimmend auch Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 172; zur Vermessung der Eingriffsintensität noch eingehend unter F. II. 2.
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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bedürfen, um die Leitlinien der präventiv-polizeilichen Rechtsprechung des BKAG-Urteils schablonenhaft anzulegen, wobei dies ohne graduelle Differenzierungen nicht immer reibungslos gelingen dürfte214. Insbesondere darf die Nutzung des flexibilisierten Gefahrbegriffs aus dem BKAG-Urteil215 und dessen zwingend notwendige Handhabbarmachung für die Nachrichtendienste im Falle der durch den Senat grundsätzlich angestrebten Maßstabsvereinheitlichung216 nicht dazu führen, dass in der Folge tradierte Einschreitschwellen im präventivpolizeilichen Eingriffsrecht – sei es bei informationellen oder gar bei aktionellen Befugnissen – über Gebühr flexibilisiert werden, auch um Wertungswidersprüche mit nachrichtendienstrechtlichen Normen zu vermeiden. Dies gilt vor allem in Ansehung der verfassungsgerichtlich legitimierten Herabsetzung der Konkretisierungsanforderungen – stets im Vergleich zur tradierten Gefahrenschwelle – an einen Geschehensablauf bei terroristischen Straftaten217 oder zum „Schutze herausgehobener Rechtsgüter“. Ferner darf keine funktionelle Verschleifung zwischen den Nachrichtendiensten und präventiv-polizeilichen Behörden, die zur
214 Jedenfalls für nicht tief in die Privatsphäre dringende Eingriffe, wie die Bestandsdatenabfrage von Telekommunikationsdaten, nimmt der Erste Senat eine solche Anpassung nunmehr vor, wenn er Auskünfte zur Aufklärung einer bestimmten, nachrichtendienstlich zu beobachtenden Gruppe oder Handlung erlaubt, da hiermit wenigstens ein „der Art nach konkretisiertes und absehbares Geschehen“ vorausgesetzt werde, was überdies dem Schutze besonders gewichtiger Rechtsgüter diene, BVerfGE 155, 119 (189, Rn. 151). Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 7, sieht hierin eine Klarstellung des BVerfG für die Nachrichtendienste in Ansehung der verschiedenen von der Rechtsprechung entwickelten Konkretisierungsgrade des Gefahrbegriffes. Für den Zugriff auf dynamische IP-Adressen – so das BVerfG weiter – mit einem erhöhten Eingriffsgewicht genüge es, wenn je nach Gewicht des zu schützenden Rechtsgutes entweder „ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar“ sei oder „alternativ das individuelle Verhalten von Betroffenen die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie bestimmte Straftaten in überschaubarer Zeit begehen“ würden (BVerfGE 155, 119 (202, Rn. 179)). Dies gelte „sowohl für die allgemeine Gefahrenabwehr als auch innerhalb des Aufgabenbereichs der Nachrichtendienste“. Für die Nachrichtendienste soll dann aber – im Gegensatz zu allgemeinen Sicherheitsbehörden – keine konkrete Begrenzung auf zumindest besonders gewichtige Rechtsgüter erforderlich sein, da die Aufgaben der Nachrichtendienste schon von vornherein dem Schutze ebenjener besonders gewichtigen Rechtsgüter dienten (Rn. 182); zu den einfachrechtlichen Hintergründen siehe B. III. 1. b); für eine differenzierte Übertragung auch Gusy, Reformperspektiven (Fn. 193), S. 23. 215 BVerfGE 141, 220 (272 ff., Rn. 111 ff.). 216 So stellt auch das BVerfG bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auf die im BKAG-Urteil entwickelte Einschreitschwelle jedenfalls für Datenübermittlungen durch den BND an andere Behörden zu präventiv-polizeilichen Zwecken ab, siehe BVerfGE 154, 152 (269 f., Rn. 222); unter Einbeziehung der Nachrichtendienste mit Verweis auf „eine hinreichend konkretisierte Gefahr“ im Sinne des BKAG-Urteils nunmehr auch für die Einschreitschwelle bei der Bestandsdatenabfrage II BVerfGE 155, 119 (186 ff., Rn. 146 ff., 189, Rn. 151, 202, Rn. 179). 217 So die Sonderkonstellation im BKAG-Urteil, BVerfGE 141, 220 (272, Rn. 112), in der der Erste Senat bekanntlich eine personenbezogene Gefahrenprognose anerkannt hat.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
Gefahrenabwehr berufen sind, als mittelbare Folge einer Nivellierung tatbestandlicher Einschreitschwellen eintreten. Mit der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung will der Erste Senat offenkundig die noch verbliebene Dogmatik-Lücke im Feld der Nachrichtendienste zumindest im ersten Ansatz schließen, eine Harmonisierung mit seiner Leitentscheidung zum BKAG herstellen und die Sicherheitsverfassung weiter ausdifferenzieren218. Das Urteil zur strategischen Überwachung bildet, jedenfalls im Grundsatz, das Pendant zum BKAG-Urteil im Bereich der nachrichtendienstlichen Eingriffsbefugnisse: Übergreifende Maßstabsbildung – die, nochmals, an sich sehr zu begrüßen ist – dient als Vorlage auch für zukünftige Entscheidungen; der Einfluss dieser Leitlinien auf die Sicherheitsverfassung wird durch die Urteile zum BKAG und BNDG auch in Zukunft gesichert sein219. Der Beschluss zur Bestandsdatenauskunft II reiht sich ein und weist zudem schon den künftigen Weg220. In seiner erneuten Befassung mit nachrichtendienstlichen Einschreitschwellen im Beschluss zur Antiterrordatei II schlägt der Erste Senat nunmehr wieder einen Ton an, der mehr an seine hergebrachte Position von grundsätzlich flexibilisierten, geringfügigeren Hürden für die Datengewinnung durch die Dienste erinnert, die im Gegenzug „nicht operativ tätig werden“ 221. Das letzte Wort ist hier sicherlich noch nicht gesprochen, wie die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Nachrichtendienste- und Sicherheitsrecht belegt222. Die Ausgestaltung der nachrichtendienstlichen Sicherheitsverfassung bzw. die Integration der Nachrichtendienste in selbige dürfte nach den grundlegenden Richtungsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch in Zukunft noch zahlreiche Einzelfragen im Bereich des Nachrichtendienstrechts aufwerfen und kann hier nicht in Gänze im Fokus stehen; sie bietet im Gegenteil genug Forschungsbedarf für eine eigene Untersuchung. Der Erste Senat arbeitet sich – ganz im Sinne der übergeordneten Dogmatikbildung – indes vom Grundsatz zur Ausnahme vor und konstatiert im Anschluss 218 Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 834, geht ebenfalls davon aus, dass das BVerfG die „Anforderungen an heimliche Überwachungsmaßnahmen spezifisch nachrichtendienstlicher Provenienz“ weiter geschärft habe. 219 Zu den Fernwirkungen der sicherheitsrechtlichen Entscheidungen, die maßgeblich durch den Berichterstatter im BKAG und BNDG-Urteil Masing mitgestaltet wurden, instruktiv auch H. Wefing, Die Gediegenheit ist dahin, abrufbar unter https://www. zeit.de/politik/deutschland/2020-05/bundesverfassungsgericht-anleihekaeufe-ezb-bndauslandsueberwachung-urteile-karlsruhe (22.5.2020). 220 Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 5 ff., legt den Fokus sogar primär auf die Maßstabsbildungen im Beschluss zur Bestandsdatenauskunft II. 221 BVerfGE 156, 11 (50 ff., Rn. 102 ff., 51, Rn. 104). 222 Vgl. zu einer weiteren Ausdifferenzierung nachrichtendienstlicher Eingriffsschwellen nunmehr die Leitentscheidung zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz BVerfG, Urteil vom 26.4.2022, 1 BvR 1619/17, Rn. 153 ff. der lehrbuchartig gegliederten Entscheidung.
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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an die allgemeinen Ausführungen zum Nachrichtendienstrecht: Die gesamte „strategische Überwachung“ durch den Bundesnachrichtendienst „als besonderes Mittel der Auslandsaufklärung“ sei aber bei einer Übertragung der Maßstäbe aus dem BKAG-Urteil auf Nachrichtendienste indes „noch nicht in den Blick genommen“, sondern bedürfe vielmehr der Konkretisierung223. Aus den allgemeinen Ausführungen folgt also für die hier interessierenden Datenerhebungsbefugnisse noch nichts Finales. Die insoweit geltenden Maßstäbe sollen im Laufe der Untersuchung dargestellt, analysiert und gegebenenfalls kritisiert und modifiziert werden. Die Debatte über die materielle Maßstabsbildung für (nachrichtendienstliche) Vorfeldinformationsbefugnisse soll indes bereits an dieser Stelle angedeutet und jedenfalls mit ihren grundsätzlichen Positionen skizziert werden, da sie mit der Diskussion um Aufgabe und Befugnisse der Nachrichtendienste in der Sicherheitsverfassung und mithin auch mit dem Trennungsgebot engstens verknüpft ist. Dies gilt umso mehr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, mit dem der Erste Senat sich anschickt, allgemeingültige Maßstäbe für nachrichtendienstliches Handeln im Rechtsstaat zu etablieren und welches gleichzeitig die vormalige Gewissheit einer grundsätzlichen Privilegierung der Nachrichtendienste im sicherheitsrechtlichen Koordinatensystem des Grundgesetzes – abseits höchstinvasiver Grundrechtseingriffe – zumindest in Frage stellt. 5. Informationelles Trennungsprinzip als hypothetische Datenneuerhebung Sehr umstritten war bzw. ist zudem die informationelle Dimension des Trennungsgebotes224. Es handelt sich hier um die im Ergebnis folgenreichste der vier Ausprägungen des Trennungsgebotes, da die Weitergabe von Informationen seitens der Nachrichtendienste an die Polizei und umgekehrt die Gefahr eines Unterlaufens der organisatorischen wie befugnisrechtlichen Trennung beinhaltet225. Wenn ein ungehinderter Informationsaustausch in Gang gesetzt wäre, könnte die Polizei die Dienste um Daten bitten, die sie mit polizeirechtlichen Mitteln nicht legal erheben könnte, und umgekehrt könnten die Nachrichtendienste verleitet werden, die Polizei um den Einsatz der ihnen selbst verwehrten Zwangsbefugnisse zu ersuchen226. Eine allgemeine Übermittlungsmöglichkeit personenbezo223
BVerfGE 154, 152 (239 f., Rn. 141). Zur Genese des Streites und den im Laufe der Zeit ausgetauschten Positionen ausführlich mit zahlreichen Nachweisen Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 247 ff.; Darstellung der Argumente etwa auch bei Lang, Antiterrordateigesetz (Fn. 22), S. 124 ff.; König, Trennung (Fn. 50), S. 256 ff., die freilich den Stand der Diskussion vor der ATDG I-Entscheidung des BVerfG nachzeichnen. 225 Dazu schon bezüglich der Übermittlung von Erkenntnissen aus der strategischen Fernmeldeaufklärung BVerfGE 100, 313 (389 f.). 226 Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 40. 224
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
gener Daten zwischen den Sicherheitsbehörden ohne rechtliche Schranken oder sonstige Informationsgrenze wäre nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts unter dem Grundgesetz sogar von vornherein unzulässig, da der Zweckbindungsgrundsatz als solcher unterlaufen würde227. Indes wird man eine strikte Trennung des Informationsflusses zwischen Polizei und Nachrichtendiensten als nicht praktikabel ablehnen müssen, da ansonsten die Informationssammlung der Nachrichtendienste zum Selbstzweck verkäme, schließlich könnten die gewonnen Erkenntnisse überhaupt nicht an Stellen der Gefahrenabwehr weitergegeben werden228. Teilweise wird sogar als Folge der organisatorischen und befugnisrechtlichen Trennung ein Recht und eine Pflicht zu limitierter Zusammenarbeit maßgeblich durch Informationsweitergabe postuliert229, oder gar ein ausdrückliches informationelles Kooperationsgebot aus dem Grundgesetz abgeleitet230. Es wird deshalb vielmehr um die Frage gestritten, in welchen Grenzen und mit welchen Absicherungen eine partielle informationelle Zusammenarbeit zwischen Polizei und Nachrichtendiensten zugelassen werden soll231. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Datenübermittlung flankieren diejenigen an die erstmalige Datenerhebung und stellen mithin deren Fortgeltung im weiteren Verlauf der Datennutzung sicher. Ein geregelter Austausch von Erkenntnissen muss zumindest im Einzelfall möglich sein. Dabei muss jedoch immer berücksichtigt werden, dass die Nachrichtendienste von ihrem Aufgabenprofil her nicht genuine Informationsbeschaffer für die Polizei und Sicherheitsbehörden sind, sondern die Übermittlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse eine „Änderung des Verarbeitungszweckes“ der übermittelten Informationen darstellt232. Das informationelle
227 BVerfGE 156, 11 (49 f., Rn. 99); insoweit eine – seltene – absolute Grenze aus Verhältnismäßigkeitsgründen installiert BVerfGE 133, 277 (321, Rn. 106). 228 BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 104); mit selbiger Stoßrichtung etwa Arzt (Fn. 124), § 1 ATDG Rn. 31; Unterreitmeier, Überwachung (Fn. 83), S. 3; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 61; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 389; Poscher, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 199), S. 250; Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 325. 229 Prägnant dafür etwa J.-H. Dietrich, Ansätze zur Reform des Rechts der Nachrichtendienste, in: M. H. W. Möllers/R. C. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2018/2019, 2019, S. 107 (108); weitergehend Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 169 f.; wie hier C. Gusy, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 1 BNDG Rn. 17. 230 So die, aus seiner Sicht, „methodisch saubere“ Auslegung des Grundgesetzes durch Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 281 ff., S. 297. 231 Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 48 f., spricht insoweit von einem informationellen Trennungsgebot im weiteren Sinne, das von der Frage einer gänzlichen Untersagung des Informationsaustausches zwischen Polizei und Nachrichtendiensten (informationelle Trennung im engeren Sinne) abzuschichten sei; dahingehend auch Gusy, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 487. Für eine Ausgestaltung der Übermittlungsbefugnisse auch Roggan/Bergemann, „Neue Sicherheitsarchitektur“ (Fn. 152), S. 876 f. 232 So richtigerweise Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 18; a. A. Unterreitmeier, Funktion (Fn. 125), S. 184; Lindner/ders., Grundlagen (Fn. 189), S. 169, 173 f., die nicht von einer Zweckänderung ausgehen; Warg (Fn. 148), § 1 Rn. 7 f.
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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Trennungsgebot kann dabei als Leitlinie für die Ausgestaltung des Informationsaustausches dienen233. Für die Praxis hatte das Bundesverfassungsgericht die lange schwelende Frage der Existenz eines informationellen Trennungsgebotes zwischen Polizei und Nachrichtendiensten, angesichts der Unterschiedlichkeit ihrer Aufgaben, in der ATDG I-Entscheidung zunächst konkretisiert und auch dessen Reichweite umrissen: Demnach folge aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG „insoweit ein informationelles Trennungsprinzip“ – diese Aussage unterstreicht der Senat nunmehr auch in der Folgeentscheidung zum ATDG II234. Dieses untersage grundsätzlich den Datenaustausch zwischen Nachrichtendiensten und Polizei und lasse Einschränkungen dieser informationellen Trennung nur ausnahmsweise zu235. Soweit derartige Einschränkungen zur operativen Aufgabenwahrnehmung erfolgten, begründe dies einen besonders schweren Eingriff 236. Der Austausch von Daten für operative Zwecke müsse infolgedessen grundsätzlich einem „herausragenden öffentlichen Interesse“ dienen, damit der Zugriff auf die nachrichtendienstrechtlich unter erleichterten Voraussetzungen erhobenen Informationen gerechtfertigt werden könne237. Besonders sensibel ist damit die Übermittlung von Nachrichtendiensten an Polizeibehörden. Der Eingriff kann demnach im Ergebnis nur verhältnismäßig erfolgen, wenn aus der organisatorischen und befugnisrechtlichen Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten auch eine – von hinreichend differenzierten materiellen Anforderungen abhängig gemachte – informationelle Trennung folgt238.
233 Leisterer, Internetsicherheit (Fn. 57), S. 278; a. A. C. Dose, Übermittlung und verfahrensübergreifende Verwendung von Zufallserkenntnissen, 2013, S. 148 ff., die jedoch die Funktion des Trennungsgebotes primär in der Verhinderung eines allwissenden Überwachungsapparates sieht und dabei die ebenso wichtige Verhütung einer Umgehung der befugnisrechtlichen Trennung, eben durch die Übermittlung von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen an Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, in jedem Einzelfall nicht hinreichend würdigt; ein verfassungsrechtlich verankertes informationelles Trennungsgebot mit dem insoweit fehlgehenden Verweis auf einfach rechtliche Übermittlungsvorschriften lehnt auch Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 173 f., ab. 234 BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123), Hervorhebungen nur hier; expressis verbis bestätigt durch BVerfGE 156, 11 (50, Rn. 101) – das BVerfG hält also bewusst an der Terminologie fest; siehe ferner BVerfGE 154, 152 (267 f., Rn. 218 f.); zu diesem Aspekt des ersten Urteils zum ATDG dezidiert kritisch Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 266 ff., mit weiteren ablehnenden, aber auch positiven Stimmen aus dem Schrifttum. 235 BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123). 236 BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123). 237 BVerfGE 156, 11 (51 f., Rn. 105); mit hiesigem Zitat grundlegend BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123); aus der Literatur nur Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 276 f. 238 K. F. Gärditz, Antiterrordateigesetz und nachrichtendienstrechtliches Trennungsgebot – Anmerkung zu BVerfG, Urt. v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, in: JZ 2013, S. 633 (634); dahingehend auch Tanneberger, Trendwende (Fn. 148), S. 43. Zu den Anforderungen an Übermittlungsbestimmungen, die aus dem ATDG-Urteil herrühren, auch Gusy (Fn. 73), § 1 Rn. 32 ff.
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Damit hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls auf subjektiv-rechtlicher Grundlage die Debatte um die informationelle Trennung grundsätzlich – unbesehen der konkret zu Grunde zu legenden Maßstäbe – einstweilen entschieden239. Zwar fällt ins Auge, dass der Senat ausdrücklich nicht von einem Trennungsgebot spricht, sondern ein Prinzip aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung folgert. Dennoch erscheint es nicht plausibel anzunehmen, dass das Gericht eine neue Kategorie neben das Trennungsgebot stellen wollte, sondern vielmehr, dass es zumindest den informationellen Teil des Trennungsgebotes – freilich grundrechtlich verankert – anerkannt hat240. Andernfalls hätte es das Trennungsgebot als solches für den Bereich der informationellen Zusammenarbeit verwerfen können. Es wird auch angenommen, der Senat habe lediglich seine weitreichende Wertung der informationellen Trennung mit der Formulierung als „Prinzip“ sprachlich einfangen wollen und dies anstelle des „Gebots“ gesetzt241. Zumindest keine grundlegend andere Aussage ergab sich auch aus dem Urteil zum BKAG, welches die Nachrichtendienste jedenfalls in die Ausführungen zu Datenübermittlungen einschloss242. Erneut stellte sich jedoch das oben angedeutet Problem der Übertragbarkeit der in der Entscheidung aufgestellten Grundsätze der Informationsübermittlung vom Bundeskriminalamt an die Nachrichtendienste243 auf die andere Richtung, sprich von Nachrichtendiensten an operative Polizeibehörden. Nach dem Kriterium der sogenannten hypothetischen Datenneuerhebung kommt es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes für Daten aus eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen grundsätzlich darauf an, ob die „entsprechenden Daten neu auch für den geänderten Zweck mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln erhoben werden dürften“ 244. Dabei gelte das Kriterium jedoch nicht schematisch abschließend und schlösse die Berücksichtigung weite239 So auch Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 41; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 63. 240 Siehe die selbige Wertung der Entscheidung bei M. A. Zöller, Der Rechtsrahmen für die Übermittlung personenbezogener Daten unter Beteiligung der Nachrichtendienste, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Nachrichtendienste (Fn. 57), S. 191; ebenso Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 63. 241 Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 42 f. 242 Explizit Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 21, der davon ausgeht, das BVerfG halte in seiner Entscheidung zum BKAG an den in der Sache zum ATDG I aufgestellten Grundsätzen zum Informationsaustausch zwischen Polizei und Nachrichtendiensten fest. Die Nachrichtendienste sind in die Ausführungen des BKAG-Urteils zu Datenübermittlungen indes direkt einbezogen, wie auch Unterreitmeier, Update (Fn. 201), S. 40 m.w. N. annimmt. 243 BVerfGE 141, 220 (324 ff., Rn. 276 ff., 339 f., Rn. 320). 244 Grundlegend BVerfGE 141, 220 (327 f., Rn. 287); dahingehend auch schon BVerfGE 133, 277 (375 f., Rn. 225 f.); 125, 260 (333); es handelt sich somit um eine spezifische Ausprägung des allgemeineren Zweckbindungsgrundsatzes, siehe dazu auch M. Löffelmann, Die Umsetzung des Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung – Schema oder Struktur, in: GSZ 2019, S. 16 (17).
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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rer Gesichtspunkte nicht aus245. Insbesondere könne auch eine Übermittlung an eine Zielbehörde in Betracht kommen, die aufgrund ihres jeweiligen Aufgabenspektrums selbst nicht berechtigt wäre, die Daten wie die Ausgangsbehörde zu erheben246. Allerding muss die neue Nutzung der Daten dem Schutz von Rechtsgütern oder der Aufdeckung von Straftaten eines solchen Gewichtes dienen, welches verfassungsrechtlich die Neuerhebung der Daten mit vergleichbar schweren Mitteln rechtfertigen könnte247. Hiermit wird eine „Rechtsgutschwelle“ 248 oder ein „Prinzip der Rechtsgutäquivalenz“ 249 eingefügt. Dabei bedarf die Zweckänderung, also die Abweichung der weiteren Nutzung vom initialen Erhebungszweck250, als neu zu rechtfertigendem Eingriff eines hinreichend spezifischen Anlasses: „Verfassungsrechtlich geboten, aber regelmäßig auch ausreichend, ist insoweit, dass sich aus den Daten – sei es aus ihnen selbst, sei es in Verbindung mit weiteren Erkenntnissen der Behörde – ein konkreter Ermittlungsansatz ergibt“ 251. Für besonders grundrechtsinvasive Eingriffe, explizit aus der OnlineDurchsuchung und der Wohnraumüberwachung, gelten jedoch wiederum gesteigerte Anforderungen für die Übermittlung und Zweckänderung so erlangter Daten252, um deren Eingriffsgewicht – korrespondierend zum eigentlichen Erhebungsvorgang – auch auf Seite der Übermittlungsbefugnisse Rechnung zu tragen. Insgesamt betont das Bundesverfassungsgericht auch bezüglich der Datenübermittlungsvoraussetzungen, dass mit den dargelegten Anforderungen nur eine lange Reihe von Rechtsprechung beider Senate konsolidiert worden sei253. Teilweise wurde postuliert, das Bundesverfassungsgericht habe das informationelle Trennungsprinzip aus dem ATDG I-Urteil in das System der hypothetischen Datenneuerhebung überführt und damit auch die Übermittlungsvorschriften zwi245
BVerfGE 141, 220 (328, Rn. 287). BVerfGE 141, 220 (328, Rn. 287). 247 BVerfGE 141, 220 (328, Rn. 288) unter Bezugnahme auf BVerfGE 130, 1 (34); 120, 351 (369); 110, 33 (73); 109 (279 (377); 100, 313 (389 f.). 248 Diese Begrifflichkeit im Zusammenhang mit dem Informationsaustausch nutzt T. Siems, Datenübermittlung in der sicherheitsbehördlichen Kooperation, in: Dietrich/ Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. VI § 7 Rn. 60. 249 Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 297. 250 Siehe zum Begriff der Zweckänderung statt vieler Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 263. 251 BVerfGE 141, 220 (328 f., Rn. 289). 252 BVerfGE 156, 11 (50, Rn. 100); 141, 220 (329, Rn. 291); Zöller, Rechtsrahmen (Fn. 240), S. 192, spricht davon, dass das BVerfG unverständlicherweise nur in diesen Fällen den Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung „in Reinform“ anwende; in Bezug auf die insoweit erfolgte Berücksichtigung der besonderen Eingriffsintensität von Online-Durchsuchung und Wohnraumüberwachung in der Neufassung von § 12 BKAG J. Ruthig, in: Schenke/Graulich/ders., Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 12 BKAG Rn. 13; kritisch zu dieser Ausnahme Sondervotum Eichberger BVerfGE 141, 220 (361 f.); Löffelmann, Umsetzung (Fn. 244), S. 18. 253 BVerfGE 141, 220 (329 f., Rn. 292). 246
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schen Sicherheitsbehörden allgemein vereinheitlicht254. Andere sahen das Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung vielmehr als Ergänzung des informationellen Trennungsprinzips255 oder ein kumulatives Verhältnis256 dieser konkretisierten Verhältnismäßigkeitsanforderung. In Ablehnung der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wurden sogar sowohl der Ansatz eines informationellen Trennungsprinzips als auch die Figur der hypothetischen Datenneuerhebung als für das Nachrichtendienstrecht insgesamt inadäquat abgelehnt, da es bereits an einer Zweckänderung bei der Übermittlung von Daten seitens der Nachrichtendienste an die Polizeibehörden mangele257. Insbesondere das informationelle Trennungsprinzip bereite in der praktischen Zusammenarbeit der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden teils erhebliche Probleme258. Ein intensiver – nicht limitierter (!) – Kommunikationsaustausch zwischen den Behörden sei die zwingende Folge der organisatorischen und befugnisrechtlichen Trennung, um die Effektivität behördlichen Handelns zu wahren259. Dieser weitgehenden Ansicht liegt erkennbar die – hier nicht pauschal geteilte – Prämisse zugrunde, dass Nachrichtendienste genauso wie die Polizei und andere Sicherheitsbehörden per se auch Aufgaben der Gefahrenabwehr übernehmen und nicht primäre Informationsdienstleister darstellen260. Das Bundesverfassungsgericht bemüht sich im Urteil zur Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung auch bezüglich der informationellen Trennung von Nachrichtendiensten und operative tätigen Sicherheitsbehörden um Klarstellung und Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe261. Der Erste Senat betont, dass das zentrale Kriterium zur materiell-rechtlichen Vermessung von Übermittlungsbefugnissen – auch für Nachrichtendienste – das „Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung“ sei und verweist auf die Rechtsprechung zum BKAG262. Dies kann – nachdem bereits die eingriffsintensiven Erhebungsbefugnisse auch für Nachrichtendienste grundsätzlich an die Leitentscheidung zu prä-
254 Unterreitmeier, Folgewirkungen (Fn. 182), S. 229; ihm zumindest insoweit folgend T. Siems, Erwiderung auf den Beitrag Unterreitmeier, in: NWVBl. 2018, S. 231 (232), jeweils in Bezug auf BVerfGE 141, 220 (S. 339 f., Rn. 320). 255 Diesen Schluss ziehen Graulich, Anmerkungen (Fn. 201), S. 26; Löffelmann, Anhörung (Fn. 151), S. 9. 256 Weitgehend insoweit Petri, Anhörung (Fn. 201), S. 10. 257 So ausdrücklich Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 289 ff.; Lindner/ders., Grundlagen (Fn. 189), S. 173 f. 258 Zu der Sicht der Praxis und den rechtspolitischen Folgen des ATDG-Urteils ausführlich Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 267 ff. 259 Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 281. 260 Instruktiv dazu das Plädoyer von Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 289 ff. 261 BVerfGE 154, 152 (265 ff., Rn. 211 ff.); nunmehr auch erneut BVerfGE 156, 11 (49 f., Rn. 99). 262 BVerfGE 154, 152 (266 f., Rn. 216); Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 14; ebenso nunmehr BVerfGE 156, 11 (49 ff., Rn. 97 ff.).
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ventiv-polizeilichem Handeln aus dem Jahr 2016 angepasst wurden – nicht sonderlich überraschen. Eine vereinheitlichte (verfassungsgerichtliche) Sicherheitsverfassung braucht in jeder Hinsicht kongruente Maßstäbe, sonst verfehlt sie ihren Zweck übergeordneter Dogmatik. Deswegen bezieht das Gericht seine in der Entscheidung zum Antiterrordateigesetz I aufgestellten Anforderungen explizit in die Maßstabsbildung mit ein und setzt das Erfordernis des „herausragenden öffentlichen Interesses“ mit derjenigen Übermittlungsschwelle gleich, die nach dem BKAG-Urteil an Übermittlungen von höchstinvasiven Maßnahmen der Wohnraumüberwachung und Online-Durchsuchung anzulegen sein soll263. Damit hat die Grundaussage aus der Entscheidung zum Antiterrordateigesetz (welche zudem durch die Folgeentscheidung zum ATDG II bestätigt wurde) aber weiterhin Bestand: Es gibt ein informationelles Trennungsprinzip zwischen Nachrichtendiensten und operativ tätigen Polizeibehörden; nur die materiell-rechtlichen Maßstäbe der Datenübermittlung an sich werden für beide Behördentypen insoweit durch die neueste Rechtsprechung vereinheitlicht. Pauschalen Datenübermittlungen zwischen Nachrichtendiensten und operativen Polizeibehörden schiebt das Bundesverfassungsgericht richtigerweise somit auch nach seiner nun grundsätzlich konsolidierten Rechtsprechung weiterhin von vornherein einen Riegel vor. In der Entscheidung zur Antiterrordatei II nennt der Erste Senat im ersten Leitsatz der Entscheidung das Prinzip der hypothetischen Datenneuerhebung konsequent in einem Atemzug mit dem informationellen Trennungsprinzip264. Die Besonderheiten der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung bedingen jedoch auch nach neuster Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf Datenübermittlungsebene zahlreiche Modifikationen265. Dies resultiere schon daraus, dass der Bundesnachrichtendienst, im Unterschied zu anderen Behörden, die Daten nicht für eigene operative Zwecke sammle, sondern von vornherein mit dem Ziel, sie – nach Aufbereitung und Analyse – der Bundesregierung und weiteren Abnehmern zur Verfügung zu stellen266. Analog zu den Datenerhebungsbefugnissen besteht somit auch auf Übermittlungsseite die Notwendigkeit, die Sonderstellung der strategischen Überwachung zu berücksichtigen, weswegen hier noch keine Beurteilung oder Darlegung der einschlägigen Maßstäbe erfolgen soll. Die konkrete Umsetzung der informationellen Trennung von Nachrichtendiensten und operativen Polizeibehörden – sei es nun Gebot oder
263 BVerfGE 154, 152 (268, Rn. 219), unter ausdrücklichem Bezug auf die Entscheidung zum BKAG BVerfGE 141, 220 (271, Rn. 110, 273, Rn. 115 f., 327 ff., Rn. 287 ff.) sowie zum ATDG BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123); siehe auch Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 14. Wiederholt allgemein für die Nachrichtendienste jüngst in BVerfGE 156, 11 (51 f., Rn. 105) sowie prominent im 1. Leitsatz der Entscheidung. 264 BVerfGE 156, 11 1. Leitsatz, ferner (50, Rn. 101). 265 BVerfGE 154, 152 (267 ff., Rn. 217 ff.). 266 BVerfGE 154, 152 (267, Rn. 217); allgemein auch BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 104).
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Prinzip – schließt sich vielmehr erst an die Analyse des Aufklärungsinstrumentes an; die hier dargelegten übergeordneten Gedanken samt ihrer Einbindung in den Themenkomplex Trennungsgebot werden indes zu berücksichtigen sein. 6. Verfassungsrang des Trennungsgebotes als rechtsstaatliche Sicherung Das Trennungsgebot ist mit vielen Verästelungen in seinen unterschiedlichen Dimensionen umstritten. Noch intensiver wird indes seit Jahrzehnten um den Rang des Trennungsgebotes in der Rechtsordnung gerungen267. Sollte das Trennungsgebot Verfassungsrang besitzen, wäre es zumindest grundlegenden Änderungen des einfachen Gesetzgebers entzogen; hätte es nur einfachrechtlichen Rang in den nachrichtendienstlichen Fachgesetzen, könnte der Gesetzgeber es theoretisch jederzeit aufheben. Deswegen interessiert die Frage des Trennungsgebotes in der Rechtsordnung in der gebotenen Kürze auch hier, da dadurch die verfassungsrechtliche Verankerung der Aufgabentrennung von Polizei und Nachrichtendiensten und die abgestuften materiellen Eingriffsbefugnisse tangiert sind. Das Trennungsgebot lässt sich dem Grundgesetz expressiv verbis nicht entnehmen, weswegen unterschiedlichste Begründungsansätze vertreten werden268. Der „Polizeibrief “ der Alliierten als solcher sowie deren Besatzungsrecht können seit der Wiedererlangung der vollen Souveränität der Bundesrepublik, die spätestens mit dem Abschluss des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (insbesondere dessen Art. 7) vom 12. September 1990269, in Kraft getreten am 15. März 1991, endgültig Realität wurde, nicht mehr als Rechtsquellen für ein verfassungsrechtliches Trennungsgebot ins Feld geführt werden270. 267 Für ein verfassungsrechtliches Trennungsgebot streiten etwa Timu, Trennungsgebot (Fn. 72), S. 123; Lang, Antiterrordatei (Fn. 65), S. 136 ff.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 37; Schafranek, Kompetenzverteilung (Fn. 93), S. 173; Götz (Fn. 161), § 85 Rn. 39; Gusy, Gebot (Fn. 69), S. 45 ff.; für die Gegenposition siehe nur Linzbach/Gärditz, Totenschein (Fn. 64), S. 320 ff.; Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 4; Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 275 m. Fn. 228; Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 52; Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 24; König, Trennung (Fn. 50), S. 95 f.; Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 48 ff.; Albert, Entwicklungskonzept (Fn. 97), S. 108; Roewer, Trennung (Fn. 65), S. 207; die Ursprünge und den Verlauf der Diskussion beschreibt Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 255 ff. 268 Eine zusammenfassende Übersicht über die zahlreichen Einzelansätze der seit Jahrzehnten schwelenden und mithin sehr ausdifferenzierten Debatte bei Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 153 ff.; Lang, Antiterrordatei (Fn. 65), S. 136 ff.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 27 ff.; König, Trennung (Fn. 50), S. 151 ff. 269 Sog. Zwei Plus Vier Vertrag, BGBl. II, S. 1317. 270 Einhelligkeit besteht insoweit in der neueren Literatur, die den Ansatz eines nach wie vor geltenden vorkonstitutionellen Rechts einhellig verwirft, dazu Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 45; Cremer (Fn. 83), § 278 Rn. 24; Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 156; Lang, Antiterrordatei (Fn. 65), S. 139 f.; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 380 f.; König, Trennung (Fn. 50), S. 151 ff.; a. A. aus der älteren Literatur Weßlau, Vorfeldermittlungen (Fn. 116), S. 223, nach deren Ansicht der „Polizeibrief “
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Diese Rechtsquellen sind schlicht außer Kraft getreten. Ein Trennungsgebot kann sich damit allenfalls aus dem Grundgesetz selbst ergeben. Als maßgeblicher Anknüpfungspunkt wird Art. 87 I 2 GG angesehen, der die Errichtung von „Zentralstellen“ für Zwecke des Verfassungsschutzes erlaubt, teils wird zur Untermauerung der Position noch ergänzend auf Art. 73 I Nr. 10 GG abgestellt271. Hauptsächlich wird mit dem Wortlautargument der Pluralform „Zentralstellen“ in Art. 87 I 2 GG dahingehend argumentiert, dass die Verfassung hiermit ausdrücklich davon ausgehe, dass Polizei und Verfassungsschutz gerade nicht in einer Behörde zusammengefasst werden dürften, sondern organisatorisch getrennt voneinander zu sein hätten272. Dazu treten historisch-genetische Argumente, wonach der enge zeitliche Zusammenhang des Zugangs des „Polizeibriefes“ mit der Schaffung des Art. 87 I 2 GG eine Umsetzung der Vorstellungen der Alliierten durch den Parlamentarischen Rat nahelege273. Für den Bundesnachrichtendienst kann dieser Ansatz jedoch nicht fruchtbar gemacht werden, da Art. 87 I 2 GG insoweit keine Anwendung findet. Der Bundesnachrichtendienst ist eine eigene Bundesoberbehörde nach Art. 87 III GG und keine „Zentralstelle“ im Sinne des Art. 87 I 2 GG274. Allgemeiner wird für alle Nachrichtendienste vor allem das organisations- und befugnisrechtliche Trennungsgebot – in diverser Ausprägung – auf das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte275 sowie auf das Bundesstaatsauch nach der Wiedererlangung der vollen Souveränität der BRD eine Rechtsquelle mit verfassungsrechtlicher Bindungswirkung darstelle; gegen eine Aussage des Polizeibriefes zu einem verfassungsrechtlichen Trennungsgebot mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes Linzbach/Gärditz, Totenschein (Fn. 64), S. 320 f. 271 Für eine Herleitung des verfassungsrechtlichen Trennungsgebotes Cremer (Fn. 83), § 278 Rn. 28; Lang, Antiterrordatei (Fn. 65), S. 144 ff.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 29 ff.; grundlegend hierzu die Arbeit von Gusy, Gebot (Fn. 69), S. 46 ff. 272 Dahingehend M. Ibler, in: G. Dürig/R. Herzog/R. Scholz u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Art. 87 (2012), Rn. 143; erneut hierzu grundlegend Gusy, Gebot (Fn. 69), S. 46 f.; a. A. etwa G. Hermes, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 3. Aufl. 2018, Art. 87 Rn. 35; Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 155. 273 Ein verfassungsrechtliches Trennungsgebot aus der historischen Dimension des Art. 87 I 2 GG bejahen Lang, Antiterrordatei (Fn. 65), S. 152 ff.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 31 f.; a. A. im Ergebnis die rechtshistorische Untersuchung von Dorn, Trennungsgebot (Fn. 69), S. 183. 274 Für einen Ausschluss des BND vom Anwendungsbereich des Art. 87 I 2 GG und mithin aus der insoweit geführten Diskussion um das Trennungsgebot M. Kment, in: H.-D. Jarass/B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 2020, Art. 87 Rn. 7, der den Verfassungsrang auch für das BfV ablehnt; Hermes (Fn. 272), Art. 87 Rn. 31; König, Trennung (Fn. 50), S. 158; eine Einschränkung der Argumentationslinie anhand der Art. 87 I 2, 73 I Nr. 10 GG in Bezug auf den BND und MAD gesteht Gusy, Gebot (Fn. 69), S. 51 zu. 275 Dieser Ansatz wird etwa unterstützt von Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 65; Lang, Antiterrordatei (Fn. 65), S. 158 ff.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 35 f.; Möstl, Garantie (Fn. 100), S. 411; Denninger, Trennung (Fn. 69), S. 232; a. A. entschieden E. Werthebach/B. Droste, in: W. Kahl/C. Waldhoff/C. Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 73 Nr. 10 (1998), Rn. 235 f. (in der aktuellen 208. Ergänzungslieferung [2020] fortgefallen).
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prinzip276 gestützt. Das Rechtsstaatsprinzip mit seiner Grundlage in Art. 20 III GG, welches explizit in Art. 28 I 1 GG erwähnt ist, begrenzt die Staatsgewalt aus objektiv-rechtlicher Sicht zum Schutze der Grundrechte und bindet sie an Recht und Gesetz277. Durch die Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten solle die Begrenzung staatlicher Macht im Sicherheitsbereich erreicht werden, weswegen das Rechtsstaatsprinzip ebendiese Trennung fordere278. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem obiter dictum im Urteil zur Aufgabenerweiterung des früheren Bundesgrenzschutzes jedenfalls keine Abkehr von dieser Position erkennen lassen, sondern vielmehr folgendes ausgeführt: „Rechtsstaatsprinzip, das Bundesstaatsprinzip und der Schutz der Grundrechte können es verbieten, bestimmte Behörden miteinander zu verschmelzen, sie mit Aufgaben zu befassen, die mit ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabenstellung nicht vereinbar sind. So werden die Zentralstellen für Zwecke des Verfassungsschutzes oder des Nachrichtendienstes – angesichts deren andersartiger Aufgaben und Befugnisse – nicht mit einer Vollzugspolizeibehörde zusammengelegt werden dürfen (vgl. schon ,Polizeibrief‘ der drei westalliierten Militärgouverneure vom 14. April 1949)“ 279. Freilich hat sich das Gericht in vorgenannter Entscheidung als auch in dem Verfahren zur strategischen Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes einer abschließenden Bewertung enthalten und die Frage des Verfassungsranges des Trennungsgebotes offengelassen280. Abgelehnt hat das Gericht eine Verletzung des Trennungsgebotes hinsichtlich der Verwendung illegal durch den Bundesnachrichtendienst erlangter Steuerdaten auf CD, die dieser anschließend an die zuständigen Finanzbehörden weitergeleitet hatte281. Allerdings prüfte der Senat im Verfahren der Steuer-CD die mögliche 276 Maßgeblich vorgetragen von Paeffgen/Gärditz, G-10 Urteil (Fn. 69), S. 74 f., die vor einer Ballung von Eingriffsbefugnissen beim Bund warnen und in der Verhinderung dessen einen Grundgedanken des historischen Trennungsgebotes ausmachen. 277 Zur grundrechtssichernden Funktion des Rechtsstaatsprinzips und des hieraus abgeleiteten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingehend H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 179 ff.; K.-P. Sommermann, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 308 ff.; zur Argumentationslinie in Bezug auf das Trennungsgebot siehe insbesondere Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 51; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 382 ff.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 35 ff.; a. A. etwa Linzbach/Gärditz, Totenschein (Fn. 64), S. 327 f. m.w. N. 278 Maßgeblich für diesen Ansatz Denninger, Trennung (Fn. 69), S. 231 f.; ihm folgend Lang, Antiterrordatei (Fn. 65), S. 158 ff.; Stubenrauch, Verbunddateien (Fn. 69), S. 35 ff. 279 BVerfGE 97, 198 (217). 280 BVerfGE 100, 313 (369 f.); nach Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 332 f., konnte der Senat indes die Frage nach dem Bestehen des Trennungsgebotes indes nur mit Blick auf ein enges Begriffsverständnis des – insoweit wohl vorauszusetzenden Trennungsgebotes – offenlassen. 281 BVerfG NStZ 2011, 103 (106, Rn. 59); Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 266.
II. Das Trennungsgebot – Verortung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat
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Verletzung des Trennungsgebotes im Rahmen einer Individualverfassungsbeschwerde, die letztlich durch Nichtannahmebeschluss verworfen wurde. Dies könnte darauf hindeuten, dass das Gericht dem Trennungsgebot Verfassungsrang beimisst, da es im Rahmen von Urteilsverfassungsbeschwerden bekanntermaßen auf die Prüfung der Verletzung spezifischen Verfassungsrechtes beschränkt ist282. In der Entscheidung zum ATDG I hat das Bundesverfassungsgericht die sich förmlich aufdrängende grundlegende Klärung der langen Diskussion – welche wünschenswert und dogmatisch vorzugswürdig gewesen wäre – erneut nicht explizit herbeigeführt283. Lediglich für die informationelle Dimension des Trennungsgebotes hat der Senat – wie oben beschrieben – aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein subjektiv-verfassungsrechtlich verankertes Trennungsprinzip herausgearbeitet, welches nach der hier vertretenen Auffassung einem moderaten, einzelne Datenübermittlungen nicht ausschließenden Trennungsgebot gleichkommt. Daran hat auch die Entscheidung des Ersten Senats zum BNDG nicht wesentlich gerüttelt284. Der Senat hat seine Linie aus dem ATDG I- und BKAG-Urteil in Bezug auf Datentransfers zwischen Nachrichtendiensten und operativ tätigen Sicherheitsbehörden lediglich fortgeschrieben und das informationelle Trennungsprinzip durch den Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung situativ im Kontext des Bundesnachrichtendienstes konkretisiert285. Eine weitergehende Aussage zu einem „starren Organisationsmodell“ in Form einer organisatorischen oder funktionalen Trennung von Behörden oder einer – auch hier nicht vertretenen – „hermetischen Abschottung“ hat das Gericht hingegen nicht getroffen286. Der grundrechtliche Ansatz zum Schutz des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung ist jedoch gerade auch in Bezug auf die
282 Diese Folgerung aus der Steuer-CD-Entscheidung zieht plausibel Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 46; allg. zum Prüfungsmaßstab der Verletzung spezifischen Verfassungsrechtes bei Verfassungsbeschwerden und der Qualifikation des BVerfG als „Superrevisionsinstanz“ siehe im ersten Zugriff T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 37. Aufl. 2021, Rn. 1442 ff.; E. Benda/E. Klein/O. Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 499 m.w. N. 283 Ostentativ Zöller, Rechtsrahmen (Fn. 240), S. 194, der bemängelt, das Bundesverfassungsgericht habe das „heiße Eisen“ des Verfassungsranges des Trennungsgebotes in „der großen, rosaroten Wolke der Verhältnismäßigkeitsprüfung luftdicht verpackt“; Hermes (Fn. 272), Art. 87 Rn. 36, betont ebenfalls, der Senat habe die Möglichkeit einer grundsätzlichen Klärung nicht genutzt. 284 A. A. Linzbach/Gärditz, Totenschein (Fn. 64), S. 329, die davon ausgehen, dass die Entscheidung des BVerfG zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ein „allgemeines Trennungsgebot“ erledigt habe. 285 Fortgeführt allgemein für die Nachrichtendienste nunmehr auch in BVerfGE 156, 11 (49 ff., 97 ff.). 286 So aber Linzbach/Gärditz, Totenschein (Fn. 64), S. 329 f., 332 („implizite Absage“), die freilich auch die grundrechtliche Dimension der informationellen Trennung durch den Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung betonen.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
weiteren Ausprägungen des Trennungsgebotes zielführend287. Die breiten Ausführungen zur Andersartigkeit der Aufgaben von Polizei und Nachrichtendiensten – wohlgemerkt unter ausdrücklicher Einbeziehung des Bundesnachrichtendienstes288 – lassen eine deutliche Sympathie des Gerichtes für eine grundgesetzlich vorgesehene funktionale Trennung, jedenfalls in der insoweit nicht überholten ATDG I-Entscheidung, erkennen289. Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht dem Bundesnachrichtendienst nunmehr auch die Gefahrenfrüherkennung erlaubt, ändert an der grundsätzlichen Andersartigkeit von Nachrichtendiensten und operativen Behörden nach hiesiger Ansicht nichts Grundlegendes, da die „primäre Aufgabe“ des Dienstes die Information der Bundesregierung über außen- und sicherheitspolitische Entwicklungen bleibt290. Die Aufgabenteilung ist somit Folge der grundrechtlich indizierten informationellen Trennung; somit sprechen gute Gründe dafür, dass die Trennung der weiteren Dimensionen ebenfalls vom Grundgesetz vorgesehen ist, auch wenn dies nur mittelbar dem Schutz des informationellen Trennungsprinzips, konkretisiert durch den Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung, dient. Selbst wenn die materiell-rechtlichen Anforderungen an die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich vereinheitlicht werden sollten – wogegen hier Bedenken bestehen – erfolgt dies unter der Prämisse, dass die Nachrichtendienste eben keine operativen Befugnisse haben. Denn das Bundesverfassungsgericht leitet gerade aus dem Unterschied zwischen den Sicherheitsbehörden die besondere Schwere eines Eingriffes bei Übermittlungen von Nachrichtendiensten an Polizeibehörden ab, wenn diese im Anschluss an die klandestine Erhebung zu operativen Aufgaben genutzt werden291. Erst damit wird das vorgegebene – nicht starre, sondern am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte – Trennungsprinzip im Ergebnis ausgesetzt, weswegen eine Übermittlung nur unter hohen Anforderungen statthaft ist. Die Unterschiedlichkeit der Aufgaben und der Befugnisse spricht demnach ferner für die Notwendigkeit der Beibehaltung von voneinander getrennten Be287 Für einen grundrechtsgeprägten Ansatz auch Bäcker (Fn. 149), B. Rn. 245a ff., 254, der demgegenüber ein objektiv-rechtliches Trennungsgebot jedoch ablehnt und angesichts der jüngsten BVerfG Rechtsprechung zur Angleichung der grundrechtlichen Eingriffsanforderungen an Nachrichtendienste und hergebrachte Sicherheitsbehörden – insoweit – eine Hinfälligkeit des grundrechtlichen Trennungsgebotes sieht. Jedenfalls in Bezug auf die informationelle Trennung wohl auch wie hier Linzbach/Gärditz, Totenschein (Fn. 64), S. 329 f. 288 BVerfGE 133, 277 (324 ff., Rn. 115 ff.), unterstreicht damit die Wichtigkeit des Trennungsgebotes auch für den Auslandsnachrichtendienst. 289 Diese Lesart des ATDG-Urteils unterstützen Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 37, 47; Cremer (Fn. 83), § 278 Rn. 25; a. A. Arzt, Antiterrordatei (Fn. 69), S. 1329, der von einer „impliziten Absage“ des Senats ausgeht. 290 BVerfGE 156, 11 (51, Rn. 103) Zitat in BVerfGE 154, 152 (233 f., Rn. 128); a. A. wohl Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829 f.; ausführlich dazu auch noch unter F. III. 1. 291 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 149, 249 f., Rn. 165, 267 ff., Rn. 217 ff., 271, 227); BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123).
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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hörden mit jeweils eigenen, spezifisch auf diese abgestimmten Befugnissen292. Die organisatorische sowie befugnisrechtliche Trennung erscheint jedenfalls – mittelbar – nötig, um die strengen Anforderungen für die Datentrennung von Polizei und Nachrichtendiensten aus den Urteilen zum ATDG I, zum BKAG und zum BNDG auch zu verwirklichen. Zudem wäre bei einer einfachrechtlichen organisatorischen wie befugnisrechtlichen Zusammenlegung von Polizei und Nachrichtendiensten das grundrechtlich de facto verankerte informationelle Trennungsgebot überwunden293. Das Ergebnis, dass das einfache Recht insoweit eine verfassungsrechtlich geschützte Position überlagern könnte, ist mit dem Vorrang des Grundgesetzes in der Normhierachie unvereinbar294. Die Überlegung einer auch organisatorischen wie befugnisrechtlichen Trennung stimmt zudem mit der Aussage des Bundesverfassungsgerichtes in der – zugegeben etwas in die Jahre gekommenen – Entscheidung über die Aufgabenerweiterung des vormaligen Bundesgrenzschutzes überein. Die Dimensionen des Trennungsgebotes bedingen sich insoweit allesamt gegenseitig. Demnach erscheint es vorzugswürdig, gerade zum Schutz der Grundrechte die umfassende Verankerung des Trennungsprinzips im Grundgesetz (weiterhin) anzuerkennen295. Hinzutritt das Argument der Eingehung der Macht der Sicherheitsbehörden als Folge des Rechtsstaatsprinzips. Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe daher für den Verfassungsrang des Trennungsgebotes unter dem Grundgesetz – es handelt sich keineswegs um einen „frühen Fall von ,fake news‘“ 296. Eine letztendliche Klarheit lässt sich – dies werden Vertreter beider Seiten zugeben müssen – freilich ohne eine konkrete Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts, jedenfalls für die Praxis, oder einer expliziten Aufnahme des Trennungsgebots in das Grundgesetz nicht erreichen lassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber die Nachrichtendienste und deren Stellung im Rechtsstaat in der Verfassung konkretisiert, wie Art. 45d GG beweist.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick Nachdem vorab die Definition und Aufgabenstruktur der Nachrichtendienste generell dargelegt wurden, sollen im Folgenden die einzelnen Bundesbehörden 292 So auch erneut Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 37, 47; Cremer (Fn. 83), § 278 Rn. 25. 293 Linzbach/Gärditz, Totenschein (Fn. 64), S. 332 f., sehen auch innerhalb von zusammengelegten Behörden eine Umsetzbarkeit der Trennung nach „Datenräumen“, wodurch die Verhältnismäßigkeitsanforderungen des BVerfG an eine datenschutzrechtliche Zweckänderung weiterhin erfüllt werden könnten. 294 So zu Recht Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 37. 295 In der Tendenz – freilich ohne Betonung einer genuin verfassungsrechtlichen Verankerung – auch Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 10, der betont, dass die „Unterschiede“ zwischen präventiv-polizeilichen Behörden und Nachrichtendiensten „nicht unbedacht übergangen und generell aufgehoben werden“ sollten. 296 So aber ostentativ Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 295, der insgesamt davon ausgeht, das Trennungsgebot lasse sich aus ex post-Sicht nicht belegen.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
und ihre normativen Grundlagen in der gebotenen Kürze beleuchtet werden297. Die Sicherheitsarchitektur stellt sich im Bereich der Nachrichtendienste auf Bundesebene in Form einer Dreigliederung dar298. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (MAD) sowie der Bundesnachrichtendienst (BND) bilden die Trias der deutschen Dienste299. Die Nachrichtendienste sind dabei organisatorisch voneinander unabhängige, mit jeweils eigenen Aufgaben betraute Behörden300. Ganz allgemein lässt sich festhalten, dass die Informationserhebung des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Amtes für den Militärischen Abschirmdienst vornehmlich inlandsbezogen stattfindet, um Informationen über Bestrebungen zu gewinnen, die potentiell eine Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung sowie des Bestands des Staates darstellen. Sie bilden die deutschen Inlandsnachrichtendienste auf Bundesebene301. Der Militärische Abschirmdienst befasst sich einschränkend dabei jedoch ausschließlich mit sicherheitsgefährdenden Bedrohungen und verfassungsfeindlichen Bestrebungen gegen die bzw. innerhalb der Bundeswehr302. Der Bundesnachrichtendienst hingegen fungiert als einziger Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik303. 1. Bundesamt für Verfassungsschutz Gemäß Art. 73 I Nr. 10 lit. b, c und Art. 87 I 2 GG ist der Verfassungsschutz gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern, bei der dem Bund durch Errichtung einer Zentralstelle zur Informationssammlung eine Koordinierungsfunktion zukommt304. Eine Zentralstelle in diesem Sinne ist eine Bundesbehörde der unmittelbaren Bundesverwaltung, die den Bundesministerien nachgeordnet ist und wie eine Bundesoberbehörde keinen eigenen Verwaltungsunterbau besitzt305. Im 297 Dies erscheint – trotz zahlreicher Ausarbeitungen in der Literatur – der Vollständigkeit halber angezeigt, insbesondere hinsichtlich der Stellung und Bedeutung des BVerfSchG als Referenzgesetz im Bereich des Nachrichtendienstrechts des Bundes. 298 Von einer Darstellung der Landesämter für Verfassungsschutz wird vorliegend abgesehen, vgl. dazu monographisch etwa U. Wittmoser, Die Landesämter für Verfassungsschutz, 2012. 299 Von der „Trias“ der Nachrichtendienste spricht Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 27. 300 M. Baier, Die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste und deren Reform, 2009, S. 5. 301 Hempel, Neubestimmung (Fn. 45), S. 20. 302 T. Siems, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 1 MADG Rn. 19. 303 Stellvertretend Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 28 f. 304 Zur verfassungsrechtlichen Verortung der Aufgabe Verfassungsschutz etwa Dietrich (Fn. 157), § 3 Rn. 59; M. Rose-Stahl, Recht der Nachrichtendienste, 2. Aufl. 2006, S. 1 (36). Zur Frage der Möglichkeit einer stärkeren Zentralisierung von Verfassungsschutzaufgaben beim Bund und deren rechtlichen Grenzen instruktiv Gärditz, Zentralisierung (Fn. 82), S. 87 ff. 305 Hermes (Fn. 272), Art. 87 Rn. 47; Ibler (Fn. 272), Art. 87 Rn. 105.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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Gegensatz zu Bundesoberbehörden sind sie auf Koordinationsaufgaben zwischen dem Bund und den Ländern in bestimmten Verwaltungsbereichen beschränkt306. Zur Erfüllung der grundgesetzlichen Aufgabe „Verfassungsschutz“ führt der Bund in bundeseigener Verwaltung die Zentralstelle zur Sammlung von Unterlagen des Verfassungsschutzes gemäß Art. 87 I 2 GG, das Bundesamt für Verfassungsschutz, welches eine nachgeordnete Behörde des Bundesministeriums des Inneren ist307. Die Zentralstellenfunktion des Bundesamtes wurde durch die jüngste Reform des Verfassungschutzrechtes mit der Neufassung des § 5 BVerfSchG deutlich konturiert und tritt somit klarer als zuvor heraus, was eine erleichterte Aufgabentrennung zu den Landesämtern für Verfassungsschutz zur Folge hat308. Die einfachgesetzliche Beschreibung des Bundesamtes für Verfassungsschutz als Bundesoberbehörde in § 2 I 1 BVerfSchG ist für die verfassungsrechtliche Kompetenzverortung indes unerheblich, da seine verfassungsrechtliche Einordnung als Zentralstelle für das einfache Recht Bindungswirkung entfaltet309. Allerdings kann der Bund das Bundesamt für Verfassungsschutz mit eigenen Eingriffsbefugnissen zur Informationsbeschaffung versehen und muss die aktive Aufgabenwahrnehmung nicht allein den Ländern überlassen310. Somit dient das Bundesamt als Zentralstelle und ist gleichsam zu eigener Informationsgewinnung befugt, da der Begriff des Sammelns von Informationen auch deren Erhebung, freilich nur im Rahmen der Bundeszuständigkeit, umfasst311. Die Praxis geht ohnehin von der Möglichkeit der eigenen Informationserhebung durch das 306
Kment (Fn. 274), Art. 87 Rn. 5; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 50. Dazu Kment (Fn. 274), Art. 87 Rn. 7; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 71; ausführlich zur Stellung des BfV als Zentralstelle auch Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 36 ff. 308 Zur Neufassung der Abgrenzung der Aufgaben der Zentralstelle von denen der LfVs der Länder im Rahmen des Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes v. 17.11.2015 (BGBl. I, S. 1938); hierzu D. Marscholleck, Das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes, in: NJW 2015, S. 3611 (3612); zu dieser Reform auch Bergemann, Freiheit (Fn. 149), S. 1705 ff.; die allgemeine Genese des BVerfSchG fasst zusammen Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 43 ff. 309 Kment (Fn. 274), Art. 87 Rn. 7; M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 9. Aufl. 2021, Art. 87 Rn. 48; zum umstrittenen Verhältnis zwischen Art. 87 I 2 und III 1 GG und der Frage der Einordnung des BfV als Zentralstelle und bzw. oder als Bundesoberbehörde vgl. Ibler (Fn. 272), Art. 87 Rn. 146 ff. m. z. w. N.; von einem verwaltungsorganisatorischen Doppelcharakter des BfV als Zentralstelle und Bundesoberbehörde geht aus Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 146 ff.; ihm folgt Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 37. 310 Gärditz, Zentralisierung (Fn. 82), S. 104 ff.; Hempel, Neubestimmung (Fn. 45), S. 21; Hermes (Fn. 272), Art. 87 Rn. 54; Ibler (Fn. 272), Art. 87 Rn. 141; a. A. Kment (Fn. 274), Art. 87 Rn. 5, mit Verweis auf die grundlegende Kritik bei M. Bäcker, Das G 10 und die Kompetenzordnung, in: DÖV 2011, S. 840 (844); dazu auch ders., Zentralisierung (Fn. 105), S. 215 f. 311 Dazu erneut klarstellend Ibler (Fn. 272), Art. 87 Rn. 141; den Bundesbezug als absolute Mindestvoraussetzung betont auch Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 12 f., der freilich eine Datenerhebungskompetenz des BfV dem Grunde nach ablehnt. 307
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
Bundesamt für Verfassungsschutz aus, wie die Ermächtigungsgrundlage zur Informationserhebung gemäß § 8 I BVerfSchG eindeutig zeigt312. a) Aufgaben und Ressourcen Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat als Inlandsnachrichtendienst zusammen mit den Landesämtern die Hauptaufgabe der Abwehr von verfassungsfeindlichen Bestrebungen zum Schutze der wehrhaften Demokratie durch die Beobachtung und Aufklärung solcher Tendenzen313. Dazu werden Informationen über inländische islamistische, rechts- und linksextremistische und terroristische Bestrebungen, sowie solche ausländischen Bewegungen, die von Deutschland aus Gewalt gegen die jeweiligen Heimatländer richten und damit die Außenbeziehungen der Bundesrepublik und ihre internationale Stellung gefährden, gesammelt und ausgewertet314. Der Verfassungsschutz ist zudem für die Spionageabwehr in der Bundesrepublik zuständig315. Außerdem ist das Bundesamt im Bereich der IT-Sicherheit mit der Gefahr und Abwehr elektronischer Angriffe befasst316. Als präventive Spionageabwehr wirkt der Nachrichtendienst gemäß § 3 II BVerfSchG an der Sicherheitsüberprüfung von Personen und technischen Schutzmaßnahmen mit317. 312
Dazu Hermes (Fn. 272), Art. 87 Rn. 48. Statt vieler W. Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht (Fn. 124), §§ 3, 4 BVerfSchG Rn. 3; zum Ablauf einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz und deren Voraussetzungen unter Berücksichtigung der Prüfung der Partei „Alternative für Deutschland“ durch das Bundesamt J. F. Lindner/J. Unterreitmeier, Beobachtung durch den Verfassungsschutz, in: DVBl. 2019, S. 819 (819 ff.); ausführlich zu den Aufgaben des BfV abgeleitet aus der Organisationsstruktur des Bundesamtes Gusy (Fn. 73), § 1 Rn. 62 ff.; Genese und Aufgabe des BfV zusammenfassend auch K. Schmalenbach, Administrativer Verfassungsschutz: Bürger unter Beobachtung, in: M. Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 415 (422 ff.); zum Sonderproblem der Beobachtung von Abgeordneten vgl. monographisch N. Basakoglu, Die Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz, 2017. 314 Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 92 ff., analysiert im Detail die verschiedenen verfassungsfeindlichen Tendenzen, mit denen sich das BfV im Rahmen seines gesetzlichen Auftrages befasst; zum Extremismusbegriff und zur Phänomenologie des nachrichtendienstlich zu beobachtenden Extremismus ausführlich S. Salzborn, Extremismusbeobachtung, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. V § 3 Rn. 8 ff.; zur Beobachtung der organisierten Kriminalität durch den Verfassungsschutz Singer, Vorgaben (Fn. 44), S. 168 ff. 315 Statt aller ausführlich Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 76 ff.; zur Spionageabwehr auch Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 92; zur Ausrichtung der Spionageabwehr und deren Stärkung nach den Snowden-Enthüllungen in Richtung eines „360Grad-Blickes“, BT-Drs. 18/12850, S. 414 ff., 423 ff. 316 Siehe die eigene Aufgabenbeschreibung des BfV, abrufbar unter https://www. verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder (2.2.2021). 317 Ausführlich hierzu mit Beispielen aus der konkreten Praxis Roth (Fn. 313), §§ 3, 4 BVerfSchG Rn. 143 ff.; vertiefte Besprechung der präventiven Spionageabwehr ebenso bei Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 142 ff. 313
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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Das Bundesamt verfügte 2021 über ca. 4.200 hauptamtliche Mitarbeiter an den beiden Standorten Köln und Berlin, die in insgesamt elf Abteilungen tätig sind318. Nach Angaben des Bundesministeriums des Innern beläuft sich sein Etat auf ungefähr 467 Millionen Euro319. b) Befugnisse jenseits der Fernmeldeaufklärung Das BVerfSchG bildet die Grundlage für die Datenerhebungsbefugnisse des Bundesamtes320. Hierbei handelt es sich weitgehend als lex specialis zum allgemeinen Datenschutz des BDSG ausgestaltete bereichsspezifische Datenerhebungs- und Schutzvorgaben für diesen speziellen nachrichtendienstlichen Bereich321. Die 2018 in Kraft getretenen europäischen Datenschutzregelungen, namentlich die Datenschutzgrundverordnung (DSG-VO) und die Datenschutzrichtlinie Justiz und Inneres (DSRL-JI) (EU) 2016/680, finden hier keine Anwendung, da der gesamte Bereich der Nachrichtendienste gemäß Art. 2 Nr. 2 lit. a) DSG-VO, Art. 2 III DSRL-JI nicht in den Anwendungsbereich des Unionsdatenschutzrechtes fällt322. Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf nach § 4 I 5 BVerfSchG Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen im Sinne des § 3 I BVerfSchG
318 Zu den aktuellen Mitarbeiterzahlen siehe den Verfassungsschutzbericht 2021, abrufbar unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/ver fassungsschutzberichte/2022-06-07-verfassungsschutzbericht-2021.html (7.6.2022); die Gliederung der einzelnen Fachabteilungen ergibt sich aus dem Internetauftritt des BfV, abrufbar unter https://www.verfassungsschutz.de/DE/verfassungsschutz/bundesamt/ organisation/organisation_artikel.html (1.6.2022). 319 Eigeninformation des BMI, abrufbar unter https://www.bmi.bund.de/Shared Docs/behoerden/DE/bfv.html (1.6.2022). Nach Medienberichten erwartete das BfV für das Jahr 2017 eine Steigerung des Budgets auf damals 307 Mio. Euro, siehe dazu A. Kempmann/R. Pinkert/J. Strozyk, Millionen fürs Mitlesen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 208 v. 8.9.2016, S. 5. Dieser Vergleich zeigt einen starken Etatzuwachs in relativ kurzer Zeit. 320 Für einen Überblick im ersten Zugriff siehe Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 75 ff. 321 Zu bereichspezifischen Datenschutzregelung im Bereich der Nachrichtendienste ausführlich M. Albers, in: S. Brink/H. A. Wolff (Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, Grundlagen und Bereichsspezifischer Datenschutz, Syst. L. Datenschutzbestimmungen der Polizei- und Nachrichtendienstgesetze des Bundes (Stand: 1.11.2021), Rn. 133 ff. Ein bereichsspezifisches Datenschutzregime findet sich auch im MADG und BNDG. 322 Vom Vorrang des nationalen Datenschutzrechtes im Bereich der Nachrichtendienste gehen aus O. Mallmann, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 9 BVerfSchG Rn. 2 ff.; H. Greve, Das neue Bundesdatenschutzgesetz, in: NVwZ 2017, S. 737 (738); ausdrücklich nimmt dies auch der Gesetzgeber an, BT-Drs. 18/ 11325, S. 74; ebenso der BfDI, DSGVO – BDSG, Texte und Erläuterungen Info 1, S. 17, abrufbar unter https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/ INFO1.html (15.5.2022); siehe zur Anwendbarkeit des Unionsrechts noch ausführlich unter G. II.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
sammeln, wenn tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vorliegen323. Unter der Eingriffsschwelle der „tatsächlichen Anhaltspunkte“ sind konkrete und in gewissem Umfang verdichtete Umstände als Tatsachenbasis, die bei vernünftiger Betrachtung auf das Vorliegen von verfassungsfeindlichen Bestrebungen hindeuten, zu verstehen324. Hier zeigt sich exemplarisch der Unterschied nachrichtendienstlicher Eingriffsschwellen zur erhöhten – polizeirechtlichen – Tatbestandsvoraussetzung der konkreten Gefahr. Eine konkrete Befugnis zur Erhebung personenbezogener Daten aus offenen Quellen enthält die Generalklausel des § 8 I BVerfSchG, wonach das Bundesamt zur Erfüllung seiner Aufgaben diese Daten verarbeiten darf, soweit nicht die anwendbaren Bestimmungen des BDSG oder des BVerfSchG selbst dem entgegenstehen. Durch den Verweis auf die Aufgaben des Bundesamtes findet somit auch eine Kopplung an die Eingriffsschwelle des Vorliegens tatsächlicher Anhaltspunkte statt325. Zudem ist das Bundesamt mit der – sehr allgemein gehaltenen – Befugnis zur heimlichen Informationsbeschaffung von personenbezogenen Daten durch nachrichtendienstliche Mittel in § 8 II in Verbindung mit § 9 I BVerfSchG versehen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass auf diese Weise Erkenntnisse über Bestrebungen oder Tätigkeiten nach § 3 I BVerfSchG oder die zur Erforschung solcher Erkenntnisse erforderlichen Quellen gewonnen werden können oder dies zum Schutz der Mitarbeiter, Einrichtungen, Gegenstände und Quellen des Bundesamtes für Verfassungsschutz gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist326. Explizit hingegen wird der Einsatz von IMSI-Catchern gemäß § 9 IV BVerfSchG gestattet, wobei dies nur als ultima ratio zulässig ist327. Nur in Ausnahmefällen darf das Bundesamt zur Abwehr einer gegenwärtigen gemei-
323 § 4 BVerfSchG wurde ergänzt durch das Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts vom 5.7.2021 (BGBl. I S. 2274), siehe dazu vertieft Gitter/Marscholleck, Anpassung (Fn. 55), S. 195 f. – zuvor § 4 I 3 BVerfSchG a. F. 324 BVerwGE 137, 275 (284, Rn. 28, 30) – Bodo Ramelow; ferner die Definition bei Roth (Fn. 313), §§ 3, 4 BVerfSchG Rn. 101. 325 Zu dieser impliziten Befugnisbeschränkung Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 87; Roth (Fn. 313), §§ 8 BVerfSchG Rn. 8; Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 226. 326 Kritisch zum allgemeinen Eingriffstatbestand in § 9 I 1 Nr.1 BVerfSchG Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 8, der das Fehlen einer normenklaren Begrenzung der Regelung auf „bestimmte, nachrichtendienstliche beobachtungsbedürftige“ Vorgänge oder Gruppen moniert und von der Verfassungswidrigkeit des Zustandes de lege lata ausgeht. Der Begriff des nachrichtendienstlichen Mittels findet keine Anwendung mehr im Gesetz, sondern es wird im Gleichklang mit heimlichen Erhebungsbefugnissen zur Gefahrenabwehr von Informationsgewinnung gesprochen. Gleichwohl ist der Begriff des nachrichtendienstlichen Mittels nach wie vor geläufig, siehe dazu Lampe, Rechtfertigung (Fn. 58), S. 365; zu einzelnen nachrichtendienstlichen Mitteln etwa Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 98 ff.; Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 263 ff. 327 Zum IMSI-Catcher beim BfV stellvertretend Mallmann (Fn. 322), § 9 BVerfSchG Rn. 36 ff.; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 65; zur Kritik an seinen tatbestandlichen Voraussetzungen Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 9 sowie sogleich in Fn. 340.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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nen Gefahr auch eine akustische und optische Wohnraumüberwachung durchführen, § 9 II, III BVerfSchG328. Noch weitergehende Maßnahmen, wie der Einsatz der Online-Durchsuchung steht dem Bundesamt für Verfassungsschutz (noch) nicht zu329. Der Gesetzgeber wird nunmehr für alle Nachrichtendienste des Bundes im G 10 die Möglichkeit zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung eröffnen, wobei im Einzelnen wohl noch nicht abschließend geklärt ist, ob nicht die auch Grenze zur Online-Durchsuchung de facto durch diese Befugnis bereits überschritten wird330. Letztlich lehnt sich der Gesetzgeber an die entsprechenden strafprozessualen Regelungen an und versucht so eine Aufklärungslücke bei den Nachrichtendiensten zu schließen, die durch die Verbreitung verschlüsselter Messenger-Telekommunikation entstanden ist331. Für den Einsatz von verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen wurden in §§ 9a, 9b ebenfalls eigene – nicht unumstrittene – Rechtsgrundlagen geschaffen332. 328 Den Ausnahmecharakter und die Subsidiarität der nachrichtendienstlichen Ermächtigung betont Roggan, Geheimdienste (Fn. 59), S. 426 ff., 433, der zugleich für eine Streichung der Vorschrift plädiert, da sie im Regelungssystem der Nachrichtendienste einen „Fremdkörper“ darstelle, weil Nachrichtendienste keine Gefahrenabwehrbehörden seien, Art. 13 IV GG aber eine dringende Gefahr voraussetze; von einer „Fehlkonstruktion“ der optischen Wohnraumüberwachung für Nachrichtendienste spricht Gazeas, Stellungnahme (Fn. 336), S. 10; a. A. in Bezug auf die Frage, ob Nachrichtendienste per se von der Wohnraumüberwachung ausgeschlossen werden müssten, Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 305 ff., der dies verneint. 329 Kritisch zur derzeit noch fehlenden Kompetenz Marscholleck, Gesetz (Fn. 308), S. 3616; die Einsetzbarkeit der Online-Durchsuchung beim Verfassungsschutz aufgrund der strikten Anforderungen des BVerfG zur Einschreitschwelle bei der Online-Durchsuchung bezweifelt Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 80 ff. 330 Das Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts vom 5.7.2021 sieht in § 11 Ia 1 G 10 n. F. nunmehr die Überwachung und Aufzeichnung der laufenden Telekommunikation vor, um diese in unverschlüsselter Form zu erlangen. § 11 Ia 2 G 10 n. F. geht indes darüber hinaus und erlaubt auch die Erfassung vergangener Telekommunikationsdaten, die auf dem Endgerät des Nutzers ruhen, vgl. auch BT-Drs. 19/24785, S. 22; oben auch bereits Fn. 55. Siehe dazu vertieft Gitter/Marscholleck, Anpassung (Fn. 55), S. 195 f. Zum Gesetz(-entwurf) ausführlich auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verfassungsrechtliche Fragen zu Regelung des Einsatzes von Quellen-Telekommunikationsüberwachung durch Nachrichtendienste, WD 3-3000-293/20, S. 5 ff.; kritisch zur derzeitig anvisierten gesetzlichen Regelung BfDI, Stellungnahme an den Deutschen Bundestag zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts, S. 3 ff., abrufbar unter https://www.bfdi.bund.de/DE/Infothek/Transparenz/_functions/Stellungnahmen_ table.html (1.5.2022); zur Abgrenzung grundrechtlicher Schutzbereiche bei der OnlineDurchsuchung vom Fernmeldegeheimnis siehe noch unter F. I. 1. d); zur Online-Durchsuchung durch den BND Fn. 510. 331 So jedenfalls BT-Drs. 19/24785, S. 14 ff. 332 Kritisch hierzu Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 9, der die Anforderungen an den Rechtsgüterschutz von Verfassung wegen für unzureichend hält; ebenfalls kritisch zu den Regelungen allgemein Roggan, Geheimdienste (Fn. 59), S. 428 ff.; vgl. zur Neuschaffung einer Rechtsgrundlage für den Einsatz von Vertrauenspersonen durch das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes auch die Bewertung bei T. Blome/D. Sellmeier, Die neuen Regeln für den Einsatz von Vertrauensleuten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, in: DÖV 2016, S. 881
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
Wichtiger Teil des verfassungsschutzrechtlichen Befugnisspektrums sind die besonderen Auskunftsverlangen gegenüber privatwirtschaftlichen Unternehmen nach § 8a I, II BVerfSchG333. Dabei handelt es sich um eine Auskunftspflicht, die durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz (TBG), verlängert durch das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz (TBEG), im Nachgang der Verschärfung des Sicherheitsrechtes nach den Anschlägen vom 11. September etabliert und durch das Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes reformiert wurde334. Diese Auskunftsverpflichtungen für Private wurden nach der vorgesehenen Evaluierung der Maßnahmen zunächst verlängert335 und nunmehr dauerhaft entfristet336. Durch das Gesetz zur Anpassung der Regelungen über die Bestandsdatenauskunft an die Vorgaben aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 2020 wurde die Vorschrift neu gegliedert337. Hiernach darf das Bundesamt für Verfassungsschutz Auskünfte über Bestandsdaten bei Telediensten erbitten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für schwerwiegende Gefahren für ein Schutzgut des Verfassungsschutzes vorliegen, § 8a I BVerfSchG. Kontostände, Geldbewegungen, Kontostammdaten, Eintragungen in (881 ff.), die freilich aus Sicht des Verfassungsschutzes auf die Vorschriften blicken; vgl. allgemein zum Themenkomplex der verdeckten Ermittler und Vertrauenspersonen ferner J.-H. Dietrich, Geheime Mitarbeiter der Nachrichtendienste, in: ders./Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. VI § 2. 333 Teilweise wird in diesen Auskunftsansprüchen ein Verstoß gegen das Trennungsgebot gesehen, so etwa bei Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 53 ff. 334 Gesetz v. 9.1.2002, BGBl. I, S. 361 sowie Gesetz v. 5.1.2007, BGBl. I, S. 2; Mallmann (Fn. 322), § 8a BVerfSchG Rn. 1; das TBEG bespricht B. Huber, Das Bankgeheimnis der Nachrichtendienste – Zur Neuregelung der Auskunftsersuchen der Nachrichtendienste durch das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz vom 9.1.2007, in: NJW 2007, S. 881 (881 ff.); eine Darstellung der Genese des Auskunftsanspruches der Nachrichtendienste bietet Matz, Anti-Terrorismusgesetzgebung (Fn. 69), S. 93 ff., 211 ff. sowie S. 292 ff.; vgl. auch F.-R. Jach, Verfassungsrechtliche Fragen der Verlängerung und Neuregelung von Auskunftsrechten des Verfassungsschutzes, in: DÖV 2012, S. 797 (797 ff.). 335 Zur dritten Evaluation und den Anpassungen des BVerfSchG vgl. R. Gnüchtel, Das Gesetz zur Verlängerung der Befristung von Vorschriften nach den Terrorismusbekämpfungsgesetzen auf Grundlage der dritten Evaluation, in: NVwZ 2016, S. 13 ff. 336 Gesetz zur Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung v. 3.12.2020, BGBl. I, S. 2667; vgl. hierzu mit kritischen Anmerkungen zu den durch die Terrorismusbekämpfungsgesetze geschaffenen Auskunftsansprüchen für die Nachrichtendienste Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 3 ff.; N. Gazeas, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 2. November 2020 zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zur Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung (BT-Drs. 19/23706) sowie zur Unterrichtung durch die Bundesregierung – Evaluationsbericht nach Artikel 5 des Gesetzes zu Verlängerung der Befristung von Vorschriften nach den Terrorismusbekämpfungsgesetzen, AS-Drs. 19(4)627 F. 337 Gesetz zur Anpassung der Regelungen über die Bestandsdatenauskunft an die Vorgaben aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 2020 vom 30.3.2021 (BGBl. I S. 448).
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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Computerdistributions- und Buchungssysteme von Luftfahrtunternehmen, Telekommunikationsverkehrsdaten338 sowie Teledienstnutzungsdaten dürfen von den jeweiligen Unternehmen eingeholt werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass schwerwiegende Gefahren für die in § 3 I BVerfSchG genannten Schutzgüter drohen339. Die Eingriffsschwelle ist dadurch für die in § 8a I Nr. 1 bis 5 ausgeführten Maßnahmen zumindest semantisch erhöht340. Ferner erlaubt § 8d I, II BVerfSchG n. F. die Abfrage von Telekommunikationsbestandsdaten im Sinne der §§ 3 Nr. 6, 172 TKG n. F., § 2 II 2 TTDSG beim Telekommunikationsanbieter, von Zugriffscodes sowie die Abfrage von Bestandsdaten „hinter“ dynamischen IP-Adressen341. Dabei handelt es sich um die komplementär fachgesetzliche Abfragebefugnis – im Sinne des Doppeltürmodells des Bundesverfassungsgerichtes342 – zur telekommunikationsrechtlichen Öffnungsbestimmung nach § 113 I, III Nr. 3 TKG a. F., wonach Bestandsdaten an Nachrichtendienste übermittelt werden dürfen343. Das Bundesverfassungsgericht hat aber nunmehr entschieden, dass die Übermittlungsvorschrift des § 113 TKG a. F. mit Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG sowie Art. 10 GG unvereinbar ist; sie gilt bis zu einer Neuregelung des Gesetzgebers, längstens jedoch bis zum 31.12.2021, fort344. Die Befugnis zur Übermittlung der Telekommunikationsbestandsdaten, 338 Zur Erhebung von Telekommunikationsverkehrsdaten im Rahmen von Individualmaßnahmen durch Nachrichtendienste siehe C. I. 339 Zu den besonderen Auskunftsverlangen und ihren einzelnen Anforderungen detailliert K. F. Gärditz, Auskunftsersuchen gegenüber der Privatwirtschaft, in: Dietrich/ Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. VI § 1 Rn. 22 ff.; Mallmann (Fn. 322), § 8a BVerfSchG Rn. 4 ff.; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 116 ff. 340 Zu den Unsicherheiten bezüglich des Begriffes der „schwerwiegenden Gefahr“ Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 9 f.; von einer allenfalls gering erhöhten Anforderung geht aus Gärditz, ebda., Rn. 31; ebenso Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 102. 341 Zum Umfang der Daten, die mittels dieser sogenannten Auskunft im manuellen Verfahren abgerufen werden können und dem Unterschied zum sogenannten automatisierten Auskunftsverfahren nach §§ 111 f. TKG a. F. siehe instruktiv BVerfGE 155, 119 (130 ff., Rn. 7 ff.); ferner Gärditz (Fn. 339), § 1 Rn. 51 f. Die Änderungen des TKG resultieren aus dem Telekommunikationsmodernisierungsgesetz 2021 vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858). 342 BVerfGE 155, 119 (167, Rn. 93, 179, Rn. 130); BVerfGE 130, 151 (184). Hiernach muss der Gesetzgeber sowohl für die Auskunftsverlangen der Behörde als auch für die Übermittlung durch den Telekommunikationsanbieter eigene Befugnisse schaffen. Erst das Zusammenspiel der beiden öffne die Tür zur Informationsweitergabe; zum Doppeltürmodell etwa Siems (Fn. 248), § 7 Rn. 15; Brodowski, Überwachungsmaßnahmen (Fn. 110), S. 137; J. Eckhardt, in: M. Geppert/R. Schütz (Hrsg.), Beck’scher TKGKommentar, 4. Aufl. 2013, § 113 Rn. 12 ff. 343 Hierzu nochmals Gärditz (Fn. 339), § 1 Rn. 41. Zum bisherigen manuellen Auskunftsverfahren nach § 113 TKG a. F. und dessen Gegenstand vertieft G. Löwnau/ N. Ipsen, in: K.-D. Scheurle/T. Mayen (Hrsg.), Telekommunikationsgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2018, § 113 Rn. 6 ff. 344 BVerfGE 155, 119, Tenor Nr. 1. a), Nr. 2. Der Gesetzgeber hat auf den erforderlichen Änderungsbedarf mit dem Gesetz zur Anpassung der Regelungen über die Be-
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
der Zugriffcodes sowie der dynamischen IP-Adressen seien – auch mit Blick auf Übermittlungen an Nachrichtendienste – nicht mit den verfassungsrechtlich notwendigen Einschreitschwellen einer jedenfalls konkretisierbaren Gefahr versehen345. Spiegelbildlich hierzu war auch die Abfragebefugnis für Telekommunikationsbestandsdaten und dynamische IP-Adressen in § 8d I 1, II 1 BVerfSchG a. F. nicht an hinreichende Einschreitschwellen gekoppelt, da alleinig auf die Erforderlichkeit zur Aufgabenerfüllung des Bundesamtes abgestellt wird346; lediglich der Zugriff auf Zugangsdaten genügt nach Ansicht des Ersten Senats den verfassungsrechtlichen Anforderungen auch in der alten Fassung der Norm347. Verfahrensregelungen zum prozeduralen Grundrechtsschutz sind für die Auskunftsverlangen in §§ 8b, 8d II 2, IV BVerfSchG n. F. implementiert348. Abfragen nach § 8a I, II BVerfSchG n. F. sowie nach § 8d III BVerfSchG n. F. (Zugriffscodes)349 müssen vom Behördenleiter oder seinem Vertreter beantragt werden, worüber das Bundesministerium des Innern entscheidet; über diese Anordnungen unterrichtet das Ministerium monatlich die G 10-Kommission, welche die Auskunftsverlangen als unzulässig ablehnen kann, sowie im Abstand von höchstens drei Monaten das Parlamentarische Kontrollgremium350. Im Jahr 2018 hat das Bundesamt für Verfassungsschutz insgesamt 72 Auskunftsverlangen nach § 8a BVerfSchG a. F. standsdatenauskunft an die Vorgaben aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 2020 vom 30.3.2021 (BGBl. I S. 448) reagiert. 345 BVerfGE 155, 119 (182 ff., Rn. 136 ff.); ausführlich zur Entscheidung K. Graulich, Bestandsdatenauskunft II – Doppeltüren-Modell und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: NVwZ-Beilage 2020, S. 47 (47 ff.); Löffelmann, Bestandsdatenauskunft (Fn. 198), S. 182 ff.; siehe dazu auch schon Fn. 214. 346 BVerfGE 155, 119 (216, Rn. 218, 223 f., Rn. 239 f.). Siehe nunmehr ebenfalls die Neufassung des § 8d BVerfSchG durch das Gesetz zur Anpassung der Regelungen über die Bestandsdatenauskunft an die Vorgaben aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 2020 vom 30.3.2021 (BGBl. I S. 448). 347 BVerfGE 155, 119 (222, Rn. 234 f.). 348 Ausführlich zum prozeduralen Rechtsschutz sowohl nach § 8b BVerfSchG als auch durch den Verweis bei der Bestandsdatenauskunft auf die verfahrensrechtlichen Anforderungen gemäß § 8d I, II i.V. m. § 8b I 1 und 2, II BVerfSchG a. F. Gärditz (Fn. 339), § 1 Rn. 52 ff.; komprimierte Zusammenfassung des Verfahrens nach § 8b BVerfSchG a. F. bei Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 117; vgl. ferner auch Mallmann (Fn. 322), § 8b BVerfSchG Rn. 1 ff. 349 Der Zugriff auf die Zugangscodes, aber auch die Bestandsdatenabfrage, genügt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts den übergreifenden verfahrensrechtlichen Anforderungen an den Grundrechtsschutz durch Transparenz, individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle, BVerfGE 155, 119 (225 ff., 244 ff.); die mangelnde Dokumentationspflicht beim Abruf von dynamischen IP-Adressen sei indes verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar (227 ff., Rn. 248 ff.). 350 Gärditz (Fn. 339), § 1 Rn. 51 f.; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 29 f.; zur Prüfung der Auskunftsverlangen durch die G 10-Kommission auch Huber, Bankgeheimnis (Fn. 334), S. 882. Die Benachrichtigung des Parlamentarischen Kontrollgremiums galt indes nicht für Bestandsdatenauskünfte bezüglich Zugriffscodes i. S. d. § 113 I 2 TKG a. F. da § 8d II 2 BVerfSchG a. F. nicht auf § 8b III BVerfSchG verwies. Warum hier eine Ausnahme implementiert ist, bleibt allerdings unklar.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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und 28 IMSI-Catcher-Einsätze durchgeführt351. In Bezug auf die Abfrage von Telekommunikationsbestandsdaten ist öffentlich bekannt, dass im Jahr 2018 2915 IP-Adressen und 1026 E-Mail-Adressen im manuellen Verfahren nach § 8d I, II BVerfSchG a. F. in Verbindung mit § 113 TKG a. F. abgefragt wurden352. Das BVerfSchG dient mit seinen dargelegten, ausdifferenzierten Eingriffsbefugnissen als Stammgesetz des gesamten Nachrichtendiensterechts, auf das die Fachgesetze der anderen Nachrichtendienste verweisen353. 2. Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst Der Militärische Abschirmdienst war im Gegensatz zum Bundesamt für Verfassungsschutz keine Zentralstelle oder eigene Behörde, sondern unmittelbar organisatorisch und funktional in die Bundeswehr als Teil der Streitkräftebasis integriert. Mit Wirkung zum 1. August 2017 wurde das Amt für den Militärischen Abschirmdienst mit seinen acht Dienststellen direkt dem Bundesministerium der Verteidigung unterstellt und zeitgleich die Hauptstelle des Amtes in Köln in das Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst als zivile Bundesoberbehörde mit nachgeordnetem Bereich umgewandelt354. Das Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst hat seine kompetenzrechtliche Grundlage in Art. 73 I Nr. 1 GG als Teil der Bundeskompetenz der Verteidigung sowie die korrespondierende Verwaltungskompetenz in Art. 87a I 1 GG355. Organisatorisch gliedert sich der Militärische Abschirmdienst in das Bundesamt in Köln und acht nachgeordnete Stellen, verteilt über die Bundesrepublik, mit jeweils regionalen Zuständigkeiten356. a) Aufgaben und Ressourcen Der Militärische Abschirmdienst nimmt die Verfassungsschutzaufgaben im Bereich des Geschäftsbereiches des Bundesministeriums der Verteidigung wahr, wobei sich bereits durch die gesetzliche Aufgabenregelung des § 1 MADG die 351 BT-Drs. 1/22388, S. 5, davon waren 132 Haupt- und 52 Nebenbetroffene im Sinne des § 8a III Nr. 1 und 2 BVerfSchG a. F. 352 Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages 19/103, S. 12581; auf andere Daten im Sinne der §§ 95, 111 TKG a. F., die mittels manuellem Auskunftsverfahren zu ermitteln sind, geht die Antwort der Bundesregierung nicht ein. 353 Zum BVerfSchG als Stammgesetz des Nachrichtendiensterechts siehe nur Gusy (Fn. 229), Vorb. BNDG, Rn. 8; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 56 f. 354 Zur neuen Struktur Siems (Fn. 302), § 1 MADG Rn. 4; siehe dazu auch die aktuelle Selbstvorstellung des Bundesamtes für den Militärischen Abschirmdienst nach der organisationsrechtlichen Umgestaltung, abrufbar unter https://www.bundeswehr.de/ de/organisation/weitere-bmvg-dienststellen/mad-bundesamt-fuer-den-militaerischen-ab schirmdienst (1.5.2022). 355 Statt aller Bäcker, Kompetenzordnung (Fn. 310), S. 842. 356 Siehe zur internen Strukturierung des MAD und zu seinen Aufgaben ausführlich T. Siems, Aufgaben eines militärischen Nachrichtendienstes, in: DÖV 2012, S. 425 (425 ff.); Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 62 ff.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
Nähe zum Aufgabenspektrum des zivilen Verfassungsschutzes offenbart357. Der kodifizierte Auftrag umfasst die Spionageabwehr, die Sicherheitsüberprüfung von Angehörigen der Streitkräfte und die Erhebung und Auswertung von Bestrebungen, die sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung oder den Bestand oder die Sicherheit eines Landes richten, soweit sich die Spionage oder die Bestrebungen gegen Personen oder Dienststellen im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung richten oder von diesen ausgeht358. Dazu tritt die Abwehr des internationalen Terrorismus. Zudem ist der Militärische Abschirmdienst gemäß § 1 II MADG für die Beurteilung der Sicherheitslage (sogenannte Abschirmlage) der Dienststellen und Einrichtungen des Verteidigungsministeriums zuständig und der von verbündeten Streitkräften, sofern die Bundesrepublik hierfür in internationalen Vereinbarungen eine Verpflichtung zum Schutz übernommen hat. Im Rahmen dieser Zuständigkeit befasst sich der Militärische Abschirmdienst – im Gegensatz zu seiner Verfassungsschutzfunktion – auch mit Personen, die nicht der Bundeswehr angehören, um ein Bild der Abschirmlage zu erhalten. Insoweit nimmt der Abschirmdienst eine Mittlerrolle zwischen der Bundeswehr und den zivilen Nachrichtendiensten und sonstigen Sicherheitsbehörden ein359. Seit 2004 ist der Abschirmdienst zudem im Zuge der sich häufenden Auslandseinsätze der Bundeswehr gemäß § 14 MADG auch für die Abschirmung deutscher Soldaten bei besonderen Auslandsverwendungen oder humanitären Einsätzen zuständig, allerdings darf er nur innerhalb von Liegenschaften, in denen sich deutsche Kräfte befinden, Informationen erheben und auswerten360. Eine weitergehende militärische Aufklärung im Einsatzgebiet ist ihm hingegen untersagt361. Vielmehr beginnt hier der Bereich der Auslandsaufklärung, der dem Bundesnachrichtendienst obliegt362. Um die jeweiligen Aufga357
Gitter/Marscholleck, Anpassung (Fn. 55), S. 195 sprechen daher von der „18. Verfassungsschutzbehörde“. 358 Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 43; vertiefend zum MAD und dessen Aufgaben Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 131 ff.; ausführlich zur sog. Abschirmlage und dem Aufgabenfeld des MAD im allgemeinen auch Siems, ebd., S. 427 ff.; ebenso RoseStahl, Nachrichtendienste (Fn. 304), S. 131 ff.; ferner A. Hirsch, Die Kontrolle der Nachrichtendienste, 1996, S. 32 ff. 359 Siems (Fn. 302), § 1 MADG Rn. 23 f. 360 Kritisch hierzu aus einsatzpraktischer Sicht J. Hingott, Die Aufgabenerfüllung und Informationsgewinnung des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) im Auslandseinsatz, in: GSZ 2018, S. 189 (193 ff.). 361 Von den Tätigkeiten des MAD im Ausland sind Maßnahmen des gesetzlich nicht geregelten militärischen Nachrichtenwesens zu unterscheiden, die der militärischen Aufklärung im Ausland dienen, dazu vertiefend E. Brissa, Militärischer Auslandsgeheimdienst der Bundeswehr?, in: DÖV 2011, S. 391 (393 ff.). 362 Den Kompromiss der Aufgabenteilung von MAD und BND in Ländern, in denen die Bundeswehr eingesetzt ist, beleuchtet Siems, Aufgaben (Fn. 356), S. 430; zur Auseinandersetzung zwischen dem MAD und dem BND um die jeweiligen Kompetenzen und die „Angst, speziell des BND, vor drohendem Machtverlust“ vertieft auch Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 72 ff. m.w. N. (Zitat S. 73).
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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benbereiche abzugrenzen und die deutsche nachrichtendienstliche Tätigkeit im Einsatzland zu koordinieren, schließen der Militärische Abschirmdienst und der Bundesnachrichtendienst für jeden einzelnen Auslandseinsatz der Bundeswehr gemäß § 14 VI 4 MADG eine Zusammenarbeitsvereinbarung ab. Zur Erfüllung seiner Aufgaben beschäftigte der Militärische Abschirmdienst im Jahr 2021 1.398 Mitarbeiter in der Zentrale in Köln und acht weiteren Standorten bundesweit. Dabei erhielt er einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt von rund 137 Millionen Euro363. b) Befugnisse jenseits der Fernmeldeaufklärung Der Militärische Abschirmdienst kann, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz, gemäß § 4 I MADG in Verbindung mit § 8 BVerfSchG, personenbezogene Daten offen erheben364. Eine verdeckte Erhebung mit nachrichtendienstlichen Mittel ist nach §§ 4 I, 5 I MADG in Verbindung mit §§ 8 II, IV, V, 9 BVerfSchG zulässig zur Erfüllung der Aufgaben des Abschirmdienstes nach § 1 I und § 2 I MADG sowie zur Erforschung der dafür erforderlichen Quellen oder zur Eigensicherung365. Die Befugnisse zur akustischen und optischen Wohnraumüberwachung und zum Einsatz des IMSI-Catchers nach § 9 II bis IV BVerfSchG finden gemäß § 5 S. 2 MADG entsprechende Anwendung366. In Bezug auf die besonderen Auskunftsverlangen erklärt § 4a MADG die Regelungen der §§ 8a, 8b BVerfSchG für anwendbar, wobei anstelle der Schutzgüter des Verfassungsschutzes nach § 3 I BVerfSchG diejenigen des Militärischen Abschirmdienstes aus § 1 I MADG treten und an die Stelle der Zuständigkeit des Bundesministeriums des Innern die des Bundesministeriums der Verteidigung tritt367. § 4b S. 1 MADG a. F. verwies zudem auf den verfassungsrechtlich nicht tragfähigen § 8d BVerfSchG a. F.; der Gesetzgeber hat, wie dargelegt, bereits auf diesen Missstand reagiert368. Im Jahr 2018 führte der Militärische Abschirmdienst fünf Auskunftsverlangen und drei IMSI-Catcher-Einsätze durch369. 363 Die Angaben zu Personalstärke und Etat entstammt dem jüngsten Verfassungsschutzbericht 2021, abrufbar unter https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/pu blikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2022-06-07-verfassungsschutzbericht-2021. html (7.6.2022). 364 Siems (Fn. 302), § 4 MADG Rn. 3 ff. 365 Zu den Einzelheiten siehe erneut die Kommentierung von Siems (Fn. 302), § 4 MADG Rn. 7; kritisch zur allein durch die Erforderlichkeit zur Aufgabenerfüllung „beschränkte“ allgemeine Ermächtigung zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel in § 5 S. 1 Nr. 1 MADG. 366 Siems (Fn. 302), § 5 MADG Rn. 3 ff.; zur Verweisung auf § 9 BVerfSchG auch Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 114. 367 Zusammenfassend Gärditz (Fn. 339), § 1 Rn. 69. 368 § 4b S. 1 MADG a. F. ist durch den Verweis auf den verfassungswidrigen § 8d I 1, II 1 BVerfSchG a. F. ebenfalls mit dem Grundgesetz unvereinbar, BVerfGE 155, 119 (216, Rn. 218, 223 f., 239 f.). Die Vorschrift ist durch das Gesetz zur Anpassung der Regelungen über die Bestandsdatenauskunft an die Vorgaben aus der Entscheidung des
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
Die Verweisungen unterstreichen den Charakter des BVerfSchG als Stammgesetz des Nachrichtendiensterechts, auf welches die jeweiligen Fachgesetze in Form einer komplexen Verweisungstechnik Bezug nehmen370. Die Verweisungstechnik führt im gesamten Nachrichtendienstrecht indes zu einer nicht mehr unmittelbar nachvollziehbaren Verflechtung der Fachgesetze, die im Hinblick auf den Grundsatz der Normenklarheit und Bestimmtheit – gerade durch Verweisungskaskaden – verfassungsrechtliche bedenklich erscheint371. 3. Bundesnachrichtendienst Der Bundesnachrichtendienst ist der wohl bekannteste und schillerndste deutsche Nachrichtendienst, um den sich zahlreiche Spionageschichten ranken. In seiner durchaus wechselvollen Geschichte stand der Dienst aber auch bereits mehrfach im Mittelpunkt diverser kleinerer und größerer politischer Kontroversen372. Der Bundesnachrichtendienst ist in Form einer Bundesoberbehörde organisiert, für deren Errichtung sich die Verwaltungskompetenz des Bundes aus Art. 87 III 1 GG ergibt373. Die hiermit korrespondierende GesetzgebungskompeBundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 2020 vom 30.3.2021 (BGBl. I S. 448) novelliert worden. 369 BT-Drs. 19/22388, S. 5, davon waren acht Haupt- und vier Nebenbetroffene. 370 Zur weitgehenden Übereinstimmung von BVerfSchG und MADG auch Siems (Fn. 302), § 1 MADG Rn. 3; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 135 f. 371 BVerfGE 154, 152 (266, Rn. 215); kritisch zur Regelungstechnik per Verweis auch Gazeas, Stellungnahme (Fn. 336), S. 11 f.; Dietrich, Ansätze (Fn. 229), S. 111 f.; zur Bedeutung der Normklarheit im Recht der Nachrichtendienste allgemein ders. (Fn. 157), § 3 Rn. 48 ff. 372 Die Liste an Vorgängen beim und um den BND, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurden, ist lang; hier seien nur einige Beispiele angeführt. Unlängst wurde bekannt, dass der BND zusammen mit der CIA von den 1960er bis Anfang der 1990er Jahre gemeinsam ein Schweizer Unternehmen unterhielt, das Verschlüsselungsgeräte herstellte, welche an zahlreiche Regierungen und Nachrichtendienste – auch europäische – weltweit geliefert wurden. Durch Hintertüren in der Verschlüsselung konnte der BND diese Kommunikation mitlesen und die Bundesregierung detailgenau informieren. Die Einkünfte aus dem Verkauf der BND-Anteile wurden dessen Haushalt – an der parlamentarischen Kontrolle vorbei – zugeschlagen, siehe zur sogenannten Operation Rubikon https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/operation-rubikon– 100.html (11.2.2020); bedeutsam waren ferner freilich die Snowden-Enthüllungen und die folgende Affäre aufgrund der Zusammenarbeit des BND mit der NSA mit der Konsequenz der – letztlich verfassungsrechtlich gescheiterten – Normierung der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung (siehe zur Kooperation auch unter C. IV. 2. g) sowie E. II.). Unter Druck geriet der BND zudem in der Vergangenheit, als die Bespitzelung von Journalisten öffentlich wurde, die kritisch mit Hilfe von Informanten über den BND berichtet hatten bzw. sogar als Quellen angeworben wurden, siehe hierzu und zum sog. Schäfer-Bericht etwa M. Gebauer, Die späte Reue des BND, abrufbar unter https:// www.spiegel.de/politik/deutschland/journalisten-bespitzelung-spaete-reue-des-bnd-a-41 5922.html (15.1.2020). 373 Kment (Fn. 274), Art. 87 Rn. 7 f.; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 141; Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 68; dazu bereits Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 1),
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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tenz für den Bund im Bereich des Rechts der gesamten Auslandsaufklärung und Einrichtung einer hierfür zuständigen Stelle resultiert aus der ausschließlichen Bundeskompetenz zur Reglung der auswärtigen Angelegenheiten gemäß Art. 73 I Nr. 1 Var. 1 GG374. Dies bestimmt die klare Ausrichtung des Bundesnachrichtendienstes als genuinen Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik – es handelt sich nicht um eine gleichfalls mit Verfassungsschutzaufgaben im engeren Sinne betraute Behörde375. Der Bundesnachrichtendienst ist eine Bundesoberbehörde, die keinem Fachministerium direkt zugeordnet, sondern im Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes verortet ist, dem auch die Weisungsbefugnis gegenüber dem Dienst zusteht376. Als ressortübergreifende und integrierte Behörde nimmt er insoweit organisationsrechtlich eine Sonderstellung ein377. Der Bundesnachrichtendienst berichtet gemäß § 33 S. 1 BNDG dem Bundeskanzleramt über seine Tätigkeit, zudem aber auch den jeweils zuständigen Ministerien, etwa dem Auswärtigen Amt, dem Bundeswirtschaftsministerium oder dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, über seine Erkenntnisse. Er ist damit ein Informationsdienstleister für die gesamte Bundesregierung378. Die rechtliche und politische Verantwortung für die Handlungen des
S. 76; a. A. Bäcker (Fn. 149), B. Rn. 238, der für eine Verwaltungskompetenz aus Art. 87 I 1 GG plädiert, da der Bundesnachrichtendienst als Teil des Auswärtigen Dienstes zu begreifen sei; aus der älteren Literatur zu der Situation, dass der BND ohne gesetzliche Grundlage existierte, Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 41 ff.; a. A. ebenfalls Gusy, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 275 f., der davon ausgeht, dass Art. 87 I 2 GG auch für den BND einschlägig ist, da dieser Aufgaben des Verfassungsschutzes übernehme, im Ergebnis sodann aber auch aufgrund der damalig nicht vorhandenen Gesetzesgrundlage zur Verfassungswidrigkeit des BND gelangt. 374 BVerfGE 156, 11 (42 f., Rn. 80); grundlegend zur Auslandsaufklärungskompetenz BVerfGE 154, 152 (232 ff., Rn. 124 ff.); BVerfGE 100, 313 (369 f.); für die Literatur F. Wittreck, in: Dreier, GG II (Fn. 277), Art. 73 Rn. 12; A. Uhle, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG (Fn. 272), Art. 73 (2010), Rn. 41; Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 28; a. A. Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 14 ff., der primär auf Art. 73 I Nr. 10 lit. b GG als Kompetenzgrundlage abstellt; ebenso Gusy, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 275 f., der hier Art. 73 I Nr. 10 lit. b i.V. m. 87 I 2 GG als einschlägig erachtet; Zusammenfassung der Diskussion um die allgemeine Kompetenzgrundlage des BND mit Blick auf dessen funktionale Ausrichtung Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 62 ff. m.w. N. Verfassungspolitisches Plädoyer für eine Aufnahme des BND in den Art. 73 Nr. 10 GG, um diesen in ein „sicherheitsverfassungsrechtliches Setting zu heben“, bei Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 22. 375 Maßgeblich hierfür aber die vorgenannten Gegenmeinungen. 376 Gusy (Fn. 73), § 1 Rn. 88; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 142; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 1), S. 218. 377 K. F. Gärditz, Die Rechtsbindung des Bundesnachrichtendienstes bei Auslandstätigkeiten, in: DV 48 (2015), S. 463 (463); K. Porzner, Der Bundesnachrichtendienst im Gefüge der öffentlichen Verwaltung, in: DV 26 (1993), S. 235 (249). 378 BVerfGE 100, 313 (383); so auch die Qualifikation des ressortübergreifenden Informationsauftrages des BND bei Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 142; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 1), S. 218.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
Dienstes liegt indes beim Kanzleramt379. Persönlich ist damit zuvorderst der Chef des Bundeskanzleramtes für den Dienst in Form der Fachaufsicht verantwortlich, der durch einen Staatsminister, den Beauftragten für die Nachrichtendienste, unterstützt wird; letztendlich verbleibt die übergeordnete politische Verantwortung aber bei der Bundeskanzlerin bzw. dem Bundeskanzler380. a) Historischer Hintergrund des Dienstes Der Bundesnachrichtendienst hat seine Ursprünge – die hier nur angerissen werden können381 – in der sogenannten Operation Gehlen (OG), benannt nach dem ehemaligen Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) im Oberkommando des Heeres (OKH) der Deutschen Wehrmacht, Generalleutnant Reinhard Gehlen, während des 2. Weltkrieges. Die Abteilung hatte die Aufklärung des Gegners in der Sowjetunion zur Aufgabe und konnte nach dem Krieg ihr detailliertes Wissen und ihre Fähigkeiten den Amerikanern „andienen“ 382. Aufgrund des sich abzeichnenden Beginns des Kalten Krieges und der Auflösung der Allianz mit der Sowjetunion war es für die Vereinigten Staaten von erheblichem Interesse, an die Erkenntnisse der Abteilung Fremde Heere Ost zu gelangen, und Gehlen hatte eine mit seinem in der Tiefe einzigartigem Wissen über die Sowjetunion und seinen ehemaligen Untergebenen eine gewichtige Verhandlungsmasse zur Hand, um nach dem Krieg weiter arbeiten zu dürfen, aber auch, um aus der Kriegsgefangenschaft entlassen zu werden383. Die Amerikaner wiederum be-
379 Staatsorganisationsrechtliche Einordnung des BND bei Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 8 ff.; ebenso Baier, Kontrolle (Fn. 300), S. 9. 380 Hierzu Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 62; zur Verortung des BND in der Organisationsstruktur des Bundeskanzleramtes Porzner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 377), S. 236 f.; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 1), S. 218 ff., qualifiziert den Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin als für den BND zuständigen „Ressortminister“; ausführlich zum Beauftragten für die Nachrichtendienste wie zur Fachaufsicht über den BND durch das Bundeskanzleramt mit den jeweiligen internen Zuständigkeiten ausführlich S.-R. Eiffler, Exekutivkontrolle, in: Dietrich/ders., Handbuch (Fn. 70), Kap. VII § 1 Rn. 33 ff. 381 Vgl. zur Historie des BND auch die ausführliche Forschung der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968, Projekt und assoziierte Publikationen vorgestellt unter http://www.uhkbnd.de/ (15.1.2020). 382 Ausführlich zur Entstehung des BND und dessen Geschichte Krieger, Geschichte (Fn. 55), S. 264 ff.; Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 3 ff.; ein Überblick über die Historie des BND ebenso bei Gusy, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 274; vgl. ferner die autobiographische Abhandlung des ersten Präsidenten des BND R. Gehlen, Der Dienst, 1971. Diese Darstellung kann freilich nicht als verifizierte, wissenschaftliche Ausarbeitung verstanden werden und muss mithin teils kritisch gesehen und hinterfragt werden. 383 Die Verhandlungen Gehlens mit den Amerikanern und die Gründung der Organisation Gehlen sowie deren Tätigkeiten im Anfangsstadium bespricht N.-F. Weisser, Die Entwicklung des Bundesnachrichtendienstes, 2014, S. 80 ff.; guter Überblick über die
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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trachteten die Abschöpfung der nachrichtendienstlichen Erkenntnisse und Fähigkeiten von Gehlen und seinen Mitstreitern als legitimen Teil der Kriegsbeute, der als Lehrmaterial zur Weiterentwicklung der eigenen Streitkräfte dienen sollte384. Die herausragende Bedeutung der Arbeit Gehlens und seiner Mitarbeiter für die Siegermacht lässt sich daran ermessen, dass im Gegensatz zu allen sonstigen geheimen Polizeistellen Deutschlands keine Auflösung mit dem strikten Verbot der Neugründung bei der Operation Gehlen stattfand, sondern die Fortsetzung der Arbeit aus der Kriegszeit – mit zum Teil erheblich vorbelastetem NS-Personal – von den Vereinigten Staaten gewollt und gefördert wurde385. Zunächst war die Organisation Gehlen dem US-Militär zugeordnet und lieferte diesem insbesondere während der Berlinblockade 1948/49 sehr ergiebige Erkenntnisse über sowjetische Truppenbewegungen in Ostdeutschland386. Ab Juli 1949 operierte sie sodann als anerkannter und unabhängiger deutscher Verbund innerhalb des US-Amerikanischen Nachrichtendienstes Central Intelligence Agency und wurde auch aus deren Mitteln alimentiert387. In der Folge entwickelte sich die ehemalige Wehrmachtseinheit zum „Urtyp des modernen Auslandsnachrichtendienstes“, der Informationen aus allen Bereichen der Ostblockstaaten sammelte und den Amerikanern zur Verfügung stellte388. In der Bundesrepublik erhielt der Bundesnachrichtendienst seinen heutigen Namen 1955, als er per geheimem Kabinettsbeschluss in den bundesdeutschen Behördenapparat übernommen wurde389. Seine Errichtung und Tätigkeit wurden indes als Ausdruck der Organisationsgewalt der Bundesregierung angesehen390. Maßgeblich als Folge des Volkszäh-
historischen Abläufe ebenso durch K.-L. Haedge, Das neue Nachrichtendiensterecht für die Bundesrepublik Deutschland, 1998, S. 201 ff. 384 Dazu die Analyse aus der geschichtswissenschaftlichen Forschung von W. Krieger, Geschichte der deutschen geheimen Nachrichtendienste: eine historische Skizze, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. I § 1 Rn. 71 ff., der die breite Kooperation Gehlens mit den Amerikanern darstellt. 385 Durch das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 31 v. 1.7.1946 wurden sämtliche politischen Polizeien aufgelöst und deren Neugründung verboten, dazu Weisser, Entwicklung (Fn. 383), S. 78; vgl. zur NS-Vorbelastung des BND-Personals jener Zeit auch die neueste Forschung der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968, hier konkret die Studien von S. Nowak, Sicherheitsrisiko NS-Belastung, 2016 sowie C. Rass, Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes, 2016. 386 Krieger (Fn. 384), § 1 Rn. 80 ff. 387 Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 139 f.; Haedge, Nachrichtendiensterecht (Fn. 383), S. 203. 388 Prägnante Qualifizierung bei T. Rieger, Nachrichtendienst und Rechtsstaat, in: ZRP 1985, S. 3 (3). 389 Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 6; F. Ebert, in: Geheimdienste (Fn. 92), Einleitung Rn. 14. 390 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 464; Gusy (Fn. 229), Vorb. BNDG Rn. 1; dazu schon E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 238 f.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
lungsurteils erhielt der Dienst erst 1990 (!) eine gesetzliche Grundlage, als das Gesetz über den Bundesnachrichtendienst (BNDG) erlassen wurde391. b) Auftrag zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland aa) Das Produkt „intelligence“: Von Rohdaten zu Lageeinschätzungen Der Bundesnachrichtendienst ist als Auslandsnachrichtendienst zuständig für die Informationsgewinnung über grenzüberschreitende oder rein ausländische Vorgänge, um der Bundesregierung, wie bereits erwähnt, die notwendigen Informationen zur Sicherung ihrer außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit zur Verfügung zu stellen392. Die hierbei beschafften Informationen werden in der, insoweit wohl führenden, anglo-amerikanischen Nachrichtendiensteforschung auch als Produkt „intelligence“ beschrieben, wobei zwischen der „strategic intelligence“, der klassischen Informationsgewinnung über fremde Staaten, und der „operational“ bzw. „tactical intelligence“ als Informationsgewinnung für militärisch operative Zwecke, aber auch für die Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung, unterschieden wird393. Der Weg von nachrichtendienstlich erfassten reinen Rohdaten hin zu einer fertig aufbereiteten, komprimierten Lageeinschätzung für politische Entscheider, der eigentlichen „intelligence“, wird als Zyklus beschrieben: Nach diesem grundlegenden Modell lässt sich der Arbeitsablauf zumindest von westlichen Nachrichtendiensten in die Schritte der Definition des Aufklärungsauftrages, des Sammelns von Informationen, des Verarbeitens und des Aufbereitens, der Analyse und Produktion (des Produktes „intelligence“) sowie der Verteilung an die Abnehmer und Einholung von Feedback dieser unterteilen394. Demnach wird zunächst durch die politische Entscheidungsebene das Aufklärungsziel definiert. Die erforderlichen Rohdaten
391 BGBl. I, S. 2954, 2979; zur Genese des BNDG im Schatten des Volkszählungsurteils Gusy (Fn. 229), Vorb. BNDG Rn. 6 ff.; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 40; zur Rechtslage des BND vor Erlass des BNDG unter Berücksichtigung des damaligen G 10 und der nur insoweit vorhandenen Rechtsgrundlagen schon E. Beier, Geheime Überwachungsmaßnahmen zu Staatssicherheitszwecken außerhalb des Gesetzes zur Beschränkung des Art. 10 GG (G 10), 1988, S. 63 f. 392 Siehe nur erneut BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 127, 145 f., Rn. 158). 393 Zu dieser Unterscheidung und den Definitionen von „intelligence“ mit zahlreichen Nachweisen aus der anglo-amerikanischen Literatur C. Bareinske, Auslandsaufklärung, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. V § 8 Rn. 4 ff.; D. Omand, Securing the State, London, 2010, S. 203 sieht einen Großteil der nachrichtendienstlichen Tätigkeit im Feld der „tactical intelligence“; vgl. allgemein zum anglo-amerikanisch geprägten Begriff der „intelligence“ als Produkt der Auslandsaufklärung M. Warner, Wanted: A Definition of „Intelligence“, in: Studies in Intelligence 46/3 (2002), S. 15 (15 ff.). 394 Zum Intelligence Cycle Bareinske, ebda., Rn. 12 ff.; C. Hadan, Die strategische Fernmeldeüberwachung des Bundesnachrichtendienstes, 2017, S. 17 ff., überträgt das Modell, in Abstufungen, auf den BND und dessen Auftrag zur Auslandsaufklärung sowie seine Kompetenzen.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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werden daraufhin mit nachrichtendienstlichen Mitteln gesammelt und im Anschluss in eine verwertbare Form gebracht, etwa durch Übersetzung, Entschlüsselung und das Überführen in Datenbanken. Die anschließende nachrichtendienstliche Analyse definiert Problemfelder, untersucht diese, zieht hieraus Rückschlüsse und bietet dadurch Erklärungsansätze für aktuelle Vorkommnisse, stellt Hypothesen über mögliche zukünftige Handlungen auf und versucht weitergehende Einschätzungen über künftige Entwicklungen; etwa das Vorhersehen von Terroranschlägen und sonstigen staatsfeindlichen Großlagen. Diese aufbereitete, finalisierte Einschätzung wird dann als hochverdichtetes Lagebild – sogenannte finished intelligence – den jeweiligen Abnehmern in Politik und Militär zugeleitet395. Das theoretische Denkmodell des Zyklus’ spiegelt sich weitgehend im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes wider. bb) Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung Auf rechtlicher Ebene gibt das Fachgesetz die Aufgabe des einzigen deutschen Auslandsnachrichtendienstes vor, wonach der Bundesnachrichtendienst zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für Deutschland sind, erforderliche Informationen sammelt und auswertet, § 1 II BNDG. Da der Bundesnachrichtendienst indes nicht nur zu verteidigungspolitischen, sondern auch rein außenpolitischen Fragen Informationen sammelt, muss der Wortlaut teleologisch dahingehend reduziert werden, dass außen- oder sicherheitspolitische Erkenntnisse erzielt werden sollen396. Unter dem „Sammeln“ von Informationen ist sowohl die passive Entgegennahme als auch die zielgerichtete Beschaffung von Informationen zu verstehen397. Enger werden die Voraussetzungen dann, wenn der Bundesnachrichtendienst personenbezogene Daten „erhebt“, wie § 1 II 2 BNDG klarstellt. Hieraus ergibt sich, dass der Begriff des Sammelns weiter gefasst sein muss als derjenige der Erhebung398. Die „Auswertung“ umfasst die Aufarbeitung der gesammelten Informationen durch deren Bewertung, Aufbewahrung und eventuelle Weitergabe, unter dem Gesichtspunkt ihrer nachrichtendienstlichen Relevanz399. Das zentrale inhaltliche Schutzgut des Bundesnachrichtendienstes ist die äußere Sicherheit der Bundes395 Siehe zum Ablauf des „intelligence“-Zyklus nur Bareinske (Fn. 393), § 8 Rn. 13 ff., zum Begriff finished intelligence Rn. 29 ff.; ebenso Omand, Securing (Fn. 393), S. 119 ff. 396 So die teleologische Reduktion bei Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 71. 397 So die weite Auslegung des Begriffes bei Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 26 f.; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 73 f.; Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 88; a. A. Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 38, der die Entgegennahme von Informationen Dritter und von Zufallsfunden nicht erfasst sieht. 398 So auch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 27 f.; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 74. 399 Spitzer, Nachrichtendienste (Fn. 42), S. 90; Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 89.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
republik Deutschland400. Dies umfasst auch Gefahren, die aus dem Ausland drohen und eine hinreichende internationale Dimension aufweisen401. Der Begriff der „außen- und sicherheitspolitischen“ Erkenntnisse ist breit gefächert und wird ebenso breit ausgelegt. Der Gesetzgeber hat sich ganz bewusst für eine derart offene Formulierung entschieden, da gesetzlich nicht hinreichend definierbar sei, was in den Bereichen äußere Sicherheit und Politik im Einzelfall von Bedeutung sei402. Dies können Informationen über politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, technische und militärische Zusammenhänge des jeweiligen Ziellandes oder der Zielgruppierung bzw. Person(en) sein403. Die Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes ist indes in einer internen Dienstanweisung weitergehend konkretisiert404. Diese entstammt zwar bereits dem Jahr 1964, als die rechtliche Grundlage in Form des BNDG noch in weiter Ferne war und kann bereits aus Gesichtspunkten der Normhierachie heute keine eigenständige Geltung mehr beanspruchen405. Es erscheint jedoch plausibel, dass sich an den grundlegenden Aufgaben – im großen Gegensatz zu den nachrichtendienstlichen Mitteln, insbesondere der technischen Fernmeldeaufklärung – wenig geändert hat, weswegen die Dienstanweisung auch noch heute grundsätzlich zum Verständnis der Aufgaben des Bundesnachrichtendienstes zur Hilfe genommen werden kann, was in der Literatur auch breit geschieht406. Demnach hat der Dienst folgende Aufgaben, die hier kurz dargelegt werden sollen: Erstens die hier am vordringlichsten interessierende nachrichtendienstliche Auslandsaufklärung durch Beschaffung und 400 Für eine lediglich mittelbare Schutzrichtung des BND in Bezug auf den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung, die primär dem BfV überantwortet sei, wie hier ebenfalls Warg (Fn. 148), Rn. 83; weitergehend hingegen Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 26 f., der für eine ebenso verfassungsschützende Tätigkeit des BND in seinem Kompetenzbereich plädiert; so auch F. Meinel, Nachrichtendienstliche Auslandsaufklärung als Kompetenzproblem, in: NVwZ 2018, S. 852 (855); für einen Überblick zu den Positionen, die mit der Debatte um die korrekte Gesetzgebungskompetenz für den BND verzahnt ist, siehe oben schon Fn. 374. 401 BVerfGE 154, 152 (233 f., Rn. 128). 402 Siehe dazu die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zum BNDG BT-Drs. 11/7235, S. 110. 403 Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 306; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 222. 404 Vgl. den Abdruck in BT-Drs. 7/3246, S. 47. 405 Zur Einordnung der Dienstanweisung von 1964 unter dem BNDG, insbesondere mit Blick auf die politisch wichtige, aber selten öffentlich hervortretende Vermittlerrolle des BND bei Entführungsfällen von deutschen, aber auch ausländischen Staatsbürgern im Ausland und deren Rechtfertigung unter dem Aufgabenprofil des Dienstes, H. Meiertöns, Die nachrichtendienstliche Vermittlerrolle bei Entführungen, in: GSZ 2018, S. 219 (219, 223 f.). 406 Auf die Dienstanweisung im Zuge der Konkretisierung des Aufgabenprofils des BND verweisen Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 146; S. Sule, Spionage, 2005, S. 131; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 222 f.; für die Zeit vor dem Erlass des BNDG Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 76 ff.; Gusy, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 277 ff.; einschränkend hingegen mittlerweile Warg (Fn. 148), § 1 Rn. 84.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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Auswertung von Informationen auf außenpolitischem, wirtschaftlichem, rüstungstechnischem und militärischem Gebiet; zweitens die Aufklärung gegnerischer Nachrichtendienste (Gegenspionage); drittens die Erledigung sonstiger Aufträge des Bundeskanzlers und der Bundesregierung im Ausland (sogenannte Sonderaufträge), welche heute keine unmittelbare Abbildung im Aufgabenspektrum mehr findet, sowie viertens die Spionageabwehr innerhalb des Dienstes, sofern der Chef des Bundeskanzleramtes nicht eine andere Regelung trifft407. (1) Auftrag Auslandsaufklärung Der Auftrag des Bundesnachrichtendienstes zur Auslandsaufklärung ist vor allem eine „Lage-, Milieu- und Strukturaufklärung“ von Institutionen, Organisationen, Personen und Personengruppen fremder Staaten, fremder Streitkräfte, internationaler Organisationen und nicht staatlicher Akteure, wie etwa Firmen aber auch Gruppen des internationalen Terrorismus und der grenzüberschreitenden, organisierten Kriminalität408. Dazu erstellt der Dienst – entsprechend seiner funktionalen Stellung im sicherheitsrechtlichen Koordinatensystem der Bundesrepublik – Lageberichte, Analysen und einzelne Berichte und versetzt die Entscheidungsträger im Bundeskanzleramt und in den jeweilig zuständigen Bundesministerien in die Lage, entsprechende Gefahrenlagen rechtzeitig zu erkennen und ihnen politisch begegnen zu können409. Maßgeblich soll die Auslandsaufklärung dazu beitragen, die Regierung für bestimmte Sachverhalte zu sensibilisieren, Erklärungen zu liefern oder zumindest zu helfen, das Verhalten anderer Staaten nicht fehlzuinterpretieren und Voraussagen über die Zukunft zu ermöglichen, auch wenn diese freilich nicht immer eintreffen410. Hierbei gelte es, Umstände zu erhellen und verständlich zu machen, die der alltäglichen Wahrnehmung deutscher staatlicher Stellen aber auch der „innerstaatlichen Öffentlichkeit“ insgesamt entzogen seien411. Die Auslandsaufklärung solle demnach Erkenntnisse zu Entwicklungen und Kontexten liefern, die sich „alleine mit Informationen aus dem Inland nur schwer deuten lassen und zum Teil Länder mit informationell 407
Siehe statt aller die Auslistung bei Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 222. Pointierte Definition von Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 35; zu den möglichen institutionellen Zielen Warg (Fn. 148), § 1 Rn. 84; siehe insbesondere zu nachrichtendienstlichen Aspekten der Terrorismusaufklärung und Bekämpfung den Beitrag von P. W. Brunst, Terrorismusaufklärung, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. V § 2 Rn. 65 ff.; eine Tendenz zur Wirtschaftsspionage durch den BND sieht Sule, Spionage (Fn. 406), S. 132. 409 Definition des Aufklärungsauftrages in BVerfGE 100, 313 (371, 383); nunmehr auch komprimiert in BVerfGE 154, 152 (233 f., Rn. 127 f.); zum Auftrag des BND bei der Auslandsaufklärung auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 19. 410 Bareinske (Fn. 393), § 8 Rn. 10 f., im Anschluss an die Definition des Nutzens nachrichtendienstlicher Erkenntnisse für Regierungen aus der anglo-amerikanischen Literatur von Omand, Securing (Fn. 393), S. 26 f. 411 Lehrbuchartige Beschreibung des Aufgabenprofils Auslandsaufklärung durch den Ersten Senat in BVerfGE 154, 152 (246, Rn. 159). 408
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
wenig offenen Strukturen“ – vulgo Diktaturen – betreffen412. Gerade Länder, in denen die Bundesregierung jenseits der Möglichkeiten des Bundesnachrichtendienstes über „allenfalls punktuelle“ oder keine Informationsquellen verfügt, stehen schließlich im Fokus der Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes413. Hierdurch soll die Aufklärung auch an Informationen gelangen, die der Bundesrepublik gezielt vorenthalten und in der Hoheitssphäre eines fremden Staates oder von Dritten geheim gehalten werden414. Dabei muss der Bundenachrichtendienst häufig zwangsläufig auf Mittel zurückgreifen, die nach dem Recht des Zielstaates illegal oder jedenfalls unerwünscht sind und ist mit nachrichtendienstlichen und polizeilichen Abwehrmaßnahmen der Aufklärungsziele konfrontiert415. Die Arbeit der Auslandsaufklärung – so das Bundesverfassungsgericht wohl zu Recht – sei „besonders gefährdet und prekär und auf außergewöhnliche Mittel verwiesen“ 416. Zugleich kooperiert der Bundesnachrichtendienst mit ausländischen Partnerdiensten, die ebenfalls strategische Überwachung betreiben, bei der Auslandssaufklärung, wofür er seinerseits wiederum Erkenntnisse benötigt, um diese nach dem Grundsatz do ut des zu tauschen417. Der Bundesnachrichtendienst ist zwar ein Auslandsnachrichtendienst, er wird aber bei der Informationsgewinnung in Form der nachrichtendienstlichen Aufklärung keineswegs nur im Ausland tätig, sondern auch innerhalb der Bundesrepublik418. Mit der Ausrichtung als Auslandsnachrichtendienst geht zwar die Bestimmung der Aufklärungsrichtung einher, nicht jedoch ein Verbot der Inlandstätigkeit419. Die Aufklärungstätigkeit „über das Ausland“ gemäß § 1 II 1 BNDG muss also nicht zwingend im Ausland erfolgen420. Erfolgt jedoch eine Erhebung personenbezogener Daten im Geltungsbereich des BNDG – also jedenfalls im Inland421 – richtet sich die Datenerhebung nach den §§ 2 bis 15, 19 bis 21 sowie 412
BVerfGE 154, 152 (246, Rn. 159). BVerfGE 154, 152 (246, Rn. 159). 414 BVerfGE 154, 152 (246, Rn. 159). 415 BVerfGE 154, 152 (246 f., Rn. 159). 416 BVerfGE 154, 152 (247, Rn. 159). 417 BVerfGE 154, 152 (247, Rn. 160). 418 Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 24; Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 29. 419 Klarstellung bei Soiné, Aufklärung (Fn. 51), S. 205; Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 307. 420 Siehe vor allem Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 24. 421 Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 51 will aufgrund der Einschränkung in § 1 II 1 BNDG („im Geltungsbereich dieses Gesetzes“) nur in Bezug auf die §§ 6 ff. BNDG eine Auslandsgeltung annehmen, darüber hinaus nur sofern dies im Einzelfall zum Schutze von Grundrechten nötig sei; gegen eine Beschränkung des BNDG auf das Inland spricht indes schon die langjährige Staatspraxis – ohne sie inhaltlich schon werten zu wollen – Maßnahmen des BNG im Ausland auf § 1 II 1 BNDG zu stützen sowie das breite Verständnis in der Literatur, dass der BND selbstredend im Ausland aktiv ist, weswegen eine territoriale Beschränkung des BNDG auf das Inland nicht plausibel erscheint, hierzu instruktiv A. Proelß/O. Daum, Verfassungsrechtliche Grenzen der 413
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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23 bis 32 BNDG. Dies zeigt, dass auch der Gesetzgeber von einer möglichen Datenerhebung in Deutschland selbst ausgeht. Ebendiese wird in § 2 I Nr. 4 BNDG erlaubt. Auch die Fernmeldeaufklärung in Form der Datenbeschaffung und insbesondere deren Auswertung erfolgt vornehmlich auf deutschem Staatsgebiet422. Die Informationsbeschaffung im Inland darf allerdings sachlich nur das Ausland betreffen, und keine rein innenpolitischen Vorgänge423. Der Auslandsbezug der zu erlangenden Erkenntnisse ist somit zwingende Voraussetzung für das Tätigwerden des Bundesnachrichtendienstes424. Auf dem Feld des inländischen Staatsschutzes sollen schließlich die Landesämter für Verfassungsschutz in Kooperation mit dem Bundesamt operieren425. Bei der Informationsbeschaffung im Ausland hat der Bundesnachrichtendienst rechtlich und faktisch das Primat nachrichtendienstlicher Erkenntnisgewinnung426. Die Beobachtung des Auslands erfolgt kontinuierlich, um Entwicklungen vorhersehen zu können, sie ist dabei aber regional und thematisch ausgerichtet427. Die genauen Ziele, die Detailtiefe der zu beschaffenden Informationen und die aufzuwendenden Ressourcen werden in dem geheimen Auftragsprofil der Bundesregierung (APB) vorgegeben428. Hierdurch setzt die Bundesregierung einen Rahmen, in dem der Bundesnachrichtendienst eigene Spielräume hat, um seine Routinefernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst, in AöR 141 (2016), S. 397 ff. 422 C. Schaller, Kommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst, SWP-Studie, 2016, S. 28 ff., veröffentlicht unter https://www.swp-berlin.org/fileadmin/ contents/products/studien/2016S07_slr.pdf (20.10.2018); Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2573 ff.; siehe auch E. II. 423 Klarstellend N. Bergemann, Nachrichtendienste und Polizei, in: Bäcker/Denninger/Graulich, Handbuch Polizeirecht (Fn. 96), Kap. H. Rn. 30. 424 Statt vieler Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 464; Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 84. 425 Dazu erneut ausdrücklich Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 84. 426 Zur Abgrenzung der Tätigkeiten des BfV mit möglichem Auslandsbezug zum originären Zuständigkeitsbereich des BND ausführlich Meinel, Kompetenzproblem (Fn. 400), S. 856 f., der im Ergebnis allenfalls eine Amtshilfe des BND für das BfV im Ausland für zweckmäßig hält; zum Primat des BND bei der Auslandsaufklärung auch instruktiv Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 25; weitergehend G. Warg, Den Verfassungsschutz im Ausland einsetzen . . .!, in: NVwZ 2019, S. 127 (128), der davon ausgeht, das Sammeln und Auswerten von Informationen im Ausland sei „– sofern es der sachgerechten Erfüllung des inlandsbezogenen Beobachtungsauftrags dient – als Annex des Inlandsbeobachtungsauftrags vom BVerfSchG umfasst“. Dies stellt indes den Vorrang des BND bei der eigentlichen, hier maßgeblich interessierenden, Auslandsaufklärung nicht grundsätzlich in Frage, da sich Informationsgewinnung des BfV im Ausland inhaltlich allenfalls auf das Inland beziehen kann, was Warg, ebda., S. 128 freilich anerkennt. Allerdings darf das Primat des BND hierdurch nicht in Wanken geraten, schon um Kompetenzunsicherheiten und Reibungsverluste zu vermeiden. 427 Soiné, Aufklärung (Fn. 51), S. 204. 428 BVerfGE 154, 152 (179, Rn. 6, 180, Rn. 9); vertieft hierzu auch Bareinske (Fn. 393), § 8 Rn. 84 ff.; Soiné, Aufklärung (Fn. 51), S. 204; Werthebach/Droste (Fn. 275), Art. 73 Nr. 10 Rn. 269; siehe ferner die eigene Beschreibung des APB durch
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Arbeit zu gestalten und den vorgegebenen Informationsanspruch der Regierung zu erfüllen429. Dadurch besteht aber auch die Möglichkeit, dass der Bundesnachrichtendienst selbst weltweit Ziele definiert, die sodann im Ergebnis mit allen nachrichtendienstlichen Mitteln, insbesondere durch Fernmeldeaufklärung, bearbeitet werden430. Dies zeigt sich etwa an § 6 I 1 Nr. 1 und 2 BNDG, die nicht an das Auftragsprofil der Bundesregierung gebunden sind oder hierauf Bezug nehmen431. Das Auftragsprofil ermöglicht als Rahmenmodell folglich keine präzise Einzelsteuerung der Aufklärungstätigkeit des Bundesnachrichtendienstes in allen Fällen durch die Bundesregierung. Konkrete Vorgaben müssen deshalb innerhalb des Dienstes durch klare Dienstanweisungen unter Berücksichtigung von rechtlichen und politischen Grenzen erarbeitet werden, um eine effektive und rechtssichere Arbeit des Bundesnachrichtendienstes schon bei der Auswahl der nachrichtendienstlich aufzuklärenden Ziele zu ermöglichen432. Grundsätzliche Fragen, wie der Ausschluss konkreter Personen oder Institutionen aus dem Aufklärungsauftrag aus politischen Gründen, sollte die Bundesregierung, konkret das Bundeskanzleramt, indes im Sinne der Letztverantwortlichkeit für das Handeln des Bundesnachrichtendienstes selbst im Auftragsprofil verankern. Zusätzlich zu den Vorgaben im Auftragsprofil erteilt die Bundesregierung auch kurzfristige, situationsbedingte Einzelaufträge zur Auslandsaufklärung433. Als konkrete thematische Schwerpunkte sind vor allem der internationale Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die internationale organisierte Kriminalität, die Aufklärung militärischer Sachverhalte sowie drohender Staatenzerfall, aber auch Konflikte um Ressourcen zu nennen434. Insbesondere die sich häufenden Anschläge in Europa durch islamistische Terroristen machen den BND, abrufbar unter https://www.bnd.bund.de/DE/Die_Themen/Laender_Regio nen/Auftragsprofil/staaten_node.html (1.5.2022). 429 BT-Drs. 18/9142. 430 Kritisch insoweit die öffentliche Bewertung des Parlamentarischen Kontrollgremiums gem. § 10 II, III PKGrG zur BND-eigenen Steuerung in der strategischen Fernmeldeaufklärung, BT-Drs. 18/9142, S. 5 ff. Insbesondere wird das seinerzeitige Fehlen von klaren internen Dienstanweisungen zur Umsetzung des APB durch Mitarbeiter des BND, maßgeblich im Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung, kritisiert. So fände keine politische Abwägung von Zielen oder ein grundsätzlicher Ausschluss von Partnerländern durch das APB selbst statt. Die vom Kontrollgremium beigezogenen Akten wiesen indes darauf hin, dass der BND von einer extensiven Auslegung der Ziele ausging. Inwieweit der Befund heute noch aktuell ist, kann nicht beantwortet werden. Dienstinterne, nichtöffentliche Vorschriften („Dienstvorschrift zum Auftragsprofil der Bundesregierung“) zum APB existieren jedenfalls, so nunmehr ausgeführt im Sachbericht in BVerfGE 154, 152 (183, Rn. 14). 431 Dies betont nunmehr auch BVerfGE 154, 152 (180, Rn. 9). 432 Dazu erneut die Stellungnahme des PKGr, BT-Drs. 18/9142, S. 5 ff. sowie Fn. 430. 433 Angaben der Bundesregierung in BVerfGE 154, 152 (180, Rn. 9). 434 S. Hölscheidt, Das neue Recht des Bundesnachrichtendienstes, in: Jura 2017, S. 148 (149); siehe auch die eigenen Angaben des BND https://www.bnd.bund.de/DE/ Die_Themen/die_themen_node.html (1.5.2022).
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die nachrichtendienstliche Erhellung ihrer Strukturen, Organisation und Rückzugsräume, vor allem in „failed states“, zu einer der vordringlichsten Aufgaben des Bundesnachrichtendienstes435. Mittlerweile ist der Bundesnachrichtendienst aber auch mit Themen wie der Verbringung von Betäubungsmitteln in die Europäische Union, der Geldfälschung, der Schleuser- und Cyberkriminalität befasst436. In letzterem Bereich setzt der Bundesnachrichtendienst besonders schwerpunktmäßig die Fähigkeiten der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung ein, um Angriffsmuster und Datenströme aus dem Ausland, die auf deutsche Server, etwa von Unternehmen oder Behörden, abzielen, zu erkennen437. Daneben steht ebenso das klassische Feld der politischen Auslandsaufklärung über die Fähigkeiten, Absichten und Handlungen ausländischer Regierungen sowie die militärische Aufklärung über die Bewaffnung und Stärke der Streitkräfte ausgewählter Zielländer438. Die Bundeswehr unterstützt der Bundesnachrichtendienst demgemäß bei ihren Auslandseinsätzen durch Aufklärung der Bedrohungslage im Einsatzgebiet, um feindliche Bestrebungen gegen Angehörige der Streitkräfte rechtzeitig aufzudecken und politische wie militärische Entwicklungen abschätzen zu können439. Dabei kooperiert der Bundesnachrichtendienste auch intensiv mit Partnerdiensten weltweit, indem gegenseitig nachrichtendienstliche Erkenntnisse und Knowhow getauscht werden; dies gilt insbesondere für den Bereich der technischen Aufklärung440. (2) Gegenspionage Darüber hinaus ist der Bundesnachrichtendienst in der Gegenspionage aktiv, worunter eine über die reine – dem Bundesamt für Verfassungsschutz obliegende – Spionageabwehr hinausgehende, offensive Aufklärung von gegnerischen Geheim- und Nachrichtendiensten verstanden wird441. Dabei sollen diese Dienste 435 Zur Terrorismusbekämpfung durch Nachrichtendienste Bäcker, Terrorismusbekämpfung (Fn. 120), S. 135; S. Horn, Die Verfassungsgemäßheit präventiver Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen, 2014, S. 52 ff.; Weisser, Entwicklung (Fn. 383), S. 95 ff. 436 Dies sind Bereiche, in denen der BND auf die Ermächtigungen der §§ 5 ff. G 10 zurückgreifen darf. Kritisch zu dieser weiten Kompetenzzuteilung des BND etwa Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 2 Rn. 22. 437 Hierfür steht der Begriff der Signals Intelligence Support to Cyber Defense (SSCD), dessen Bedeutung Karl, SIGINT (Fn. 57), S. 131 ff. ebenso ausführlich darlegt wie den Ablauf einer Anti-Cyberattacken-Operation. 438 Zur politisch-militärischen Auslandsaufklärung insbesondere Warg (Fn. 148), § 1 Rn. 86 f. 439 Zur sog. force protection von Bundeswehreinheiten im Ausland durch den Bundesnachrichtendienst vertiefend C. Bareinske, Force Protection, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. V § 9 Rn. 47 f.; ebenso S. Erxleben, Agenten zwischen den Fronten, 2015, S. 226 ff. 440 Exemplarisch BVerfGE 154, 152 (189, Rn. 26 f., 247, Rn. 160). 441 Weisser, Entwicklung (Fn. 383), S. 138 f.; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 223.
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infiltriert und das bei ihnen vorhandene Wissen über die Bundesrepublik, aber auch über den jeweiligen Zielstaat abgeschöpft werden, häufig durch die Einschleusung eigener Agenten, Abschöpfung des Wissens von Überläufern sowie durch „Umdrehen“ gegnerischer Spione zu Doppelagenten442. Dabei handelt es sich wohl um die klassischste Form der Spionage, die landläufig die Imagination vom „Geheimagenten“ bildet, der in fremden Nachrichtendiensten und Institutionen versucht, an Staatsgeheimnisse zu gelangen und im besten Falle den gegnerischen Dienst von innen heraus zu schädigen. (3) Sonderaufträge des Bundeskanzlers und der Bundesregierung als Relikt Der Absatz über die Sonderaufträge des Bundeskanzlers und der Bundesregierung in der Dienstanweisung aus dem Jahr 1968 bleibt in seiner Bedeutung im Endeffekt nebulös443. Mit derartigen Sonderaufträgen könnten zwar aktive Operationen des Bundesnachrichtendienstes à la James Bond in Form von geheimen Kommandoaktionen zur aktiven Beeinflussung anderer Staaten durch Sabotage, Subversion, oder gar gezielten Entführungen und ähnliches gemeint sein444. Allerdings widerspräche dies entschieden der Einordnung des Bundesnachrichtendienstes als Nachrichtendienst und dem befugnisrechtlichen wie funktionalen Trennungsgebot. Der Gesetzgeber hat in vollem Bewusstsein dieser problematischen Formulierung und ihrer möglichen Deutung diesen Teil der älteren Dienstvorschrift nicht in das BNDG von 1990 übernommen445. Somit kann dieser Teil der Dienstanweisung heute nicht mehr als geltende Beschreibung des Aufgabenprofils des Bundesnachrichtendienstes angeführt werden. Mit der Beschreibung der Sonderaufträge waren auch zu früheren Zeiten wohl indes besondere Aufträge spezifischer Erkenntnisgewinnung gemeint und keine aktiven Operationen446. Letztere wären jedenfalls nach dem heutigen Stand als Verstoß gegen das Trennungsgebot mit Verfassungsrang rechts- und verfassungswidrig. Einzelaufträge zur spontanen Informationsgewinnung über außen- und sicherheitspoliti442 Ausführlich zur Gegenspionage durch den BND Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 148 ff.; Weisser, Entwicklung (Fn. 383), S. 138 f.; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 223 f.; Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 97 ff. 443 Die letztlich verbleibende Unklarheit über den Aussagegehalt dieses Punktes konstatieren Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 151; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 224. 444 Für eine derartig weite Deutung, mit Ausnahme von Entführungen und sonstigen Mitteln unmittelbaren Zwanges, aus der älteren Literatur allerdings Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 105. 445 Die Entscheidung des Gesetzgebers, explizit auf eine derartige Aufgabenbeschreibung des BND zu verzichten, illustriert hierzu Bareinske (Fn. 393) § 8 Rn. 84; von einer Beschränkung des Auftrages der Nachrichtendienste auf Informationsbeschaffung unter der geltenden Rechtslage geht auch aus Lampe, Rechtfertigung (Fn. 58), S. 363. 446 Erneut Bareinske (Fn. 393), § 8 Rn. 84; gleiche Wertung wie hier bei Sule, Spionage (Fn. 406), S. 133.
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sche Sachverhalte unterfallen – wie obig bereits erwähnt – demgegenüber dem Auftrag zur Auslandsaufklärung. (4) Spionageabwehr zur Eigensicherung Um sich selbst und seine Informationen und Vorgehensweisen vor unbefugtem Zugriff zu schützen, ist der Bundesnachrichtendienst folgerichtig auch zur Eigensicherung durch Spionageabwehr berufen, d. h. gegen ihn geführte Angriffe selber aufzuklären und abzuwehren und Sicherheitsüberprüfungen vorzunehmen447. Diese Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes ist in § 2 I Nr. 1 und 2 BNDG als Unterfall der Datenerhebung im Inland angesprochen448. Insoweit besteht eine Ausnahme von der sonstigen Zuständigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz für die allgemeine Spionageabwehr gemäß § 3 I Nr. 2 BVerfSchG449. Hier kommt die allgemeine Regel zur Anwendung, dass jede Behörde zur Sicherung „im eigenen Haus“ über Gefahrenabwehrbefugnisse verfügt450. c) Signals und Communications Intelligence als bundesnachrichtendienstliche Mittel Um seine Aufgaben zu erfüllen, wertet der Bundesnachrichtendienst öffentlich zugängliche Quellen der Zielländer aus, analysiert durch Satelliten generiertes Bildmaterial, wirbt ausländische Geheimnisträger als menschliche Quellen an451 und nutzt vor allem die immer weiter expandierenden Möglichkeiten der technischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, die in dieser Arbeit schwerpunktmäßig untersucht werden soll452. Die technische Fernmeldeaufklärung wird – wie bereits erwähnt – in der Sprache der Nachrichtendienste SIGINT genannt, wobei die Auswertung zwischenmenschlicher Kommunikation teils noch einmal in die Unterkategorie COMINT (Communication Intelligence) abgespalten wird453. In Bezug auf die Art der Überwachung wird ferner zwischen der 447 Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 222 f.; Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 107 ff.; zum eingeschränkten gerichtlichen Beurteilungsspielraum bei der Sicherheitsüberprüfung von Bewerbern für die Nachrichtendienste des Bundes, konkret für den BND, vgl. BVerwGE 153, 36. 448 Zu den einzelnen Tatbeständen ferner Gusy (Fn. 229), § 2 BNDG Rn. 23 f. 449 Von einer lex specialis-Regelung zugunsten des BND geht aus Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 150; allgemeiner Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 223. 450 Zur Eigensicherung erneut Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 109 f. 451 BVerfGE 154, 152 (178 f., Rn. 5); Erxleben, Agenten (Fn. 439), S. 34; Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 308. 452 Bormann, Informationsgewinnung (Fn. 92), S. 38; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 9. 453 Ferris, Signals Intelligence (Fn. 5), S. 155 ff.; zur Begriffsvertiefung der signalerfassenden Aufklärung siehe auch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 36 f.; dazu auch Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 7.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
direkten Erfassung einzelner Individuen („targeted surveillance“) und der strategischen Erfassung großer Datenmengen mit anschließender Filterung unterschieden („bulk access“)454. Die klassische Spionage mit menschlichen Quellen firmiert unter der Bezeichnung HUMINT (Human Intelligence), die Auswertung öffentlich zugänglichen Materials wird als OSINT (Open Source Intelligence) bezeichnet455. Die Informationsgewinnung des Nachrichtendienstes stützt sich zu einem beachtlichen Anteil auf die Auswertung öffentlich zugänglicher Quellen456. Jedoch wird regelmäßig die besonders auftragsrelevante Kommunikation durch die jeweiligen staatlichen oder kriminellen Akteure nicht öffentlich stattfinden. Für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung werden internationale Datenströme heimlich auf unterschiedlichen Übertragungswegen überwacht. Die technische Aufklärung insgesamt macht rund 50 Prozent des vom Bundesnachrichtendienst für die Bundesregierung generierten Meldeaufkommens aus457. All diese Maßnahmen sieht das Bundesverfassungsgericht als die außergewöhnlichen Mittel an, die zur Auslandsaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst zum Einsatz kommen458. d) Organisation und Ressourcen Der Bundesnachrichtendienst hat einen Sitz in Pullach bei München und sein Hauptquartier in Berlin, wobei ein Umzug in die Bundeshauptstadt seit 2013 geplant war und nunmehr, nach diversen Verzögerungen, Ende 2018 abgeschlossen wurde459. Allerdings soll die auch für die Telekommunikationsüberwachung zuständige Abteilung Technische Aufklärung (TA), die im Zentrum der SnowdenEnthüllungen und der folgenden Debatte stand, in Pullach verbleiben460. Dane454 Differenzierung nach D. Omand, Means and Methods of Modern Intelligence and their wider implications, in: Dietrich/Sule, Intelligence Law (Fn. 48), Part 1 Ch. 2 Rn. 12. 455 Siehe zu den Begriffen das „Geheimdienstlexikon“ von Süddeutsche Zeitung online, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/geheimdienste-was-siginthumint-geoint-und-masint-bedeuten-1.1820331 (20.10.2018). 456 Erxleben, Agenten (Fn. 439), S. 34; Weisser, Entwicklung (Fn. 383), S. 133 f.; zur Auswertung von öffentlich zugänglichen Inhalten des Internets v. a. in sozialen Medien (sogenannte Social Media Intelligence [SOCMINT]) und dem innewohnenden Potential für die Nachrichtendienste und den hiermit assoziierten Grundrechtsgefährdungen monographisch M. S. Wolf, Big Data und Innere Sicherheit, 2015, S. 19 ff. 457 BVerfGE 154, 152 (179, Rn. 5). 458 Siehe hierzu erneut die Wertung des Ersten Senats in Bezug auf die nachrichtendienstlichen Mittel des BND, konkret die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung, BVerfGE 154, 152 (247, Rn. 159). 459 Zum Umzug des BND der Bericht des Tagespiegels, abrufbar https://www.tages spiegel.de/berlin/bundesnachrichtendienst-zentrale-umzug-tausender-bnd-mitarbeiternach-berlin-ist-abgeschlossen/23937036.html (15.1.2020). 460 Hierfür plant der BND sogar einen 220 Millionen Euro teuren Neubau, um modernsten Aufklärungsanforderungen gerecht zu werden. Das Vorhaben bespricht J. Wolfram, BND plant teuren Neubau in Pullach, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 191 v. 20.8. 2014, S. 40.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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ben verfügt der Dienst über zahlreiche geheime Außenstellen im Inland und Residenturen weltweit, die häufig diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik angegliedert sind oder sogar als Tarnfirmen auf fremdem Staatsgebiet operieren461. Die herausragende Stellung des Bundesnachrichtendienstes als weltweiter Informationsbeschaffer wird unterstrichen durch die finanzielle und personelle Ausstattung462. Für das Jahr 2020 ist ein Haushaltsbudget für den Dienst von ca. 967 Millionen Euro vorgesehen463. Das Bundesverfassungsgericht sieht unter anderem hierin einen Beleg gerade für die Wichtigkeit der Auslandsaufklärung zur Information der Bundesregierung, was sich auch durch die stetige Steigerung der Investitionen in den Dienst äußere464. Für den Nachrichtendienst arbeiten insgesamt ca. 6.500 Mitarbeiter im In- und Ausland. Das sind mehr als dreimal so viele, wie bei dem größten Bundesministerium, dem Bundesministerium für Verteidigung, beschäftigt sind465. Geleitet wird der Dienst durch seinen Präsidenten und seinen ständigen Vertreter, wobei für den Bereich militärische Angelegenhei461 Zu den sogenannten Legalresidenturen und den nicht-angemeldeten Stationen von Nachrichtendiensten in diplomatischen Vertretungen sowie zur gesandtschaftsrechtlichen Bewertung von Spionage N. Matz-Lück, Nachrichtendienste im Recht der internationalen Beziehungen, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. II § 2 Rn. 38 ff.; zu den Einrichtungen des BND auch Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 142; Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 307; berühmt geworden im Rahmen der Snowden-Enthüllungen ist die Abhörbasis des BND in Frankfurt, wo der BND maßgeblich mit der NSA zusammen bei der Ausleitung von Datenströmen der Telekom AG kooperierte, dazu investigativ G. Mascolo/H. Leyendecker/J. Goetz, Codewort Eikonal, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 228 v. 4./5. 10. 2014, S. 6, siehe auch E. II. 462 Konkret zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung mit gleicher Stoßrichtung BVerfGE 154, 152 (226, Rn. 107). 463 Haushaltsplanung des Bundes für 2020, einsehbar in BR-Drs. 330/19, S. 260; 2017 lag die Summe noch bei ca. 833 Millionen Euro, siehe dazu Bundeshaushaltsplan 2017, Einzelplan 04 Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt, Kapitel 0414, S. 22; diese Zahlen präsentiert auch BVerfGE 154, 152 (226, Rn. 107); Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 148. Allein für den besonders zukunftswichtigen Bereich der Dekodierung von internetgestützter sogenannter Messenger-Kommunikation in Echtzeit plant der Bundesnachrichtendienst – zumindest nach Presseveröffentlichungen – über die Jahre 150 Millionen Euro ein, um seine Fähigkeiten im Bereich der Fernmeldeaufklärung auszubauen und mit der technologischen Entwicklung schritthalten zu können, siehe zu den Zahlen die Veröffentlichungen von Netzpolitik.org zum sog. Projekt ANISKI (Aufklärung nichtstandardisierter Kommunikation im Internet) samt der nach § 10a BHO vertraulichen Haushaltsangaben unter https://netzpolitik.org/2016/projekt-aniski-wie-der-bnd-mit-150millionen-euro-messenger-wie-whatsapp-entschluesseln-will/#PANOS (20.10.2018). Es ist Teil eines technischen Ertüchtigungsprogrammes des BND mit dem Namen „Strategische Initiative Technik“. Siehe dazu auch der Bericht über die Kontrolltätigkeit des Parlamentarischen Kontrollgremiums BT-Drs. 18/422, S. 12. 464 BVerfGE 154, 152 (226, Rn. 107). 465 Vergleich und aktuelle Zahlen bei Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 148; Gusy, Architektur (Fn. 47), S. 14; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 142, nennt 6000 Mitarbeiter; ebenso Rose-Stahl, Nachrichtendienste (Fn. 304), S. 139; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 39), S. 221, geht noch von 6000–7000 Behördenangehörigen aus.
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
ten sowie zentrale Aufgaben und Modernisierung noch jeweils eigene Vizepräsidenten ernannt sind466. e) Befugnisse jenseits der Fernmeldeaufklärung Die an § 8 I BVerfSchG angelehnte Generalklausel zur offenen Datenverarbeitung durch den Bundesnachrichtendienst ist in § 2 I BNDG normiert. Hiernach darf der Bundesnachrichtendienst personenbezogene Daten zum Schutz seiner Mitarbeiter und Einrichtungen, für die Sicherheitsüberprüfung von Personen, für die Überprüfung der für die Aufgabenerfüllung notwendigen Nachrichtenzugänge und über Vorgänge im Ausland, die von außen- und sicherheitspolitscher Bedeutung für die Bundesrepublik sind und die nicht anders oder durch eine andere Behörde zu erlangen sind, verarbeiten, sofern dem nicht das anwendbare BDSG oder das BNDG selbst entgegenstehen467. Das BVerfSchG als nachrichtendienstliches Stammgesetz findet sich auch im BNDG als vielfaches Verweisungsziel: § 5 BNDG bildet die Grundlage der Verarbeitung personenbezogener Daten unter Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel, mit Verweis auf §§ 8 II, 9, 9a, 9b BVerfSchG, die der Bundesnachrichtendienst vornehmen darf, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dies zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich ist468. Die Befugnisse zu Auskunftsersuchen der §§ 8a, 8b BVerfSchG n. F. gegenüber privaten Wirtschaftsunternehmen gelten per Rechtsgrundverweisung in § 3 I BNDG auch für den Bundesnachrichtendienst zur Erfüllung seiner Aufgabe gemäß § 1 II BNDG oder zur Eigensicherung469. Allerdings treten gemäß § 3 I 2 Nr. 1 BNDG – also für den Zweck der allgemeinen Aufgabenerfüllung aus § 1 II BNDG – an die Stelle der Schutzgüter des § 3 I BVerfSchG,
466 Erxleben, Agenten (Fn. 439), S. 106 ff., 226; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 143; seit Juli 2016 ist Bruno Kahl Präsident des BND, nachdem sein Vorgänger Gerhard Schindler im Nachgang der NSA-Abhöraffäre in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde; eine journalistische Einordnung des Personalwechsels nimmt E. Lohse, Die Reißleine gezogen, in: FAZ Nr. 99 v. 28.4.2016, S. 3, vor. 467 Zum Regelungskomplex statt aller Gusy (Fn. 229), § 2 BNDG Rn. 7 ff.; Bergemann (Fn. 423), H. Rn. 53, weist auf die fehlende Schwelle der „tatsächlichen Anhaltspunkte“ hin im Gegensatz zu §§ 3, 4 BVerfSchG. In § 2 I Nr. 4 BNDG sei nur die Eingrenzung der „nur auf diese Weise“ zu erlangenden Information vorhanden; zum Generalklauselcharakter auch Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 58 f. 468 Zu Recht kritisch zu dieser Verweisungskette und der dadurch geschaffenen schwer zu überblickenden Rechtslage, die „groteske Züge“ angenommen habe, Dietrich (Fn. 157), § 3 Rn. 62, Fn. 224; für „offensichtlich verfassungswidrig“ hält Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 10 f., den § 5 S. 1 BNDG, da dieser analog zum bereits durch das BVerfG verworfenen § 8d I 1 BVerfSchG lediglich eine Erforderlichkeit der Datenerhebung zur Aufgabenerfüllung voraussetze und überdies aufgrund der Verweisungstechnik erhebliche Interpretationsprobleme aufwerfe. 469 Zu Recht kritisch zur reinen Beschränkung durch die bloße Erforderlichkeit zur Aufgabenerfüllung in § 3 I 1 Nr. 1 BNDG Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 10; siehe auch Gazeas, Stellungnahme (Fn. 336), S. 10.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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für die eine schwerwiegende Gefahr vorliegen muss, die in § 5 I 3 Nr. 1 bis 4 und 6 G 10 genannten Gefahrbereiche, wodurch der Auslandsbezug der Tätigkeit des Bundesnachrichtendienstes sichergestellt wird470. Das sprachliche Konstrukt, eine Gefahr für eine Gefahr zu fordern, ist indes nicht direkt eingänglich, wie Bäcker richtigerweise betont471. Dabei wird man wohl das Gefahrerfordernis auf die Handlungen beziehen müssen, welche die Gefahrbereiche definieren472. § 4 S. 1 BNDG enthielt ferner die – in ihrer bisherigen Ausgestaltung verfassungswidrige – Verweisung auf die Telekommunikationsbestandsdatenauskunft nach § 8d BVerfSchG473. Für den Bundesnachrichtendienst kann ein besonderes Auskunftsverlangen im Inland, etwa bei Abfrage inländischer Kreditinstitute, bei denen ausländische Funktionäre Konten unterhalten, über die illegale Waffengeschäfte abgewickelt werden, der Auftragserfüllung dienen474. Hier ist der für die Zuständigkeit des Bundesnachrichtendienstes nötige Auslandszusammenhang zweifelsohne gegeben. In der Praxis führte der Bundesnachrichtendienst im Jahr 2018 lediglich ein Auskunftsverlangen und einen IMSI-Catcher-Einsatz durch475. 4. Kontrollstrukturen im Überblick Die Kontrolle von klandestin operierenden Behörden im Rechtsstaat ist mit den Nachrichtendiensten mindestens so eng verbunden wie die heimlichen Befugnisse zur Informationsbeschaffung selbst. Sie bewegt sich im Spannungsfeld der Effektivität nachrichtendienstlicher Tätigkeit, die Geheimhaltung erfordert, und einer notwendigen Aufsicht über die verdeckten Exekutivorgane und die von diesen durchgeführten Grundrechtseingriffen476. Es geht gleichsam um die seit jeher gestellte fundamentale Frage: Wer überwacht die Überwacher477? Die diversifizierten Kontrollstrukturen stehen daher freilich auch seit langem im Fokus der rechtswissenschaftlichen Aufmerksamkeit, mit einem Schwerpunkt auf der 470
Komprimierend Gärditz (Fn. 339), § 1 Rn. 64, 67. Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 142. 472 So jedenfalls die sinnvolle Auslegungslösung bei Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 142. 473 § 4 S. 1 BNDG war, insoweit er auf § 8d BVerfSchG verwies, aufgrund der bereits dargelegten verfassungsrechtlichen Mängel der Zielnorm im BVerfSchG mit Art. 2 I i.V. m. Art. 1 I GG sowie Art. 10 I GG unvereinbar, BVerfGE 155, 119 (235 f., Rn. 267). Die Vorschrift ist ebenfalls durch das Gesetz zur Anpassung der Regelungen über die Bestandsdatenauskunft an die Vorgaben aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 2020 vom 30.3.2021 (BGBl. I S. 448) novelliert worden. 474 Beispiele bei Gärditz (Fn. 339), § 1 Rn. 66. 475 So die Zahlen für das Berichtsjahr 2018 in BT-Drs. 19/22388, S. 5. 476 Zu diesem Dilemma statt vieler instruktiv T. Holzner, Parlamentarische Informationsansprüche im Spannungsfeld zwischen demokratischer Kontrolle und Staatswohlinteressen, in: DÖV 2016, S. 668 (669). 477 „Quis custodiet ipsos custodes?“, frei nach dem römischen Satiriker Decimus Iunius Iuvenalis. 471
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B. Der Bundesnachrichtendienst in der deutschen Sicherheitsarchitektur
parlamentarischen Kontrolle478 im weitesten Sinne und ihren – im Laufe der Zeit wechselnden – tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen479. Es mangelt also nicht an ein einschlägigen Beiträgen, weswegen die vielschichtigen Strukturen hier nur skizziert werden; die Fachaufsicht des Bundeskanzleramtes über den Bundesnachrichtendienst als Exekutivkontrolle ist bereits bei der Vorstellung des Dienstes angeklungen. Der Kern der parlamentarischen Kontrolle ist im Parlamentarischen Kontrollgremium nach Art. 45d GG und dem Vertrauensgremium zu verorten480. Das Parlamentarische Kontrollgremium übt – neben der allgemeinen Kontrolle durch das Plenum, Ausschüsse und das Fragerecht der Abgeordneten481 – eine spezifisch politische, vom einzelnen Operationsrahmen grundsätzlich losgelöste, Kontrolle über die Nachrichtendienste aus, die der Geheimhaltung482 unterliegt483. Die Qualität der Kontrolle, ihre politische Ausrichtung, die Abhängigkeit von Informationen durch die Bundesregierung und die fehlenden Minderheitenrechte innerhalb des Gremiums werden – kaum verwunderlich – seit langem unter-
478 Zu den Parametern parlamentarischer Kontrolle allgemein wie im Kontext der Nachrichtendienste statt vieler instruktiv H. A. Wolff, Entwicklungslinien und Prinzipien der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Nachrichtendienste (Fn. 57), S. 69 (69 ff.). 479 Siehe nur die Monographien von Hempel, Neubestimmung (Fn. 45), S. 30 ff., insbesondere zur verfassungsrechtlichen Verankerung; T. Kumpf, Die Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes, 2014, S. 115 ff.; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 79 ff.; zur Entwicklung der Kontrolle im Wandel der Zeit mit ihren jeweils diskutierten Reformen und Reformvorschlägen Hörauf, Kontrolle (Fn. 39), S. 145 ff.; ferner Baier, Kontrolle (Fn. 300), S. 20 ff., 72 ff.; E. Hansalek, Die parlamentarische Kontrolle der Bundesregierung im Bereich der Nachrichtendienste, 2006, S. 30 ff.; Hirsch, Kontrolle (Fn. 358) S. 49 ff., 101 ff. Kompakte Zusammenfassung der wichtigsten historischen Entwicklungen der Nachrichtendienstkontrolle bei C. Waldhoff, Die reformierte Kontrolle der Nachrichtendienste durch das Parlamentarische Kontrollgremium und das Unabhängige Gremium, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Vergesetzlichung (Fn. 148), S. 73 (76); P. Bartodziej, Parlamentarische Kontrolle, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. VII § 2 Rn. 3. 480 So jedenfalls A. Schlatmann, Praktische Arbeit der parlamentarischen Nachrichtendienstkontrolle, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Vergesetzlichung (Fn. 148), S. 91 (92). 481 Zum „Gesamtrahmen“ der parlamentarischen Kontrolle etwa Waldhoff, Kontrolle (Fn. 479), S. 84 f.; Baier, Kontrolle (Fn. 300), S. 20 ff. 482 Waldhoff, Kontrolle (Fn. 479), S. 81, spricht deshalb anschaulich von einer „mittelbaren Öffentlichkeit mit Kompensationsmechanismen“ im Vergleich zur allgemeinen Öffentlichkeit des parlamentarischen Prozesses in der politischen Öffentlichkeit; vgl. allgemein zur Funktion des Geheimschutzes im Rechtsstaat T. Wischmeyer, Formen und Funktionen des exekutiven Geheimnisschutzes, in: DV 51 (2018), S. 393 (397 ff.). 483 Zum politischen Charakter der Kontrolle siehe nur BVerfGE 143, 1 (17 f., Rn. 53); B. Huber, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 1 PKGrG Rn. 6; die Tendenz weg von einer reinen Einzelfallkontrolle im Sinne einer „politischen Skandalbewältigung“ hin zu einer in Ansätzen „längerfristigen Effizienz- und Erfolgskontrolle“ Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 50.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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schiedlich bewertet und kritisch hinterfragt484. Bei seiner Tätigkeit wird das Parlamentarische Kontrollgremium seit der letzten Reform des PKGrG485 durch den sogenannten Ständigen Bevollmächtigten nach §§ 5a und b PKGrG und seinen Mitarbeiterstab unterstützt, wodurch erheblich mehr personelle Kapazitäten geschaffen wurden486. Das Vertrauensgremium im Sinne des § 10a II BHO nimmt komplementär die – nicht zu unterschätzende, da letztlich Ressourcen bestimmende Aufgabe – der Budgetkontrolle der Nachrichtendienste des Bundes wahr, wobei das Kontrollgremium gemäß § 9 PKGrG Einblick in dessen Arbeit hat487. Eine herausgehobene Stellung kommt insbesondere im Bereich der Nachrichtendienste ferner parlamentarischen Untersuchungsausschüssen nach Art. 44 GG mit ihren starken Minderheitenrechten zu, wie die lange Geschichte der Untersuchungen in diesem Feld zeigt488; für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung hat der NSA-Untersuchungsausschuss schließlich herausragende Bedeutung gehabt, worauf im Laufe der Untersuchung immer wieder 484 Kritisch zur Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Kontrolle aus den zahllosen Beiträgen zur Qualität der parlamentarischen Kontrolle in Deutschland etwa A. Friedel, Blackbox Parlamentarisches Kontrollgremium des Bundestages, 2019, S. 281 ff. m.w. N. sowie einer politikwissenschaftlichen Befragung aktiver und ehemaliger Mitglieder des PKGr; T. Wetzling, Aufklärung ohne Aufsicht? Über die Leistungsfähigkeit der Nachrichtendienstkontrolle in Deutschland, 2016, S. 17 ff., 62 ff., abrufbar unter https://www.boell.de/de/2016/10/18/aufklaerung-ohne-aufsicht (22.9.2020); A. Siemsen, Der Schutz personenbezogener Daten bei der Auslandsaufklärung durch Bundeswehrsoldaten, 2018, S. 210 ff.; Verbesserungsbedarf sieht auch J.-H. Dietrich, Reform der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste als rechtsstaatliches Gebot und sicherheitspolitische Notwendigkeit, in: ZRP 2014, S. 205 (205 ff.), mit instruktiver Bestandsaufnahme der Problemfelder; kritisch auch schon C. Gusy, Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste im demokratischen Rechtsstaat, in: ZRP 2008, S. 36 (36 ff.). 485 Gesetz zur weiteren Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes, Gesetz vom 30.11.2016, BGBl. I S. 2746; siehe zum Reformumfang nur E. Brissa, Aktuelle Entwicklungen der parlamentarischen Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeiten des Bundes, in: DÖV 2017, S. 765 (767 ff.). 486 Dazu instruktiv aus der Binnenperspektive des seinerzeitigen Ständigen Bevollmächtigten Schlatmann, Nachrichtendienstkontrolle (Fn. 479), S. 91 ff.; ferner Waldhoff, Kontrolle (Fn. 479), S. 77 f. 487 Zum Vertrauensgremium etwa Schlatmann, Nachrichtendienstkontrolle (Fn. 479), S. 95 f.; Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 98 ff.; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 95 ff. 488 Siehe zu den Untersuchungsausschüssen mit genuin nachrichtendienstlichem Fokus oder mit Berührungspunkten aus jüngerer Zeit: 1. Untersuchungsausschuss der 19. Wahlperiode (Anis Amri-UA); 3. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode (NSU II-UA); 2. Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode (NSU I-UA); 1. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode (BND-UA); 1. Untersuchungsausschuss der 13. Wahlperiode („Plutonium-Affäre-BND“-UA); zu parlamentarischen Untersuchungsausschüssen im Feld der Nachrichtendienstkontrolle siehe etwa Waldhoff, Kontrolle (Fn. 479), S. 85 m. Fn. 66; Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 114 ff.; Holzner, Informationsansprüche (Fn. 476), S. 669; K.-F. Gärditz, in: C. Waldhoff/ders. (Hrsg.), Gesetz zur Regelung der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages Kommentar, 2015, § 18 PUAG Rn. 41 ff.; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 97 ff.; Hirsch, Kontrolle (Fn. 358) S. 137 ff.
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einzugehen sein wird. Die politische Kontrolle soll – schon aufgrund ihrer dezidierten Durchdringung im Schrifttum – aber als solche nicht weiter im Fokus dieser Arbeit stehen, wenngleich einzelne Ausblicke hierauf im Rahmen der spezifischen Kontrolle der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung unweigerlich zu unternehmen sein werden. Selbiges gilt für die justizielle Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit im engeren Sinne, die schon aufgrund der Geheimhaltung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung – abseits von prominenten Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Überwachungsgesetze – faktisch eine weniger hervorstechende Rolle spielt489. Vertieft werden im Folgenden lediglich die für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung unmittelbar zuständigen Instanzen (G 10-Kommission und Unabhängiges Gremium) im Rahmen ihres einfachrechtlichen Kontextes. Beachtung finden soll hier indes noch die administrative Datenschutzkontrolle durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Der Bundesbeauftragte sichert bekanntlich die Einhaltung der einschlägigen Datenschutzbestimmungen – im Falle der Nachrichtendienste bereichsspezifisch und außerhalb des Anwendungsbereichs des unionsrechtlichen Datenschutzes – bei den Bundesbehörden490. Die Datenschutzkontrolle des Bundesbeauftragten ist daher gemäß § 26a BVerfSchG a. F. in Verbindung mit § 32 BNDG grundsätzlich auch über die Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch den Bundesnachrichtendienst eröffnet, wenngleich Einschränkungen bestehen – wie § 32a BNDG klarstellt – wonach nur Teile der Kontrollbefugnisse des BDSG anwendbar sind491. Ferner kann das Bundeskanzleramt – wie im nachrichtendienstlichen Bereich üblich – die Einsicht in Daten verweigern, wenn dies die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährden würde (§ 26a III 3 BVerfSchG a. F. in Verbindung mit § 32 BNDG)492. Sanktionsbefugnisse stehen dem Bundesbeauftragten bei Verstößen gegen Datenschutzvorschriften durch Nachrichtendienste nach 489 Zu den rechtlichen Hürden einer gerichtlichen Kontrolle im Rahmen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung noch unter D. III. 1.; siehe zur gerichtlichen Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit zudem ausführlich H. Wöckel, Justizielle Kontrolle, insb. Rechtsschutz gegen nachrichtendienstliche Aktivitäten, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. VII § 3 Rn. 1 ff., der auch auf die faktische Limitierung des Rechtsschutzes in diesem Feld eingeht; ferner P. Schantz, Rechtsschutz gegen die strategische Fernmeldeüberwachung: Ein „blinder Fleck“ im Rechtsstaat?, in: NVwZ 2015, S. 873 (874 ff.); ausführlich monographisch Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 115 ff. 490 Siehe zum BfDI im Bereich der Nachrichtendienste nur G. Kutzschbach, Datenverarbeitung der Nachrichtendienste, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. VI § 6 Rn. 68 ff.; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 80 ff. 491 Zur unabhängigen Datenschutzkontrolle bei BfV und BND siehe ausführlich T. Siems, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 26a BVerfSchG Rn. 1 ff.; zu den allgemeinen Befugnissen des BfDI nach der Neufassung des BDSG statt aller Greve, Bundesdatenschutzgesetz (Fn. 322), S. 738. 492 Anschaulich dazu Kutzschbach (Fn. 490), § 6 Rn. 71 f.
III. Die Nachrichtendienste des Bundes im Überblick
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derzeitiger Rechtslage ferner nicht zu493. Eine Sonderstellungen nehmen zudem Daten ein, die der Kontrolle der G 10-Kommission unterliegen. Gemäß § 26a II 2 BVerfSchG a. F. in Verbindung mit § 32 BNDG steht dem Bundesbeauftragten insoweit keine Prüfungskompetenz zu, es sei denn, die G 10-Kommission ersucht den Bundesbeauftragten, die Einhaltung des Datenschutzes zu kontrollieren494. Teilweise kommt es in der Praxis aufgrund von unklaren Zuständigkeiten und fehlenden Kontakten zwischen den jeweiligen Kontrollinstitutionen und dem Bundesbeauftragten zu Kontrolllücken bzw. Zuständigkeitsstreitigkeiten495. Insgesamt sind die jeweiligen Zuständigkeiten und Kontrollrechte in Bereich der administrativen Datenschutzkontrolle noch nicht abschließend geklärt und wohl auch noch nicht hinreichend normativ festgezurrt496. Der Informationsaustauch zwischen dem Bundesbeauftragten und anderen Kontrollinstanzen – allen voran der G 10-Kommission – aber auch dem Bundesnachrichtendienst sowie dem internen behördlichen Datenschutzbeauftragten scheint, soweit sich dies aus offenen Quellen beurteilen lässt, auf Arbeitsebene indes zufriedenstellend zu funktionieren497; diese Kontakte sind für einen effektiven Datenschutz ein wichtiger Faktor. Nicht Teil dieser Konsultationen ist allerdings das Unabhängige Gremium, zu dem noch keine Arbeitsbeziehung seitens des Bundesbeauftragten besteht bzw. bestand498. Insgesamt ist bei den diversifizierten Kontrollstrukturen zwischen der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste im engeren Sinne durch das Parlamentarische Kontrollgremium sowie das Vertrauensgremium und den allgemeinen parlamentarischen Rechten und Untersuchungsausschüssen, der administrativen Datenschutzkontrolle durch den oder die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit und der konkreten Kontrolle des operativen Geschehens durch die G 10-Kommission und das Unabhängige Gremium zu differenzieren. Künftig tritt der Unabhängige Kontrollrat hinzu.
493 Kritisch dazu die Stellungnahme des BfDI, Datenschutzbericht 2017 und 2018 – 27. Tätigkeitsbericht –, S. 31; Jahresbericht des/der BfDI gesammelt abrufbar unter https://www.bfdi.bund.de/DE/Infothek/Taetigkeitsberichte/taetigkeitsberichte-node.html (22.9.2020); Siems (Fn. 491), § 26a BVerfSchG Rn. 12 ff. 494 Zu dieser Beschränkung Siems (Fn. 491), § 26a BVerfSchG Rn. 7 f.; Kutzschbach (Fn. 490), § 6 Rn. 69. 495 Instruktiv BfDI, Datenschutzbericht 2017/2018 (Fn. 493), S. 68 f. 496 Dazu erneut aus der datenschutzrechtlichen Praxis BfDI, Datenschutzbericht 2019 – 28. Tätigkeitsbericht –, S. 52; ders., Datenschutzbericht 2017/2018 (Fn. 493), S. 68 f. 497 BfDI, Datenschutzbericht 2017/2018 (Fn. 493), S. 85. 498 Kritisch dazu BfDI, Datenschutzbericht 2019 (Fn. 496), S. 58.
C. Historie und Bestandsaufnahme der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung Die Nachrichtendienste des Bundes bedienen sich, wie dargelegt, einer Vielzahl von Informationsquellen, um ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen. Im Zentrum dieser Untersuchung soll jedoch die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung stehen. Grundlegend ist zwischen einem einzelfallbezogenen Ansatz, der sogenannten Individualkontrolle, und dem strategischen Instrument zu unterscheiden. Die Maßnahmen erfolgen dabei stets heimlich, der Betroffene erfährt von der Datenerhebung nichts, sofern nicht eine nachträgliche Benachrichtigung erfolgt499. Die Individualkontrolle von Telekommunikation findet ihre rechtliche Grundlage für alle Nachrichtendienste im 2. Abschnitt des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (I.)500. Die übergeordneten Grundlagen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung gelten für das gesamte nachrichtendienstliche Eingriffswerkzeug (II.). Einfachrechtlich ist die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung in die strategische Fernmeldeaufklärung im 3. Abschnitt des G 10 (III.) und die sogenannte AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung, normiert im 2. Abschnitt des BNDG (IV.), unterteilt501. Ziel ist in allen Fällen die Erfassung von Telekommunikationsinhalten und Verkehrsdaten, unabhängig vom eingesetzten Medium. Der Gesetzgeber wollte die Befugnisse im BNDG sicherlich bewusst von denen des G 10 separiert ausgestalten, um deren Unterschiedlichkeit zu betonen. Die gesetzliche Regelungstechnik der Auslagerung von Kompetenzen in das G 10 sowie das BNDG schmälert, neben den bereits aufgezeigten zahlreichen Verweisen in den Fachgesetzen, die Anwenderfreundlichkeit und Übersichtlichkeit des nachrichtendienstlichen Rechtsrahmens und kann sogar – mit ihrer Isolierung zentraler nachrichtendienstlicher Befugnisse – als „anachronistischer Fremdkörper“ im Gesamtsystem des Nachrichtendiensterechts wahrgenommen werden502. 499 Grundlegend zur Heimlichkeit von staatlichen Maßnahmen Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 5 ff. 500 Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 26.6.2001, BGBl. I, S. 1254. 501 Zu dieser grundlegenden einfachrechtlichen Trennung der Regelungsregime statt aller M. Löffelmann, Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. VI § 4 Rn. 12, 171. 502 Prononciert Dietrich (Fn. 157), § 3 Rn. 53, 71, der gleichfalls die Verweisungsstruktur kritisiert und die Notwendigkeit eines einheitlichen Rechtsrahmens für die
I. Abschichtung der Individualkontrollen durch Nachrichtendienste
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I. Abschichtung der Individualkontrollen durch Nachrichtendienste Alle Nachrichtendienste sind ermächtigt, konkret, d. h. gezielt, Telekommunikationsdaten in Einzelfällen als Individualkontrollen zu erfassen und aufzuzeichnen, um Erkenntnisse über bestimmte Personen zu erlangen und auch Post- und Briefsendungen zu öffnen503. Dabei muss mit Blick auf die jeweiligen Ermächtigungsgrundlagen zwischen einer inhaltsbezogenen und einer verkehrsdatenbasierten Überwachungsbestrebung differenziert werden: Die Erfassung von Telekommunikationsinhalten sowie das Öffnen von Post- und Briefsendungen ist im G 10 normiert, die Verkehrsdatenerfassung in den jeweiligen Fachgesetzen der Nachrichtendienste504. Der Sinn dieser Differenzierung erschließt sich indes nicht; es mag sein, dass der Gesetzgeber bei Schaffung der Befugnisnormen von unterschiedlicher (verfassungsrechtlicher) Schutzintensität von Inhalts- und Verkehrsdaten ausging505. Hier wäre eine gemeinsame Fassung der Zugriffsrechte auf beide Datenkategorien de lege ferenda sinnvoll. 1. Individualmaßnahmen zur Erfassung der Telekommunikationsinhalte nach § 3 G 10 Ihre rechtliche Grundlage findet die Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses in Einzelfällen bei Telekommunikationsinhalten sowie der Öffnung und des Einsehens von Post- und Briefsendungen in § 3 I in Verbindung mit § 1 Nr. 1 G 10. Telekommunikation ist gemäß der Legaldefinition in § 3 Nr. 59 TKG n. F. der technische Vorgang des Aussendens, Übermittelns und Empfangens von Signalen mittels Kommunikationsanlagen. Damit sind alle Formen der Datenübertragung erfasst, mithin nicht nur die herkömmliche Telefonie und Faxübermittlung, sondern auch Mobilfunk und internetbasierte Kommunikation, etwa Internettelefonie (VoIP) oder Messengerdienste506. Der Begriff des In-
nachrichtendienstliche Tätigkeit des Bundes betont; hierfür auch Gazeas, Stellungnahme (Fn. 336), S. 3, 7 f.; für eine Aufgliederung in jeweils einzelne Fachgesetze für die Nachrichtendienste des Bundes und die Eingliederung der G 10-Befugnisse in diese plädiert hingegen Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 149, der eine gemeinsame Regulierung der Dienste in einem Gesetz aufgrund der Andersartigkeit ihrer Aufgaben ablehnt; zur schlechten Verständlichkeit der gesetzlichen Ausgestaltung auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 278. 503 Siehe nur Papier, Fernmeldeüberwachung (Fn. 26), S. 18; Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 3; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 20. 504 Differenzierung nach Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 5. 505 Diese Annahme ist – sofern sie der Regelung zu Grunde liegt – jedenfalls heutzutage nicht mehr tragfähig, siehe dazu unter F. I. 1. 506 Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 6; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), 66.
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haltsdatums hingegen ist weder im TKG noch im G 10 legaldefiniert507. Aus dem Wortlaut ergibt sich aber bereits, dass es sich hierbei um den Mitteilungsgehalt einer durch Fernkommunikationsmittel übersandten Nachricht handeln muss. Eine Individualkontrolle ist nur zur Abwehr einer drohenden Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung, die Sicherheit oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder eines Landes oder der Sicherheit von in Deutschland stationierten NATO-Truppen zulässig, § 1 I Nr. 1 G 10. Es müssen als besondere Anordnungsvoraussetzungen ferner tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht der Planung oder Begehung einer in § 3 G 10 genannte Katalogtat (§ 3 I 1 G 10) oder der Mitgliedschaft in einer Vereinigung, die auf Straftaten gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines der Länder ausgerichtet ist (§ 3 I 2 G 10), vorliegen508. Damit sind die Eingriffsvoraussetzungen geringer als bei einer strafprozessualen Überwachungsmaßnahme nach § 100a StPO, die das Vorliegen von Tatsachen voraussetzt, die unmittelbar oder als Beweisanzeichen den Verdacht einer Katalogtat begründen509. Die Nachrichtendienste setzen bei Individualmaßnahmen, gemäß ihrem Auftrag, im strafrechtlich noch nicht sanktionierten Vorbereitungsstadium bestimmter Straftaten an und überwachen bereits die Planungsphase von Katalogtaten nach § 3 G 10; hierbei erscheint jedoch zweifelhaft, ob die verfassungsrechtlich erforderlichen Eingriffsschwellen gewahrt sind510. 507 So erneut Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 6; hierzu auch mit Bezug zur Internetkommunikation B. Wölm, Schutz der Internetkommunikation und „heimliche Internetaufklärung“, 2014, S. 39. 508 Zu den einzelnen Katalogtaten des § 3 G 10 ausführlich Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 38 ff.; ferner Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 3 ff.; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 174; zur Abschichtung der Individualkontrolle auch Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 20. 509 Zu den diesbezüglichen Voraussetzungen des § 100a StPO statt aller M. Köhler, in: L. Meyer-Goßner/B. Schmitt (Hrsg.), Strafprozessordnung, 64. Aufl. 2021, § 100a Rn. 9; Bewertung der Eingriffsvoraussetzungen des § 3 G 10 im Vergleich mit § 100a StPO bei Bormann, Informationsgewinnung (Fn. 92), S. 68; ferner Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 174 f.; zur strukturellen Ähnlichkeit von § 3 G 10 und §§ 100a, 100b StPO zumindest von ihrem Ansatz her S. Arenz, Der Schutz der öffentlichen Sicherheit in Next Generation Networks am Beispiel von Internet-Telefonie-Diensten (VoIP), 2010, S. 175. 510 Zur Struktur und den Anforderungen von § 3 G 10 B. Huber, in: G. Erbs/ M. Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, § 3 G 10 (2016), Rn. 6; Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 339; kritisch zur Ausgestaltung der Individualmaßnahmen sowohl hinsichtlich der Bestimmtheit als auch der Verhältnismäßigkeit des § 3 G 10 ebenfalls Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 4; ferner F. Roggan, in: ders., G 10-Gesetz, 2. Aufl. 2018, § 3 G 10 Rn. 5 ff. Die Frage der verfassungsrechtlich erforderlichen Einschreitschwellen stellt sich verschärft bezüglich der Implementierung der Quellen-Telekommunikationsüberwachung im G 10 nebst der wohl de facto Online-Durchsuchung, siehe dazu zu Recht kritisch Wissenschaftliche Dienste, Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Fn. 330), S. 10, 15. Für den Eingriff in informationstechnische Systeme von Ausländern im Ausland sollen in §§ 34 ff. BNDG-E Sonderregeln geschaffen werden, um so auch weiterhin eine Trennung vom G 10 zu erreichen, siehe dazu im ersten Zugriff
I. Abschichtung der Individualkontrollen durch Nachrichtendienste
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Die Individualkontrolle darf sich nur gegen die verdächtige Person selbst und sogenannte Nebenbetroffene richten, § 3 II 2 G 10. Hierunter sind Personen zu verstehen, bei denen aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass sie für den Verdächtigen bestimmte oder von ihm ausgehende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben511. Die Individualkontrolle der Telekommunikationsinhalte muss in jedem Fall die ultima ratio darstellen und darf von den Nachrichtendiensten deshalb nur dann eingesetzt werden, wenn andere Maßnahmen der Informationserhebung keinen Erfolg versprechen, § 3 II 1 G 10. 2. Individualmaßnahmen zur Einholung von Telekommunikationsverkehrsdaten Die Erhebung von Verkehrsdaten richtet sich nach den Fachgesetzen der Nachrichtendienste, wobei § 8a I 1 Nr. 4 und 5 BVerfSchG n. F. als Ausgangsvorschrift fungiert, auf den § 3 BNDG und § 4a MADG jeweils verweisen512. Verkehrsdaten sind gemäß der Legaldefinition in § 3 Nr. 70 TKG n. F. Daten, die bei der Erbringung eines Telekommunikationsdienstes erhoben, verarbeitet oder genutzt werden513. Verkehrsdaten können sich „auf die Leitwege, die Dauer, den Zeitpunkt oder die Datenmenge einer Nachricht, das verwendete Protokoll, den Standort des Endgeräts, des Absenders oder Empfängers, das Netz, von dem die Nachricht ausgeht bzw. an das es gesendet wird, oder den Beginn, das Ende oder die Dauer einer Verbindung beziehen“ 514. Die Verkehrsdatenerhebung im Einzelfall steht – wie bereits erwähnt – außerhalb des G 10 Regelungskomplexes und kann mithin unabhängig von den speziellen Regelungsstrukturen durchgeführt werden, was in § 2 Ia 3 G 10 n. F. auch noch einmal explizit klargestellt wird515. Im Übrigen sei auf die vorherigen Ausführungen zu den Befugnissen der Nachrichtendienste für besondere Auskunftsverlangen verwiesen, die ebenjene Verkehrsdatenabfrage beinhalten.
Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 9; teils kritisch zur Ausgestaltung Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 12, 20; mit Blick auf die diesbezüglichen Übermittlungsvorschriften BfDI, Gesetzentwurf (Fn. 21), S. 8 f.; grundlegende Kritik an der Eingriffsschwelle des § 34 BNDG-E bei Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme (Fn. 21), S. 25 f., da diese nicht an den Vorgaben des BVerfG – wie etwa § 49 BKAG – orientiert sei. 511 B. Huber, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 3 G 10 Rn. 33; vgl. zur Verfassungsmäßigkeit auch der Erfassung von Nebenbetroffenen einer G 10-Maßnahme BVerfGE 30, 1 (32 f.). 512 Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 5. Siehe bereits oben unter B. III. 1. b). 513 Zum Begriff der Verkehrsdaten konkret bei Datenerhebungen im Internet Wölm, Schutz (Fn. 507), S. 37 f. 514 Kompakte Zusammenfassung bei S. Lünenbürger/B. Stamm, in: Scheurle/Mayen, TKG-Kommentar (Fn. 343), § 3 TKG Rn. 88. 515 Dazu Huber (Fn. 510), § 2 G 10 Rn. 9.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
3. Anordnungsverfahren und Praxis Angeordnet wird eine konkrete Inhaltsüberwachung für alle Nachrichtendienste vom Bundesministerium des Innern, § 10 I G 10. Die besonderen Auskunftsverlangen zur Gewinnung der Telekommunikationsverkehrsdaten müssen für das Bundesamt für Verfassungsschutz durch das Bundesministerium des Innern gemäß § 8b I 2 BVerfSchG, für den Bundesnachrichtendienst durch das Bundeskanzleramt gemäß § 3 I 3 BNDG und für den Militärischen Abschirmdienst durch das Bundesministerium der Verteidigung gemäß § 4a S. 1 MADG angeordnet werden516. Auch diese organisationsrechtliche Aufteilung ist analog zur Trennung der Befugnisse nicht nachvollziehbar und sollte in den jeweils sachlich zuständigen Behörden konzentriert werden. In der Praxis wird die Individualüberwachung größtenteils durch das Bundesamt für Verfassungsschutz oder die Landesämter durchgeführt. Der Bundesnachrichtendienst als Auslandsnachrichtendienst betreibt indes konkrete Fernmeldeaufklärung – wohlgemerkt im Inland – primär zu Eigensicherungszwecken517. Im Jahr 2017 wurden durch die Nachrichtendienste des Bundes 276 Individualbeschränkungsmaßnahmen durchgeführt, wobei auf den Bundesnachrichtendienst im ersten Halbjahr 15 und im zweiten Halbjahr 19 Anordnungen entfielen518. Die normierten Individualkontrollen in Einzelfällen bei inländischen Sachverhalten519 sind im Weiteren nicht Gegenstand einer vertieften Untersuchung.
II. Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung – übergeordnete Grundlagen Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ist eine besondere Datenerhebungsbefugnis, die ausschließlich dem Bundesnachrichtendienst zusteht520 und die in ihrer Art und Weise ein einzigartiges Überwachungsinstrument darstellt521. Es handelt sich – mit den Worten des wohl um sprachliche Ak516 Zur Abgrenzung von § 10 G 10 zu den besonderen Auskunftsverlangen nach § 8 II, IIa BVerfSchG, § 3 BNDG, § 4a MADG und der in letzteren Fällen anordnenden Stelle Huber (Fn. 511), § 10 G 10 Rn. 1. 517 So jedenfalls die – nicht weiter verifizierbare – Wertung der operativen Praxis der § 3 G 10 Maßnahmen seitens des BND durch Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 20; Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 71. 518 BT-Drs. 19/10459, S. 5. 519 Zur Individualerfassung von Telekommunikationsteilnehmern im Ausland und zur territorialen Beschränkung des § 3 G 10 siehe unter F. III. 4. d) cc) (2) (c). 520 Ausdrücklich betont etwa in BVerfGE 154, 157 (179 f., Rn. 7). 521 Gute erste Einführung in die strategische Fernmeldeaufklärung bei C. Marxsen, Strategische Fernmeldeaufklärung, DÖV 2018, S. 218 (219); ebenso Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 116; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 60; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 21; für eine Ausweitung der strategischen Fernmeldebeschränkungen auf das Bundesamt für Verfassungsschutz plädiert indes K. F. Gärditz, Strategische Fernmeldebeschränkungen und Netzknotenüberwachung für den Verfas-
II. Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung
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zentuierung bemühten Ersten Senats – um eine „Ausnahmebefugnis“ 522. Ganz grundlegend dient diese zur „Verdachts- und Verdächtigengewinnung“ 523 und ist durch zwei Kernelemente geprägt: Zum einen findet die Überwachung verdachtsunabhängig und vom Einzelfall losgelöst statt und setzt damit gerade keinen konkreten Anlass voraus524, sondern wird allein durch „bestimmte Zwecksetzung final angeleitet“ 525. Sie dient vielmehr dazu, den Anlass bzw. eine potentielle Gefahr erst zu identifizieren. Dies unterscheidet die strategische Fernmeldeaufklärung grundlegend von einer herkömmlichen – d. h. einzelfallbezogenen – Telekommunikationsüberwachung, die einen konkreten Anlass voraussetzt und durch diesen sachlich und zeitlich begrenzt wird526; sie ist somit mit einer „normalen“ Telekommunikationsüberwachung – sei es nach § 3 G 10 oder polizeirechtlichen bzw. strafprozessualen Vorschriften – nicht vergleichbar. Zum anderen setzt die Überwachung großflächig an und dient der Aufklärung von Regionen oder ganzen Ländern527. Aufgrund dieses Konzeptes, des bildlich gesprochenen Fischens nach relevanten Informationen in Telekommunikationsbeziehungen, ist von einem strategischen Ansatz die Rede. Vielfach wurde auch von einer „Staubsaugermethode im Äther“ in Bezug auf die strategische Fernmeldeaufklärung gesprochen528. Die aus dieser Aufklärung gewonnenen Informationen sollen – dem Auftrag des Bundesnachrichtendienstes zur Auslandsaufklärung entsprechend – der Erstellung von Lagebildern über internationale Gefahrenlagen dienen529. sungsschutz?, in: J.-H. Dietrich/ders. (Hrsg.), Sicherheitsverfassung – Sicherheitsrecht, FS Kurt Graulich, 2019, S. 153 (166 ff.), der selbige für verfassungsrechtlich möglich hält. 522 BVerfGE 154, 152 Leitsatz 5, (250, Rn. 166) mit stärkerem Bezug zu Spezifika der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. 523 Pointierte Qualifizierung bei M. Bäcker, Strategische Telekommunikationsüberwachung auf dem Prüfstand, in: K&R 2014, S. 556 (556). 524 BVerfGE 100, 313 (383) betont die Verdachtslosigkeit der strategischen Fernmeldeaufklärung; ebenso Bergemann (Fn. 423), H. Rn. 81; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 67; die Verdachtsunabhängigkeit betonen auch Hofreiter, Überwachung (Fn. 452), S. 21; Müller-Terpitz, „strategische Kontrolle“ (Fn. 62), S. 298; a. A. wohl Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 20, der davon ausgeht, dass ein gewisser Gefahrenverdacht als Eingriffsvoraussetzung nötig sei; ähnlich bei der präventiv-polizeilichen Rasterfahndung noch BVerfGE 115, 320 (355) – „Verdächtigengewinnungseingriff“. 525 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 150, 245, Rn. 155, 245, Rn. 157). 526 Siehe dazu auch die von M. Bäcker im Auftrag von Amnesty International und der Gesellschaft für Freiheitsrecht erhobene Verfassungsbeschwerde v. 11.11.2016 gegen die Erweiterung der strategischen Telekommunikationsüberwachung im G 10, S. 5, abrufbar unter https://freiheitsrechte.org/home/wp-content/uploads/2016/10/GFF-AIG10-Verfassungsbeschwerde-anonymisiert.pdf (13.12.2018). 527 H.-J. Papier, Beschränkungen der Telekommunikationsfreiheit durch den BND an Datenaustauschpunkten, in: NVwZ-Extra 2016, S. 1 (2); Weisser, Entwicklung (Fn. 383), S. 147; Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 73 f. 528 Stellvertretend gerade für die ältere Literatur C. Arndt: Die Fernmeldekontrolle im Verbrechensbekämpfungsgesetz, in: NJW 1995, S. 169 (169). 529 J. Caspar; Strategische Auslandsüberwachung – Jenseits der Grenzen des Rechtsstaats?, in: PinG 2014, S. 1 (2); R. Riegel, in: ders., Gesetz zur Beschränkung des Brief-,
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
Ganz grundlegend erfolgt die Überwachung in der Praxis durch die Ausleitung oder Gewinnung eines Rohdatenstromes unter Einbindung von Telekommunikationsdienstleistern oder durch eigene Anlagen des Bundesnachrichtendienstes530. Dabei werden sowohl Inhalts- als auch Verkehrsdaten aus der Telekommunikation zwischen Personen erfasst, darüber hinaus jedoch auch andere in dem Datenstrom enthaltene Kommunikation, wie Mensch-zu-Maschine und Maschine-zuMaschine Verkehre (beispielsweise Handylokalisationsdaten)531. Im Kontext der nachrichtendienstlichen Überwachung wird häufig auch der aus juristischer Sicht untechnische, erweiterte Praxis-Oberbegriff der Metadaten verwendet532. Hierunter werden – als Gegenpol zum Begriff der Inhaltsdaten – alle Daten verstanden, die die näheren Umstände der Telekommunikation umschreiben und technisch bedingt anfallen533. Die beiden Termini Verkehrs- und Metadaten sollen im Folgenden synonym verwendet werden. Der Rohdatenstrom wird sodann automatisiert in verschiedenen Schritten gefiltert, wobei dieser jeweils mit der Speicherung oder Löschung der Daten endet534. Die Daten werden aufbereitet und dann wird die Telekommunikation – vereinfacht gesprochen – hinsichtlich ihrer geographischen Herkunft und der Staatsangehörigkeit der Teilnehmer unterschieden535. Anschließend werden die Daten grundsätzlich mittels Suchbegriffen, sogenannten Selektoren, die geeignet sind, den jeweils aufzuklärenden Gefahrenbereich oder Kontakt aus den Telekommunikationsdaten zu isolieren, ausgewertet536. Wenn ein abgefangener Telekommunikationsverkehr einen Selektor entPost und Fernmeldegeheimnisses (G 10), 1997, § 3 G 10 Rn. 12; aus der Zeit des kalten Krieges bezogen auf die militärische Bedrohung aus dem Gebiet des Warschauer Paktes Borgs-Maciejewski (Fn. 92), § 3 G 10 Rn. 2. 530 Schilderung des Ablaufes exemplarisch in BVerfGE 154, 152, (184 ff., Rn. 15 ff.) in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, jedoch insoweit verallgemeinerungsfähig. 531 So die Praxisangaben der Bundesregierung in BVerfGE 154, 152 (180 f., Rn. 10). 532 Die Verkehrsdaten sind – neben weiteren im Internet transportierten personenbezogenen Daten – im Oberbegriff der Metadaten in der nachrichtendienstlichen Praxis eingeschlossen, siehe BVerfGE 154, 152 (181, Rn. 10). 533 Ausführlich zum Begriff der Metadaten im juristischen Kontext, insbesondere im Bereich der elektronischen Kommunikation, F. Boehm/R. Böhme/M. Andrees, Sachverständigengutachten zur Anhörung des 1. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages der 18. Wahlperiode zum Thema: „Wie bzw. auf welche unterschiedliche Art und Weise wird der Begriff der Verkehrs- und Nutzungsdaten wissenschaftlich im technischen und juristischen Kontext gebraucht? Wie ist dieser vom Begriff der Metadaten abzugrenzen?“, 2017, S. 11 ff.; instruktiv ebenfalls BT-Drs. 18/12850, S. 719 ff.; das BVerwG spricht im Rahmen der strategischen Fernmeldeaufklärung nunmehr ebenfalls von Metadatensammlung, siehe BVerwGE 161, 76 (76, Rn. 19) – VERAS, wo der Begriff wie ein Synonym zum legaldefinierten Terminus der Verkehrsdaten genutzt wird. 534 BVerfGE 154, 152 (185 f., Rn. 19). 535 Siehe erneut BVerfGE 154, 152 (185 f., Rn. 19). 536 Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 2; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 557; B. Huber, Das neue G 10-Gesetz, in: NJW 2001, S. 3296 (3298).
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz
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hält, wird er zur weiteren nachrichtendienstlichen Bearbeitung an einen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes weitergeleitet, der die Relevanz prüft und den Telekommunikationsverkehr gegebenenfalls an weiter spezialisierte Auswerter und Abteilungen übergibt537. Auf dieser Bearbeitungsebene wird nach den Angaben der Bundesregierung auch der Kernbereichs- und Vertraulichkeitsschutz implementiert538. Aus den gesammelten Informationen werden auftragsgemäß die Lagebilder und Meldungen des Bundesnachrichtendienstes für die politischen Auftraggeber generiert. Es handelt sich mithin um ein mehrstufiges Verfahren mit Filterprozessen, das automatisiert erfolgt und grundsätzlich erst im Trefferfall eine menschliche Auswertung anschließt539. Die genaue Vorgehensweise ist indes reichlich komplex und in ihrem Ablauf an den einfachgesetzlichen Vorgaben ausgerichtet. Deswegen werden hier zunächst die einfachrechtlichen Grundlagen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung dargelegt, bevor detailliert auf die technischen Hintergründe und die nachrichtendienstliche Praxis eingegangen wird540.
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz Der dritte Abschnitt des G 10 ist der normative Ausgangspunkt der strategischen Fernmeldeaufklärung541. Das G 10 nutzt in seinem dritten Abschnitt den Begriff der „strategischen Beschränkungen“, womit jedoch die strategische Fernmeldeaufklärung gemeint ist. Die beiden Bezeichnungen können synonym genutzt werden542. Die strategische Fernmeldeaufklärung nach dem G 10 hat seit ihrer Einführung zahlreiche Änderungen erfahren – und wird weiterhin laufend novelliert – und war mehrfach Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidun-
537 BT-Drs. 14/9640, S. 7 f.; zum Ablauf bei einem Selektortreffer auch BT-Drs. 18/ 12850, S. 749. 538 BVerfGE 154, 152 (188 f., Rn. 25). 539 Zusammenfassung durch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 116. 540 Zur genauen technischen Vorgehensweise ausführlich im Anschluss unter E. 541 Die nach § 8 G 10 mögliche Beschränkung internationaler Kommunikation bei Gefahr für Leib und Leben einer Person im Ausland (vor allem Entführungsfälle deutscher Staatsbürger) soll hier wegen ihres Ausnahmecharakters außen vor bleiben. Diese Befugnis für den BND unterscheidet sich von den strategischen Ansätzen schon dadurch, dass sie eine konkrete Gefahr im hergebrachten polizeirechtlichen Sinne erfordert und mithin gerade nicht anlasslos erfolgt. Es handelt sich somit nicht um einen Fall hier interessierender strategischer Fernmeldeaufklärung; siehe zum Ganzen Huber (Fn. 511), § 8 G 10 Rn. 1 ff.; Roggan (Fn. 510), § 8 G 10 Rn. 1 ff. Eine Prüfung von § 5 und § 8 G 10 kann wegen dieses grundlegenden strukturellen Unterschiedes nicht zusammen erfolgen, so aber Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 310 ff. 542 Zur Begrifflichkeit der strategischen Kontrolle und den Varianten der Bezeichnung des Überwachungsinstrumentes der strategischen Fernmeldeaufklärung auch Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 21, Fn. 61.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
gen543. Die Genese der Rechtsfigur soll mit ihrem historischen Hintergrund, eingebettet in die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung mit ihren zentralen Aussagen, einleitend dargelegt werden (1.). Sodann wird die derzeit geltende einfachrechtliche Fassung mit ihren zentralen Regelungsstrukturen skizziert (2.). 1. Historischer Abriss: Von der Fernmeldeaufklärung des Kalten Krieges hin zur digitalen Welt – politischer und technischer Wandel im Lichte der Verfassungsrechtsprechung a) Notstandsgesetzgebung und erstes Abhörurteil – BVerfGE 30, 1 Die konkrete wie strategische Fernmeldeaufklärung wurde erstmals im Zuge der Einführung der umstrittenen sogenannten Notstandsverfassung im Jahr 1968 – als einfachrechtliche Entsprechung der Ergänzung der Art. 10 II 2 und 19 IV 3 GG – in Art. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnisses verankert544. Die Einführung der Regelung muss vor dem Hintergrund der Besatzungszeit in Deutschland gesehen werden. Die Alliierten hatten sich in Art. 5 II des Deutschlandvertrages vom 26. Mai 1952 in der durch die Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 geänderten Fassung545 die Rechte zur Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs zeitweilig vorbehalten, und deren Vorrang sollte erst erlöschen, wenn die zuständigen deutschen Behörden entsprechende Befugnisse erhalten hatten546. Die deutsche Politik wollte daher nicht nur mit den Notstandsgesetzen eine Vorsorge für den Spannungs- und Verteidigungsfall treffen, sondern auch alliierte Vorbehaltsrechte beenden und ein Mehr an Souveränität für die Bundesrepublik, auch im grundrechtssensiblen 543 Explizit zur strategischen Fernmeldeaufklärung BVerfGE 100, 313; 67, 157; zur Frage des Rechtswegausschlusses nach Art. 10 II 2 GG und der Ersatzkontrolle BVerfGE 30, 1. 544 Gesetz v. 13.8.1968, BGBl. I, S. 949; ausführlich und chronologisch zum historischen Hintergrund der strategischen Fernmeldeaufklärung Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 135 ff.; kurzer Überblick bei Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 60 ff.; die Genese von Ausnahmeregelungen durch Grundgesetzänderungen beschreibt monographisch A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 167 ff.; zur politischen Debatte um die Genese der Notstandsverfassung etwa auch V. Epping, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Fn. 272), Art. 115a (2012), Rn. 15 ff.; konkret in Bezug auf Art. 10 II 2 GG und 19 IV 3 GG R. P. Schenke, in: K. Stern/F. Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 10 Rn. 7; hierzu auch W. Durner, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Fn. 272), Art. 10 (2020), Rn. 24 ff., der trotz des historischen Zusammenhanges mit der Einführung der Notstandsverfassung in Art 10 II 2 GG kein „spezifisches Notstandsrecht“ sieht. 545 BGBl. II 1955, S. 305. 546 BVerfGE 30, 1 (4); Müller-Terpitz, „strategische Kontrolle“ (Fn. 62), S. 297; C. Arndt, Grundrechtsschutz bei der Fernmeldeüberwachung, in: DÖV 1996, S. 459 (459); zur Entstehungsgeschichte ausführlich auch Borgs-Maciejewski (Fn. 92), Einführende Erläuterung vor § 1 G 10 Rn. 2 ff., der auch auf die extensive Nutzung dieser Rechte durch die Alliierten eingeht.
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz
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Bereich der Überwachung von Post- und Fernmeldeverkehren, erreichen547. Mit dem Erlass des G 10 endeten somit diese Vorbehaltsrechte in der damaligen Bundesrepublik, mit Ausnahme von West-Berlin, das bis zur Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 unter alliiertem Sonderrecht stand, und wo Art. 1 des G 10 a. F. gemäß Art. 3 § 12 G 10 a. F. nicht galt548. Allerding zeigte sich im Rahmen der Snowden-Debatte, dass bis zum Sommer 2013 Verwaltungsvereinbarungen zwischen den ehemaligen Westalliierten und der Bundesrepublik weiter Bestand hatten, die im Kontext der G 10-Gesetzgebung geschlossen wurden und unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit eines Ersuchens der ehemaligen Besetzungsmächte zu Überwachungsmaßnahmen bei deutschen Nachrichtendiensten vorsahen549. Für die Alliierten war die Abgabe der Rechte an die Deutschen mit einer Verbalnote vom 27.5.1968 auch deswegen annehmbar, weil als Schutzzweck in § 1 I Nr. 1 G 10 a. F. auch der Schutz der in Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des NordatlantikVertrages normiert war550. Die Befugnis zur Post- und Fernmeldeüberwachung wurde durch das G 10 in deutsche nachrichtendienstliche Regie überführt und sollte damit rechtsstaatlich eingehegt werden551. Das Bundesverfassungsgericht hielt in seiner berühmten und zugleich vielfach bis heute kritisierten sogenannten ersten Abhörentscheidung den in Art. 10 II 2 547 Wertung bei Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 154; Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 345. 548 Zu den alliierten Sonderrechten für West-Berlin im Bereich der Post- und Fernmeldekontrolle siehe nur Huber (Fn. 511), Vorb. G 10 Rn. 6; zur Berlin-Klausel, die in Art. 3 § 12 G 10 a. F. die Geltung des für die Fernmeldeaufklärung relevanten Art. 1 des G 10 a. F. ausschloss, Roewer (Fn. 42), § 12 G 10 Rn. 1 f.; ebenso Borgs-Maciejewski (Fn. 92), § 12 G 10 Rn. 1. 549 Hierzu und zu weiteren Vereinbarungen, etwa nach dem NATO-Truppenstatut, H. P. Aust, Stellungnahme zur Sachverständigenanhörung am 5. Juni 2014, MAT ASV4/1 zu A.-Drs. 56, S. 18 f.; hierzu auch BT-Drs. 18/12850, S. 439 ff. Die Verwaltungsvereinbarungen wurden nach Angaben der Bundesregierung mittlerweile aufgehoben. Dies geschah wohl auch unter dem Eindruck der öffentlichen Debatte über die Spionageaktivitäten amerikanischer Nachrichtendienste in Deutschland. 550 Zu diesem Bewegrund der Alliierten und zum Schutz der NATO-Truppen durch das G 10 a. F. Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 345. 551 So das Fazit bei G. Hermes, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 10 Rn. 5; dahingehend auch Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 344; Borgs-Maciejewski (Fn. 92), Einführende Erläuterung vor § 1 G 10 Rn. 4 ff., beleuchtet den vor dem Inkrafttreten des G 10 im Rahmen der sog. Pätsch-Affäre 1963/64 erhobenen Vorwurf, das Bundesamt für Verfassungsschutz habe das Fehlen eigener Überwachungsbefugnisse durch eine lasche Anforderungspraxis von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen aus der Fernmeldeüberwachung bei den Alliierten umgangen: Ein Untersuchungsausschuss konnte damals – auch mangels verfügbarer Akten – zwar Missbrauchsmöglichkeiten, aber keine tatsächlichen Missbräuche feststellen; zu dieser Praxis auch Beier, Überwachungsmaßnahmen (Fn. 391), S. 23 ff.; Roewer (Fn. 42), Einleitung G 10 Rn. 4; zur strafrechtlichen Verurteilung des Verfassungsschützers Pätsch wegen vorsätzlichen Geheimnisbruchs vgl. BGHSt 20, 342, zur hiergegen eingelegten, aber verworfenen Verfassungsbeschwerde vgl. BVerfGE 28, 191.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
GG, 19 IV 3 GG implementierten Rechtswegausschluss und die Regelungen des G 10 weitgehend für mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 79 III GG, vereinbar552. Der verfassungsändernde Gesetzgeber sei durch Art. 79 III GG nicht daran gehindert, auch „elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren“ 553. Die Regelung über den Mitteilungsausschluss müsse allerdings restriktiv ausgelegt werden und sei dahingehend zu verstehen, dass der Betroffene zu benachrichtigen sei, sobald dadurch der Zweck der Maßnahme nicht mehr gefährdet sei554. Den gänzlichen Ausschluss einer Mitteilung an Betroffene von Überwachungsmaßnahmen ohne Gefährdung des Zweckes der Beschränkung, seinerzeit einfachrechtlich in § 5 V G 10 a. F. normiert, erklärte der Senat deshalb für nichtig555. Unbesehen der weiterhin vorgetragenen Kritik an Art. 10 II 2 GG hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weiterhin Bestand; die Verfassungskonformität steht hierdurch zumindest für die Rechtspraxis derzeit außer Zweifel. Einfachrechtlicher Gegenstand der Verfassungsbeschwerde waren Überwachungsbefugnisse zur Individualkontrolle von Fernmeldeverkehren; die strategische Aufklärung wurde seinerzeit nicht direkt angegriffen556. b) Strategische Kontrolle im Kalten Krieg und zweite Abhörentscheidung – BVerfGE 67, 157 Die strategische Fernmeldeaufklärung war materiellrechtlich in erster Linie ein „Kind des kalten Krieges“ und vornehmlich auf den Schutz der äußeren Sicherheit ausgerichtet557. So gestattete § 3 I 2 G 10 a. F. die strategische Fernmeldeaufklärung von „Post- und Fernmeldebeziehungen“ ausschließlich zur Sammlung von Nachrichten über Sachverhalte, deren Kenntnis notwendig war, um die Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland rechtzeitig 552
BVerfGE 30, 1; prägnante Zusammenfassung des Urteils und der damaligen breiten Kritik am Senat bei R. Müller-Terpitz, BVerfGE 30, 1 – Abhörurteil, in: Menzel/ ders., Verfassungsrechtsprechung (Fn. 107), S. 185 ff.; ebenso Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 299 ff.; zur kritischen Aufnahme der Gerichtsentscheidung aus heutiger Sicht auch Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 155, der von der Verfassungswidrigkeit des Art. 10 II 2 GG ausgeht; kritisch ferner Huber (Fn. 511), Vorb. G 10 Rn. 7; ebenfalls von einer Unvereinbarkeit des Art. 10 II 2 GG mit Art. 79 III GG geht aus Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 62 ff.; ausführliche Darstellung auch bei Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 24 ff. m.w. N.; aus der zeitgenössischen Literatur exemplarisch die Kritik bei P. Häberle, Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1970, in: JZ 1971, S. 145 (156), der sogar eine „verfassungsrechtswidrige Verfassungsrechtsprechung“ attestiert; siehe ebenfalls die abweichende Meinung der Richter Geller, Rupp und v. Schlabrendorff, BVerfGE 30, 1 (33 ff.). 553 BVerfGE 30, 1 (25). 554 BVerfGE 30, 1 (21); dazu etwa C. Bumke/A. Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 8. Aufl. 2020, Rn. 1000. 555 BVerfGE 30, 1 (31 f.). 556 BVerfGE 30, 1 (29 ff.). 557 Prononciert H.-U. Paeffgen, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum G 10 in der Fassung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes 1994, in: StV 1999, S. 668 (668).
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz
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zu erkennen und einer solchen Gefahr zu begegnen558. Damit erlaubte die Norm nur Maßnahmen zur Informationserhebung über Sachverhalte mit eindeutig militärisch-verteidigungspolitischer Ausrichtung559. Dies wurde bereits organisationsrechtlich dadurch deutlich, dass für die Anordnungen der strategischen Beschränkungen, durch Beauftragung seitens des Bundeskanzlers, der Bundesminister der Verteidigung zuständig war560. In der Praxis waren deshalb vor allem die Fernmeldeverbindungen von und nach den unmittelbaren Nachbarstaaten der Bundesrepublik, namentlich in die Warschauer Pakt-Staaten CSSR und DDR, Ziel der strategischen Fernmeldeaufklärung jener Zeit561. Das Beobachten und Voraussehen militärischer Entwicklungen in diesen Ländern, die auf die Vorbereitung eines militärischen Angriffs oder eine Veränderung in der Verteidigungssituation hindeuten konnten, war damit das „Kerngeschäft“ des Bundesnachrichtendienstes, insbesondere im Rahmen der Fernmeldeaufklärung562. Die faktische Leistungsfähigkeit der Überwachung dürfte indes begrenzt gewesen sein563. Rechtlich durften sowohl leitungsgebundene als auch nicht-leitungsgebundene Wege564 der Telekommunikationsübermittlung sowie Post-, Brief-, Fernschreibe- und Telegrammsendungen überwacht werden565. Durch das Tatbestandsmerkmal der „Post- und Fernmeldebeziehungen“ sollte eine Individualisierbarkeit der einzelnen Verbindungen erreicht und somit eine globale oder pauschale Überwachung verhindert werden; es wurde somit bereits in der Frühfassung des G 10 ein quantitatives Begrenzungskriterium in die Tatbestandsvoraussetzungen der strategischen Fernmeldeaufklärung eingezogen566. Rein nationaler Telekommunikations558 § 3 G 10 in der Fassung des Gesetzes v. 13.8.1968 BGBl. I, S. 949, unverändert durch die Änderung des G 10-Gesetzes v. 13.9.1978 BGBl. I, S. 1546 als Reaktion auf das erste Abhörurteil BVerfGE 30,1; zu dieser und weiteren Änderungen des G 10 ausführlich Riegel (Fn. 529), Vorb. Rn. 8 ff. 559 BVerfGE 67, 157 (174 f.); dahingehend auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 155. 560 BVerfGE 67, 157 (161); auf die Ausführungen des BVerfG verweist ebenso Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 144. 561 BVerfGE 67, 157 (161); zur primär verteidigungspolitischen Ausrichtung des § 3 I G 10 a. F. aus der Literatur C. Gusy/I. J. Hueck, Fernmeldegeheimnis für Auslandsgespräche?, in: NJ 1995, S. 461 (461 f.); R. Riegel, Zur Suche nach Rechtsgrundlagen für die Fernmeldeaufklärung oder strategische Rasterfahndung durch den Bundesnachrichtendienst (BND), in: ZRP 1993, S. 468 (468 f.); Brenner, Bundesnachrichtendienst (Fn. 70), S. 73 ff.; die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Bundesnachrichtendienstes zur militärischen Aufklärung im „Ostblock“ zu jener Zeit analysiert Krieger (Fn. 384), § 1 Rn. 94 ff., aus historischer Warte mit zeitgenössischem Einschlag. 562 Prononciert Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 8. 563 So auch die Einschätzung von Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 155. 564 Zu dieser technischen Unterscheidung E. I. 1. 565 Siehe hierzu die Gesetzesbegründung zum G 10 von 1968, BT-Drs. V/1880, S. 9. 566 Dieses durch den Abgeordneten Gscheidle eingeführte Begrenzungskriterium nahm Bezug auf Formulierungen im Weltpostvertrag und dem Internationalen Fernmeldevertrag sowie der Praxis der Postverwaltungen und sollte auch begrifflich eine
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und Postverkehr war von der Erfassung von vornherein ausgenommen, da sich nach allgemeiner Auslegung jedenfalls einer der Endpunkte der zu überwachenden Leitungen bzw. Postverkehre auf das geographische Gebiet beziehen musste, von dem aus die Gefahr eines bewaffneten Angriffes drohte oder zumindest erkannt werden konnte567. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der strategischen Kontrolle nach § 3 G 10 a. F. erstmals in der sogenannten zweiten Abhörentscheidung befasst568. Nach Ansicht des Senats war die damalige Ausgestaltung der strategischen Fernmeldeaufklärung seinerzeit insgesamt verfassungsgemäß. Die Fernmeldeaufklärung sei geeignet, rechtzeitig nachrichtendienstliche, verteidigungspolitische Erkenntnisse in Form von „Mosaiksteinchen“ über mögliche Angriffe auf die Bundesrepublik zu generieren, da hierdurch aus „aufgefangenen Informationsbruchstücken ein militärpolitisches Mosaik der Lage im Gefahrengebiet“ 569 gewonnen werden könne, und überdies auch erforderlich, da gleich wirksame Mittel nicht in Satellitenbeobachtungen von Staaten des Warschauer Paktes, konkret der DDR, oder im, für diese lebensgefährlichen, Einsatz von Agenten gesehen werden könnten570. Sie diene zudem dem Schutz eines überragend wichtigen Schutzgutes, nämlich der Sicherung und des Bestandes des Staates vor bewaffneten Angriffen von außen, weswegen die Überwachung auch insgesamt verhältnismäßig im engeren Sinne sei571. Dabei spielte das strategische Element der Aufklärung mit ihrer auf Erlangung von Sachinformationen ausgerichteten Zielrichtung eine wichtige Rolle572. Die strategische Fernmeldeaufklärung dürfe aber nicht zur gezielten Gewinnung von Zufallserkenntnissen eingesetzt werden, um damit die Voraussetzungen der Individualkontrolle zu umgehen573. Eine nicht gestattete individuelle Überwachung, mittels der strategischen FernmeldeaufkläBegrenzung der Überwachung auf konkretisierbare Post- und Fernmeldeverbindungen sicherstellen; Zusammenfassung bei Arndt, Grundrechtschutz (Fn. 546), S. 460; eingehend zu diesem Begrenzungskriterium aus zeitgenössischer Sicht ders., Die „strategische Kontrolle“ von Post- und Fernmeldeverkehrsbeziehungen, in: NJW 1985, S. 107 (108). 567 Dahingehend BT-Drs. V/1880, S. 9 f.; aus der zeitgenössischen Literatur die Einschätzung als Tatbestands- bzw. Anordnungsvoraussetzung der strategischen Fernmeldeaufklärung Borgs-Maciejewski (Fn. 92), § 3 G 10 Rn. 4; Arndt, Kontrolle, ebda., S. 108. 568 BVerfGE 67, 157. 569 BVerfGE 67, 157 (175). 570 BVerfGE 67, 157 (173 ff., 176 ff.); Zusammenfassung bei Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 145 f.; zu Erforderlichkeitserwägungen im zweiten Abhörurteil auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 213; ausführlich ferner Arndt, Kontrolle (Fn. 566), S. 109. 571 BVerfGE 67, 157 (178 ff.), zur „Zumutbarkeit“ respektive Angemessenheit der strategischen Kontrolle. 572 BVerfGE 67, 157 (178, 181). 573 BVerfGE 67, 157 (181).
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rung, sei hingegen bereits technisch und nach Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten ausgeschlossen. So sei es kaum möglich, bestimmte Postsäcke (!) mit dem Briefverkehr bestimmter Personen herauszugreifen574. Ebenso könnten aufgrund der Unvorhersagbarkeit des Weges automatisierter Telefonverbindung die Fernmeldekontakte Einzelner schlechterdings nicht gezielt erfasst werden. Eine Identifikation von Gesprächspartnern sei nur möglich, wenn diese sich im Gespräch selbst zu erkennen gäben575. Die Benachrichtigung einzelner Betroffener von Überwachungsmaßnahmen war deswegen aus Sicht des Senates wegen des mangelnden finalen Bezuges zu Individuen nicht geboten und wegen fehlender technischer Entanonymisierung zumindest bei Fernmeldebeziehungen zudem auch bereits faktisch unmöglich576. Das Gericht sah seinerzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass die strategische Kontrolle rechtswidrig zur Überwachung einzelner, individualisierter, inländischer Post- und Fernmeldebeziehungen und mithin verbotenerweise zur Erkenntnisgewinnung auf dem Feld der inneren Sicherheit missbraucht werde577. In der Gesamtschau der Entscheidung wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht sich detailliert mit den technisch-faktischen Gegebenheiten und der tatsächlichen Durchführung der strategischen Fernmeldeaufklärung befasste und aus diesen die Überwachung limitierende Faktoren ableitete578. Auf die Feststellung, dass die Überwachung zahlenmäßig nur einen sehr kleinen Teil des Postverkehrs – Angaben für die Fernmeldekontakte fehlen – erfasse und deswegen die Wahrscheinlichkeit, von einer Maßnahme betroffen zu sein, für den Einzelnen äußerst gering sei, legte das Gericht besonderen Wert579. Insgesamt attestierte das Bundesverfassungsgericht der strategischen Fernmeldeaufklärung zur Aufklärung der Gefahr eines bewaffneten Angriffes in der Zeit den Kalten Krieges einen Grundrechtseingriff von eher geringer Intensität580. c) Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 und dritte Abhörentscheidung – BVerfGE 100, 313 Mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 wurde die Befugnis zur strategischen Fernmeldeaufklärung signifikant erweitert und auf zahlreiche zusätzliche, teils aus dem originären Bereich der organisierten Kriminalität stammende, 574
BVerfGE 67, 157 (181 f.). BVerfGE 67, 157 (182). 576 BVerfGE 67, 157 (183 ff.); dies unterstreichen auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 155; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 17; dazu auch Müller-Terpitz, „strategische Kontrolle“ (Fn. 62), S. 297. 577 Zum Ganzen BVerfGE 67, 157 (180 ff.). 578 BVerfGE 67, 157 (181 ff.). 579 BVerfGE 67, 157 (178). 580 So ausdrücklich in BVerfGE 67, 157 (179). 575
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Gefahrenfelder ausgedehnt: Internationaler Terrorismus, Proliferation von Kriegswaffen, internationaler Drogenhandel sowie im Ausland begangene Geldfälschungen und Geldwäsche im Zusammenhang mit den vorgenannten Handlungen581. Diese Ausweitung der möglichen Erfassungsgründe unter Einbeziehung krimineller Phänomene und die Abkehr von einer rein auf Verteidigungsbelange ausgerichteten Zielrichtung der strategischen Kontrolle wurde als „Quantensprung“ bezeichnet und insbesondere mit Verweis auf das Trennungsgebot – hier sei an das Stichwort „Verpolizeilichung“ erinnert – und eine mangelnde Gesetzgebungskompetenz des Bundes in diesem Bereich teils scharf kritisiert582: Durch die Einbeziehung von Phänomenen der organisierten Kriminalität in die durch den Bundesnachrichtendienst aufklärbaren Gefahrfelder werde das G 10 auf Zwecke der polizeilichen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung ausgedehnt; hierdurch werde der Bundesnachrichtendienst gleichsam zum Ermittlungswerkzeug dieser Behörden, weswegen insoweit nicht mehr vom Aufgabenspektrum eines Auslandsnachrichtendienstes gesprochen werden könne583. Hierdurch werde gegen das verfassungsrechtliche funktionale Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendiensten verstoßen und in der Sache eine polizeiliche Materie normiert, für die der Bundesgesetzgeber schon keine Kompetenz habe584. Selbst wenn eine Datenerhebung auf die ausschließliche Bundeskompetenz des Art. 73 I Nr. 1 Var. 1 GG gestützt werden könne, gelte dies nicht gleichfalls für die Übermittlung, da hier im Wesentlichen rein innerstaatliche Strafverfolgungs- oder Gefahrenabwehrzwecke beabsichtigt seien585. Dem Bundesnachrichtendienst war indes nach dem Zusammenbruch der DDR und der Auflösung des Warschauer Paktes als traditioneller Gegner schlicht die Grundlage für sein „Kerngeschäft“ entzogen586. Deshalb wurde seitens der Poli-
581 Stellvertretend Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 156; Dietrich (Fn. 157), § 3 Rn. 65; Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 161 f.; aus der zeitgenössischen Literatur Arndt, Fernmeldekontrolle (Fn. 528), S. 170. 582 Aus dem Schrifttum als Reaktion auf das Verbrechensbekämpfungsgesetz die Beiträge von Arndt, Grundrechtschutz (Fn. 546), S. 460 ff.; Zitat bei R. Riegel, Der Quantensprung des Gesetzes zu Art. 10 GG (G 10), in: ZRP 1995, S. 176 (177); C. Pfeiffer, Telefongespräche im Visier der Rasterfahndung, in: ZRP 1994, S. 253 (254 f.); dazu auch schon im Ansatz bei den Ausführungen zum Trennungsgebot unter B. II. 4. b). 583 Pointierte Kritik bei Riegel, ebda., S. 176. 584 So die Zusammenfassung der Kritik bei Möstl, Vorgaben (Fn. 62), S. 1396. 585 So jedenfalls die Auslegung bei Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 670, der dem BVerfG Ungenauigkeiten bei der Differenzierung von Datenerhebung und Übermittlung vorhält. 586 So Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 8; ebenfalls Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 145 f.; Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 668; der BND hatte nach der Wiedervereinigung die strategische Fernmeldeaufklärung nach § 3 G 10 a. F. mangels Sinnhaftigkeit fast vollständig eingestellt, hierzu aus zeitgenössischer Sicht R. Riegel, Rechtliche Neuerungen und politische Veränderungen des Gesetzes zu Art. 10 GG (G 10), in: ZRP 1991, S. 392 (394).
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tik eine thematische Neuausrichtung des Dienstes auf nach Ansicht des Gesetzgebers vorrangige, neuartige Gefahrenfelder angestrebt587. Zur Überwachung der neueingeführten Gefahrbereiche durfte die strategische Fernmeldeaufklärung nunmehr – mit Ausnahme des Gefahrenfeldes eines bewaffneten Angriffes auf die Bundesrepublik – nur noch für internationale nicht-leitungsgebundene Fernmeldebeziehungen eingesetzt werden588. Damit fand eine ganz maßgebliche Ausrichtung der Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes auf Satellitenkommunikation statt. Die rein nationale Kommunikation blieb – wie schon in der Vorgängerregelung – der Erfassung entzogen. Gänzlich neu war die Möglichkeit der gezielten Überwachung von Telekommunikationsanschlüssen im Ausland, sofern ausgeschlossen werden konnte, dass Anschlüsse, deren Inhaber oder regelmäßige Nutzer deutsche Staatsangehörige oder deutsche Gesellschaften mit Sitz im Ausland waren, erfasst wurden, § 3 II 3 G 10 a. F.589. Hinzutrat eine Übermittlungspflicht in § 3 III, V G 10 a. F. zur Aufklärung, Verhinderung und Verfolgung näher in § 2 G 10 a. F. und § 138 StGB bezeichneter Straftaten590. Das Bundesverfassungsgericht erklärte auch diese Variante des G 10 in seiner sogenannten dritten Abhörentscheidung im Wesentlichen für mit dem Grundgesetz vereinbar591. Formell sei die strategische Kontrolle nicht zu beanstanden, da die neu eingeführten Gefahrfelder in den Regelungszusammenhang der Auslandsaufklärung im Sinne des Art. 73 I Nr. 1 Var. 1GG eingebettet seien und einen hinreichenden Bezug zu der Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes zur Gewinnung von Informationen über das Ausland aufwiesen592. Eine dem Bundesnachrichtendienst unter Rückgriff auf die Kompetenznorm des Art. 73 I Nr. 1 Var. 1 GG nicht gestattete Verhütung, Verhinderung und Verfolgung von Straftaten als solchen läge indes nicht vor, hieran ändere auch die Verpflichtung der Datenweitergabe an andere Behörden im Einzelfall nichts593. Materiell hätten die neu aufgenommenen Gefahrbereiche zwar nicht ein solches Gewicht wie ein bewaffneter Angriff, auch sie beträfen aber hochrangige Gemeinschaftsgüter, deren Verletzung schwere Schäden für den äußeren und inneren Frieden und Rechts-
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Siehe dazu die Begründung zum Gesetzentwurf in BT-Drs. 12/6853, S. 42 f. BT-Drs. 12/6853, S. 14; Müller-Terpitz, „strategische Kontrolle“ (Fn. 62), S. 297. 589 Kritisch zu diesem entscheidenden Unterschied durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz bereits aus damaliger Sicht B. Huber, Post aus Pullach – das G 10 Urteil des BVerfG vom 14.7.1999, in: NVwZ 2000, S. 393 (394). 590 Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 163; Riegel, Quantensprung (Fn. 582), S. 179. 591 BVerfGE 100, 313; Kritik an der Entscheidung seinerzeit etwa bei C. Arndt, Zum Abhörurteil des BVerfG, in: NJW 2000, S. 47 (48 f.); Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 670 ff.; differenziert Müller-Terpitz, „strategische Kontrolle“ (Fn. 62), S. 301 f. 592 BVerfGE 100, 313 (370 ff.); hierzu auch zusammenfassend Möstl, Vorgaben (Fn. 62), S. 1397 f. 593 BVerfGE 100, 313 (370, 372). 588
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güter des Einzelnen zur Folge hätte594. Sie griffen daher im Ergebnis in noch verhältnismäßiger Weise in das Fernmeldegeheimnis ein. Lediglich bezüglich der im Ausland begangenen Geldfälschung verneinte der Senat einen verhältnismäßigen Eingriff in Art. 10 GG, da dem Tatbestand nicht das Bedrohungspotential der anderen anhafte und er überdies nicht der Schwere eines bewaffneten Angriffes auf das Bundesgebiet nahekomme595. Allerdings stellte das Gericht nunmehr einen schwerwiegenden Eingriff – was in der Entscheidung mehrfach hervorgehoben wird – in das Fernmeldegeheimnis fest, der geographisch wesentlich weiter gefasst sei596. Aufgrund der Breite und Tiefe der Eingriffe sei die strategische Fernmeldeaufklärung nur zur „strategischen Kontrolle“ zulässig, um die Bundesregierung über internationale Gefahrenlagen zu unterrichten, nicht aber, um gezielte Maßnahmen der Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung gegenüber bestimmten Personen zu treffen597. Dazu benötige es normenklarer Ermächtigungsgrundlagen, aus denen der Umfang der Beschränkungen für den Einzelnen sichtbar werde598. Eine – unter dem Grundgesetz nicht zu rechtfertigende – pauschale und globale Überwachung sei die Fernmeldeaufklärung aber nicht599. Zum Beleg einer Einschränkung rekurrierte der Senat sodann, ganz in der Linie der zweiten Abhörentscheidung, auf faktischtechnische Begrenzungen der Erfassungsmethode: Zunächst sei die Erfassung auf die internationale, nicht-leitungsgebundene Kommunikation begrenzt, welche nur zehn Prozent des gesamten Telekommunikationsverkehrs ausmache, die Wege der Kommunikation über die Satelliten seien nicht vorhersehbar, weswegen eine flächendeckende Überwachung nicht zu besorgen sei und es könne im Wesentlichen nur die vom Satelliten abgestrahlte Kommunikation erfasst werden600. Dabei könne technisch nur der Inhalt von „Telex-Verkehr“ voll erfasst werden, Telefax sei eingeschränkt und Telefonverkehre gar nicht maschinell abgleichbar; 594 BVerfGE 100, 313 (373); dezidiert kritisch zur durch das BVerfG angenommenen Angemessenheit von Nr. 4 bis 6 des § 3 G 10 a. F. (Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Geldfälschungen, Geldwäsche), angesichts des im Vergleich zum bewaffneten Angriff auf die Bundesrepublik erheblich herabgesetzten Bedrohungsszenarios Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 674 f. 595 BVerfGE 100, 313 (384 f.); dazu auch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 166; Möstl, Vorgaben (Fn. 62), S. 1398. 596 BVerfGE 100, 313 (376, 389, 392). Die ausschließliche Ausrichtung der Fernmeldeaufklärung auf Telekommunikationsverbindungen in Richtung des Gebietes des Warschauer Paktes war entfallen, und die neuen Gefahrbereiche der Fernmeldeaufklärung konnten sich theoretisch global ergeben. Für die Betroffenen war mithin eine mögliche Erfassung – anders etwa noch als bei Telefonanrufen in die DDR (so noch in BVerfGE 67, 157 (161)) – schlechterdings nicht mehr vorhersehbar. 597 BVerfGE 100, 313 (389). 598 BVerfGE 100, 313 (360). 599 BVerfGE 100, 313 (376). 600 BVerfGE 100, 313 (377); zu den Spezifika der nicht-leitungsgebundenen Kommunikation E. I. 1.
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eine Ausweitung der Fernmeldeaufklärung auf E-Mails werde „angestrebt“ 601. Zudem sei die Menge der erfassbaren Verbindungen aufgrund der eingeschränkten personellen, technischen und finanziellen Ausstattung des Bundesnachrichtendienstes begrenzt, was jedoch ohne Rechtsverstoß ausweitbar sei602. Indes musste der Senat verschärfend anerkennen, dass die Anonymität der Kommunikation nicht mehr, wie noch im zweiten Abhörurteil festgehalten, flächendeckend gegeben sei, da aussagekräftige Verbindungsdaten mit erhoben würden und die neuen Gefahrfelder viel subjektbezogener seien als die rein sachliche Information über eine abstrakte Kriegsgefahr603. Gerade deshalb komme dem Verbot der gezielten Erfassung von Telekommunikationsanschlüssen in § 3 II 2 G 10 a. F. eine entscheidende Bedeutung zu: Ohne diese Restriktion sei die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gewahrt604. Der Senat beschäftigte sich seinerzeit indes nicht mit der Möglichkeit, dass bei Überlastung der landgebundenen Telekommunikationsleitungen auch auf Satellitenverbindungen zurückgegriffen wurde und damit auch die rein nationale Kommunikation ins Visier der Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst gelangen konnte605. Dabei hatte das Gericht die Ausklammerung rein nationaler Kommunikation aus der strategischen Fernmeldeaufklärung als wichtige Voraussetzung angesehen, die die Überwachung insgesamt in Grenzen halten und damit auch ihre Verhältnismäßigkeit gewährleisten sollte606. Die technischen Spezifikationen determinierten mithin schon damals entscheidend die rechtlichen Anforderungen und auch deren Einhaltung. Zur Frage, wie Ausländer im Ausland grundrechtlich zu behandeln seien, musste sich das Bundesverfassungsgericht seinerzeit nicht verhalten, es ließ sie ausdrücklich offen; dementsprechend war auch die Ausnahme des § 3 II 3 G 10 a. F. nicht Gegenstand des Urteils von 1999607. Das Bundesverfassungsgericht nahm indes auch die Folgen der strategischen Fernmeldeaufklärung in den Blick und übertrug seine im Volkszählungsurteil aufgestellten Grundsätze zur Normenklarheit und Bestimmtheit und zur Zweckbindung von einmal erhobenen Daten auch bei der weiteren Speicherung, Verwendung und Übermittlung weitgehend auf die Rechtfertigungsanforderungen 601 BVerfGE 100, 313 (379 f.), zur Dimension der konkret erfassbaren Medien; sehr kritisch zu der aus seiner Sicht zu gutgläubigen Sicht des Senats auf die technischen Gegebenheiten und die Verharmlosung der möglichen Entwicklung seinerzeit schon Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 673. 602 BVerfGE 100, 313 (380). 603 BVerfGE 100, 313 (379). 604 BVerfGE 100, 313 (384). 605 Dies unterstreicht Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 673, der dem Senat vorhält, dieser bleibe weit hinter dem durch die Sache Gebotenen zurück. Aus der zeitgenössischen Aufsatzliteratur diskutiert lediglich – soweit ersichtlich – dieser Beitrag das Problem. 606 BVerfGE 100, 313 (376 f., 384); Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 557. 607 BVerfGE 100, 313 (364, 384).
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bei Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis608. Es forderte zudem Lösch- und Kennzeichnungspflichten für Daten ein, die mittels der strategischen Fernmeldeaufklärung erhoben werden609. Ferner postulierte der Erste Senat 1999 eine hinreichend effektive Kontrolle der strategischen Aufklärung als verfassungsrechtlich unabdingbare Kompensationsanforderung, die sich auf alle Schritte des Überwachungsprozesses erstrecken und hierbei sowohl die Rechtmäßigkeit der Datenerfassung als auch die Einhaltung der gesetzlichen Verwendungsbegrenzungen überwachen müsse610. Eine konkrete Ausgestaltung dieser Kontrollinstanz gäbe das Grundgesetz – so der Erste Senat seinerzeit – jedoch nicht vor; dies stehe vielmehr zur Disposition des Gesetzgebers611. Die Kontrolle dient nach dem Urteil auch zur Kompensation der im Einzelfall zulässigen Zurückstellung der ansonsten grundsätzlich für verfassungsrechtlich notwendig erachteten Benachrichtigungspflicht, welche sich neben Art. 10 I GG auch aus Art. 19 IV GG ergäbe612. Im Ergebnis monierte das Bundesverfassungsgericht die nicht gesicherte Zweckbindung von nicht gelöschten Daten und eine dem Übermaßverbot widersprechende Verwendungsmöglichkeit von Daten, die nicht auf die nachrichtendienstlichen Erkenntniszwecke beschränkt bliebe, sondern vielmehr die Analyse zur Verhinderung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten ermöglichte613. Ferner verwarf es die fehlende Zweckbindung an die nachrichtendienstlichen Erkenntnisinteressen der in § 3 I G 10 a. F. genannten Gefahrenlagen bei Übermittlung personenbezogener Daten an die Bundesregierung sowie die insoweit unzureichende Kennzeichnungspflicht614. In Bezug auf die damalige Übermittlungspflicht an Polizei- und Strafverfolgungsbehörden kritisierte das Bundesverfassungsgericht die teilweise unangemessene Übermittlungsschwelle und die Straftatenkataloge für präventive wie repressive Datenweiternutzungen sowie fehlende verfahrensrechtliche Sicherungen beim Empfänger615. Den partiellen Rechtswegausschluss bestätigte das Gericht indes im Anschluss an sein erstes Abhörurteil616. Umfassende Kritik äußerte der Erste Senat jedoch an der damali608
BVerfGE 100, 313 (359 f., 388 ff.); Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 301. BVerfGE 100, 313 (360 ff., 364 f.). 610 BVerfGE 100, 313 (361). 611 BVerfGE 100, 313 (361). 612 BVerfGE 100, 313 (361, 364); die konkrete Ausgestaltung der Übermittlungspflicht genügte indes seinerzeit nicht den Anforderungen des Art. 10 I GG, da ein Absehen von der Mitteilung auch gestattet wurde, wenn Daten innerhalb von drei Monaten vernichtet worden waren (S. 398 f.). 613 BVerfGE 100, 313 (385 f.); nach hiesiger Auffassung hätte die damalige Rechtslage in § 3 III G 10 a. F. zudem schon gegen das verfassungsrechtliche Trennungsgebot verstoßen. 614 BVerfGE 100, 313 (387 f.). 615 BVerfGE 100, 313 (388 ff., 396 f.). 616 BVerfGE 100, 313 (399 f.); dieser bezog sich gem. § 9 VI G 10 a. F. nur auf die Gefahrenlage bewaffneter Angriffe auf das Bundesgebiet und nicht auf die übrigen Gefahrfelder des § 3 I 2 G 10 a. F. In den übrigen Fällen war zudem der Rechtsweg jeden609
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gen Ausgestaltung der Kontrolle durch eine Kommission – der Begriff G 10-Kommission war im Gesetz noch nicht enthalten –, die nicht präzise und umfassend genug auf den Datenerhebungsvorgang bezogen war, nicht den gesamten weiteren Prozess abdeckte und überdies nicht normenklar eine ausreichende faktische Ausstattung der Kontrollinstanz sicherstellte617. Insgesamt hielt das Bundeverfassungsgericht die strategische Fernmeldeaufklärung trotz ihrer nunmehr weiterentwickelten technischen Fähigkeiten weiterhin für grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar, es attestierte dem Gesetzgeber jedoch Nachbesserungsbedarf bei der konkreten Ausgestaltung, insbesondere bei der Sicherstellung einer verfassungskonformen Zweckbindung von Daten, von verfahrensrechtlichen Auflagen sowie bei der externen Kontrolle der Überwachung618. Dabei beschränkte sich der Erste Senat darauf, verfassungsrechtliche Defizite aus seiner Sicht aufzuzeigen, dem Gesetzgeber wurde jedoch nicht konkreter vorgegeben, wie genau die verfassungskonforme einfachgesetzliche Regelung auszusehen hätte. d) Neufassung des G 10 und jüngere Entwicklung Als Reaktion auf die Entscheidung fasste der Gesetzgeber das G 10 2001 neu und gab ihm die in ihren Grundzügen bis heute geltende Systematik619. Entscheidende Änderungen waren der Wegfall der Beschränkung auf nicht-leitungsgebundene Telekommunikationsverkehre in Folge der expandierenden Digitalisierung, die Einführung einer prozentualen Überwachungshöchstgrenze in § 10 IV 4 G 10, die Anpassung des Gefahrbereiches der Geldfälschung an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und die Einführung differenzierter Übermittlungsvorschriften für Daten und Erkenntnisse aus der strategischen Fernmeldeaufklärung620. Danach erfolgten noch zahlreiche Änderungen am G 10, etwa eine größere Ergänzung 2009621, die insgesamt jedoch keinen grundlegenden Systemwechsel
falls nach einer Mitteilung an den Betroffenen eröffnet, wobei das BVerfG betonte, dass eine solche nicht zur Voraussetzung der Rechtswegeröffnung gemacht werden dürfe. 617 BVerfGE 100, 313 (401 f.); Zusammenfassung auch bei Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 302. 618 So auch in der Gesamtschau Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 156. 619 Gesetz zur Neuregelung von Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses v. 29.6.2001, BGBl. I, S. 1254. 620 Zusammenfassung der damaligen Neuregelungen bei Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 166; B. Huber, G 10-Gesetz (Fn. 536), S. 3297 ff.; kritische Aufnahme bei H. Wollweber, Die G 10-Novelle – Ungeahnte Folgen eines Richterspruchs, in: ZRP 2001, S. 213 (213 ff.). 621 Durch das Erste Gesetz zur Änderung des Art. 10 Gesetzes v. 31.7.2009 BGBl. I, S. 2499, wurden u. a. der Gefahrenkatalog um den Bereich der Schleuserkriminalität erweitert, Normen zum Kernbereichsschutz eingeführt und eine Übermittlungsbefugnis für Daten aus der strategischen Kontrolle an ausländische öffentliche Stellen eingeführt, zur Reform im Ganzen Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 125; ausführlich zu den Einzelheiten B. Huber, Die Reform der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste
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mehr herbeiführten622. Durch das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes wurde die Befugnis zur strategischen Fernmeldeaufklärung auf das Gefahrenfeld der Cyberkriminalität ausgeweitet; konkret hiergegen sowie gegen weite Teile des G 10 ist derzeit eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht anhängig623. Dies gilt auch für die künftige Quellen-Telekommunikationsüberwachung und die de facto Onlinedurchsuchung in § 11 Ia G 10 n. F.624. e) Entwicklungslinien der Rechtsprechung zur strategischen Fernmeldeaufklärung Insgesamt ist die Geschichte der strategischen Fernmeldeaufklärung äußerst wechselhaft und ein Spiegel der Zeit. Sie zeichnet ein Bild der politischen und technischen Entwicklungen vom Kalten Krieg bis in das digitale Zeitalter – heute hat sie eine fundamental andere Bedeutung als noch bei ihrer Einführung625. Zunächst waren die heimlichen Überwachungsbefugnisse, implementiert im Rahmen der Notstandsgesetzgebung, hoch umstritten, hielten aber dennoch der verfassungsgerichtlichen Überprüfung stand. Als sich das Bundesverfassungsgericht in den achtziger Jahren erstmals konkret mit der strategischen Fernmeldeaufklärung befasste, war der Aufklärungsfokus thematisch noch strikt auf verteidigungspolitische Belange begrenzt und geographisch auf das Gebiet des Warschauer Paktes bezogen. Das Gericht maß der Überwachung nur ein geringes Eingriffsgewicht bei, da eine Identifizierung von Personen fast ausgeschlossen war und weitere technische Hindernisse einer konkreten Erfassung Einzelner entgegenstanden. In der Entscheidung zum Verbrechensbekämpfungsgesetz musste der Senat sich mit einem inhaltlich erheblich verbreiterten Fokus der Überwachung auseinandersetzen und gelangte im Ergebnis zu einem schwerwiegenden Eingriff in das Fernmeldegeheimnis. Eine Deanonymisierung von Teilnehmern durch übertragene Verbindungsdaten war mittlerweile möglich geworden. Insgesamt stellte der Senat in beiden Entscheidungen ganz erheblich und tief ins Detail gehend auf limitierende technische-faktische Gegebenheiten ab, die im Erund des Gesetzes nach Art. 10 GG, in: NVwZ 2009, S. 1321 (1323 ff.), vgl. dazu auch BT-Drs. 16/509. 622 Insgesamt wurde das G 10 seit 2001 27-mal novelliert, so die Zählung bei Huber (Fn. 511), Vorb. G 10, Rn. 12; ausführlich zu den jeweiligen Änderungen im Einzelnen noch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 180 ff. Da keine grundlegenden Änderungen mehr erfolgten, soll hier auf die jeweiligen Zwischenschritte nicht mehr vertieft eingegangen werden. 623 Aktenzeichen 1 BvR 1743/16 und 1 BvR 2539/16. 624 Siehe zur Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts den Beitrag – samt Volltext der federführend von Gazeas verfassten Beschwerde – unter https://netzpolitik.org/2021/g10-gesetz-fdp-abgeordnete-legen-ver fassungsbeschwerde-gegen-staatstrojaner-ein/ (20.7.2021). 625 Dieses historische Resümee zieht mit gleicher Stoßrichtung auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 180 m. Fn. 155.
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz
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gebnis die Intensität der Erhebungsbefugnisse der strategischen Fernmeldeaufklärung eingrenzten. Diese stark an tatsächlichen Umständen orientierte Rechtsprechung ist naturgemäß dem rasanten technologischen Wandel ausgesetzt, weswegen ihre Haltbarkeit von den faktischen Gegebenheiten abhängt. Aus heutiger Sicht erscheint die Überwachungsdimension, die das Bundesverfassungsgericht 1999 zu bewerten hatte, in weiten Teilen schlicht anachronistisch, da zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal eine Überwachung von E-Mails technisch realisiert war und noch über die vollautomatisierte Auswertung von Telex sinniert wurde. Das Internet begann erst sich flächendeckend zu verbreiten und der Konzern Google war erst ein Jahr zuvor gegründet worden626. Heute alltägliche Phänomene der Digitalisierung, wie die ubiquitäre und mobile Möglichkeit zur gleichzeitig kostengünstigen Kommunikation mittels Telefonie und Echtzeit-Messengerprogrammen in Folge der Verbreitung von „Smartphones“, war damals noch nicht abzusehen, ebenso wenig wie die exorbitante Steigerung der Datenmengen627. Telekommunikation war 1999 überdies kaum mit dem Internet als allumspannendes Datennetzt verwoben; heute ist die rein internetbasierte Telekommunikation – egal in welcher konkreten Ausgestaltung des Mediums – schlicht Standard628. Die Kommunikation läuft rein digital mit Echtzeit-Messengern, sozialen Medien und dringt in jede Nische des Alltags vor, für alles gibt es eine App oder ein digitale Anwendung, und im Internet der Dinge sind sogar Haushaltsgegenstände an die Telekommunikationsnetze angeschlossen629. Es dürfte mittlerweile ein akzeptierter Gemeinplatz sein, dass sich Telekommunikation von einem „funktional klar definiertem Kommunikationsmedium zu einer omnipräsenten und multifunktionalen Basis-Infrastruktur“, gekennzeichnet durch die Durchdringung des Alltags mit vernetzten Systemen, gewandelt hat630 – salopp gesagt, „Digitalisierung ist der Megatrend unserer Zeit“ 631. Auch der Einsatz moderner Softwareanwendungen zur Aufdeckung von Kommunikationsstrukturen und sich hieraus ergebende Rückschlussmöglichkeiten auf (Kommunikations-)Netzwerke erscheinen aus Sicht des Jahres 1999 sehr weitgehend – 20 Jahre später sind sie unter den omnipräsenten Stichwörtern Big Data und Data Analytics, insbesondere durch DataMining, gängige Praxis632. Dies ist selbstredend auch im Bereich der Nachrichtendienste der Fall633. 626
Prononciert Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 120 f. Stellvertretend für die technische Entwicklung Schenke (Fn. 544), Art. 10 Rn. 12. 628 Zur „All-IP“ Telekommunikation noch E. I. 2. a). 629 Hierzu etwa stellvertretend und kompakt Schröder, Grundrechte (Fn. 9), S. 953. 630 Prononciert M. Bäcker, Big Data und Sicherheitsrecht, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Big Data – Regulative Herausforderungen, 2018, S. 167 (167). 631 Sehr eingängig Schröder, Grundrechte (Fn. 9), S. 953. 632 Zum Einsatz von Big Data bei der Auswertung von durch Sicherheitsbehörden erhobenen Daten Bäcker, Big Data (Fn. 630), S. 167 ff. Allerdings zeigt der Fall der 627
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
2. Einfachrechtliche Ausgestaltung der strategischen Beschränkungen a) Voraussetzungen und Ziele der Überwachung Zentralnorm für die strategische Fernmeldeaufklärung ist § 5 I G 10. § 5 I G 10 nimmt – im Gegensatz zu § 3 I G 10 nicht in Form eines direkten Verweises – auf die „elementare Anordnungsvoraussetzung“ 634 des § 1 I Nr. 1 G 10-Bezug, wonach eine drohende Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung, die Sicherheit oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder eines Landes oder der Sicherheit von in Deutschland stationierten NATO-Truppen vorliegen muss. Eine solche Gefahr stellt die Existenz der staatlichen Ordnung als Ganzes in Frage635. Hierbei ist freilich nicht der polizeirechtliche Gefahrbegriff zugrunde zu legen, da der Bundesnachrichtendienst Aufklärung weit im Vorfeld betreibt und gerade keine originäre Gefahrenabwehr wie die Polizeibehörden636. Für das Bestehen der hier in Rede stehenden Gefahr sollen aber tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen müssen, mithin keine strategische Fernmeldeaufklärung nur „ins Blaue hinein“ erfolgen können637. Ein bewaffneter Angriff gegen die Bundesrepublik stellt – obschon er mit Blick auf die heutige politische Realität in Europa glücklicherweise fernliegend erscheint – zweifelsohne eine elementare Gefahr für das Gemeinwesen dar, weswegen eine strategische Beschränkung nach § 1 I Nr. 1 in Verbindung mit § 5 I 3
(neuen) Antiterrordatei mit der Möglichkeit der „erweiterten projektbezogenen Datennutzung“ im Sinne des § 6a ATDG und des identischen § 7 RED-G, dass teils erhebliche technische Hürden überwunden werden müssen. So werden die vorgenannten Befugnisse derzeit noch nicht eingesetzt, da es einer Umstellung der Datei auf einen neuen „Softwarekern“ bedarf, siehe BVerfGE 156, 11 (14 f., Rn. 7). Allgemein zu Datenauswertungen und hiermit verbundenen Bedrohungen der Privatsphäre und grundrechtlich geschützter Kommunikationsinhalte, aber auch besonders von Telekommunikationsumständen, die Darstellung von T. Schwabenbauer, Kommunikationsschutz durch Art. 10 GG im digitalen Zeitalter, in: AöR 137 (2012), S. 1 (3 ff.); zu den Begriffen Big Data, Data Analytics und Data-Mining mit technischen Hintergründen ausführlich und instruktiv W. Hoffmann-Riem, Rechtliche Rahmenbedingungen für und regulative Herausforderungen durch Big Data, in: ders., Big Data (Fn. 630), S. 11 (19 ff.); vgl. allgemein zur Definition der technischen Ansätze und ihrer Details auch den Abschlussbericht der Datenethikkommission des Bundes, S. 52 ff., abrufbar unter https://www.bmjv.de/Shared Docs/Downloads/DE/Themen/Fokusthemen/Gutachten_DEK_DE.pdf?__blob=publica tionFile&v=3 (24.10.2019); ferner BVerfGE 156, 11 (40, Rn. 74). 633 Zur konkreten Datenauswertung durch den Bundesnachrichtendienst unter F. II. 2. a) aa). 634 Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 127. 635 BVerfGE 100, 313 (373). 636 So schon Roggan (Fn. 510), § 1 G 10 Rn. 3 ff.; Riegel (Fn. 529), § 1 Rn. 10. 637 Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 33; Roggan (Fn. 510), § 1 G 10 Rn. 4 f.; erheblich weiter allerdings Borgs-Maciejewski (Fn. 92), § 1 G 10 Rn. 4, der bereits die entfernte Möglichkeit einer Schädigung ausreichen lässt.
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz
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Nr. 1 G 10 erlaubt ist638. Nur in diesem Fall ist gemäß § 5 I 4 G 10 auch die Kontrolle von Post- und Briefverkehrssendungen statthaft. Warum diese Befugnis nicht auf die anderen Gefahrbereiche erstreckt wird, bleibt schleierhaft. Ferner darf der Bundesnachrichtendienst zur Erfüllung seiner Aufgaben nach § 1 II BNDG, also zur Sammlung von außen- und sicherheitspolitischen Erkenntnissen, auch unter „strategischen Anordnungsvoraussetzungen“ 639 gemäß § 1 I Nr. 2 G 10 in Verbindung mit den in § 5 I 3 Nr. 2 bis 8 G 10 bezeichneten Gefahrbereichen Fernmeldeaufklärung durchführen640. Die zulässigen Gefahrbereiche sind internationale terroristische Anschläge mit Bezug zur Bundesrepublik (Nr. 2), illegale Proliferation von Kriegswaffen und ausfuhrbeschränkten Gütern von erheblicher Bedeutung (Nr. 3)641, unbefugte gewerbs- oder bandenmäßige Verbringung von Betäubungsmitteln in das Gebiet der Europäischen Union in Fällen von erheblicher Bedeutung (Nr. 4), Beeinträchtigung der Geldwertstabilität im Euroraum durch eine im Ausland begangene Geldfälschung großen Stils (Nr. 5), internationale organisierte Geldwäsche in Fällen von erheblicher Bedeutung (Nr. 6), besonders schwere und strategisch bedeutsame Fälle der Schleuserkriminalität, insbesondere der Schleusung von Terroristen (Nr. 7)642 und, seit kurzem, Fälle von kriminellen, terroristischen und staatlichen Cyberattacken (Nr. 8)643, 644. Für die Fälle der Nummern 3, 4, 6, 7 und 8 hat der Gesetzgeber zusätzlich die Schwelle der Notwendigkeit des Vorliegens eines Falles von erheblicher Bedeu638 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 287 f.; Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 7 f.; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 127. 639 Erneut Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 127, der korrekt zwischen § 1 I Nr.1 i. V. m. § 5 I 3 Nr. 1 G 10 und § 1 I Nr. 2 G 10 i.V. m. § 5 I 3 Nr. 2 G 10 als unterschiedliche Voraussetzungen unterscheidet; auf diese Differenzierung verzichtet etwa Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 557; Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2573. 640 Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 6 ff.; Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 10. 641 Zu diesem Aufgabenfeld aus Sicht der Nachrichtendienste vgl. allgemein S. Morweiser/S. Hinüber, Bekämpfung der Proliferation und Unterstützung der Exportkontrolle, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. V § 5 Rn. 163 ff. et passim. 642 Vertieft zum Gefahrenfeld der Schleuserkriminalität unlängst R. Günther, in: C. Knauer (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 3/2, 2018, § 5 G 10 Rn. 18 f. 643 Zur Cyberabwehr durch die strategische Fernmeldeaufklärung als „SIGINT Support to Cyber Defence“ Karl, SIGINT (Fn. 57), S. 131 ff. (siehe auch Fn. 437); hierzu ebenfalls P. W. Brunst, Cyberabwehr, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. V § 7 Rn. 83 ff.; kritisch zur Neueinführung der Nr. 8 des Kataloges durch das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes M. Bäcker, Stellungnahme zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes, AS-Drs. 18(4)328 A, S. 11 f., der mit Blick auf das Trennungsgebot und die Ausrichtung des BND zur Auslandaufklärung die Einbeziehung krimineller Cyberangriffe kritisiert; für die Notwendigkeit aus Sicht der Bundesregierung hingegen BT-Drs. 18/4654, S. 40 f., die insbesondere auf den Schutz von kritischer Infrastruktur gegen Cyberangriffe abstellt. 644 Zusammenfassung des Kataloges bei Bergemann (Fn. 423), H. Rn. 81; ausführliche Besprechung bei Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 129 ff.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
tung eingezogen, weswegen mindestens Fälle der mittleren Kriminalität vorliegen müssen, die den „Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen“ 645. b) „Internationale Telekommunikationsbeziehungen“ als verfassungsdogmatische Prämisse Die Überwachung nach § 5 I 1 G 10 darf nur auf „internationale Telekommunikationsbeziehungen“ bezogen sein, bei denen eine gebündelte Übertragung erfolgt. Das Merkmal der „internationalen Telekommunikationsbeziehungen“ ist ein entscheidendes Tatbestandsmerkmal im Regelungskomplex der Erhebungsbefugnisse der strategischen Fernmeldeaufklärung unter dem G 10, aber auch für die gesamte strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung. Nach dem reinen Wortlaut der Vorschrift könnten hierunter sämtliche nicht rein nationale Telekommunikationsverkehre subsumiert werden, also Kommunikation von Deutschland in das Ausland bzw. andersherum sowie Kommunikation von Ausländern im Ausland646. Diese grammatikalische Auslegung liegt angesichts der Bedeutung des Wortes „international“ und dessen lateinischem Wortstamm prima facie eigentlich nahe. Die ständige Staatspraxis, der Gesetzgeber und mithin auch der Bundesnachrichtendienst verstehen das Tatbestandsmerkmal indes dahingehend, dass lediglich Telekommunikationsverkehre von Deutschland in das Ausland und vice versa erfasst sind647. Nach dieser Auslegung muss sich also mindestens ein Kommunikationspartner zum Zeitpunkt der Absendung bzw. des Empfangs der zu übermittelnden Telekommunikation zwingend physisch innerhalb des Staatsgebiets der Bundesrepublik aufhalten648. Befinden sich beide Telekommunikationspartner zum Zeitpunkt der Telekommunikation innerhalb der Bundesrepublik liegt keine „internationale“ Telekommunikationsbeziehung im Sinne des § 5 I 1 G 10 vor649. Es handelt sich dann um „rein inländische“ bzw. „rein nationale“ Telekommunikation. Die Kommunikation soll in personeller Hinsicht ferner auf der einen Seite Ausländer im Ausland und auf der anderen Seite Inländer oder deutsche Staatsbürger, die sich in Deutschland aufhalten, um645 BVerfGE 124, 43 (64) unter Verweis auf BVerfGE 109, 279 (344); 103, 21 (34); diese Definition nutzt auch Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 16. 646 Zu dieser zunächst offensichtlich erscheinenden Auslegungsmöglichkeit Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 220; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 2; Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2573. 647 So die Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/5655, S. 18, ebenso BT-Drs. 18/12850, S. 1497; BT-Drs. 17/9640, S. 6; aus der Literatur zu dieser Auslegung Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 279; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 264 f.; Bergemann (Fn. 423), H. Rn. 81; Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2573; Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 350 f. 648 Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 11. 649 Siehe erneut Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 11.
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fassen650. Damit sind auch ausländische Staatsbürger von der Regelung umfasst, wenn sie sich persönlich zum Kommunikationszeitpunkt auf deutschem Territorium aufhalten. Der im Ausland befindliche, nicht deutsche Staatsbürger muss bei einem Telekommunikationsvorgang mit einem Deutschen in Deutschland oder einem nicht deutschen Inländer gleichfalls von § 5 I 1 G 10 erfasst sein. Der gesamte grenzüberschreitende bzw. „internationale“ Telekommunikationsvorgang stellt schließlich schon aus technischer Sicht eine untrennbare Einheit dar651. Sofern sich aber beide Kommunikationspartner außerhalb Deutschlands befinden, soll keine „internationale“ Kommunikationsbeziehung nach § 5 I 1 G 10 vorliegen652. Dieses Verständnis findet schon im Wortlaut der Norm keinen Halt. Aus dem Gesetz selbst lässt sich die Ansicht der Staatspraxis allenfalls dann ableiten, wenn man davon ausgeht, dass das Merkmal „international“ historisch und systematisch ausgelegt werden muss und deswegen als Grenze – im Sinne einer grenzüberschreitenden Kommunikation – lediglich die deutsche Staatsgrenze in Betracht kommt, da die Vorgängerregelung sich stets auch auf die vom Bundesgebiet realisierte Überwachung des von Deutschland, über seine Staatsgrenze hinweg, geführten Telekommunikationsverkehrs bezog653. Dessen ungeachtet soll die Auslegung der Staatspraxis von § 5 I G 10 im Rahmen der Untersuchung zugrunde gelegt werden, da der Bundesnachrichtendienst bei seiner Arbeit in der Praxis dieser Rechtsauffassung folgt und auch das Bundesverfassungsgericht diese unlängst erst zur Abgrenzung des Verfahrensgegenstandes in seiner Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vorausgesetzt hat654. aa) Bisheriges ständiges Verfassungsverständnis der Staatspraxis Durch die einschränkende Auslegung des einfachrechtlichen Merkmals der „internationalen“ Telekommunikationsbeziehungen offenbart sich eine verfassungsdogmatische Prämisse der Staatspraxis, die die gesamte strategische und damit auch die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung noch prägt: Der Gesetzgeber ging in ständiger Rechtsauffassung von der Annahme aus, dass die Erfassung ausländischer Telekommunikation, also derjenigen, die nicht von deutschen Staatsbürgern ausgeht bzw. empfangen wird oder keinen Anfangs- oder Endpunkt
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BVerfGE 154, 152 (179 f., Rn. 7). Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 125. 652 BVerfGE 154, 152 (179 f., Rn. 7); Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 2; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 557. 653 So die Argumentation im Rechtsgutachten von C. Gusy, Rechtmäßigkeit der Erfassung ausländischer Telekommunikation durch deutsche staatliche Stellen, 2015, S. 52 f., abrufbar unter https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/rechtswissenschaft/ls/ gusy/veroeffentlichungen/vortrage-und-gutachten/ (15.5.2022). 654 BVerfGE 154, 152 (179 f., Rn. 7). 651
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im Bundesgebiet hat, nicht dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 I GG unterfällt655; mangels Schutzbereichseröffnung liege kein Eingriff in Grundrechte vor, da der Schutzbereich in seiner territorialen Dimension eine „die Schutzbedürftigkeit begründende Gebietsbezogenheit“ voraussetze656. Auswirkungen der deutschen Staatsgewalt, die sich weder auf „die Gebietshoheit noch auf die Personalhoheit“ zurückführen ließen, könnten nicht unter Berufung auf die Grundrechte des Grundgesetzes abgewehrt werden657. Folgerichtig wurde seitens der Exekutive seit jeher ausschließlich die Telekommunikation von und nach Deutschland sowie diejenige inländischer juristischer Personen und deutscher Staatsbürger – unabhängig von deren geographischem Aufenthaltsort – unter den räumlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses subsumiert658. bb) Ausschluss rein nationaler Telekommunikation aus der strategischen Fernmeldeaufklärung Fest steht jedenfalls, dass als Konsequenz dieser Auslegung die Überwachung rein nationaler bzw. inländischer Telekommunikation per strategischer Fernmeldeaufklärung auf Grundlage von § 5 I 1 G 10 einfachrechtlich ausgeschlossen ist659. Ein rein inländischer Telekommunikationsvorgang, bei dem sich beide Teilnehmer physisch im Bundesgebiet befinden, kann bereits bei einer Wortlautauslegung der Vorschrift keine „internationale“ Kommunikation sein. Eine strategische Fernmeldeaufklärung eines rein inländischen Telekommunikationsverkehrs wäre schlechterdings rechtswidrig, da hierfür keine einfachrechtliche Ermächtigungsgrundlage vorhanden ist660. Soweit ersichtlich, wird dies auch nicht in Frage gestellt. 655
Vortrag der Bundesregierung im Verfahren zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, BVerfGE 154, 152 (199 f., Rn. 46 f.). 656 Ausdrücklich so auch schon der Vortrag der Bundesregierung im Verfahren um das G 10 1994, BVerfGE 100, 313 (338 f.); zur Rechtsauffassung im BND siehe die Darstellung diverser Zeugenaussagen im NSA-Untersuchungsausschuss BT-Drs. 18/12850, S. 750 ff.; für die Literatur zur Rechtsansicht der Bundesregierung stellvertretend Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 374 f., in ihrem Beitrag, der ausweislich der Kenntlichmachung auf einem Rechtsgutachten im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes beruht; Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 18; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 2 f. 657 BVerfGE 100, 313 (339). 658 BT-Drs. 18/12850, S. 750 ff.; ganz explizit auch BT-Drs. 18/9041, S. 24; BT-Drs. 13/1592, S. 2; BT-Drs. 12/5759, S. 5, hier allerdings noch ohne Bezug zur deutschen Staatsangehörigkeit; guter Überblick bei Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 37 f.; hierzu auch Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 124 ff. 659 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 279, 281; Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 2; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 62. 660 Das Fehlen einer gesetzlichen Reglung für diesen Fall rein inländischer Kommunikationsverkehre betonen statt vieler Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 220; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 3.
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz
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c) Durchsuchung des Rohdatenstromes mittels Selektoren und Löschpflichten Der Bundesnachrichtendienst darf den erhobenen Datenstrom nur mit Selektoren durchsuchen, die zur Aufklärung der jeweiligen Gefahrbereiche bestimmt und geeignet sind, § 5 II 1 G 10. Die Durchführung ist zu protokollieren; am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr der Protokollierung folgt, sind die Protokolldaten zu löschen, § 5 II 4, 5 G 10. Dabei handelt es sich technisch um eine maschinelle Selektion mittels einer Datenbank661. Die inhaltliche Durchsuchung einer Nachricht wird typischerweise mit Selektoren durchgeführt, die nach nachrichtendienstlicher Erfahrung relevante Informationen liefern können, wie etwa die Bezeichnung von „dual-use“ Gütern – die sowohl einer zivilen als auch militärischen Nutzung zugeführt werden können – Chemikalien, biologischen Kampfstoffen, aber auch festen Begriffen wie „Djihad“, „Gotteskrieger“, „Bombe“, „Schlepper“ etc.662. Daneben finden maßgeblich und in weitem Umfang formale Suchbegriffe Verwendung. Hierrunter sind z. B. E-Mail-Adressen, Telefon- und Handynummern sowie die IMSI-Nummern, die auf der Sim-Karte eines Mobiltelefons hinterlegt sind, zu verstehen663. Im Jargon der Nachrichtendienste wird der Einsatz der Selektoren als „Steuerung“ tituliert664. In der Praxis der strategischen Fernmeldeaufklärung werden weit überwiegend formale Selektoren gesteuert, da diese eine wesentliche höhere Treffergenauigkeit aufweisen und somit die massenhafte Erfassung von „Spamverkehren“ eindämmen helfen665. Der zielgenaue Einsatz der Selektoren ist äußerst entscheidend für die Genauigkeit und den nachrichtendienstlichen Wert der Fernmeldeaufklärung666. In der Selektorenauswahl liegt der Kern des strategischen Elements des Überwachungsinstrumentes. Nur wenn der Bundesnachrichtendienst weiß, wonach er suchen muss, kann er überhaupt erst belastbare Ergebnisse erzielen. Freilich sind die Selektoren auch ein Schlüssel zu einer möglichst grundrechtsschonenden Fernmeldeaufklärung. Der Bundesnachrichtendienst prüft die durch die Selektoren ausgefilterten Daten gemäß § 6 I G 10 unverzüglich und sodann in Sechsmonatsabständen dahingehend, ob sie für die in § 5 I 3 G 10 genannten Zwecke erforderlich sind (§ 6 II 3 G 10); falls dies nicht (mehr) der Fall ist, sind sie protokol-
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Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 64. Beispiele für inhaltliche Selektoren bei Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2573. 663 Zu den Selektoren ausführlich der Prüfbericht von K. Graulich, Nachrichtendienstliche Fernmeldeaufklärung mit Selektoren in einer transnationalen Kooperation, MAT A SV-11/2 zu A.-Drs. 404, S. 24; ferner BVerfGE 154, 152 (187, Rn. 23). 664 Siehe die Formulierung beispielsweise in BT-Drs. 18/12850, S. 789. 665 Huber (Fn. 510), § 5 G 10 Rn. 33 ff.; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 557. 666 Zur Qualität des Selektoreneinsatzes auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 117. 662
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
liert zu löschen667. Verbleibende Daten sind gemäß § 6 II G 10 zu kennzeichnen, um den Eingriff in das Fernmeldegeheimnis zu dokumentieren; diese Kennzeichnung ist auch bei einer Übermittlung der Daten aufrecht zu erhalten. d) Teilverbot der Überwachung einzelner Kommunikationsanschlüsse § 5 II 2 Nr. 1 G 10 verbietet grundsätzlich die Nutzung von Selektoren, die zu einer gezielten Erfassung von bestimmten Telekommunikationsanschlüssen führen. Das G 10 selbst enthält keine Definition eines Telekommunikationsanschlusses, ebenso wenig wie das TKG. Es liegt aufgrund der thematischen Regelungsnähe nahe, auf die Legaldefinition des § 2 Nr. 10 TKÜV zurückzugreifen668. Ein Telekommunikationsanschluss ist danach ein durch eine Rufnummer oder andere Adressierungsangabe eindeutig bezeichneter Zugang zu einer Telekommunikationsanlage, der es einem Nutzer ermöglicht, Telekommunikationsdienste zu nutzen. Konsequent schützt das Verbot vor der Erfassung von einzelnen Kommunikationsteilnehmern – wie Bäcker schon früh betont hat – nur, sofern Telekommunikationskontakte immer durch feste Telekommunikationsanschlüsse vermittelt werden669. Der durch eine Rufnummer bezeichnete Zugang zu einer Telekommunikationsanlage wird zumeist in einem konventionellen Festnetzanschluss bestehen, welcher somit von einer gezielten Steuerung ausgeschlossen ist. E-MailAdressen und Messenger-Anwendungen beziehen sich jedoch nicht auf konkrete Telekommunikationsanschlüsse, sondern auf Nutzerkonten, auf welche weltweit von jedem Telekommunikationsanschluss mit Zugang zum Internet zugegriffen werden kann. Nimmt man den Wortlaut von § 5 II 2 Nr. 1 G 10 genau, wäre damit die gezielte Steuerung von E-Mail-Adressen und Messenger-Logins möglich, ohne dass diese weniger schwer wöge als die gezielte Überwachung von Telefonnummern670. In welcher Weise die Vorschrift in der Praxis ausgelegt wird, ist nicht bekannt. Eine klare normative Einhegung der Überwachung lässt sich mit der Regelung de lege lata indes nicht sicher erreichen. Für die gezielte Steuerung einzelner Anschlüsse werden regelmäßig nur formale Selektoren in Betracht kommen, die einen individuellen Anschluss bezeichnen671. Die Begrenzung der gezielten Steuerung soll verhindern, dass die strate667 Zu den Protokoll- und Löschpflichten Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 298 f.; Schantz, Rechtsschutz (Fn. 489), S. 874. 668 Telekommunikations-Überwachungsverordnung v. 3.11.2005 (BGBl. I S. 3136), neugefasst am 11.7.2017 (BGBl. I S. 2316); instruktiv zur begrifflichen Anlehnung an die TKÜV Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 14. 669 Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 14; ders., Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 559. 670 Zur theoretisch denkbaren Steuerung von E-Mail-Adressen im Rahmen des § 5 II 2 Nr. 1 G 10 eingehend Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 14; ders., Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 559. 671 Statt aller Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 295 ff.
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gische Fernmeldeaufklärung im Ergebnis zu einer pauschalen Individualkontrolle wird und die gezielte Überwachung von beliebigen Anschlüssen und damit eine Totalüberwachung der Kommunikation Einzelner durch den Bundesnachrichtendienst ermöglicht672. Für Telekommunikationsanschlüsse im Ausland gilt das Verbot der gezielten Erfassung einzelner Anschlüsse sowie der Steuerung von Selektoren, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen gemäß § 5 II 3 G 10, aber nicht, sofern ausgeschlossen werden kann, dass die Anschlussinhaber oder regelmäßige Nutzer deutsche Staatsangehörige sind. Damit können ausländische Anschlüsse bzw. Telekommunikationsteilnehmer einzeln und direkt überwacht werden673. Diese Ausnahmeregelung fußt, noch wesentlich ausdrücklicher als die Auslegung des Merkmals der „internationalen“ Kommunikation auf der Annahme, das Fernmeldegeheimnis habe einen eingeschränkten territorialen Schutzbereich und gelte bei einer Überwachung von Ausländern nicht bzw. nicht mit der äquivalenten Schutzintensität. Sie ist insoweit eine konsequente Fortführung dieser Rechtsansicht. Die ursprünglich einmal vorgesehene „Trennlinie“ zu Maßnahmen der Individualkontrolle nach § 3 I G 10 wird hiermit für Ausländer im Ausland teilweise aufgehoben674. Ob, und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen, dies von Verfassungs wegen hinzunehmen ist, ist an anderer Stelle noch zu untersuchen. aa) Kernbereichsschutz mit Unklarheiten § 5 II 2 Nr. 2 enthält ferner das Verbot der Nutzung von Selektoren, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen. Auch dieses gilt indes nicht für Telekommunikationsanschlüsse im Ausland; hier dürfen ausdrücklich Selektoren mit Kernbereichsbezug verwendet werden, was angesichts der Universalgeltung des Art. 1 I GG durchgreifenden Bedenken begegnet und überdies schlicht systemfremd erscheint675. § 5a S. 1 G 10 sieht schließlich ein absolutes Verbot der Erfassung von Telekommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung vor. Damit soll den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zum Schutz eines unausforschbaren Kernbereiches der Persönlichkeit als Ausdruck der Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG entsprochen werden, in den die öffentliche Ge-
672 Ausführlich zum Verbot der direkten Steuerung einzelner Anschlüsse Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 35; zu dieser Begrenzung auch F. Becker, Grundrechtliche Grenzen staatlicher Überwachung zur Gefahrenabwehr, in: NVwZ 2015, S. 1335 (1339). 673 Zur Ausnahmeregelung exemplarisch und sehr kritisch Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 38 ff.; M. Payandeh, Entteritorialisierung des Öffentlichen Rechts: Transnationale Individualrechtsverletzungen zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht, in: DVBl. 2016, S. 1073 (1076); Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 5. 674 Prägnante Wertung bei Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 354. 675 Hierauf weist hin Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 297 f.; Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 38 ff.; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 147.
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walt mittels Überwachungsmethoden nicht vordringen darf 676. § 5a G 10 sieht ferner konsequent ein absolutes Verwertungsverbot für Inhalte vor, die den Kernbereich berühren und ordnet deren sofortige, protokollierte Löschung – flankiert durch Aufbewahrungsbestimmungen für spätere Datenschutzkontrollen – an677. Dies gilt indes nicht – warum bleibt unklar – für Fälle der Gefahr eines bewaffneten Angriffes auf die Bundesrepublik, da § 5a S. 1 G 10 gerade nicht auf die Gefahrenlage des § 5 I 3 Nr. 1 G 10 verweist, sondern nur auf § 1 I Nr. 2 G 10 in Verbindung mit § 5 I 3 Nr. 2 bis 8 G 10678. Insoweit ist der Kernbereichsschutz lückenhaft. Die verfahrensrechtliche Sicherung implementiert § 5 S. 4 in Verbindung mit § 3a I 2 bis 7 G 10 dergestalt, dass die laufende Kenntnisnahme bei Kernbereichsverdacht zu unterbrechen ist und die automatisierte Aufnahme umgehend einem Mitglied der G 10-Kommission zur Prüfung vorzulegen ist679. Hierdurch wird die Anwendung des Kernbereichsschutzes einer unabhängigen Kontrolle zugeführt. bb) Kein Schutz für besondere Vertrauensbeziehungen Die §§ 5 ff. G 10 enthalten keinen Schutz für besondere Vertrauensbeziehungen oder Berufsgeheimnisträger680. Dieser wird teils wegen des strategischen, vom Einzelfall gelösten Überwachungsansatzes schon aus faktischen Gründen für obsolet gehalten681 oder allenfalls im Einzelfall in Form einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bei ausnahmsweiser Auswertung erlangter berufsbezogener Erkenntnisse zugebilligt682. Andere differenzieren insoweit nicht zwischen Indi676 Siehe nur Huber, Reform (Fn. 621), S. 1325; zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Kernbereichsschutzes unter F. III. 4. d) cc) (4) (a). 677 Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 149 – „Dass keine Kommunikationsinhalte erfasst werden dürfen, die durch den Kernbereich privater Lebensgestaltung geschützt werden, versteht sich von selbst“; der Kernbereichsschutz wurde 2009 in das G 10 eingefügt, ausführlich dazu Huber, Reform (Fn. 621), S. 1324 f.; kritisch Roggan (Fn. 510), § 5a G 10 Rn. 3 f., der das Fehlen eines „Auswertungsabbruchgebotes“ bei Entdeckung der Kernbereichsrelevanz im Zuge der Auswertung der nachrichtendienstlichen Erkenntnisse bemängelt. Durch den Verweis in § 5a S. 4 G 10 auf § 3a S. 2 bis 7 G 10 wird jedoch eine sofortige Unterbrechung der Echtzeit-Überwachung bei erkannter Kernbereichsrelevanz realisiert bzw. bei automatisierter Aufnahme die G 10-Kommission eingeschaltet, zur Antikritik Huber (Fn. 511), § 5a G 10 Rn. 5. 678 Auf diese im Gesetz explizit so angelegte Ausnahme weist Huber (Fn. 511), § 5a G 10 Rn. 2 hin. 679 Zu diesen Nebenentscheidungen Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 108; Huber, Reform (Fn. 621), S. 1324 f. 680 Hieran hat sich auch durch das Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts vom 5.7.2021 (BGBl. I S. 2274) nichts geändert. 681 So Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 149, der überdies keinen generellen Vorrang von Belangen der Berufsgeheimnisträger gegenüber der nachrichtendienstlichen Überwachung anerkennen will. 682 Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 17, der grundsätzlich keinen ausdifferenzierten Schutz von Berufsgeheimnisträgern im Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung für notwendig hält.
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vidualmaßnahmen und strategischer Aufklärung und halten die analoge Anwendung des § 3b G 10 im Bereich der strategischen Kontrolle für notwendig, um einen verfassungsgemäßen Zustand herzustellen683. Bemerkenswert ist zumindest schon an dieser Stelle, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seiner dritten Abhörentscheidung mit der Verfassungsbeschwerde von Journalisten und der Pressefreiheit – vermittelt durch das Fernmeldegeheimnis – befasste684, was den Gesetzgeber bei der anschließenden Reform des G 10 nicht dazu veranlasste, einen Schutz von besonderen Vertrauensbeziehungen in das Gesetz einzupflegen685. Ob dies verfassungsrechtlich letztlich erforderlich ist, soll einer späteren genuin verfassungsrechtlichen Anforderungsanalyse vorbehalten sein. e) Übermittlung von personenbezogenen Daten aus der strategischen Fernmeldeaufklärung aa) Übermittlung an inländische Behörden, insbesondere an operative Stellen Das G 10 statuiert ein eigenes, von den Fachgesetzen der Nachrichtendienste unabhängiges, Übermittlungsregime für die aus der strategischen Fernmeldeaufklärung gewonnen personenbezogenen Daten; § 7 G 10 regelt differenziert die Übermittlung an nationale Empfangsbehörden (Nachrichtendienste, das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle sowie Polizei und Strafverfolgungsbehörden) und geht als lex specialis den allgemeinen Regelungen vor686. Alle Übermittlungsbefugnisse an die in § 7 G 10 aufgelisteten Empfänger sind als Erlaubnisvorschriften ausgestaltet, sodass der Bundesnachrichtendienst personenbezogene Daten aus der Fernmeldeaufklärung nach eigenem Ermessen übermittelt und nicht etwa Übermittlungspflichten – z. B. bei Erkenntnissen über schwerwiegende Straftaten – bestehen687. Es handelt sich somit bei der Übermittlung von Erkenntnissen aus der strategischen Fernmeldeaufklärung immer um eine sogenannte Spontanübermittlung auf eigene Initiative des Bundesnachrichtendienstes, dem kein Ersuchen anderer Behörden vorausgeht688. In allen Fällen ist die Übermittlung der personenbezogenen Daten nur statthaft, wenn die Übermittlung für den Datenempfänger erforderlich ist, um die ihm gesetzlich übertragenen Aufga683
Instruktiv der Kommentarbeitrag von Huber (Fn. 511), § 5a G 10 Rn. 7 f. BVerfGE 100, 313 (365, 387). 685 Dies unterstreicht auch Huber (Fn. 510), § 5a G 10 Rn. 7. 686 Statt vieler Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 424. Kurze Zusammenfassung der Übermittlungstatbestände bei Siems (Fn. 248), § 7 Rn. 100; Weisser, Entwicklung (Fn. 383), S. 150 ff. 687 Huber (Fn. 510), § 7 G 10 Rn. 1; kritisch zur reinen Erlaubnisvorschrift, insbesondere bei der Übermittlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse an Strafverfolgungsbehörden, Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 437 f., 440 f. 688 Zum Begriff der Spontanübermittlung siehe nur Siems (Fn. 248), § 7 Rn. 13; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 286. 684
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ben zu erfüllen, § 7 V G 10. Der Bundesnachrichtendienst trägt als übermittelnde Behörde mithin die Verantwortung für die Prüfung der Erforderlichkeit der Daten auf Empfängerseite689. Der Empfänger ist wiederum zur regelmäßigen Prüfung der weiteren Notwendigkeit der Datennutzung verpflichtet und darf diese nur zu den Zwecken nutzen, zu dem sie ihm initial übermittelt wurden, § 7 VI G 10. Logische Konsequenz des Aufklärungsauftrages des Bundesnachrichtendienstes ist zunächst die Übermittlungsbefugnis für Erkenntnisse, einschließlich personenbezogener Daten, gemäß § 7 I G 10 in Verbindung mit § 33 BNDG an das Bundeskanzleramt und die jeweiligen Bundesministerien im Rahmen ihrer Zuständigkeit über die in § 5 I 3 G 10 genannten Gefahrbereiche, wobei die Übermittlung hierauf auch begrenzt sein muss690. Ohne diese Erlaubnisnorm wäre die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes für die Bundesregierung wertlos, da ihr die gewonnenen Informationen dann nicht zugänglich gemacht werden könnten. § 7 II Nr. 1 G 10 erlaubt die Datenübermittlung an die Verfassungsschutzbehörden sowie den Militärischen Abschirmdienst, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Daten erforderlich zur Sammlung und Auswertung von Informationen über Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland sind, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen gegen die in § 3 I Nr. 1, 3 und 4 BVerfSchG genannten Schutzgüter gerichtet sind. Zudem kann unter den vergleichsweise höheren Voraussetzungen des Vorliegens von bestimmten Tatsachen, die den Verdacht sicherheitsgefährdender oder geheimdienstlicher Tätigkeiten für eine fremde Macht begründen, ebenfalls eine Übermittlung erfolgen, § 7 II Nr. 2 G 10691. Seit der Erweiterung der strategischen Fernmeldeaufklärung auf internationale kriminelle, terroristische oder staatliche Cyberattacken in § 5 I Nr. 8 G 10 ist als Konsequenz auch die Übermittlung an die anderen Nachrichtendienste des Bundes als lex specialis in § 7 II Nr. 3 G 10 ermöglicht, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Angriffe von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach § 3 I BVerfSchG ausgehen692. Korrespondierend hierzu ist in § 7 IVa G 10 eine Übermittlungsbefugnis an das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik normiert worden, wonach personenbezogene Daten bei tatsächlichen Anhaltspunkten der Erforderlichkeit der Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit in der Informationstechnik oder zur Sammlung und Auswertung von Informationen über Sicherheitsrisiken für andere
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Statt aller Huber (Fn. 511), § 7 G 10 Rn. 19. Zur Berichtspflicht nur Huber (Fn. 511), § 7 G 10 G 10 Rn. 4; Bareinske (Fn. 393), § 8 Rn. 103 ff.; zur Notwendigkeit der Eingrenzung der Übermittlungsbefugnis auf die Gefahrbereiche BVerfGE 100, 313 (387); dazu auch Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 188. 691 Zu diesen beiden Übermittlungstatbeständen ausführlich Huber (Fn. 511), § 7 G 10 Rn. 5 f. 692 BT-Drs. 18/4654, S. 41 f. 690
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und Dritte übermittelt werden können. § 7 III G 10 ermöglicht ferner die Übermittlung an das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, um Verstöße gegen Embargos zu verhindern, Teilnehmer am Außenwirtschaftsverkehr schon vor der Begehung einer Straftat zu sensibilisieren und Erkenntnisse bereitzustellen, die im Rahmen der Erteilung einer ausfuhrrechtlichen Genehmigung – z. B. bei dual use Gütern – erforderlich sind693. Bei Übermittlungen von Erkenntnissen aus der strategischen Fernmeldeaufklärung an Polizei und Strafverfolgungsbehörden differenziert das G 10 zwischen präventiver und repressiver Verwendungsabsicht. Personenbezogene Daten dürfen gemäß § 7 IV 1 G 10 an mit präventiv-polizeilichen Aufgaben betraute Behörden übermittelt werden, um die Begehung von im Gesetz im Einzelnen aufgeführten Straftaten zu verhindern694. Unterschieden wird indes hinsichtlich des notwendigen Verdachtsgrades für eine Übermittlung: § 7 IV 1 Nr. 1 G 10 verlangt lediglich tatsächliche Anhaltspunkte695 wohingegen in Nr. 2 der Vorschrift bestimmte Tatsachen696 für die Übermittlung vorliegen müssen. Bei einer Weitergabe personenbezogener Daten an Strafverfolgungsbehörden muss nach § 7 IV 2 G 10 stets der Verdachtsgrad der bestimmten Tatsachen – angelehnt an die herkömmliche, strafprozessuale Telekommunikationsüberwachung im Sinne des § 100a StPO – vorliegen697. Sowohl die Übermittlungsbefugnisse an Polizei- als auch Strafverfolgungsbehörden enthalten teilweise Bagatelldelikte in den Katalogstraftaten, was Übermittlungen in einer großen Anzahl von Fällen und auch 693 Zu den Einzelheiten Huber (Fn. 511), § 7 G 10 Rn. 8 ff.; Roggan (Fn. 510), § 7 G 10 Rn. 9 ff. 694 Im ersten Zugriff Bergemann (Fn. 423), H. Rn. 155; zu den Änderungen an § 7 IV 1 Nr. 2 G 10 – insbesondere Einfügung des Verweises auf § 100a II StPO – durch das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes BT-Drs. 18/4654, S. 41 f., unter Verweis auf den Abschlussbericht der Bund-LänderKommission Rechtsterrorismus (BLKR), 2013, Rn. 559 f., abrufbar unter https://www. bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/abschlussbe richt-kommission-rechtsterrorismus-lang.html (19.12.2018); Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 433 f. 695 Eine Übermittlung kann nach § 7 IV 1 Nr. 1 G 10 erfolgen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, dass jemand Straftaten nach den §§ 89a, 89b, 89c I bis IV, § 129a, auch in Verbindung mit § 129b I, sowie den §§ 146, 151 bis 152a, § 261 StGB oder vorsätzliche Straftaten nach den §§ 17, 18 AWG, §§ 19 bis 21, § 22a I Nr. 4, 5, 7 KrWaffKontrG oder Straftaten nach §§ 29a I Nr. 2, § 30 I 1 Nr. 1, 4, 30a BtMG plant oder begeht. 696 Gemäß § 7 IV 1 Nr. 2 G 10 ist eine Übermittlung personenbezogener Daten an präventiv-polizeiliche Behörden statthaft, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand eine der in § 3 I 1 Nr. 1, 2, 5, 7, 9, Satz 2 oder Absatz 1a G 10 oder eine sonstige der in § 100a II StPO genannten Straftaten plant oder begeht. 697 Eine Übermittlung an Strafverfolgungsbehörden ist nach § 7 IV 2 G 10 zulässig, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand eine der in § 7 IV 1 G 10 bezeichneten Straftaten begeht oder begangen hat. Zum Gleichlauf von Übermittlungsschwelle und StPO-Verdachtsgrad instruktiv Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 426.
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bei wenig gravierenden Straftaten ermöglicht698. Eine intensive Begrenzung der Übermittlungsbefugnisse auf hochrangige Rechtsgüter stellen sie somit in zahlreichen Fällen nicht dar. bb) Übermittlung an ausländische Nachrichtendienste Eine Übermittlung personenbezogener Daten an ausländische, mit nachrichtendienstlichen – nicht etwa polizeilichen699 – Aufgaben betraute öffentliche Stellen, ist gemäߧ 7a I G 10 im Einzelfall zulässig, sofern sie in den Gefahrenfeldern des internationalen Terrorismus, der Proliferation, der Schleuserkriminalität oder im Bereich „Cyber“ (§ 5 I 3 Nr. 2, 3, 7, 8 G 10) erhoben wurden700. Eine Datenübermittlung darf dabei schon erfolgen, wenn sie „erforderlich“ ist, um außen- und sicherheitspolitische Belange der Bundesrepublik oder erhebliche Sicherheitsinteressen eines ausländischen Staates zu wahren. Im Empfangsstaat müssen ferner ein angemessenes Datenschutzniveau und das Prinzip der Gegenseitigkeit des Austausches von nachrichtendienstlichen Informationen gewährleistet sein. Auf die Einfügung einer konkreten Übermittlungsschwelle oder einer nötigen Tatsachenbasis hat der Gesetzgeber indes verzichtet und es bei einer reinen Erforderlichkeitsklausel belassen701. Dies fällt, im Vergleich zu den Übermittlungsvorschriften an inländische öffentliche Stellen, als Herabsenkung der Übermittlungsschwelle ins Auge. Verfahrensrechtlich wird die Übermittlungsbefugnis durch zahlreiche Anforderungen flankiert. So bedarf es in jedem Einzelfall einer Zustimmung des Kanzleramtes, wodurch sowohl eine fachaufsichts698 Sehr kritisch hierzu Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 49 ff., mit tabellarischer Auflistung der Katalogstraftaten; siehe insbesondere die ausführliche Studie von Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 422 ff. et passim. 699 Eine strikte Trennung von mit polizeilichen und nachrichtendienstlichen Befugnissen ausgestatteten Behörden ist im Ausland indes eher unüblich. So werden etwa im österreichischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung nachrichtendienstliche und polizeiliche Eingriffsrechte integriert, ebenfalls vereint das amerikanische Federal Bureau of Investigation polizeiliche Elemente mit denen eines Inlandsnachrichtendienstes, hierzu Gärditz, Sicherheitsarchitektur (Fn. 175), S. 10; in diesem Fall ist eine Übermittlung von personenbezogenen Daten aus der strategischen Fernmeldeaufklärung gleichwohl zulässig, wobei darauf zu achten ist, dass die übermittelten Daten nur zu nachrichtendienstlichen, nicht aber repressiven Zwecken verwendet werden, dazu Huber (Fn. 511), § 7a G 10 Rn. 3. Dies wird im Einzelfall durch dementsprechende Zusicherungen des Datenempfängers abzusichern sein. 700 Zur Übermittlungsbefugnis an ausländische öffentliche Stellen ausführlich die Kommentierung von Huber (Fn. 511), § 7a G 10 Rn. 2 ff.; allgemein zu Datenübermittlungen an Nicht-EU-Staaten, allerdings im polizeirechtlichen Kontext, T. Schwabenbauer, Informationsverarbeitung im Polizei- und Strafverfahrensrecht, in: Bäcker/Denninger/Graulich, Handbuch Polizeirecht (Fn. 96), Kap. G. Rn. 267 ff.; grundlegend zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen für Datenübermittlungen durch Sicherheitsbehörden an ausländische öffentliche Stellen BVerfGE 141, 220 (341 ff., Rn. 323 ff.). 701 Kritisch dazu in Bezug auf § 19 III BVerfSchG, der die Übermittlung vom Bundesamt für Verfassungsschutz an ausländische öffentliche Stellen regelt, Siems (Fn. 248), § 7 Rn. 61, 69 f.
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rechtliche Prüfung als auch eine Hochzonung der politischen Verantwortung erreicht wird702. Ebenso muss eine grundsätzlich ausdifferenzierte Rechtsstaatlichkeits- und Zweckbindungsvereinbarung eingeholt werden703. Hinzutreten die nötige juristische Qualifikation desjenigen Bundesnachrichtendienstbeamten, der die Übermittlung veranlasst, Protokollierungs- und Nachweis-, sowie Berichtspflichten an die G 10-Kommission und das Parlamentarische Kontrollgremium704. In der Praxis macht der Bundesnachrichtendienst von der Übermittlungsbefugnis kaum Gebrauch; 2017 wurden keine personenbezogenen Daten auf Grundlage von § 7a G 10 übermittelt705. f) Anordnungsverfahren und Mitwirkungspflichten der Telekommunikationsdienstleister Die zu überwachenden Telekommunikationsbeziehungen müssen vorab durch das Bundesministerium des Innern festgelegt werden, was der Zustimmung des Parlamentarischen Kontrollgremiums bedarf, § 5 I 2 G 10706. Hierbei handelt es sich in der Praxis allerdings um eine rein generalisierende Festlegung ohne Einzelfallbezug dahingehend, welche Staaten und Regionen überhaupt Gegenstand der strategischen Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes sein sollen707. Eine anlassbezogene Ausweitung des geographischen Beobachtungsgebietes ist indes möglich708. Das Anordnungsverfahren einer strategischen Fernmeldeaufklärung richtet sich nach den §§ 9, 10 G 10 und soll hier nur insoweit dargelegt werden, wie es für das Verständnis des Ablaufes nötig erscheint. aa) Beschränkungsanordnung Auf Antrag des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes oder seines Stellvertreters (§ 5 I 1, § 9 II G 10) kann das gemäß § 10 I G 10 zuständige Bundesministerium des Innern eine sogenannte Beschränkungsanordnung, die die einzelnen Selektoren, das geographische Gebiet und auch die konkret zu überwachenden Übertragungswege bezeichnen muss, erlassen, § 10 IV 1, 2 G 10709. Die 702
Zur Fachaufsicht Huber (Fn. 511), § 7a G 10 Rn. 17; ebenso BT-Drs. 16/905, S. 10. Siehe stellvertretend Huber (Fn. 511), § 7a G 10 Rn. 6 ff., 15, 20. 704 § 7a III, V, VI G 10. 705 BT-Drs. 19/10459, S. 9. 706 Zu den Abläufen im PKGr detaillierter Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 290, der dem Verfahren eine größere Bedeutung beimisst; kompakt Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 145; zu den Problemen der Praxis und Eilfällen Huber (Fn. 511), § 14 G 10 Rn. 7 ff. 707 Hierzu vor allem aus der Praxisperspektive Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 5; ebenso ders., G 10-Gesetz (Fn. 536), S. 3298. 708 Erneut Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 5. 709 Den Begriff der „Beschränkungsanordnung“ für die Anordnung nach § 10, I, IV G 10 hat das BVerwG in seiner jüngsten Entscheidung zu den Mitwirkungspflichten der 703
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Beschränkungsanordnung ist eine direkt an den Bundesnachrichtendienst gerichtete Ermächtigung mit verpflichtendem Charakter, die vorgesehenen Beschränkungen des Post- oder Fernmeldeverkehrs vorzunehmen710. Als Übertragungswege sind diejenigen Leitungen zu verstehen, über die der Datenstrom geleitet wird, der – nach Dopplung – dem Bundesnachrichtendienst zur Verfügung gestellt wird711. Nach der Legaldefinition in § 3 Nr. 67 TKG n. F. ist ein Übertragungsweg eine Telekommunikationsanlage in Form von Kabel- oder Funkverbindungen mit ihren übertragungstechnischen Einrichtungen als Punkt-zu-Punkt- oder Punkt-zu-Mehrpunktverbindungen mit einem bestimmten Informationsdurchsatzvermögen (Bandbreite oder Bitrate) einschließlich ihrer Abschlusseinrichtungen712. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass dies bestimmte Kommunikationssatelliten oder Kabelverbindungen sind713. Die Anordnung ist gemäß § 10 V G 10 auf höchstens drei Monate zu befristen, eine Verlängerung ist auf Antrag um jeweils nicht mehr als drei weitere Monate zulässig, sofern die Anordnungsvoraussetzungen fortbestehen. Anzugeben ist ferner, welcher Anteil der Daten auf dem zu überwachenden Übertragungsweg kapazitätsmäßig erfasst werden darf, § 10 IV 3 G 10. Als Höchstmaß darf dieser Anteil jedoch gemäß § 10 IV 4 G 10 maximal 20 Prozent betragen, wodurch die strategische Fernmeldeaufklärung auch mengenmäßig begrenzt werden soll714. Die tatsächliche Durchführung der strategischen Fernmeldeaufklärung ist unter Aufsicht eines Beamten mit der Befähigung zum Richteramt vorzunehmen und zu beenden, wenn sie nicht mehr erforderlich ist oder die Anordnungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, § 11 I, II G 10715. bb) Mitwirkungspflichten der Telekommunikationsdienstleister Wer geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringt oder an der Erbringung solcher Dienste mitwirkt, hat nach § 2 Ia G 10 n. F. der berechtigten Stelle, also dem Bundesnachrichtendienst, auf Anordnung Auskunft über die näheren Umstände der nach Wirksamwerden der Anordnung durchgeführten TelekommuTelekommunikationsdienstleister bei der strategischen Fernmeldeaufklärung geprägt, BVerwGE 162, 179 Leitsatz 3 – DE-CIX; affirmative Besprechung der Entscheidung bei K. F. Gärditz, Verpflichtung eines Telekommunikationsunternehmens zur Mitwirkung an Maßnahmen der strategischen Fernmeldeüberwachung – Anmerkung, in: GSZ 2018, S. 210 (210 ff.); zum Verfahrensablauf zusammenfassend Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 289; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 150 ff. 710 BVerwGE 162, 179 (182 f., Rn. 16); BVerwGE 130, 180 (185 f., Rn. 27). 711 BVerwGE 162, 179 (196, Rn. 46). 712 Hierzu vertieft Lünenbürger/Stamm (Fn. 514), § 3 TKG Rn. 81 ff. 713 BT-Drs. 14/5655, S. 23. 714 Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 145; zur Streubreitenbegrenzung durch § 10 IV 4 G 10 siehe vertieft im Rahmen der Evaluierung der Eingriffsintensität unter F. II. 2. a) bb) (1). 715 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 291; Huber (Fn. 511), § 11 G 10 Rn. 2.
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nikation zu erteilen sowie die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zu ermöglichen716. Dafür ergeht an den Telekommunikationsdienstleister eine sogenannte Verpflichtungsanordnung, die auf der ausschließlich an den Bundesnachrichtendienst gerichteten Beschränkungsanordnung aufbaut und rechtsverbindlich die Mitwirkungspflichten (aus § 2 I 3 G 10 a. F.) konkretisiert717. Die Beschränkungsanordnung wird dem Telekommunikationsunternehmen dabei nur insoweit mitgeteilt, wie dies für die Umsetzung der Verpflichtungsanordnung notwendig ist718. Dies ist deswegen vertretbar, da die Überwachung gemäß § 5 I G 10 alleine dem Bundesnachrichtendienst zuzurechnen ist, der hierfür, ebenso wie für die Einhaltung der Begrenzung auf das in der Beschränkungsanordnung vorgegebene geographische Gebiet und der Überwachungshöchstgrenze nach § 10 IV 4 G 10, die alleinige Verantwortung trägt719. Bei der Verpflichtungsanordnung handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 I 1 VwVfG720. Telekommunikationsdienste im Sinne des G 10 sind gemäß der Legaldefinition des § 3 Nr. 61 TKG n. F. in der Regel gegen Entgelt erbrachte Dienste, die ganz oder überwiegend in der Übertragung von Signalen über Telekommunikationsnetze bestehen, einschließlich Übertragungsdienste in Rundfunknetze721. Die Telekommunikationsdienstleister sind – wie das Bundesverwaltungsgericht unlängst in Bezug auf die strategische Fernmeldeaufklärung ausdrücklich klargestellt hat – gemäß § 2 I 5 G 10 a. F. (§ 2 Ia 2 G 10 n. F.) in Verbindung mit § 110 I Nr. 1 TKG a. F., § 27 II TKÜV verpflichtet, eine vollständige Kopie der auf den angeordneten Übertragungswegen abgewickelten Telekommunikation bereitzustellen722. Ferner müssen sie sogar die Aufstellung und den Betrieb von Geräten des Bundesnachrichtendienstes zur strategischen Fernmeldeaufklärung in ihren Geschäftsräumen dulden, § 110 I 1 Nr. 5 TKG a. F. in Verbindung mit § 27 III TKÜV, wenn bei ihnen eine Datenausleitung und Reduktion stattfindet. Dies wird indes nicht in allen Fällen nötig sein, da Datenströme auch direkt an den Bundesnachrichtendienst zur Weiterverarbeitung übertragen 716 Zur Rechtslage unter § 2 I 3 G 10 a. F. BVerwGE 162, 179 (189 f., Rn. 31); eine gleichgelagerte Verpflichtung zur Aushändigung von Postsendungen besteht für die Erbringer von Postdienstleistungen im Sinne des § 4 Nr. 1 PostG, siehe Huber (Fn. 511), § 2 G 10 Rn. 2 ff.; dazu ausführlich Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 18 ff. 717 BVerwGE 162, 179 (182 f., Rn. 16). 718 Grund und Dauer der Beschränkungsmaßnahme, von der Anordnung erfasste Übertragungswege und die zur Überwachung berechtigte Stelle werden den Telekommunikationsdienstleistern mitgeteilt, BVerwGE 162, 179 (190 f., Rn. 34 f.). 719 BVerwGE 162, 179 (187 f., Rn. 28; 194 ff., Rn. 41 ff.). 720 BVerwGE 162, 179 (182 f., Rn. 16); Huber (Fn. 511), § 10 G 10 Rn. 10. 721 Zum Ganzen BVerwGE 162, 179 (192 f., Rn. 37). 722 BVerwGE 162, 179 (194, Rn. 40); Huber (Fn. 511), § 2 G 10 Rn. 13; zum Umfang der Verpflichtung monographisch T. Greenawalt, Die Indienstnahme privater Netzbetreiber bei der Telekommunikationsüberwachung in Deutschland, 2009, S. 72 ff.; zur Frage der Erstreckung des Fernmeldegeheimnisses auf die Telekommunikationsmittler Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 37 ff.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
werden können, was mit Blick auf die Belastung der Telekommunikationsdienstleister durch den mit der Duldung der Aufstellung von Geräten des Bundesnachrichtendienstes einhergehenden Eingriff in ihre Berufsausübungsfreiheit grundrechtsschonender erscheint723. In diesem Fall wird eine Kapazitätsbeschränkung nach § 10 IV 4 G 10 nicht gemäß § 27 III 1 Nr. 3 TKÜV in den Räumlichkeiten des Telekommunikationsdienstleisters direkt durchgeführt, sondern dem Bundesnachrichtendienst eine vollständige Kopie des zu überwachenden Datenstromes zugeleitet, § 27 II TKÜV. Dieser hat sodann in seinen eigenen Räumlichkeiten die Einhaltung der Begrenzungen in eigener Verantwortung sicherzustellen724. Um den Bundesnachrichtendienst über technische Einzelheiten der Telekommunikationsinfrastruktur informiert zu halten, sind die Erbringer öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste gemäß § 114 TKG a. F. (§ 182 TKG n. F.) ferner verpflichtet, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie – basierend auf einem entsprechenden Ersuchen des Bundesnachrichtendienstes – entgeltfrei Auskünfte über die Strukturen der Telekommunikationsdienste und -netze zu erteilen725. Diese Informationen benötigt der Bundesnachrichtendienst, um seine strategische Fernmeldeaufklärung neuen Entwicklungen der Telekommunikationswirklichkeit anpassen zu können726. g) G 10-Kommission als Richtervorbehalt ersetzende Kontrollinstanz sui generis mit komplementärer Datenschutzkontrolle Die unmittelbare operative Kontrolle der strategischen Fernmeldeaufklärung nach §§ 5 ff. G 10 wird – wie im allgemeinen Teil bereits angedeutet – durch die G 10-Kommission durchgeführt. Die G 10-Kommission ist ein Hilfsorgan sui generis, welches in Art. 10 II 2 GG erwähnt ist und an die Stelle des herkömmlichen Rechtsweges tritt, jedoch selbst kein genuines Gericht ist und auch nicht Teil des Bundestages bzw. dessen parlamentarischer Kontrolle727; sie ist vielmehr ein „gerichtsersetzendes, unabhängiges und weisungsfreies [. . .] Entscheidungsorgan im operativen Einzelfall“ 728. Die G 10-Kommission ist letztlich ein „Produkt“
723
Hierzu ausdrücklich BVerwGE 162, 179 (194 ff., Rn. 41 ff.); dazu auch E. II. BVerwGE 162, 179 (194 ff., Rn. 41 ff.). 725 Zu diesem speziellen Auskunftsersuchen Gärditz (Fn. 339), § 1 Rn. 68. 726 Zum Zweck und den Einzelheiten des Auskunftsersuchens nach § 114 TKG a. F. siehe nur die Kommentierung bei P. Büttgen, in: Scheurle/Mayen, TKG-Kommentar (Fn. 343), § 114 TKG Rn. 1. 727 Grundlegend BVerfGE 143, 1 (10 ff., Rn. 34 ff., 15 ff., Rn. 46 ff.); Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 103; für die Aufsatzliteratur B. Huber, Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes – dargestellt am Beispiel der Tätigkeit der G 10-Kommission, in: GSZ 2017, S. 12 (14); ferner Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 345; Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 244 ff.; Baier, Kontrolle (Fn. 300), S. 91. 728 Pointierte Beschreibung bei Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 103. 724
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz
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der bereits erwähnten Notstandsverfassung729. Sie ist aufgrund dieser Sonderstellung nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts im Organstreitverfahren nach Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG nicht parteifähig, da sie weder oberstes Bundesorgan noch eine andere durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattete Beteiligte sei730. Sie besteht aus dem Vorsitzenden mit der Befähigung zum Richteramt731, vier (früher drei) Beisitzern sowie fünf (früher vier) stellvertretenden Mitgliedern (§ 15 I 1 G 10), die für eine Wahlperiode vom Bundestag gewählt werden, wobei die Mitglieder dem Parlament angehören können, aber nicht müssen732; die Mitglieder üben ein öffentliches Ehrenamt aus und gehen der Kontrolltätigkeit daher nicht im Hauptamt oder in Beamten- oder Richterstellung nach, § 15 I 4 G 10. Von Rechts wegen (weiterhin) nicht ausgeschlossen ist somit auch die Einbindung ehemaliger Mitglieder der Nachrichtendienste, die zwar über herausgehobenen Sachverstand über die strategische Fernmeldeaufklärung verfügen mögen, jedoch den Anschein erwecken können, die Exekutive kontrolliere sich gleichsam durch ihre „eigenen Leute“ selbst733. Primäre Aufgabe der G 10-Kommission ist es, die Beschränkungsanordnungen des Bundesministeriums des Innern vor einer strategischen Fernmeldeaufklärung von Gefahrbereichen zu kontrollieren und hierbei sowohl deren Zulässigkeit als auch Notwendigkeit respektive Begründetheit zu prüfen, § 15 VI G 10734. Es handelt sich somit gleichsam um eine vorbeugende Kontrolle analog eines Richter-
729 Prägnant K.-F. Gärditz, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 20.09.2016 – 2 BvE 5/ 15 – G 10-Kommission ist im Organstreitverfahren nicht parteifähig, in: DVBl. 2016, S. 1540 (1541). 730 So die Entscheidung zur Organklage der G 10-Kommission gegen die Bundesregierung und das Bundeskanzleramt, die sogenannte NSA-Selektorenliste nicht an die Kommission herauszugeben BVerfGE 143, 1 (10 ff., Rn. 34 ff.); affirmativ Gärditz, ebda., S. 1542; kritisch indes B. Huber, Keine Parteifähigkeit der G 10-Kommission im Organstreitverfahren – Anmerkung, in: NVwZ 2016, S. 1706 (1706 f.), der den umfassenden Kontrollauftrag der Kommission durch diese Beschränkung nicht hinreichend gewürdigt sieht. 731 Damit musste bisher nur ein Mitglied der Kommission Volljurist sein. Obschon dies in der Praxis regelmäßig überboten worden sein dürfte, kritisiert Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 348 ff. plausibel, dass die Einbindung von juristischen Laien den Ersatz des regulären Richtervorbehaltes konterkarierte. Nunmehr müssen mindesten drei Mitglieder und drei Stellvertreter die Befähigung zum Richteramt vorweisen, § 15 I 2 G 10 n. F. Der Gesetzgeber reagiert also auch auf Anregungen jenseits verfassungsgerichtlicher Entscheidungen; siehe zu dieser Anpassung auch Gitter/Marscholleck, Anpassung (Fn. 55), S. 194. 732 Ausführlich zur Zusammensetzung in der Praxis Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 17 ff.; ferner prägnant Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 345, 351, mit deutlicher Kritik an der Einbindung von Parlamentariern. 733 Kritisch hierzu auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 350 f. 734 BVerfGE 143, 1 (18 f., 54); Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 54 ff.; Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 104 f.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
vorbehalts735. Im Eilfall konnte das Bundesministerium bisher die Anordnung auch schon vor der Unterrichtung der G 10-Kommission erlassen und die strategische Aufklärung mithin durchgeführt werden, § 15 VI 2 G 10 a. F.; eine Unterrichtung der Kommission erfolgte dann bei ihrem nächsten monatlichen Zusammentreten736. Die ex-post Kontrolle ist daher strukturell durchaus richterlich geprägt737, wobei die Kommission die ihr vorgelegten Sachverhalte nicht selbst ermittelt, sondern ihre Entscheidungen auf die Stellungnahmen der zuständigen Bundesministerien und deren Auskünfte stützt738. Dies erscheint auf den ersten Blick fraglich, da bei dieser Praxis jedenfalls theoretisch die Angaben seitens der Exekutive dergestalt präsentiert werden könnten, dass sie relevante Informationen nicht enthalten oder überwachungsgeneigter darstellen. Exemplarisch sei hier nur auf die lange übliche Praxis verwiesen, von der Kommission bestätigte Beschränkungsanordnungen auch zur Ausleitung von Ausland-Ausland-Verkehren zu nutzen, was der Kommission indes unbekannt war739. Andererseits hat sich die G 10-Kommission aktiv bemüht, Zugang zur sogenannten NSA-Selektorenliste zu erhalten, welche vom Bundesnachrichtendienst gesteuerte Selektoren mit G 10-Relevanz enthielt, die diesem von der National Security Agency übermittelt worden waren740. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Organklage – wie bereits angedeutet – allerdings schon als unzulässig ab741. Rein auf die Zulässigkeit bezogen ist hiergegen nichts zu erinnern, da die G 10-Kommission die Voraussetzungen einer Organklage nach Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG schlechterdings nicht erfüllt742. Allerdings resultiert hieraus durchaus eine
735 Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 189; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 344. 736 Dazu stellvertretend Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 106 m. Fn. 306; kritisch aus verfassungsrechtlicher Sicht Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 309 f., der von einer verfassungswidrigen Praxis ausgeht und die Eilregelungen des Richtervorbehaltes anlegen will; kritisch aus konventionsrechtlicher Sicht ferner Huber, Kontrolle (Fn. 727), S. 15 f. Der Gesetzgeber hat nunmehr in § 15a G 10 n. F. durch das Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts vom 5.7.2021 (BGBl. I S. 2274) eine differenziertere Regelung geschaffen. 737 So jedenfalls aus der Binnenperspektive der Kommission Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 10. 738 BVerfGE 143, 1 (18, Rn. 54); kritisch Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 194 ff., 309, der dieses Vorgehen nicht im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 10 II 2 GG und der Rechtsprechung des BVerfG im ersten Abhörurteil sieht. 739 Siehe dazu stellvertretend Huber, Parteifähigkeit (Fn. 730), S. 1706; zur Debatte zur Nutzung der G 10-Anordnung als „Türöffner“ für den Zugriff auf leitungsgebundene Ausland-Ausland-Telekommunikationsverkehre im NSA-UA mit unterschiedlichen Einschätzungen dieser Praxis siehe BT-Drs. 18/12850, S. 927 ff. 740 Siehe erneut Huber, Parteifähigkeit (Fn. 730), S. 1706. 741 BVerfGE 143, 1. 742 So auch Gärditz, Organstreitverfahren (Fn. 729), S. 1540 ff.; a. A. Huber, Parteifähigkeit (Fn. 730), S. 1707.
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz
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Rechtsdurchsetzungsschwäche der G 10-Kommission743. Diese ist zur Kontrolle der strategischen Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes berufen und hätte untersuchen können und wohl auch müssen, ob und wenn ja welche G 10-geschützen Selektoren ohne ihre Genehmigung gesteuert wurden. Nach der Weigerung der Bundesregierung zur Herausgabe der Selektorenliste versuchte die Kommission gerichtlich an diese zu gelangen, was aufgrund der fehlenden Parteifähigkeit misslang. Das Bundesverfassungsgericht hat sich freilich zur materiellen Rechtslage nicht geäußert, am Rande aber einen anderen Weg zur Sicherung der Rechte der überwachten Betroffenen gewiesen: Die Verfassungsbeschwerde sei der richtige Weg, um die grundrechtlich geschützten Rechte der Betroffenen, die durch diese selbst geltend zu machen seien, zu sichern744. Diese Annahme des Zweiten Senats überzeugt unter der Prämisse, dass ein belastbarer Persönlichkeitsschutz nebst einer umfassenden wie effektiven Nachrichtendienstkontrolle grundrechtlich tatsächlich vermittelt wird. Wie diese grundrechtliche Schutzdimension im Einzelnen – wenn überhaupt – ausgestaltet ist, muss noch erörtert werden. Daneben wirkt die G 10-Kommission schließlich auch als „reaktives Kontrollgremium“ 745. Sie kontrolliert im Wortlaut des § 15 V 1 G 10 von Amts wegen oder aufgrund von Beschwerden die Zulässigkeit von Beschränkungsmaßnahmen. Hierin offenbart sich eine „Initiativkompetenz“ der Kommission746. Somit kann die G 10-Kommission auf politische Entwicklungen reagieren und insbesondere den gesamten Verarbeitungsvorgang von Daten, die dem G 10 unterfallen, kontrollieren, § 15 V 2 G 10747. Dies beinhaltet freilich auch die Datenübermittlungen an in- und ausländische Stellen nach §§ 7, 7a G 10748. Hierdurch übernimmt die G 10-Kommission bereichsspezifisch die Datenschutzkontrolle, die dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit insoweit entzogen ist. Zur Durchsetzung dieses Kontrollauftrages stehen der Kommission Auskunfts-, Einsichtnahme- und Betretungsrechte zu, welche § 15 V 3 G 10 exemplarisch auflistet749. Die Kontrolle erstreckt sich überdies auch auf die Da743 B. Rusteberg, Streit um NSA-Selektorenlisten: Die G 10-Kommission als Nichtbeteiligte?, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/nsa-selektorenlisten-g-10-kom mission/ (22.9.2020), kritisiert, dass das BVerfG mit seiner Entscheidung die der G 10Kommission zugewiesene Kontrollfunktion konterkariere. 744 BVerfGE 143, 1 (20 f., Rn. 58 ff.); affirmativ Gärditz, Organstreitverfahren (Fn. 729), S. 1542 f., der noch einen verwaltungsgerichtlichen Organstreit im Rahmen des § 40 I VwGO als Alternative ins Feld führt. 745 Prägnant Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 113. 746 Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 35. 747 Zu diesem Erfordernis schon BVerfGE 100, 313 (401 f.). 748 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 304, unter Verweis auf Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 46; dahingehend auch der Gesetzentwurf in BT-Drs. 14/5655, S. 26. 749 Siehe nur Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 304; Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 48 ff.; Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 113.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
tenverarbeitungsprogramme, weswegen der G 10-Kommission zur Ermöglichung einer effektiven Kontrolle technischer Sachverstand gemäß § 15 III 2 G 10 beigeordnet ist750. Aufgrund der erheblichen technischen Komplexität ist die hinreichende Ausstattung diesbezüglich von entscheidender Bedeutung, um eine effektive Kontrolle sicherzustellen. Fraglich ist indes, ob und wo Informationsrechte der G 10-Kommission ihre Grenze finden. Das G 10 enthält – anders als § 6 PKGrG – keine Regelung, die es gestatten würde, der Kommission seitens der Bundesregierung Geheimschutzbelange entgegenzuhalten und hierdurch Informationen zurückzuhalten. Teils wird hieraus ein gänzlich umfassendes Informationsrecht der G 10-Kommission abgeleitet751, teils werden jedenfalls genuin verfassungsrechtliche Verweigerungsgründe, denen die Absenz einer einfachrechtlichen Regelung analog § 6 PKGrG nicht entgegengehalten werden könne, als Begrenzungsfaktoren betont752. Allerdings herrscht weitgehend Einigkeit, dass der Charakter der Kontrolle im Wesentlichen auf konkrete Personen oder Sachverhalte ausgerichtet ist, weswegen klassische Verweigerungsgründe wie der Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung oder das – schillernde – Staatswohl753 hier kaum einschlägig sein werden754. Zudem handelt es sich hierbei um eine rein verfassungsrechtliche Frage, die hier noch nicht im Fokus stehen soll. Die dritte wesentliche Aufgabe der G 10-Kommission ist ferner die Einbindung in die Mitteilungsentscheidungen an Betroffene einer strategischen Fernmeldeaufklärungsmaßnahme nach §§ 12, 15 VII G 10755. Das Bundesinnenministerium unterrichtet die G 10-Kommission monatlich über Mitteilungen an Betroffene bzw. deren Zurückstellung, § 15 VII 1 G 10. Mitteilungspflichtig sind jedenfalls Fälle, in denen die Daten über eine rein technische Ausfilterung hinaus genutzt werden, und deshalb besondere Gefährdungen für den Betroffenen zu besorgen sind756. Wenn die Mitteilung aus Gründen der Zweckgefährdung der nachrichtendienstlichen Maßnahme oder aufgrund überwiegender Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes757 länger als ein Jahr unterbleibt758, ent750
Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 31, 49; Roggan (Fn. 510), § 15 G 10, Rn. 8. So etwa Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 48; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 194. 752 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 305 f.; Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 113 m. Fn. 321. 753 Zu diesen verfassungsrechtlichen Begrenzungen der Informationspflicht im ersten Zugriff B. Peters, Untersuchungsausschussrecht, 2. Aufl. 2020, Rn. 105 ff., 512. 754 Insoweit einer Meinung Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 305; Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 48. 755 Dazu mit Zahlenangaben Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 306 ff.; Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 109; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 191 ff.; Baier, Kontrolle (Fn. 300), S. 94. 756 BVerfGE 100, 313 (398 f.); Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 306; Huber, Post (Fn. 589), S. 395. 757 Zu diesen Ausschlussgründen ausführlich Huber (Fn. 511), § 12 G 10 Rn. 17 ff.; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 80 ff., mit anschaulichen Beispielen. 751
III. Strategische Fernmeldeaufklärung nach G 10-Gesetz
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scheidet die Kommission, ob und wie lange die Mitteilung weiterhin zurückgestellt wird759; ebenso kann sie eine endgültige Nichtmitteilung autorisieren760. In der Regel erfolgt in der Praxis eine endgültige Nichtmitteilung vor allem dann, wenn die Identität der Person nicht ermittelt werden kann761. In der überwiegenden Anzahl der Fälle handelt es sich damit um einen „zeitweisen Rechtswegausschluss“ 762. Damit ermöglicht die G 10-Kommission den Betroffenen einer strategischen Fernmeldeaufklärung in der überwiegenden Zahl der Fälle eine anschließende gerichtliche Überprüfung763. Der Ausschluss des Rechtsweges vor einer Benachrichtigung gilt im Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung nur noch im Falle des § 13 in Verbindung mit § 5 I 3 Nr. 1 G 10. In diesem historisch überholten Gefahrbereich werden seit langem keine Selektoren mehr gesteuert; in allen übrigen Fällen steht der Rechtsweg zum Bundesverwaltungsgericht – insbesondere (aber nicht ausschließlich) bei einer Mitteilung der G 10Kommission auch faktisch, trotz sonstiger hoher Zulässigkeitshürden – gemäß § 50 I Nr. 4 VwGO offen764. Unabhängig davon kann sich Jedermann auch unmittelbar an die G 10-Kommission wenden, wenn eine Überwachung der eigenen Telekommunikation durch die Nachrichtendienste des Bundes befürchtet wird, § 15 V 1 G 10765; hierfür reicht in der wohl großzügig gehandhabten Praxis schon ein vager Verdacht aus766. Parallel zu den parlamentarischen Kontrollstrukturen wird auch die Leistungsfähigkeit der G 10-Kommission unter rechtlichen wie tatsächlichen Gesichtspunkten in Frage gestellt. Insbesondere die Beschränkung der Kontrolle durch die G 10-Kommission auf die strategische Fernmeldeaufklärung, die Abhängigkeit von den Informationen der Bundesregierung über die angeordneten Maßnahmen und die personellen Besetzungsparameter der Kommission durch das G 10 758 Kritisch zu diesem langen Zeitraum von zwölf Monaten Huber (Fn. 511), § 12 G 10 Rn. 36 ff.; a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 307, der auf die Möglichkeit des § 15 VII 2 G 10 verweist. 759 Kritisch zu dieser Alleinzuständigkeit im Lichte des Art. 19 IV GG Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 310 ff. 760 Siehe nur Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 93 f.; Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 109; die Möglichkeit einer letztendlichen Nichtbenachrichtigung lehnen aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im ersten Abhörurteil ab Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 312; Huber, G 10-Gesetz (Fn. 536), S. 3300 f. 761 So die Feststellung in BVerfGE 143, 1 (20, Rn. 59); siehe ferner die Analyse der Daten der letzten Jahre bei Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 307; so nunmehr auch für den Berichtszeitraum 2018 BT-Drs. 19/20376, S. 8. 762 BVerfGE 143, 1 (20, Rn. 59). 763 Zu diesem Konnex zwischen Benachrichtigung und nachträglichem verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz stellvertretend Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 109. 764 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 309; Wöckel (Fn. 489), § 3 Rn. 29 f.; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 119. 765 Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 112. 766 So jedenfalls aus der Binnenperspektive Huber (Fn. 511), § 12 G 10 Rn. 36 ff.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
werden als zentrale Hindernisse ausgemacht767. Darüber hinaus werden indes auch die hinreichende Qualifikation der ehrenamtlich tätigen Kommissionsmitglieder, die sachgerechte und qualitativ hinreichende Unterstützung durch das zuarbeitende Sekretariat sowie die Ausstattung mit technischem Sachverstand – dem wohl unbestritten herausragende Bedeutung zukommt – und die Prüfungsintensität bei lediglich monatlichen Treffen bezweifelt768. Hinsichtlich der normativen Ausgestaltung des Kontrollauftrages und dessen Umsetzung bedarf es erst einer verfassungsrechtlichen Hintergrundanalyse zur Stellungnahme; bezüglich des tatsächlichen Arbeitsumfeldes der Kommission fällt eine rein externe Bewertung ohne weitergehende Einblicke in die Arbeitsabläufe und deren Wirksamkeit indes schwer; hier ist Zurückhaltung ratsam769 – die Wichtigkeit der faktischen Schlagkraft der Kontrolle, gerade auch in personeller wie technischer Hinsicht, ist freilich unbestritten.
IV. Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – vom Datenfischen im grundrechtsfreien Raum zur vorerst gescheiterten Legalisierung des Faktischen Die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung hat eine nicht minder wechselvolle Geschichte, die – obschon teilweise bereits eher von rechtshistorischem Interesse – nicht unberücksichtigt bleiben kann: Ohne ihre Kenntnis sind die derzeitige
767 Siehe neben den bereits nachgewiesenen kritischen Fundstellen kompakt Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 212 ff.; ausführlich die politikwissenschaftliche Studie von T. Wetzling, Das Herzstück der deutschen Geheimdienstreform: Vorschläge für eine starke G 10-Kommission, 2015, S. 7 ff., abrufbar unter https://www.stiftung-nv.de/ de/publikation/das-herzstueck-der-deutschen-geheimdienstreform-vorschlaege-fuer-einestarke-g-10 (22.9.2020); a. A. etwa Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 246 m.w. N., der jedoch in der neuesten Ergänzungslieferung auch Nachbesserungsbedarf in „Detailfragen“ sieht. 768 Sehr kritisch Wetzling, ebda., S. 12 ff.; ähnlich Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 215 f.; die hinreichende Ausstattung der G 10-Kommission mit personellen und sachlichen Ressourcen bezweifelt ebenfalls der Menschenrechtskommissar des Europarats N. Muinieks, Bericht nach seinem Besuch in Deutschland am 24. April und vom 4. bis zum 8. Mai 2015, S. 18 ff., abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/ Archiv/Downloads/Bericht_des_Menschenrechtskommissars_ueber_seinen_Besuch_in_ Deutschland_im_Jahre_2015.pdf?__blob=publicationFile&v=5 (1.6.2022). 769 Jedenfalls keine grundsätzliche Änderung ist durch den Ständigen Bevollmächtigten des Parlamentarischen Kontrollgremiums eingetreten, da dieser mit seinen erweiterten Ressourcen der G 10-Kommission bzw. deren Geschäftsstelle wohl zumindest nicht unmittelbar zur Verfügung steht, siehe dahingehend Schlatmann, Nachrichtendienstkontrolle (Fn. 479), S. 94; hierfür spricht auch die Tatsache, dass zwar mittlerweile ein allgemeiner Austausch zwischen PKGr und der G 10-Kommission stattfindet (§ 15 VIII G 10), wobei dieser eben gerade nicht auf konkrete Überwachungsmaßnahmen und Sachverhalte ausgerichtet ist und aus Geheimschutzgründen auch nicht sein darf, siehe hierzu Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 66. Der ständige Bevollmächtigte wohnt hingegen den Sitzungen der G 10-Kommission selbst regelmäßig bei, § 5a IV 2 PKGrG.
IV. Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
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Regelung im BNDG sowie die höchstrichterliche Rechtsprechung schlechterdings nicht zu verstehen770. Im Gegensatz zur strategischen Fernmeldeaufklärung nach dem G 10 führte der Bundesnachrichtendienst die sogenannten Routineaufklärung771 – welche aufgrund ihres prozentualen Übergewichts im Rahmen der gesamten strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung als solche bezeichnet wird772 – allerdings lange Zeit weitgehend unbemerkt von einer breiteren (Fach-)Öffentlichkeit durch (1.). In den Fokus einer politischen, gesellschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Diskussion geriet die Routineaufklärung bzw. die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung indes (erneut) nach den Enthüllungen Edward Snowdens und der Aufklärungstätigkeit des NSA-Untersuchungsausschusses773. Diese Zäsur veranlasste den Gesetzgeber im Anschluss zur grundlegenden Neuordnung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung unter selbigem Namen (2.). Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr mit seinem Grundsatzurteil vom 19. Mai 2020 die angegriffenen Vorschriften der §§ 6 ff. BNDG weitestgehend für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt und eine Neuregelung bis spätestens Ende 2021 eingefordert774 – hierauf ist im Folgeabschnitt einzugehen.
770 Mit selbiger Stoßrichtung, indes konkret bezogen auf die Debatte um die territoriale Grundrechtsreichweite, D. Krebs, Globale Gefahren und nationale Pflichten, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/globale-gefahren-und-nationale-pflichten (30.5. 2020). 771 Zur Nutzung des Begriffs durch den BND selber siehe nur BT-Drs. 18/12850, S. 523; für die Literatur statt aller Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 280; J.-H. Dietrich, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 6 BNDG Rn. 2; Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 28; auch als „offener Himmel“ in Bezug auf die Erfassung von satellitengestützter Ausland-Ausland-Telekommunikation bezeichnet von Huber (Fn. 511), Vorb. G 10 Rn. 23 ff. 772 Die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung macht unstreitig das „Kerngeschäft“ des BND im Rahmen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung aus, statt aller so schon Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 7; ferner Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2575. Zum Ausmaß der Routineaufklärung an der gesamten Telekommunikationsüberwachung des BND existieren indes unterschiedliche Angaben. Im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung spricht das BVerfG davon, dass diese 36 Prozent des Meldeaufkommens der gesamten technischen Aufklärung generiere, BVerfGE 154, 152 (179, Rn. 5); im nachrichtendienstrechtlichen Schrifttum wird hingegen davon ausgegangen, dass die „Routine“ 90 Prozent der Fernmeldeaufklärung des BND ausmache, siehe zu diesen Angaben Dietrich, ebda., Rn. 2; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 171. 773 Siehe im ersten Zugriff die Beiträge von Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 6 ff.; Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1338 ff.; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 559 ff.; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 2 ff.; grundlegend auch der Aufsatz von Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2575 ff. 774 BVerfGE 154,152. Siehe zur Struktur der Neuregelung durch das Gesetz zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des BVerfG sowie des BVerwG vom 19.4.2021 (BGBl. I S. 771) die Angaben in Fn. 21.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
1. § 1 II 1 BNDG als Generalklausel oder der Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis Die bisherige Ausgestaltung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung und das einschneidende Urteil des Bundesverfassungsgerichts hierzu lassen sich nur verstehen, wenn der Blick kurz auf die Entwicklung vor den öffentlichen Debatten zur strategischen Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes jenseits des G 10 gerichtet wird. Durch die spezifische Rechtsauslegung der internationalen Telekommunikationsbeziehungen in § 5 G 10 dahingehend, dass diese nur Telekommunikationsverkehre von und nach Deutschland erfassen solle, war mehr oder minder immer klar, dass der Bundesnachrichtendienst auch noch darüber hinaus anderweitig Fernmeldeverkehre – Stichwort: Routineaufklärung – von Ausländern im Ausland aufklärt775. Schon im dritten Abhörurteil 1999 wurde auch die – seinerzeit freilich nicht streitgegenständliche – Überwachung jenseits des G 10 angesprochen776; auch die Bundesregierung gab auf Anfragen aus dem parlamentarischen Raum bisweilen zu erkennen, dass es „noch mehr“ Fernmeldeaufklärung geben müsse als gesetzlich normiert777. Die strategische Fernmeldeaufklärung von Ausländern im Ausland – der Terminus der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung hielt erst mit der BNDG Novelle Einzug in den juristischen Sprachgebrauch – wurde nach damaliger Staatspraxis und Rechtsauffassung der Bundesregierung auf die Aufgabenbeschreibung des § 1 II 1 BDGG wahlweise in Verbindung mit § 2 II BNDG gestützt778. Dem lag die in Bezug auf das G 10 bereits angesprochene Prämisse zugrunde, dass Ausländer im Ausland nicht vom Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses erfasst seien. Nach Ansicht der Bundesregierung konnten die Auswirkungen deutscher Staatsgewalt außerhalb des Staatsgebiets gegen Nichtdeutsche weiterhin schlicht nicht unter die Ab775 Freilich gab es auch schon vor der Debatte um Snowden immer wieder Stimmen im Schrifttum, die auf die technische Aufklärung des BND jenseits des G 10 aufmerksam machten, siehe nur C. Gröpl, Das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG vor dem Hintergrund des internationalen Aufklärungsauftrages des Bundesnachrichtendienstes, in: ZRP 1995, S. 13 (13 ff.); Riegel, Rechtsgrundlagen (Fn. 561), S. 470 f.; ebenso schon monographisch Beier, Überwachungsmaßnahmen (Fn. 391), S. 17 ff. 776 BVerfGE 100, 313 (366) – „geheimdienstliche Tätigkeiten, die nicht dem G 10 unterliegen“; darauf verweist auch Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2575. 777 Etwa in BT-Drs. 17/9640, S. 6, 15; siehe dazu auch instruktiv das Gutachten für den NSA-UA von Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 16 sowie die Nachweise in Fn. 656. 778 BT-Drs. 18/9041, S. 1; 17/9640, S. 15; siehe aus der Literatur Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 157; jeweils dezidiert kritisch Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 222; Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 54; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 6 f.; S. Heumann, German Exceptionalism? The Debate about the German Foreign Intelligence Service (BND), in: R. A. Miller (Hrsg.), Privacy and Power, Cambridge 2017, S. 349 (366 f.); Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 17; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 2 ff. und Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2575 geben § 1 II und 2 I BNDG als Rechtsgrundlage an; affirmativ für § 2 I BNDG als Rechtsgrundlage jedenfalls für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung hingegen Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 406.
IV. Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
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wehrrechte des Grundgesetzes fallen779. Dementsprechend bedurfte es – insoweit jedenfalls folgerichtig – auch nicht einer rechtsstaatlichen Mindestanforderungen entsprechenden Ermächtigungsgrundlage, sondern die strategische Fernmeldeaufklärung von Ausländern im Ausland konnte auf die reine Aufgabenbeschreibung des Bundesnachrichtendienstes gestützt werden780. Dies galt unabhängig davon, ob die Erfassungseinrichtung auf deutschem Staatsgebiet belegen war oder sich im Ausland befand. Dieser Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis konnte nur dann verfassungskonform sein, wenn der Gesetzesvorbehalt mangels grundrechtlicher Schutzbereichseröffnung nicht zu berücksichtigen gewesen wäre781. Im Ergebnis konnte der Bundesnachrichtendienst nach dieser Rechtslage Daten von Ausländern im Ausland ohne Restriktionen erfassen und war allenfalls aus eigenen ethischen Überlegungen und tatsächlichen Kapazitätsbeschränkungen in seinem Handeln limitiert782. Insoweit war die Rechtsauslegung für die Bundesregierung in sich stimmig und – nach damaliger Rechtslage – auch vertretbar. Probleme ergaben sich bei dieser Lesart aber sodann schon auf Verarbeitungs- und Übermittlungsebene, da das BNDG in § 1 II 2 a. F. seine – rudimentären aber jedenfalls vorhandenen – datenschutzrechtlichen Vorschriften der §§ 4 ff. BNDG a. F. für anwendbar erklärte, sofern Daten „im Geltungsbereich“ des BNDG – also auf deutschem Staatsgebiet783 – erhoben wurden. Für Daten, die ohnehin im Ausland erhoben worden waren, war das BNDG schon von vornherein nicht einschlägig784 – nach seinem Wortlaut galten jedoch für Datenerhebungen vom Inland aus und in der Folge auch deren weitere Verarbeitung die einfachrechtlichen Datenschutzbestimmungen des BNDG. Im Ergebnis setzte sich die Prämisse verfassungsrechtlich territorial abgegrenzter Rechtsräume somit auf einfachrechtlicher Ebene fort785. 779 Hier sei erneut der Vortrag der Bundesregierung im dritten Abhörurteil zitiert, BVerfGE 100, 313 (339). 780 Statt aller Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 18 ff. 781 Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2576 unterstreicht, dass § 1 II BNDG als Aufgabennorm keine Befugnis darstellen könne, ebenso verfehle § 2 I Nr. 4 BNDG – sofern dieser einschlägig sein sollte – die Voraussetzungen an eine taugliche Ermächtigungsgrundlage. 782 Prägnant Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 23. 783 Der Geltungsbereich im Sinne des § 2 II 2 BNDG wurde mit dem deutschen Staatsgebiet gleichgesetzt, so jedenfalls das Verständnis der Staatspraxis BT-Drs. 18/ 12850, S. 856; siehe aus der Literatur nur Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 45 ff.; von dieser territorialen Begrenzung des BNDG geht auch Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 150 aus. 784 So richtigerweise Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 17, der den Wortlaut von § 1 II 2 BNDG a. F. ernst nimmt; für eine Anwendbarkeit der datenschutzrechtlichen Vorschriften auch auf die Datenerhebung vom Ausland aus hingegen wohl Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 6. 785 Zudem schwingt hier auch, jedenfalls indirekt, die Frage der Reichweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung mit, wie auch Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 376 im Ansatz betonen; ferner dazu auch Löffelmann
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
a) „Weltraumtheorie“ Ausgelöst durch Anfragen aus dem parlamentarischen Raum und Stellungnahmen seitens der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit wurde in der Bundesregierung und im Bundesnachrichtendienst beraten, wie sich die These vom auf Deutsche beschränkten Schutz durch Art. 10 GG mit der datenschutzrechtlichen Öffnungsklausel in § 1 II 2 BNDG a. F., bei Datenerhebungen vom deutschen Staatsgebiet aus, vereinbaren ließe786. Im Zuge dessen wurde die sogenannte Weltraumtheorie entwickelt, wonach auch die Erfassung von Telekommunikation, die über ausländische Satelliten geleitet wird, mit im Inland belegenen Empfangsstationen reine Auslandstelekommunikation ohne Deutschlandbezug darstelle787. Die Telekommunikation werde unmittelbar am Satelliten – also im Weltraum – und nicht auf deutschem Territorium mittels hiesiger Anlagen erhoben788. Es liege mithin kein Lebenssachverhalt mit einem unmittelbaren Deutschlandbezug vor789. Infolgedessen seien das BNDG und dessen Verarbeitungsvorschriften schon nicht anwendbar. Ungeachtet der verfassungsdogmatischen Frage, ob das Fernmeldegeheimnis Ausländer im Ausland schützt, ist die „Weltraumtheorie“ schon im Ansatz abzulehnen790. Die Vorstellung, die Erfassung von Daten aus der Ausland-AuslandTelekommunikation erfolge an einem Telekommunikationssatelliten und nicht in der dafür vorgesehenen und technisch notwendigen Empfangsstation auf deutschem Boden, ist nicht nachvollziehbar. Zwar wird man trefflich darüber streiten können, ob deutsches Recht auf eine derartige Erfassung überhaupt anwendbar ist und wann konkret ein Grundrechtseingriff vorliegt791, hierbei müssen jedoch
(Fn. 501), § 4 Rn. 173. Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich diese Frage nur dann stellt, wenn man den Schutzbereich des Art. 10 GG nicht für berührt erachtet. Anderenfalls sind der Ersteingriff und alle Folgeeingriffe richtigerweise jeweils am spezielleren Fernmeldegeheimnis zu messen, dazu noch ausführlich unter F. II. 1. 786 Zum Hergang im Bundeskanzleramt und der Leitungsebene des Bundesnachrichtendienstes instruktiv BT-Drs. 18/12850, S. 856 ff. 787 BT-Drs. 18/12850, S. 856; zur „Weltraumtheorie“ instruktiv Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 62 ff. Diese Linie war jedoch auch innerhalb des Bundeskanzleramtes sowie des Bundesnachrichtendienstes nicht unumstritten, weswegen Widerspruch gegen die „Weltraumtheorie“ zu Protokoll gegeben wurde, siehe dazu BT-Drs. 18/12850, S. 857 ff. 788 BT-Drs. 18/12850, S. 857; instruktiv Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 63; so versteht auch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 42 die Rechtsauslegung seitens des Bundesnachrichtendienstes. 789 Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 64. 790 Kritisch zur Weltraumtheorie auch Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 150 ff.; Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 472; Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 35 f. 791 Zur Debatte der Grundrechtsgeltung durch Gebietskontakt unten unter F. I. 3. f) aa); siehe zu der im Fall der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung komplexen Frage, wann ein Grundrechtseingriff vorliegt, unter F. II. 1.
IV. Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
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die offensichtlichen technischen Gegebenheiten berücksichtigt werden. Demnach ist es fernliegend, eine Empfangsstation für Satellitendaten aus dem Datenerfassungsprozess gleichsam hinaus zu definieren und die Erfassung stattdessen an einem lediglich übermittelnden Satelliten zu verorten792. Die „Weltraumtheorie“ hat zu Recht keinen Anschluss gefunden und wird – soweit ersichtlich – auch nicht mehr vertreten. Ihr war zudem nach der gesetzgeberischen Neuregelung die Grundlage entzogen. b) „Theorie des virtuellen Auslands“ Den Auslegungsansatz der spezifisch auf die Satellitentelekommunikation zugeschnittenen „Weltraumtheorie“ könnte man auch auf die Erfassung von Telekommunikationskabeln, die ausländische Transitverkehre über deutsches Staatsgebiet leiten, ausdehnen. Ob eine solche „Theorie des virtuellen Auslands“ – welches sich gleichsam in dem Telekommunikationskabel befände – tatsächlich innerhalb der Bundesregierung und des Bundesnachrichtendiensts vertreten wurde, blieb bei der parlamentarischen Aufarbeitung der Rechtsansichten zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung letztendlich unklar793. Gegen eine solche Rechtskonstruktion sprächen jedenfalls die gleichen Argumente wie gegen die „Weltraumtheorie“. Die Annahme einer Nichterfassung auf deutschem Staatsgebiet liegt bei hierrüber geführten Telekommunikationskabeln sogar noch ferner als bei im Orbit rotierenden Satelliten. Insgesamt zeigen die reichlich kreativen Auslegungsversuche von § 1 II 2 BNDG a. F. durch einzelne Vertreter des Bundesnachrichtendienstes, wie schwerlich sich ein weitgehend rechtsfreier Raum für Ausland-Ausland-Telekommunikation jedenfalls bei weiterer Verarbeitung und Nutzung auf deutschem Staatsgebiet juristisch begründen ließe. Dass sogar hausintern entschiedene Bedenken gegen die „Weltraumtheorie“ vorgetragen wurden, unterstreicht dies. Schon die Auslegung des einfachen Rechts, hier § 1 II 2 BNDG a. F., kann eine datenschutzrechtliche Exemtion nicht rechtfertigen. 2. Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – ein verfassungsrechtlicher Spagat Als Reaktion auf die öffentliche, rechtswissenschaftliche und politische Debatte um die Rechtsgrundlage der strategischen Fernmeldeaufklärung von Ausländern im Ausland sowie die Ergebnisse des NSA-Untersuchungsausschusses hat der Gesetzgeber Ende 2016 „im Interesse der Rechtssicherheit“ die Regelun792
Ebenfalls kritisch die Wertung der Opposition in BT-Drs. 18/12850, S. 1570 f. So jedenfalls BT-Drs. 18/12850, S. 759; a. A. wohl Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 195; Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 36, die davon ausgehen, dass diese Rechtsauffassung seinerzeit im BND vertreten wurde. Sicher lässt sich dies nicht mehr erhellen. 793
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
gen zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung mit den §§ 6 ff. in das BNDG eingefügt794. Dies erfolgte, ausweislich der Gesetzesbegründung, ausschließlich, um die „bestehende Rechtslage zu präzisieren“ 795. Die Schaffung von spezialgesetzlichen Grundlagen für die nachrichtendienstliche Erfassung von Telekommunikation von Ausländern im Ausland, die als Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung legal definiert wurde (§ 6 I 1 BNDG), erfolge somit lediglich „im Sinne der Normenklarheit“ 796. Dabei war stets das ausdrückliche Ziel, nur eine Rechtsgrundlage für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Inland aus (§ 6 BNDG) mit einhergehenden Datenverarbeitungs- und Anordnungsvorschriften (§§ 8 ff. BNDG) sowie Befugnisse und Verfahrensregeln für die Kooperation mit ausländischen Partnerdiensten zu schaffen (§§ 13 ff. BNDG)797. Auf eine Befugnisnorm für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus hat der Gesetzgeber ausdrücklich verzichtet; hierfür sei weiterhin die Aufgabennorm des § 1 II BNDG einschlägig798. Lediglich die Verarbeitung und Nutzung auf diesem Wege erlangter Daten sollte nach § 7 BNDG, der teilweise auf § 6 BNDG verweist, partiell den materiellen Beschränkungen der inländischen Datenerhebung unterfallen799. Damit hielt der Gesetzgeber – trotz der Ergebnisse des NSA-Untersuchungsausschusses und der auch dort geäußerten Kritik von Verfassungsrechtlern800 – an seiner Rechtsauffassung, dass bei der Datenerfassung im Ausland keine Grundrechtsbindung bestehe, weiterhin fest801. Aber auch bei Datenerhebungen vom Inland aus sollte – trotz der getroffenen Regelungen – weiterhin der Schutzbereich des Art. 10 I GG keine Anwendung auf die Telekommunikation von Ausländern im Ausland finden. Dies wurde schon dadurch deutlich, 794 So die Gesetzesbegründung BT-Drs. 18/9041, S. 1; von dieser allgemeinen Motivlage geht auch das BVerfGE 154, 152 (164, Rn. 1); siehe hierzu auch H. P. Aust, Auslandsaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst, in: DÖV 2020, S. 715 (716); R. A. Miller, The German Constitutional Court Nixes Foreign Surveillance, abrufbar unter https://www.lawfareblog.com/german-constitutional-court-nixes-foreign-surveillance (30.5.2020); K. F. Gärditz, Die Reform des Nachrichtendienstrechts des Bundes: Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes und Stärkung des Parlamentarischen Kontrollgremiums, in: DVBl. 2017, S. 525 (525). 795 BT-Drs. 18/9041, S. 1, 19. 796 Siehe erneut BT-Drs. 18/9041, S. 1. 797 BT-Drs. 18/9041, S. 19; instruktiv hierzu und zur Gesetzesnovelle insgesamt die beschreibende Analyse von den Beamten des Bundesnachrichtendienstes W. Karl/ M. Soiné, Neue Rechtsgrundlagen für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, in: NJW 2017, S. 919 (919); B. Huber, BND-Gesetzesreform – gelungen oder nachbesserungsbedürftig?, in: ZRP 2016, S. 162 (162 ff.). 798 BVerfGE 154, 152 (180, Rn. 8); ausdrücklich so die Ausführungen des Gesetzgebers BT-Drs. 18/9041, S. 22, 25; Karl/Soiné, ebda., S. 919. 799 BT-Drs. 18/9041, S. 25. 800 Siehe die Zusammenfassung der Positionen von Papier, Bäcker und HoffmannRiem in BT-Drs. 18/12850, S. 752 ff. 801 So ausdrücklich auch das Verständnis in BVerfGE 154, 152 (180, Rn. 8); für die Literatur siehe nur Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 410.
IV. Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
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dass die Normen zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung das Fernmeldegeheimnis nicht als eingeschränktes Grundrecht zitieren802. In der Gesetzesbegründung wurde eine diesbezügliche Notwendigkeit nicht einmal thematisiert. Die Kontrolle der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung wurde dem neu geschaffenen Unabhängigen Gremium überantwortet (§ 16 BNDG). Die Neuregelung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung wurde – jedenfalls aus nationaler Binnenperspektive – teils als einzigartig im internationalen Vergleich angesehen803. Ein juristischer Meinungsstreit um hinreichende Ermächtigungsgrundlagen und deren generelle Notwendigkeit im Feld der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung sei „elegant durch die demokratisch vorzugswürdige Weise erledigt“ worden, nämlich durch eine „politische Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers“ 804. In Wirklichkeit war die Reform – trotz des insoweit anzuerkennenden rechtstaatlichen Fortschritts im Vergleich zur gänzlich ungeregelten Praxis zuvor – vor allem ein verfassungsrechtlicher Spagat805. Die Kernfrage nach der territorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses wurde zwar de facto verneint806, gleichzeitig wurden aber Regelungen geschaffen, um die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung wenigstens ein wenig rechtsstaatlich 802 BVerfGE 154, 152 (237, Rn. 135); Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 225; Papier, Fernmeldeüberwachung (Fn. 26), S. 21; instruktiv so auch schon Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 163. 803 Von einer von vielen als vorbildlich empfundenen Ausgestaltung spricht Schluckebier, Sicherheitsgewährleistung (Fn. 148), S. 17 f.; die hier referierte Einschätzung trifft jedenfalls Dietrich (Fn. 48), Part 5 Ch. 1 Rn. 40, in dem von ihm herausgegebenen rechtsvergleichenden Handbuch zum europäischen Nachrichtendiensterecht; im Ansatz auch positiv T. Wetzling, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BND) sowie weiterer Vorlagen, AS-Drs. 18(4)653 C, S. 4. 804 K. F. Gärditz, Gesetzentwürfe zur Reform des Nachrichtendienstrechts: Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes und Gesetz zur weiteren Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes, AS-Drs. 18(4)653 A, S. 4; gleichfalls positiv ders., Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 533 f. 805 Einen politischen Kompromiss konstatiert Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 278 f.; von einem lavierenden Gesetzgeber spricht K. Graulich, Gutachtliche Stellungnahme, Entwurf der Faktionen CDU/CSU und SPD eines Gesetzes zur AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BT-Drs. 18/9041), ASDrs. 18(4)653 B, S. 4. 806 Schon deswegen erfuhr das Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung breiten Widerspruch in der Literatur und durch Sachverständige, siehe Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 225 ff.; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 150 ff.; Papier, Fernmeldeüberwachung (Fn. 26), S. 19 ff.; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 163 „evident verfassungswidrig“; Wetzling, Stellungnahme (Fn. 803), S. 4 ff.; M. Bäcker, Stellungnahme zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes, AS-Drs. 18(4)653 G, S. 3 ff.; a. A. hingegen M. Löffelmann, Die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Vergesetzlichung (Fn. 148), S. 33 (43); Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 920; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 528 ff.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
einzuhegen807. Teilweise wurde aus eher rechtspolitischer Warte scharf kritisiert, der Gesetzgeber legalisiere schlicht nunmehr all das, was der NSA-Untersuchungsausschuss ohnehin zu Tage gefördert habe808. Andere sahen vielmehr eine überfällige Anknüpfung des BNDG an die jahrzehntelangen gesetzgeberischen Bestrebungen zur Verrechtlichung im Bereich der präventiv tätigen Polizeibehörden809. Der rein juristische Widerspruch lag indes schon im Ansatz begründet: Wenn das Fernmeldegeheimnis Ausländer im Ausland nicht schützt, dann hätte es auch keiner Änderung der Rechtslage bedurft, da die Aufgabennorm des § 1 II BNDG als Grundlage ausgereicht hätte – wo das Grundgesetz nicht gilt, gilt auch der Gesetzesvorbehalt nicht, und mithin braucht es auch keine bereichsspezifischen Ermächtigungsgrundlagen. Würde es hingegen gelten, hätte der Gesetzgeber wenigstens dem Zitiergebot entsprechen müssen810. Der unausgereifte Charakter der Novelle in verfassungsrechtlicher Hinsicht war mithin von vornherein sichtbar. Freilich stand es dem Gesetzgeber frei, auch Regelungen für eventuell nicht grundrechtsgeschützte Sachverhalte zu treffen, wovon er mit der Reform Gebrauch machte. a) Zentralnorm des § 6 BNDG Die Zentralnorm stellt § 6 BNDG dar811, der die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Inland aus normiert812. Sie manifestiert zugleich die Trennung 807 Insoweit wohl allgemeingültig – freilich unbesehen der Prämisse, was gelten müsste, wenn Art. 10 GG Anwendung fände – Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 925; dahingehend auch K. Graulich, Reform des Gesetzes über den Bundesnachrichtendienst – Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung und internationale Datenkooperation, in: KriPoZ 2017, S. 43 (43), der jedoch davon spricht, dass der Gesetzgeber den Streit um die Geltungsreichweite von Art. 10 I GG nicht habe klären können und diese Auflösung letztlich dem BVerfG überantwortet habe. 808 A. Siemsen, Der Auslandsüberwachung wird (fast) alles möglich gemacht – zur Reform des Bundesnachrichtendienstgesetzes (BNDG), abrufbar unter https://www.ju wiss.de/51-2016/ (30.5.2020); A. Meister, Das neue BND-Gesetz: Alles, was der BND macht, wird einfach legalisiert. Und sogar noch ausgeweitet, abrufbar unter https:// netzpolitik.org/2016/das-neue-bnd-gesetz-alles-was-der-bnd-macht-wird-einfach-legali siert-und-sogar-noch-ausgeweitet/ (30.5.2020); T. Denkler, BND bekommt eine Lizenz zum Datensammeln, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/neues-bnd-ge setz-bnd-bekommt-eine-lizenz-zum-datensammeln-1.3212099 (30.5.2020). 809 So Graulich, Reform (Fn. 807), S. 43. 810 Siehe dazu noch eingehend unter F. III. 2. 811 Die Voraussetzungen von § 6 BNDG lauten: Der Bundesnachrichtendienst darf zur Erfüllung seiner Aufgaben vom Inland aus mit technischen Mitteln Informationen einschließlich personenbezogener Daten aus Telekommunikationsnetzen, über die Telekommunikation von Ausländern im Ausland erfolgt (Telekommunikationsnetze), verarbeiten (Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung), wenn diese Daten erforderlich sind, um 1. frühzeitig Gefahren für die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland erkennen und diesen begegnen zu können, 2. die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu wahren oder 3. sonstige Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung über Vorgänge zu gewinnen, die in Bezug auf Art und Umfang durch das Bundeskanzleramt
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von G 10-Aufklärung und Ausland-Ausland-Erfassungen, da § 6 IV BNDG eine Erfassung deutscher Staatsbürger – unabhängig von ihrem Aufenthaltsort –, inländischer juristischer Personen und sich im Inland aufhaltenden Personen ausschließt. Teils wird unter Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten keine aktuelle Positionsbestimmung verstanden, sondern der „dauerhafte Lebensmittelpunkt“ zum Abgrenzungskriterium erhoben; hier bestehe eine grundrechtliche Schutzverantwortung813. Diese Auslegung überzeugt, da sie heutige Lebensrealitäten einer offenen (Einwanderungs-)Gesellschaft widerspiegelt, in der Menschen verschiedenster Nationalitäten in der Bundesrepublik leben814. Die Erfassung von deutsche Staatsbürgern und (hier mithin weit verstandenen) Inländern richtet sich jedenfalls weiterhin ausschließlich nach dem G 10815. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen jedoch personenbezogene Daten von Deutschen und Inländern, die nicht dem Fernmeldegeheimnis unterfallen, auch nach § 6 BNDG erfasst werden können816. Die sehr vage gehaltene Vorschrift soll den gesetzlichen Auftrag des Bundesnachrichtendienstes konkretisieren, ohne diesen einzuengen, und nimmt in der Nr. 3 auf das Auftragsprofil der Bundesregierung Bezug817. Der Bundesnachrichtendienst erhebt aus „Telekommunikationsnetzen“ gemäß § 6 II BNDG Inhaltsdaten – wie auch bei der G 10-Aufklärung – anhand von Suchbegriffen, die zur Zielerreichung bestimmt und geeignet sein müssen und mit den außen- und sicherheitspolitischen Zielen der Bundesrepublik in Einklang stehen müssen, was jedoch im Umkehrschluss bedeutet, dass Verkehrs- bzw. Metadaten ohne deren Einsatz erfasst werden dürfen818. Diese Metadaten werden gemäß § 6 VI 1 im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium des Innern, dem Bundesministerium der Verteidigung, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bestimmt werden. 812 Siehe auch ausführlich zum Ganzen Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 319 ff. 813 Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827 – wenn eine in Köln lebende türkische Person ihre Verwandten in der Türkei besuche, dürfe sie nicht nach den Regeln der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung überwacht werden. 814 Zur Abkehr vom reinen Nationalitätskriterium erneut Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827. 815 Statt aller Graulich, Reform (Fn. 807), S. 44. 816 BT-Drs. 18/9041, S. 24 „Die Erhebung von sonstigen personenbezogenen Daten (also solche, die nicht Artikel 10 GG unterfallen) von deutschen Staatsangehörigen, inländischen juristischen Personen oder sich im Bundesgebiet aufhaltenden Personen mit Mitteln der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ist nicht ausgeschlossen“. Welche Daten dies konkret sein sollen, verrät die Gesetzesbegründung nicht. 817 Ausführlich zu den Aufklärungszielen Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 919 ff.; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 177. 818 Knapp und ohne Umkehrschluss siehe auch BVerfGE 154, 152 (187, Rn. 21); Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 20; Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 921;
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BNDG für sechs Monate pauschal gespeichert und zu einem späteren Zeitpunkt durch Datenabgleiche und sonstige Analyseansätze primär computergestützt ausgewertet819. Die Einschränkung der inhaltlichen Suchbegriffe durch § 6 II 2 BNDG auf „bestimmte und geeignete“ sowie im politischen Interesse der Bundesrepublik stehende ermöglicht allenfalls eine rudimentäre Begrenzung und dient im Ergebnis der Vermeidung von politisch nicht opportuner Steuerung von Zielen820. Die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ist indes keine strikt strategische Aufklärung, sondern erlaubt – wie die Ausnahme des § 5 II 3 G 10 – außerdem die Steuerung von Selektoren zur gezielten Erfassung von Telekommunikation. Dies ergibt sich, wenn auch nicht explizit, aus § 6 I in Verbindung mit § 6 III BNDG821. Das Gesetz erlaubt die direkte Erfassung nicht ausdrücklich, sondern definiert nur, wann eine solche beschränkt sein soll. Gemäß § 6 III BNDG dürfen Einrichtungen der Europäischen Union, von öffentlichen Stellen der Mitgliedstaaten sowie Unionsbürger direkt erfasst werden, wenn dies zur Erkennung von Gefahren im Sinne des § 5 I 2 G 10 erforderlich ist oder Daten über Drittstaaten erhoben werden. Unionsbürger dürfen darüber hinaus auch dann direkt erfasst werden, wenn Gefahren im Sinne des § 3 I G 10 erkannt und diesen begegnet werden soll822. Durch die Bezugnahme auf die Gefahrbereiche bzw. konkrete Gefahren im Sinne des §§ 5, 3 G 10 will der Gesetzgeber die Erfassung von EUZielen augenscheinlich näher an das restriktivere Regime für deutsche Staatsbürger und Inländer rücken und so einen gesteigerten Schutz erreichen. Es entbehrt indes nicht einer gewissen Ironie, dass auf das G 10 verwiesen wird, von dem sich die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung doch gerade kategorisch abgrenzen soll. In den Fällen einer gezielten Steuerung kann der Bundesnachrichtendienst anhand von formalen Telekommunikationsmerkmalen nachrichtendienstlich relevante Personen sowie Institutionen, Gruppen oder Phänomene erkennen und deren Verbindungen aus den erfassten Datenströmen aussondern, speichern und verarbeiten823. Hierbei stehen die Personen und deren Verhalten gerade direkt im Aufklärungsfokus des Bundesnachrichtendienstes und nicht – wie sonst bei der strategischen Aufklärung – allgemeine, sachbezogene Informationen zur Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 181, die gleichfalls auf einen Umkehrschluss verzichten. Aus dem Gesetz ergibt sich diese Folgerung jedoch nicht ohne Weiteres. 819 BVerfGE 154, 152 (187, Rn. 21). 820 Siehe dazu Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 20; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 181. 821 Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 21 ff.; siehe auch erneut Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 921. 822 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 329; Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 921; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526 f., betont, dass hierdurch der Zugriff auf EU-Ziele auf besondere Einzelfälle begrenzt bleibe. 823 BVerfGE 154, 152 (187 f., Rn. 23); Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 921.
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Generierung von Lagebildern, wenngleich auch in diesen Fällen Personen zum Teil bekannt sind824. Eine verfahrensrechtliche Sicherung interner „Kontrollroutinen“ und Zuweisung politischer Verantwortlichkeiten sieht § 6 VII BNDG mit seiner Delegierung von organisatorischen, technischen und aufsichtsrechtlichen Details, nebst solcher für das Anordnungsverfahren, in Dienstvorschriften vor, die der Zustimmung des Bundeskanzleramts sowie des Parlamentarischen Kontrollgremiums bedürfen825. In der Praxis werden über die gesetzlichen Anforderungen hinaus in verschiedenen Dienstvorschriften die unterschiedlichen Phasen der strategischen Aufklärung einschließlich rechtlicher Bewertungen niedergelegt826. Die Dienstvorschriften können zweifelsohne zu einer dienstinternen einheitlichen Sachverhaltsbewertung führen und versichern ihrerseits die Bediensteten der politischen Rückendeckung. Zugleich sind sie nicht unproblematisch, da entscheidende Details aus dem Gesetz in die nicht-öffentlichen dienstinternen Ebenen verlagert werden können. b) Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus ohne Ermächtigungsgrundlage § 7 BNDG regelt nach seinem ausdrücklichen Wortlaut in Abs. 1 die „weitere Verarbeitung“ von im Ausland mit Mitteln der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung erhobenen Daten827. Die Norm verweist dazu auf § 6 III bis VI BNDG, was jedoch bedeutet, dass im Ausland Telekommunikation auch bei Inhaltsdaten ohne die Anwendung von Suchbegriffen erfolgt828. Eine Ermächtigungsgrundlage zur Datenerhebung stellt § 7 BNDG nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers und ausweislich des Wortlauts nicht dar829; die Aufklärung vom 824
BVerfGE 154, 152 (187 f., Rn. 23). Zur Intention der Schaffung einer norminterpretierenden Verwaltungsvorschrift im Bereich der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 29; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 527; Graulich, Reform (Fn. 807), S. 46, spricht gar von einer „verfahrenstechnische[n] Kette“, die an die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung angelegt werde. 826 So existieren eine „Dienstvorschrift nach § 6 Abs. 7 BNDG für die strategische Fernmeldeaufklärung des BND (DV SIGINT)“, eine „Dienstvorschrift zur Übermittlung von Informationen durch den Bundesnachrichtendienst (DV Übermittlung)“, eine „Dienstvorschrift zum Auftragsprofil der Bundesregierung (DV APB)“ und die „Dienstvorschrift über den Abschluss internationaler Absprachen mit ausländischen Nachrichtendiensten (DV Internationale Absprachen – AND)“, siehe BVerfGE 154, 152 (183 f., Rn. 14, 207 f., Rn. 69, 253, Rn. 174). 827 Von einer reinen Verarbeitungsvorschrift geht bei § 7 BNDG wohl auch aus Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 281, 349. 828 Siehe dazu Dietrich (Fn. 771), § 7 BNDG Rn. 3. 829 So schon das BVerfG bei der Darlegung der reinen Sach- und Rechtslage, vor einer Entscheidung in der Sache BVerfGE 154, 152 (180, Rn. 8); ausdrücklich die Annahme des Gesetzgebers in BT-Drs. 18/9041, S. 22, 25. 825
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Ausland aus verbleibt vielmehr bei der reinen Aufgabenbeschreibung des § 1 II 1 BNDG. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass bei systematischer Auslegung die Verarbeitung alle vorgelagerten Vorgänge einschließlich der Datenerhebung „implizit“ miteinschließe, da die Nutzung der Daten nur die inländische Verwertung betreffe830. Andernfalls verbliebe für die Norm kein Anwendungsbereich, da eine Erhebung, die nicht zur Gewinnung von Daten zu Auswertungszwecken führen solle, von vornherein nicht erforderlich und mithin unverhältnismäßig sei831. Der Gesetzgeber wollte aber gerade keine Ermächtigungsgrundlage schaffen, sondern vielmehr eine Verwendungsregelung, die präziser durch die Verbindung von § 1 II BNDG und § 7 BNDG zum Ausdruck gekommen wäre832. § 7 BNDG setzt die Befugnis zur Datenerhebung – nach seinerzeitiger Ansicht des Gesetzgebers in § 1 II BNDG enthalten – nämlich vielmehr voraus833. Deswegen kann § 7 BNDG nicht entgegen des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte dahingehend ausgelegt werden, dass er auch eine Ermächtigungsgrundlage für die Datenerhebung als solche beinhalte. Bemerkenswert – vor allem aus rechtspolitischer Warte – ist noch die Regelung in § 7 II BNDG, die in der Analyse der Vorschriften zur Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung keine größere Aufmerksamkeit erfahren hat834. Der Bundesnachrichtendienst darf hiernach ausländische Partnerdienste nicht zur direkten Steuerung und Ausleitung von Telekommunikationsdaten von Einrichtungen der Europäischen Union, öffentlicher Stellen der Mitgliedstaaten oder von Unionsbürgern jenseits der Grenzen des § 6 III BNDG ersuchen. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll damit die Umgehung des deutschen Rechts im Ausland, der sogenannte Ringtausch von Daten durch Partnerdienste, verhindert werden835. Der Gesetzgeber geht augenscheinlich davon aus, dass eine solche Umgehungsmöglichkeit jedenfalls juristisch durch den Bundesnachrichtendienst in Erwägung gezogen werden könnte – auch der NSA-Untersuchungsausschuss beschäftigte sich intensiv mit der Frage eines etwaigen Ringtausches zwischen deutschen und ausländischen Nachrichtendiensten in der Vergangenheit, konnte aber im Ergebnis keine Belege hierfür finden und wies mit der Ausschussmehrheit einen derartigen Verdacht der gegenseitigen Hilfe bei der Umgehung des eigenen inlän-
830 So aber Dietrich (Fn. 771), § 7 BNDG Rn. 2 unter Verweis auf Gärditz, AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526; Graulich, Reform (Fn. 807), S. 47. 831 Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526; Graulich, Reform (Fn. 807), S. 47 f. 832 Insoweit auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 158. 833 So auch die Auslegung in BVerfGE 154, 152 (181, Rn. 10). 834 Nur eine Randnummer nimmt sie etwa in der maßgeblichen Kommentierung von Dietrich (Fn. 771), § 7 BNDG Rn. 4 ein; BVerfGE 154, 152 (231 f., Rn. 120) spricht davon, dass § 7 II BNDG den „Rechtsschein“ erschaffe, Datenerhebungen vom Ausland aus seien ohne weitere Rechtsgrundlage zulässig. 835 BT-Drs. 18/9041, S. 25; Dietrich (Fn. 771), § 7 BNDG Rn. 4.
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dischen Rechts zurück836. Warum dann aber nur auf § 6 III BNDG verwiesen wird und nicht auch auf die sonstigen Datenerhebungsvoraussetzungen – sofern sinngemäß bei Ersuchen an Partnerdienste im Einzelfall anwendbar – bleibt unklar und erscheint im Sinne größtmöglicher Rechtssicherheit bedenklich. c) Eingeschränkte Datenverarbeitungsregelungen und Löschpflichten Die von § 6 VI BNDG festgesetzte Höchstspeicherfrist von sechs Monaten für ohne Suchbegriffe erhobene Metadaten lässt als Sonderregel die allgemeinen Regelungen zur Datenverarbeitung in §§ 19 und 20 BNDG unberührt. Die AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung ist insoweit lex specialis837. Die Speicherdauer von sechs Monaten ist relativ offensichtlich an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung orientiert, wonach eine anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten bei den Betreibern für diesen Zeitraum als noch mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen wurde838. Im Einzelfall soll jedoch bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auch eine längere Speicherung gemäß §§ 19, 20 BNDG möglich sein, wenn dies zur Aufgabenerfüllung des Bundesnachrichtendienstes erforderlich ist839. § 19 in Verbindung mit §§ 10, 11 BVerfSchG erlaubt die Datenauswertung mithin auch im Allgemeinen weitgehend pauschal, indem er lediglich das Erforderlichkeitskriterium vorsieht und keine weiteren Beschränkungen implementiert840. Ausdifferenzierte Löschvorschriften statuieren die Regelungen nicht, da § 20 BNDG auf § 12 BVerfSchG verweist und hierdurch Löschfristen von bis zu maximal 10 Jahren ermöglicht, ohne dass eine regelmäßige Prüfung der weiteren Notwendigkeit der Datenspeicherung für den Bundesnachrichtendienst – wie sie etwa § 6 I G 10 vorsieht – existiert841. § 10 BNDG normiert Kennzeichnungspflichten und abseits von § 20 BNDG partielle Löschungsbestimmungen. Löschungen sind demnach unverzüglich vorzunehmen, wenn Daten von deutschen Staatsbürgern oder Inländern erhoben wurden (§ 10 IV 1 BNDG), es sei denn, die G 10-Kommission wird hierrüber unterrichtet, § 10 IV 2 BNDG. Dann müssen aber auch die Benachrichtigungspflichten bzw. deren Zurückstellungsvoraussetzungen eingehalten werden, wie 836
BT-Drs. 18/12850, S. 1313. Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 922. 838 BVerfGE 125, 260 (322); diesen Bezug sieht auch Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 28. 839 BT-Drs. 18/9041, S. 24; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 28. 840 Hierauf weist Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 15 f. hin; zu § 10 BVerfSchG ausführlich Kutzschbach (Fn. 490), § 6 Rn. 17 ff. 841 BVerfGE 154, 152 (183, Rn. 13); kritisch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 198, 201; a. A. hingegen Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 334, der von hinreichend ausdifferenzierten Regelungen im allgemeinen Teil des BNDG ausgeht. 837
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dies auch bei einer G 10-Erfassung erforderlich wäre842. Benachrichtigungspflichten bestehen für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ansonsten – was wie so oft als Umkehrschluss zu folgern ist – nicht843. Löschungen sind zudem vorzunehmen, wenn das Unabhängige Gremium als Kontrollinstanz Anordnungen aufhebt, weil Selektoren zur Erfassung von EU-Zielen für unzulässig befunden wurden, wenn Daten entgegen der in § 6 III BNDG vorgegebenen Ziele erfasst wurden oder wenn ein Selektor erst nachträglich einem Unionsbürger oder einer EU-Einrichtung zugeordnet werden kann und diese Erfassung nicht nach § 6 III BNDG von vornherein zulässig gewesen wäre, § 10 II, III BNDG844. Sofern eine Erhebungsmaßnahme durch das Unabhängige Gremium in Eilfällen nachträglich nach § 9 IV 5 BNDG aufgehoben wird, besteht aber keine Löschungspflicht – warum, bleibt im Gesetz offen845. d) Kein Schutz besonderer Vertrauensbeziehungen und unkontrollierte Kernbereichssicherung Obschon der Gesetzgeber von einer grundrechtsindifferenten Tätigkeit des Bundesnachrichtendienstes bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ausgeht, hat er in § 11 BNDG eine Regelung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung implementiert846. Dies erstaunt jedoch nur auf den ersten Blick, denn selbst der Gesetzgeber und der Bundesnachrichtendienst gehen davon aus, dass elementare rechtsstaatliche Grundsätze, wie der Schutz der Menschenwürde, durch einen unantastbaren Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung, der von staatlichen Informationseingriffen frei bleiben muss, auch bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung zum Tragen kommen847 – etwas anderes ist auch unter dem Grundgesetz kaum vorstellbar848. Die Regelung ist in ihrem Wortlaut angelehnt an die Sicherung in § 5a G 10 und entsprechend den Anforderungen der Rechtsprechung zweistufig – Erhebung849 und Verwendung von 842
Dazu ausführlich Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 924. Allgemein hierzu erneut Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 924; dahingehend auch Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 527. 844 Eine klare Auflistung der Löschungsgründe bietet Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 196. 845 Dietrich (Fn. 771), § 9 BNDG Rn. 15; zu möglichen nachrichtendienstlichen Gründen Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 197. 846 Eine widersprüchliche Positionierung sieht deshalb Graulich, Reform (Fn. 807), S. 47; allgemein zum Kernbereichsschutz siehe die Nachweise in Fn. 676. 847 So etwa die Aussage im NSA-UA BT-Drs. 18/12850, S. 861. 848 Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1078; Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 473 m. Fn. 76 m.w. N. spricht exemplarisch davon, dass die „unverfügbaren Grenzen der Menschenwürde“ als „positiviertes staatsethisches Minimum“ auch extraterritorial erhalten blieben. 849 Dietrich (Fn. 771), § 11 BNDG Rn. 1; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 185; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 529. 843
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Kernbereichsdaten – ausgestaltet850. Dabei darf indes nicht übersehen werden, dass § 5a G 10 in Verbindung mit § 3a G 10 eine Vorlagepflicht für Kernbereichsdaten an die G 10-Kommission vorsieht, die über deren Verwendung und Löschung als externe Kontrolle entscheidet – bei § 11 BNDG ist keine externe Überprüfungsinstanz vorgesehen851. Der Schutz von besonderen Vertrauensbeziehungen ist im BNDG, analog zum G 10, nicht verankert852. e) Anordnungsverfahren, Mitwirkungspflichten und eingeschränkte Regeln für Selektoren Das Bundeskanzleramt ordnet gemäß § 6 I 2 BNDG an, aus welchen Telekommunikationsnetzen die Daten erhoben werden dürfen (sogenannte Netzanordnung)853. Die Beschränkungsanordnung – insoweit sei die oben eingeführte Terminologie des G 10 übernommen – ergeht nach § 9 I BNDG auf Antrag des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes oder eines Vertreters und muss den Grund und die Dauer der Maßnahme, das zu erfassende Telekommunikationsnetz sowie gegebenenfalls zu verpflichtende Telekommunikationsdienstleister benennen854. Die Anordnungen des Bundeskanzleramtes sind auf neun Monate befristet; es besteht die Möglichkeit zur Verlängerung um jeweils neun Monate, § 9 III BNDG. Eine maximale Anzahl der Verlängerungen normiert das BNDG nicht. Es erscheint somit problematisch, dass jedenfalls theoretisch die Anordnungen unbegrenzt verlängert werden können855. Innerdeutsche Telekommunikationsanbieter sind gemäß § 8 I 1 BNDG aufgrund einer „Ausleitungsanordnung“ zur Ausleitung und Bereitstellung der Telekommunikation verpflichtet856. Die Regelung ist an § 2 I G 10 angelehnt, was sowohl im Wortlaut als auch durch den Verweis auf § 110 TKG a. F. deutlich wird857. Eine Überwachungshöchstgrenze 850
Dietrich (Fn. 771), § 11 BNDG Rn. 1; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 185. Kritisch Dietrich (Fn. 771), § 11 BNDG Rn. 4, § 15 BNDG Rn. 8, der eine Klarstellung für verfassungsrechtlich notwendig erachtet. Eine Ausnahme bildet nur die automatisierte Datenübermittlung im Rahmen einer Kooperation gemäß § 15 III 7 BNDG, wo eine Stichprobenkontrolle durch das Unabhängige Gremium vorgesehen ist. 852 Diese hält bei der Ausland-Ausland-Aufklärung für obsolet Gärditz, AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 528. 853 BVerfGE 154, 152 (184 f., Rn. 18). 854 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 328; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 223; Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 923; zum Anordnungsverfahren insgesamt auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 187 ff. 855 Dazu Dietrich (Fn. 771), § 9 BNDG Rn. 7; Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 923. 856 BVerfGE 154, 152 (184 f., Rn. 18) zur Verpflichtung des Telekommunikationsdienstleisters auch Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 527 f. 857 Hiervon geht auch der Gesetzgeber aus, BT-Drs. 18/9041, S. 25; deswegen sei auf die dortigen Ausführungen verwiesen (C. III. 2. f)). Einzig die Begriffe unterscheiden sich. Im G 10 ist von einer Verpflichtungsanordnung in Bezug auf die einzelnen 851
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analog § 10 IV 4 G 10 sieht das BNDG nicht vor, da der Gesetzgeber annimmt, eine solche sei schon aufgrund der limitierten faktischen Möglichkeiten des Bundesnachrichtendienstes entbehrlich858. Die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung sieht jedoch qualitative Beschränkungen der Überwachung für Ziele innerhalb der Europäischen Union vor und eröffnet damit zugleich – potentiell – eine unionsrechtliche Dimension: Suchbegriffe, die zur gezielten Erfassung von Unionsbürgern führen, müssen in den Fällen des § 6 III 1 Nr. 1 und 2 BNDG ebenfalls von der Hausleitung angeordnet werden und das Bundeskanzleramt als Dienstaufsicht führende Stelle muss hiervon unterrichtet werden, § 9 II BNDG859; für die Steuerung von Suchbegriffen zur gezielten Erfassung zwecks der Aufklärung von Straftaten im Sinne des § 3 I 1 G 10 (§ 6 III 1 Nr. 3 BNDG) existiert dieses Erfordernis nicht860. Gleiches gilt mangels expliziter Regelung dann wohl auch für die sonstige gezielte Erfassung außerhalb der Union. Diese allgemeinen inhaltlichen Suchbegriffe müssen in der Ausleitungsanordnung – im Gegensatz zu § 10 IV G 10 – folglich nicht enthalten sein und können durch den Bundesnachrichtendienst selbst bestimmt, laufend geändert und bei nachrichtendienstlichem Bedarf angepasst werden861. f) Allgemeines Übermittlungsregime statt angepasster leges speciales Der Gesetzgeber hat für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung keine gesonderten Regeln zur Datenübermittlung implementiert, sondern greift auf die allgemeine Vorschrift des § 24 BNDG zurück, die größtenteils auf § 19 BVerfSchG verweist862. Dementsprechend ist die Übermittlungsnorm im BNDG von einer überraschenden Kürze und lässt schon im ersten Zugriff erkennen, dass der Gesetzgeber die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur hypothetischen Datenneuerhebung oder zum informationellen Trennungsprinzip in dieser Vorschrift, aber auch in § 19 BVerfSchG, (noch) nicht abschließend berücksichtigt hat. Hinzutritt die bereits angesprochene, das gesamte Nachrichtendienstrecht durchziehende Verweisungstaktik, die das Normverständnis erheblich erschwert. § 24 I 1 BNDG erlaubt die Datenübermittlung an inländische Behörden, wenn dies zur Erfüllung der Aufgaben des Bundesnachrichtendienstes erforderlich ist Telekommunikationsanbieter die Rede, im BNDG soll es sich nach der Terminologie des BVerfG um eine „Ausleitungsanordnung“ handeln. 858 BT-Drs. 18/9041, S. 26; aus der Literatur statt aller kritisch Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 163. 859 Siehe dazu nur Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 163. 860 Dietrich (Fn. 771), § 9 BNDG Rn. 5; Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 923. 861 Die Eigenauswahl der Suchbegriffe durch den BND im Regelfall bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung betonen etwa auch Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 223 f.; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 15. 862 BVerfGE 154, 152 (183, Rn. 13).
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oder der Empfänger die Daten für „erhebliche Zwecke der öffentlichen Sicherheit“ benötigt. Welche Behörden damit konkret gemeint sind – operative Sicherheitsbehörden oder sämtliche staatliche Institutionen des Ordnungsrechts –, bleibt letztlich unklar863. Ebenso verzichtet der Gesetzgeber weitgehend auf namhafte Übermittlungsschwellen oder eine Beschränkung auf bestimmte Rechtsgüter, bei denen eine Übermittlung zulässig wäre864. § 24 II 1 BNDG – der pauschal auf § 19 II bis V BVerfSchG verweist – in Verbindung mit § 19 II BVerfSchG, der wiederum auf Art. 3 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut865 verweist und Übermittlungen an diese militärischen Partner erlaubt866, ist ein Paradebeispiel einer nur noch schwerlich nachvollziehbaren Verweisungstaktik. § 24 II 1 BNDG in Verbindung mit § 19 III BVerfSchG erlaubt die Übermittlung an ausländische öffentliche Stellen, einschließlich Nachrichtendiensten867. Auch diese Übermittlungsvariante verzichtet auf Übermittlungsschwellen und konkretisierte Rechtsgüter, wie auch differenzierte Regeln analog § 7a G 10 für die Absicherung der Datennutzung bei ausländischen Empfängern868. § 24 II 1 BNDG in Verbindung mit § 19 IV BVerfSchG erlaubt sogar die Übermittlung an private Stellen. Zwar geht § 19 III BVerfSchG von einem grundsätzlichen Verbot mit sehr begrenztem Ausnahmevorbehalt aus869, verzichtet jedoch auch auf eine Übermittlungsschwelle870. Die besonders relevanten, da gegebenenfalls besonders grundrechtsinvasiven, Übermittlungen an Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden871 erlaubt § 24 III BNDG in Verbindung mit § 20 BVerfSchG, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten der §§ 74a und 120 GVG erforderlich ist oder bei sonstigen Straftaten, bei denen durch die Motivation des Täters Anhaltspunkte vorliegen, dass sie sich gegen in Art. 73 I Nr. 10 lit. b und c GG genannte Schutzgüter richten872. Hierbei handelt es sich um eine Übermittlungspflicht in Angelegenheiten 863
So auch die Feststellung in BVerfGE 154, 152 (303 f., Rn. 311). Erneut die Zusammenfassung in BVerfGE 154, 152 (303 ff., Rn. 310 ff.). 865 BGBl. 1961 II S. 1218. 866 Zu den Einzelheiten der Übermittlung an NATO-Truppen in Deutschland nach dem BVerfSchG ausführlich W. Bock, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 19 BVerfSchG, Rn. 24 ff. 867 Gusy (Fn. 229), § 24 BNDG Rn. 5 ff.; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 17. 868 Kritisch dazu maßgeblich auch Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 17. 869 Zum Verbot mit Erlaubnisvorbehalt Bock (Fn. 866), § 19 BVerfSchG Rn. 35. 870 BVerfGE 154, 152 (305, Rn. 313). 871 Die Vorschrift erlaubt beide Gründe der Übermittlung, siehe nur Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 87. 872 Einen Überblick über die in Bezug genommenen Delikte bzw. die nötige Motivationslage bietet Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 87; ferner Bock (Fn. 866), § 20 BVerfSchG Rn. 3 ff.; zu den einschlägigen Straftaten ausführlich und kritisch die Analyse bei Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 305 ff., der entsprechende Beispiele präsentiert. 864
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des Staats- und Verfassungsschutzes873. Die Vorschrift legt zumindest eine Übermittlungsschwelle fest und bezeichnet die einschlägigen Rechtsgüter, bei denen zwecks Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung eine Übermittlung an operativ tätige Behörden zulässig ist. Hinter den Anforderungen, die § 7 IV G 10 aufstellt, bleibt § 24 BNDG in Verbindung mit § 20 BVerfSchG – unter Berücksichtigung der seinerzeitigen Rechtsauffassung des Gesetzgebers konsequent – hingegen klar zurück. g) Grundzüge des Kooperationsrechts – Die Ausnahme von der Ausnahmebefugnis Eine Besonderheit der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ist das Kooperationsrecht mit anderen Nachrichtendiensten zur technischen Aufklärung nach §§ 13 ff. BNDG, welches bei der strategischen Fernmeldeaufklärung im G 10 keine Vorlage hat – diese Befugnis ist exklusiv auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung beschränkt. Damit wird eine lange nachrichtendienstliche Praxis der Zusammenarbeit mit Partnerdiensten bei der technischen Aufklärung, die schwerpunktmäßig durch den NSA-Untersuchungsausschuss untersucht wurde874, erstmals einer rechtlichen Regelung zugeführt875. Zuvor basierte die Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten, den sogenannten AND, ausschließlich auf vertraglichen Vereinbarungen ohne normative Verpflichtung, die als Memorandum of Understanding (MoU) oder Memorandum of Agreement (MoA) einige Bekanntheit erlangt haben876. Zur Erfüllung seiner Aufgaben ist der Bundesnachrichtendienst nach der Darlegung des Gesetzgebers schon aus Kapazitätsgründen auf die Kooperation mit ausländischen Partnerdiensten angewiesen, ebenso beim Austausch von nachrichtendienstlichen Techniken und insbesondere auch von Selektoren877. Nach den Angaben der Bundesregierung und des Bundesnachrichtendienstes stammen 50 bis 60 Prozent der eingesetzten Selektoren von Partnerdiensten878. Dies illustriert, welch große Bedeutung der Kooperation in der Praxis zukommt. Es liegt nahe, dass diese Sonderkonstellation der Aus-
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Zum analogen § 20 I 1, 2 BVerfSchG Bock (Fn. 866), § 20 BVerfSchG Rn. 3. BT-Drs. 18/12850, S. 516 ff. 875 BVerfGE 154, 152 (189, Rn. 26); Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 1, § 14 BNDG Rn. 1; Graulich, Reform (Fn. 807), S. 47 ff. 876 Siehe dazu instruktiv Graulich, Reform (Fn. 807), S. 47 m. Fn. 41; ders., Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 67 ff.; BT-Drs. 18/12850, S. 706 ff. 877 BVerfGE 154, 152 (189, Rn. 26 f., 247, Rn. 160); zur substantiellen technischen Ertüchtigung des BND durch die NSA, bei der nach BND-eigenen Angaben zumindest mittelbare Zugänge zu Telekommunikationsverbindungen, etwa bei der Satellitenaufklärung in Bad Aibling, im Gegenzug für technisches Knowhow aus den USA zur Verfügung gestellt wurden, BT-Drs. 18/12850, S. 586 ff.; zur technischen Ertüchtigung im Bereich der Erfassung von paketvermittelter Kommunikation, BT-Drs. 18/12850, S. 892. 878 BVerfGE 154, 152 (189, Rn. 27). 874
IV. Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
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land-Ausland-Fernmeldeaufklärung faktisch – d. h. hinsichtlich der nachrichtendienstlichen Relevanz – ein zentraler Aspekt der technischen Aufklärung des Bundesnachrichtendienstes ist. Diese externen Selektoren werden auf einen Deutschen- oder Inländerbezug, auf die Einhaltung der Beschränkungen des § 6 III BNDG sowie auf einen Verstoß gegen die (politischen) Interessen der Bundesrepublik Deutschland geprüft und nur nach dieser Kontrolle gesteuert879. Im Gegensatz zur früheren – aus grundrechtlicher wie rechtsstaatlicher Warte höchst bedenklichen – Praxis steuert der Bundesnachrichtendienst auch keine Suchbegriffe mehr, deren Bedeutung und Aufklärungsziel ihm unbekannt sind und verlangt von den Partnerdiensten Erläuterungen bezüglich der übermittelten Selektoren880. § 14 I BNDG ist als eigentliche Ermächtigungsgrundlage zur Datenerhebung in einer Kooperation auf Grund eines Ersuchens eines ausländischen Partners ausgestaltet, der dem Bundesnachrichtendienst Selektoren übermittelt, die dieser sodann in seine Erfassungsanlagen einspeist; § 13 dient hingegen als Kompetenznorm, die prozeduralen Rechtsschutz in Form einer Absichtserklärung sicherstellen soll881. Eine Kooperation ist nur mit ausländischen öffentlichen Stellen zulässig, die nachrichtendienstliche Aufgaben wahrnehmen882, und nur zu den in § 6 I 1 BNDG definierten Aufklärungszielen; sie unterliegt zudem einem Subsidiaritätsvorbehalt, § 13 I, II BNDG883. Die Absichtserklärung muss gewisse in § 13 III BNDG aufgelistete Mindestangaben – etwa Kooperationsziele, -inhalte, -dauer, Zweckbindung und Löschverpflichtungen – enthalten884. Die möglichen Kooperationsziele selbst sind in § 13 IV BNDG aufgelistet, wobei insbesondere die Nummer 6 der Vorschrift sehr vage gehalten ist und primär an den grundsätzlichen Auftrag des Bundesnachrichtendienstes zur Beschaffung von außen- und sicherheitspolitischen Erkenntnissen angelehnt scheint885. Die Rechtsnatur der 879 So die Bestandsaufnahme in BVerfGE 154, 152 (189, Rn. 27); zur Geschichte der Prüfung von durch die NSA zur Steuerung an den BND weitergegebener Selektoren und deren technische Entwicklung über die Zeit siehe instruktiv BT-Drs. 18/12850, S. 793 ff. 880 Siehe erneut BVerfGE 154, 152 (189, Rn. 27); zu den Problemen des Verständnisses fremder Selektoren beim Einsatz sogenannter Hash-Werte und anderer Buchstaben-Zahlen-Kombinationen BT-Drs. 18/12850, S. 1528. 881 Siehe vor allem Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 4, § 14 BNDG Rn. 1; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 530 f.; instruktiv Graulich, Reform (Fn. 807), S. 47 ff.; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 165, hält die normative Verpflichtung einer schriftlichen Fixierung der Bedingungen der nachrichtendienstlichen Kooperation für „vorbildhaft“ im internationalen Vergleich. 882 Kritisch zu dieser Definition, die nicht im Einklang mit denjenigen im BVerfSchG stehe und überdies eine international unübliche Trennung von nachrichtendienstlichen und polizeilichen Befugnissen – analog § 7a G 10 – voraussetze, Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 6. 883 So auch statt aller Graulich, Reform (Fn. 807), S. 48. 884 Zu den Details der Absichtserklärung siehe Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 8 ff.; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 203.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
Absichtserklärung bleibt jedoch ein Memorandum of Understanding oder Agreement, welche von der Leitungsebene des Dienstes abgeschlossen wird; es handelt sich nicht um ein rechtsverbindliches Verwaltungsabkommen im Sinne des Art. 59 II 2 GG886. Die Kooperation bedarf jedoch der Zustimmung des Kanzleramts bzw. dessen Chefs, je nach Auswahl der Kooperationspartner sowie der Unterrichtung des Parlamentarischen Kontrollgremiums, § 13 V BNDG887. Die Kooperation darf nur zur Erreichung der vereinbarten Kooperationsziele durchgeführt werden und bei der Erhebung von Inhaltsdaten – Metadaten bleiben dem Ansatz der gesamten Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung entsprechend weitgehend von Beschränkungen frei – dürfen nur solche verwendet werden, die zur Erreichung der Kooperationsziele geeignet sind888. Die allgemeinen Regeln der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung der §§ 6, 8 bis 12 BNDG finden gemäß § 14 II BNDG auch auf die Kooperation Anwendung889. § 14 III BNDG schließt aus, dass Partnerdienste selbst Fernmeldeaufklärung von deutschem Staatsgebiet aus im Rahmen einer Kooperation betreiben890. Damit fungiert der Bundesnachrichtendienst bei der Steuerung von Selektoren, die von einem Partnerdienst geliefert wurden, letztlich als „Datentransporteur“, der lediglich die Einhaltung der Kooperationsziele sicherzustellen hat891. § 15 BNDG trifft die weitreichendste Regelung der gesamten Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Er erlaubt als lex specialis die automatisierte Übermittlung von (Meta-)Daten an ausländische Partnerdienste, sofern eine sofortige Übermittlung zur Erreichung der Kooperationsziele erforderlich ist892. Damit 885 Kritisch insoweit auch Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 18; a. A. Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 12, der die Vorschrift für noch hinreichend bestimmt ansieht, wenn sie in Verbindung mit § 13 II Nr. 1 BNDG ausgelegt werde. 886 Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 8 ff.; affirmativ Gärditz, Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 530, der ein tradiertes Verwaltungsabkommen schon aus Geheimhaltungsgründen als für die nachrichtendienstliche Kooperation ungeeignet einstuft; kritisch hierzu Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 203 f., die die rechtliche Verbindlichkeit der Absichtserklärungen bezweifelt und mithin den von ihnen intendierten Rechtsschutz. 887 Kompakt zu dieser zusätzlichen Sicherung etwa Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 13; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 165. 888 Zur Datenerfassung nach § 14 I BNDG kompakt Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 205. 889 Zusammenfassung bei Dietrich (Fn. 771), § 14 BNDG Rn. 4. Dabei kann es zu Problemen hinsichtlich der Anwendbarkeit einzelner Regeln im Ausland kommen, wie Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 206 in Bezug auf die Höchstspeicherfrist von Verkehrsdaten gemäß § 6 VI BNDG illustriert. 890 So jedenfalls BT-Drs. 18/9041, S. 30; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 530, spricht davon, dass ein „Outsourcing“ verhindert werden solle; in der Sache auch Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 165. 891 So die Einschätzung der nachrichtendienstlichen Praxis bei Graulich, Reform (Fn. 807), S. 49. 892 Zur spezialgesetzlichen Regelung im Verhältnis zu § 24 BNDG Dietrich (Fn. 771), § 15 BNDG Rn. 1; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 208.
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können Kooperationsdaten ohne mengenmäßige Begrenzung pauschal an Partnerdienste übermittelt werden – allein dies zeigt schon, wie weitgehend die Befugnis ausgestaltet ist. Welche Daten dabei genau übermittelt werden, lässt sich aus der Norm indes nicht mit letzter Klarheit ableiten. Dies können zum einen Daten sein, die anhand von fremden Selektoren durch den Bundesnachrichtendienste ausgeleitet wurden, aber auch gänzlich unselektierte Metadaten als reine Datenmasse893. Diese Daten müssen den Filterprozess für deutsche und rein inländische Telekommunikation durchlaufen und dürfen den nationalen Interessen der Bundesrepublik nicht entgegenstehen894. § 15 II BNDG sieht datenschutzrechtliche Protokollpflichten vor und Abs. 3 Stichprobenkontrollen der Daten durch Beamte des Bundesnachrichtendienstes mit der Befähigung zum Richteramt nebst Berichtspflichten an das Bundeskanzleramt und das Parlamentarische Kontrollgremium sowie durch das Unabhängige Gremium. Die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung enthält indes keine Regelungen darüber, wie Daten, die dem Bundesnachrichtendienst von Partnern im Rahmen einer Kooperation übermittelt werden, ausgewertet und verarbeitet werden dürfen895. Insbesondere ist nicht geregelt, wie der Bundesnachrichtendienst mit Daten eines Partnerdienstes zu verfahren hat, die potentiell aus einer Überwachung von deutschen Staatsbürgern und Inländern – die der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ja nicht unterfallen sollen – stammen896. Gleiches gilt für Fälle, bei denen zu befürchten ist, dass die Daten unter Verstoß gegen datenschutz- und menschenrechtliche Mindeststandards gewonnen wurden897. Dies soll entsprechend der Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes hier nicht weiter vertieft werden. Nur am Rande sei daher bemerkt, dass schon problematisch erscheint, wie der Bundesnachrichtendienst eine solche potentielle Datenerhebung von G 10 geschützten Personen belastbar ermitteln soll, da Partnerdienste den Ursprung der Daten nicht in allen Fällen offenlegen werden, schon um die eigenen Fähigkeiten nicht mehr als nötig zu offenbaren – gleiches gilt für Fälle, in denen Daten unter Verstoß gegen elementare rechtsstaatliche Standards erhoben wurden.
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Zu diesen Auslegungsvarianten BVerfGE 154, 152 (182, Rn. 12). Hierzu und insbesondere zum Tatbestandsmerkmal der „nationalen Interessen“ Dietrich (Fn. 771), § 15 BNDG Rn. 3. 895 Siehe so die klare Feststellung in BVerfGE 154, 152 (182, Rn. 12); zur Notwendigkeit einer solchen Regelung auch Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 184 ff. 896 Zu dieser spezifischen Lücke auch instruktiv BVerfGE 154, 152 (280 f., Rn. 250). 897 Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 185, plädiert für eine Abwägungslösung sowie eine Differenzierung dahingehend, ob die Daten auf Anfrage des BND übermittelt wurden oder spontan an diesen von Partnerdiensten geliefert wurden – dies bezieht sich auf die Studie von Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 22 f. Im Endeffekt liefe dies auf eine Abwägung im Einzelfall hinaus. 894
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h) Zaghafte Kontrolle durch das Unabhängige Gremium – keine zweite G 10-Kommission Als Kontrollinstanz hat der Gesetzgeber gemäß § 16 BNDG das bereits mehrfach erwähnte Unabhängige Gremium vorgesehen, um auch insoweit eine Abgrenzung vom G 10 und seiner Kontrollinstanz zu erreichen. Es tritt mithin als weiteres Gremium neben die G 10-Kommission, das Parlamentarische Kontrollgremium und den oder die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, was eine gewisse Zersplitterung der Kontrolllandschaft mit sich bringt898. Dies muss der Wirksamkeit der Nachrichtendienstkontrolle nicht zwingend zum Vorteil gereichen. Das Unabhängige Gremium unterrichtet seinerseits das Parlamentarische Kontrollgremium, § 16 VI BNDG899. Wer dafür plädiert, die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung gleichfalls der Kontrolle der G 10Kommission zu unterstellen900 hat zwar zunächst durchaus Praktikabilitätsargumente auf seiner Seite, unterschätzt jedoch die hiervon ausgehende Signalwirkung. Wenn der Gesetzgeber extra eigene Rechtsgrundlagen für die AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung geschaffen hat, um deren (verfassungsrechtlicher) Sonderstellung Ausdruck zu verleihen, wäre eine Anbindung der Kontrolle ausgerechnet an die G 10-Kommission ein Systembruch901. Ferner wäre schon aus rein praktischen Gründen eine strikte Trennung von Informationsflüssen – die dem Gesetzgeber offenkundig vorschwebt – innerhalb eines Gremiums wohl kaum umsetzbar. Etwas anderes würde freilich gelten, wenn die verfassungsrechtlichen Anforderungen hinsichtlich der Kontrolle von Inland-Ausland- und Ausland-Ausland-Telekommunikation gleichgelagert wären. Bei dem Unabhängigen Gremium handelt es sich – analog der G 10-Kommission – um ein Kontrollorgan sui generis902, welches bei seiner Tätigkeit gerichtsähnliche mit exekutiven Kontrollelementen vereint903. Das Gremium setzt sich
898 Kritisch zu einer Zersplitterung der Kontrolllandschaft Gärditz, Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 532, der von einem „Kontroll-Overkill“ spricht; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 228; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 16; kritisch auch aus der Praxisperspektive der ehemalige Präsident des BND G. Schindler, Stellungnahme, AS-Drs. 18(4)653 D, S. 4 ff. 899 Kritisch hierzu schon im Ansatz Waldhoff, Kontrolle (Fn. 479), S. 87. 900 Dafür etwa Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 1; Brissa, Entwicklungen (Fn. 485), S. 773; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 532. 901 Dahingehend auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 320; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 165. 902 Zur G 10-Kommission siehe erneut BVerfGE 143, 1 (10, Rn. 34, 13 f., Rn. 41); zum unabhängigen Gremium Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 327; dahingehend auch schon Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 3; Brissa, Entwicklungen (Fn. 485), S. 772 f.; a. A. wohl Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 225, der von einem reinen Verwaltungsorgan ausgeht. 903 Waldhoff, Kontrolle (Fn. 479), S. 87, spricht von einer „unklaren Zwischenzone zwischen gerichtlicher und exekutiver Kontrolle“.
IV. Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
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gemäß § 16 I, II BNDG aus Vertretern der höchsten Strafjustiz zusammen, die das Bundeskabinett für die Dauer von sechs Jahren beruft904. Diese nehmen die Tätigkeit neben ihrem Hauptamt wahr, was jedoch nicht klar aus dem Gesetz zu entnehmen ist905. Gegen die Betrauung von Strafrichtern und Staatsanwälten mit der Kontrolle der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung und die räumliche Trennung zwischen der Geschäftsstelle des Unabhängigen Gremiums in Karlsruhe und dem Sitz des Bundesnachrichtendienstes in Berlin bzw. Pullach wurde schnell Kritik laut906. In der Tat hätte es sachlich näher gelegen, die ohnehin schon vorhandene Kompetenz beim für den Bundesnachrichtendienst zuständigen sechsten Senat des Bundesverwaltungsgerichts zu nutzen und auf das dort gesammelte Hintergrundwissen für eine effektive Kontrolle zurückzugreifen907. Ebenfalls hätte Geheimschutzbelangen durch die bereits vorhandenen Verfahren nach §§ 99 II, 189 VwGO ohne zusätzliche Hürden Rechnung getragen werden können908. Allerdings wird grundsätzlich nachvollziehbar kritisiert, dass die Besetzung mit Richtern eine gerichtliche Kontrolle insinuiere, die das Unabhängige Gremium aber schon aufgrund seines Zuschnittes und „mangels rechtsprechender Tätigkeit“ schon nicht leisten könne909. Zudem wurde moniert, dass das Unabhängige Gremium an die Stelle des Rechtsweges trete und deswegen die Berufung der Mitglieder durch das Bundeskabinett mit Art. 10 II 2 GG nicht verein-
904 Das Gremium setzt sich konkret aus zwei Richterinnen oder Richtern am Bundesgerichtshof und einer Bundesanwältin oder einem Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof zusammen, § 16 I 3 BNDG. 905 So jedoch die Aussage der ehemaligen Vorsitzenden des Unabhängigen Gremiums Cirener in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/ 17; zur Unklarheit im Gesetz Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 6. 906 Waldhoff, Kontrolle (Fn. 479), S. 87 f.; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 532 kritisiert die Distanz und plädiert für eine Überantwortung der Kontrolle – wenn schon an ein Gericht – an das BVerwG, das ohnehin über Klagen gegen den Bundesnachrichtendienst erstinstanzlich gemäß § 50 I Nr. 4 VwGO entscheide; ihm folgt Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 5; kritisch zur örtlichen Segregation auch Brissa, Entwicklungen (Fn. 485), S. 773; keine Einwände hat indes Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 322, der von einer bewussten Betonung der Unabhängigkeit des Unabhängigen Gremiums durch den Gesetzgeber ausgeht. 907 A. A. wohl Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 215, der davon spricht, dass durch die BGH-Richter und Bundesanwälte sichergestellt werde, dass das Unabhängige Gremium seine Kontrolle mit der nötigen „Sachkunde“ ausübe. Die generelle juristische Qualifikation von Richtern am BGH und Bundesanwälten steht bei dieser Senioritätsebene innerhalb der Justiz außer Frage. Die Strafjustiz ist jedoch im Regelfall nicht mit nachrichtendienstspezifischen Rechtsfragen befasst und verfügt schon deshalb nicht über dieselben Erfahrungswerte – auch in Hinsicht auf die praktische Durchführung der Überwachung – wie das BVerwG. 908 Dies betont zu Recht Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 532; ausführlich zu den Geheimschutzregeln im Verwaltungsprozessrecht Wöckel (Fn. 489), § 3 Rn. 34 ff. 909 Waldhoff, Kontrolle (Fn. 479), S. 88.
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C. Historie der Auslandstelekommunikationsüberwachung
bar sei910. Dies wirft jedoch erneut die Frage nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen – abseits reiner Funktionalitätserwägungen – an die Kontrolle der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auf, worauf noch an gegebener Stelle zurückzukommen sein wird. Bereits bei reiner Analyse der Kontrolldimension wird offensichtlich, dass die Qualität der Kontrolle durch das Unabhängige Gremium deutlich hinter der der G 10-Kommission zurückbleibt911. In der Sache beschränkt sich die Kontrolle schließlich auf die teils bereits skizzierten Fälle einer Zulässigkeits- und Notwendigkeitsprüfung einer Anordnung des Bundeskanzleramtes (§ 9 IV BNDG) und der Anordnung von Selektoren zur direkten Erfassung von EU-Zielen nach § 9 II in Verbindung mit § 6 III 1 Nr.1 und 2 BNDG (§ 9 V BNDG)912. Eine Befugnis zur stichprobenartigen Kontrolle der EU-Selektoren ergibt sich ferner aus § 9 V 3 BNDG. Zudem ist das Unabhängige Gremium befugt, die Einhaltung der Vorgaben einer automatisierten Übermittlung innerhalb einer Kooperation sowie insoweit die Beachtung des Kernbereichsschutzes zu überwachen, § 15 III 7 BNDG. Schon die Aufsplitterung der eingeschränkten Prüfkompetenzen innerhalb des Gesetzes erschwert einen schnellen Zugriff auf die Kontrollkompetenzen des Gremiums. Besonders ins Gewicht fällt aber – im direkten Vergleich mit der G 10-Kommission –, dass das Unabhängige Gremium über keine eigenen Auskunfts-, Einsichts- und Betretungsrechte verfügt913. Im Unterschied zur G 10Kommission ist das Unabhängige Gremium – von den Sonderfällen der direkten Steuerung von EU-Zielen abgesehen – zudem nicht in die ex-ante-Kontrolle der Selektoren eingebunden914.
910 So etwa Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 7; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 274 f.; Papier, Fernmeldeüberwachung (Fn. 26), S. 22 f.; a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 322, der die Anwendbarkeit von Art. 10 II 2 GG mangels Rechtswegausschlusses im BNDG verneint. 911 So die Wertung bei Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 1; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 228; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 156; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 165. 912 Zusammenfassung der Einzelkompetenzen bei Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 2. 913 So auch die Kritik in den in Fn. 911 nachgewiesenen Beiträgen. 914 Kritisch insoweit auch Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 225.
D. Grundsatzurteil zur Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung – eine erste Annäherung Das bereits mehrfach erwähnte Grundsatzurteil des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 stellt eine Zäsur für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, aber auch für das Recht der Nachrichtendienste insgesamt dar915. Standen zu Beginn der Untersuchung noch die allgemeinen Aussagen zum Nachrichtendienstrecht und dessen Eingliederung in ein immer stärker konturiertes allgemeines Eingriffsrecht für heimliche Informationserhebungen im Fokus916, soll hier eine erste Annäherung an das Urteil aus einem spezifisch auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung des Bundesnachrichtendienstes gerichteten Blickwinkel erfolgen. Im Vergleich zur letzten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur strategischen Fernmeldeaufklärung von vor 20 Jahren917 ist das verfassungsgerichtliche Update bezüglich technischer Aufklärung durch Nachrichtendienste erheblich detaillierter ausgefallen918. Deshalb soll hier zunächst
915 Zum Urteil mit ersten Einschätzungen siehe die Entscheidungsbesprechungen im Printformat von Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 825 ff.; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 715 ff.; Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 409 ff.; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 175 ff.; B. Huber, Das BVerfG und die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des BND, in: NVwZ-Beilage 2020, S. 3 (3 ff.); S. Schmahl, Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt im Ausland, in: NJW 2020, S. 2221 (2221 ff.); W. Durner, Schiffbruch der BND-Novelle 2016, in: DVBl. 2020, S. 951 (951 ff.); S. Muckel, Fernmeldeaufklärung im Ausland im BND-Gesetz verfassungswidrig geregelt, in: JA 2020, S. 631 (632 ff.); M. Sachs, Grundrechte: Geltung für Ausländer im Ausland, in: JuS 2020, S. 705 (706 ff.); M. Löffelmann, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17, in: JR 2020, S. 515 (515 ff.); T. Barczak, Vom rechtsfreien Raum zum raumlosen Recht?, in: BayVBl. 2020, S. 685 (685 ff.); C. Timu, Entwicklung des Nachrichtendienstrechts und Grundrechtstheorie: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17, in: VR 2020, S. 370 (370 ff.); Zusammenfassung der Kernaussagen bei H. Hofmann/S. Lukosek/F. Schulte-Rudzio, Das Gewicht der Sicherheit als Herausforderung des liberalen Verfassungsstaates, in: GSZ 2020, S. 233 (241 ff.). 916 Oben allgemein zu Nachrichtendiensten in der Sicherheitsverfassung B. II. 4. sowie 5. 917 Das Urteil des BVerfG war schon aufgrund der bereits dargelegten faktischen Veränderung der Telekommunikation und deren Alltagsdimension schlicht veraltet. Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 131 f., geht ebenso von veralteten Maßstäben des dritten Abhörurteils des BVerfG von 1999 aus; maßgeblich in diese Richtung auch Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 9 m. Fn. 21; ders., Reform (Fn. 192), S. 147; ders., Erhebung (Fn. 12), S. 9. 918 Siehe auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 716, der zu Recht von einer „sehr umfangreichen Entscheidung“ spricht.
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D. Grundsatzurteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
ein summarischer Überblick über das ausladende Urteil919 des Ersten Senats erfolgen – die Detailwertungen sind im Rahmen einer grundlegenden verfassungsrechtlichen Anforderungsanalyse an die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung jeweils aufzugreifen und zu werten. Aufgrund der Komplexität sei – ganz im richterlichen Duktus – zunächst das Ergebnis vorangestellt: Die Novelle der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ist, wie bereits von den zahlreichen kritischen Stimmen zur Reform erwartet worden war, nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts in weiten Teilen mit dem Fernmeldegeheimnis und der Pressefreiheit unvereinbar920.
I. Strategisch ausgewählte Beschwerdeführer und ihr Vortrag Die Beschwerdeführer haben ihr Ziel mithin klar erreicht921. Die JournalistenOrganisation Reporters sans frontières, mit Sitz in Frankreich, einzelne Journalisten – ohne deutsche Staatsangehörigkeit – mit Wohnsitzen unter anderem in Aserbaidschan, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Slowenien, Mexiko und Nordmazedonien, von denen einer für eine mexikanische Nichtregierungsorganisation tätig ist, sowie ein deutscher Staatsbürger mit Wohnsitz in Guatemala, seinerseits tätig für ein dortiges Menschenrechtsbüro und die Internationale Juristenkommission in Genf, hatten die Verfassungsbeschwerde erhoben922. Die durchaus bunte Mischung an Beschwerdeführern – Parteien oder Politiker such man vergebens – ist das Resultat einer strategischen Prozessführung, initiiert durch die Gesellschaft für Freiheitsrechte, mit der spezifische Konfliktpunkte der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung erst verfassungsrechtlich rügefähig gemacht werden sollten923. Offenkundig ist, dass selbstredend nicht deutsche 919 Die vom BVerfG zur Verfügung gestellte Printversion misst immerhin 122 Seiten, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs 20200519_1bvr283517.html; insoweit bietet sich bereits der Vergleich mit dem BKAGUrteil an, was seinerzeit auch schon bereits durch seine rein physische Präsenz auf Papier bestach, was Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 998, zu Recht als Ausdruck von dessen Detaillierungsgrad ausweist. 920 Nr. 1 und 2. des Tenors von BVerfGE 154, 152; konkret sind die §§ 6, 7, 13 bis 15 BNDG und die §§ 19, 24 I 1, II 1, III BNDG, soweit sie Daten betreffen, die im Rahmen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung erhoben wurden, verfassungswidrig. Die §§ 9 bis 11, 19, 19, 20 ,22, 32, 32a BNDG verlieren insoweit ihren Anwendungsbereich, als dass sie die für verfassungswidrig erklärten Erhebungsbefugnisse nicht hinreichend rechtsstaatlich flankieren (Rn. 327). 921 Siehe hierzu nur die Eigeneinschätzung der GFF in ihrer Pressemitteilung, abrufbar unter https://freiheitsrechte.org/pm-bndg-urteil/ (30.5.2020). 922 BVerfGE 154, 152 (192, Rn. 34). 923 Zum strategischen Prozessansatz zur Erreichung politischer und gesamtgesellschaftlicher Zwecke statt zur originären Beilegung individueller Rechtskonflikte vgl. ausführlich L. Hahn, Strategische Prozessführung, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 39 (2019), S. 5 ff.; siehe auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 717 sowie die
I. Strategisch ausgewählte Beschwerdeführer und ihr Vortrag
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Staatsbürger mit ständigem Wohnsitz außerhalb Deutschlands – teils aber in der Europäischen Union – unter den Beschwerdeführern sein mussten, um die Frage der Auslandsgeltung der Grundrechte für sie erst aufzuwerfen. Der deutsche Rechtsanwalt mit Wohnsitz in Lateinamerika, der für eine ausländische juristische Person des Privatrechts tätig ist, eröffnet zudem das Problem, ob der Grundrechtsträger in seiner beruflichen Funktion auch dem Grundrechtsschutz unterliegt oder ob dieser entfällt, falls der juristischen Person ein solcher nicht gemäß Art. 19 III GG zukommt. Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer – selbstverständlich – eine Verletzung des Fernmeldegeheimnisses und, soweit die journalistisch tätig sind, eine Verletzung von Art. 5 I 2 GG924. Die Ungleichbehandlung von deutschen und Unionsbürgern bzw. in der Union ansässigen juristischen Personen – hier der Reporters sans frontières – wird durch die Beschwerdeführer ebenfalls als verfassungswidrig eingestuft925. Sie machen geltend, dass sie durch ihre Arbeit eine Vielzahl von elektronischen Telekommunikationsmitteln verwendeten und zu Themenkomplexen und mit Personen – namentlich Informanten – in Erdregionen in Fernmeldekontakt stünden, die naheliegend in die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes geraten könnten926. Aufgrund der Geheimhaltung erlangen die Betroffenen bei der strategischen Aufklärung des Bundesnachrichtendienstes in den allermeisten Fällen keine Kenntnis von der Überwachung927. Angesichts der enormen Streubreite der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung sei es – was ausreiche – einigermaßen wahrscheinlich, in die Erfassung des Bundesnachrichtendienstes zu gelangen; das gelte auch für den deutschen Beschwerdeführer, obschon der Bundesnachrichtendienst mit technischen Mitteln versuche, diese Kommunikation auszufiltern928. Die Beschwerdeführer tragen vor allem die bereits in der Literatur breit geäußerte Kritik gegen die Annahme eines territorial beschränkten Schutzbereiches der Grundrechte vor und beanspruchen deren Geltung auch für sich929. Jedenfalls in ihrer Funktion als Abwehrrechte seien Art. 10 und 5 I 2 GG nicht auf Deutsche oder das Staatsgebiet der Bundesrepublik beschränkt930. Zudem könne die fundamentale Frage des Grundrechtsschutzes nicht von einer technisch unsicheren Trennung von rein inländischer, internationaler und Ausland-Ausland-TeleEigenaussage der Gesellschaft für Freiheitsrechte unter https://freiheitsrechte.org/strate gische-klagen/ (30.5.2020). 924 BVerfGE 154, 152 (191, Rn. 33). 925 BVerfGE 154, 152 (191 f., Rn. 33). 926 BVerfGE 154, 152 (192 f., Rn. 35). 927 Siehe dafür nur die Ausführungen des Gerichts zur Zulässigkeit BVerfGE 154, 152 (209 f., Rn. 72). 928 BVerfGE 154, 152 (193, Rn. 36). 929 BVerfGE 154, 152 (194 f., Rn. 39). 930 BVerfGE 154, 152 (194 f., Rn. 39).
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D. Grundsatzurteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
kommunikation abhängig gemacht werden931. Da die Grundrechte Anwendung fänden, seien die Vorschriften im BNDG schon wegen des Verstoßes gegen das Zitiergebot formell verfassungswidrig und genügten auch grundlegenden materiellen Anforderungen sowohl hinsichtlich der Datenerhebungs- und Verarbeitungsvorschriften als auch der Übermittlungsbefugnisse nicht; selbiges gelte für die Kooperation932.
II. Wiederholung größtenteils bekannter Linien: Der Vortrag der Bundesregierung Die Bundesregierung hat im Verfahren die herausragende öffentliche Bedeutung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung zur außen- und sicherheitspolitischen Information der Bundesregierung hervorgehoben und die Notwendigkeit zur Kooperation mit internationalen Partnerdiensten betont933. Die im BNDG vorgesehenen Mittel seien zur Zielerreichung bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung notwendig und zielgenau; eine pauschale Massenüberwachung finde schon aus Kapazitätsgründen nicht statt934. Die vom Bundesnachrichtendienst eingesetzten Filtersysteme seien höchst verlässlich und würden ständig weiter entwickelt935. Es sei schon unwahrscheinlich, dass die Beschwerdeführer überhaupt vom Bundesnachrichtendienst erfasst worden seien; erst recht sei eine weitere Verarbeitung der Daten äußerst spekulativ936. Die „Hauptverteidigungslinie“ der Bundesregierung bleibt jedoch das Argument, dass die Grundrechte für die ausländischen Beschwerdeführer schon nicht gelten würden: Die Grundrechte seien nach der Präambel auf das „deutsche Volk“ und das Territorium der Bundesrepublik beschränkt937. Wollte man die Grundrechte – insbesondere in der Funktion als subjektive Abwehrrechte – auf das Ausland erstrecken, stelle dies eine Einmischung in eine fremde Rechtsordnung und einen Verstoß gegen das völkerrechtliche Territorial- und Souveränitätsprinzip dar938. Zudem trete der deutsche Staat und mithin der Bundesnachrichtendienst einem Ausländer im Ausland nicht mit Hoheitsgewalt gegenüber, weswegen dann auch die Grund931 BVerfGE 154, 152 (195, Rn. 39); zur technischen Unzulänglichkeit der technischen Filterung von nationaler, internationaler und Ausland-Ausland-Telekommunikation nehmen die Beschwerdeführer auf ein von ihnen eingereichtes Sachverständigengutachten Bezug: BVerfGE 154, 152 (196, Rn. 41). 932 BVerfGE 154, 152 (195 f., Rn. 40). 933 BVerfGE 154, 152 (196 f., Rn. 44). 934 BVerfGE 154, 152 (197, Rn. 44). 935 BVerfGE 154, 152 (197 f., Rn. 44). 936 BVerfGE 154, 152 (198, Rn. 45). 937 BVerfGE 154, 152 (199, Rn. 47); sehr kritisch zum Festhalten der Bundesregierung an dieser Rechtsauffassung B. Schiffbauer, Die Würde des Rechtsstaats ist unantastbar, abrufbar unter https://www.juwiss.de/75-2020/ (30.5.2020). 938 BVerfGE 154, 152 (199, Rn. 47).
III. Die wesentlichen Erwägungen des Ersten Senats
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rechtberechtigung nicht gegeben sei939. Im Übrigen könnten sich deutsche Staatsangehörige, die für eine ausländische juristische Person tätig seien, gleichfalls nicht auf Grundrechte berufen940. Hilfsweise unterstreicht die Bundesregierung – vergleichsweise knapp – noch die Verhältnismäßigkeit der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, welche hinreichend bestimmt, klar umgrenzt und, trotz ihrer Eingriffstiefe, auch aufgrund verfahrensrechtlicher Sicherungen und externer Kontrolle angemessen sei941.
III. Die wesentlichen Erwägungen des Ersten Senats 1. Zulässigkeit als Ausblick auf die Grundsatzentscheidung Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bejaht der Senat, wenngleich er schon hier auf einige Problemkreise eingeht und hier schon umfangreiche Ausführungen macht942. Teilweise beantwortet er Strittiges bereits oder schickt jedenfalls seine Rechtsansicht voraus bzw. lässt diese – etwa in Bezug auf europarechtliche Implikationen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – durchscheinen. Die Frage nach der Grundrechtsgeltung für Ausländer im Ausland sei bisher nicht abschließend geklärt, weswegen eine Grundrechtsverletzung jedenfalls möglich erscheine und die Beschwerdebefugnis gegeben sei943. Schon auf Zulässigkeitsebene stellt der Senat hingegen klar fest, dass Grundrechtsträger, die für eine juristische Person handelten, ihren Schutz nicht schon aufgrund der ausgeübten Funktion verlören, da der ihnen als Person zukomme944. Damit räumt er bereits eine postulierte Grundrechtseinschränkung aus dem Weg. Die ebenfalls virulente Frage, ob einer ausländischen juristischen Person mit Sitz in der Europäischen Union Grundrechtsschutz aufgrund des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots zustünde, lässt der Senat letztendlich offen945. Ob das Recht der Nachrichtendienste überhaupt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, wirft komplexe Abgrenzungsprobleme zwischen nationalem und Unionsrecht auf. Das Erste Senat scheint die Anwendbarkeit jedenfalls aber für möglich zu halten946. Eine zur Klärung zwingende Vorlage an den Gerichtshof nach Art. 267 III AEUV verneint er sodann aber, da dies jedenfalls nicht entscheidungserheblich sei947. 939 940 941 942 943 944 945 946 947
BVerfGE 154, 152 (199, Rn. 47). BVerfGE 154, 152 (200, Rn. 48). BVerfGE 154, 152 (200 f., Rn. 49). BVerfGE 154, 152 (203 ff., Rn. 56–85). BVerfGE 154, 152 (205, Rn. 61). BVerfGE 154, 152 (207 ff., Rn. 68 ff.); dazu ausführlich unter F. I. 2. BVerfGE 154, 152 (205 ff., Rn. 62 ff.); zum Ganzen ausführlich unter G. II. BVerfGE 154, 152 (206 f., Rn. 64 f.). BVerfGE 154, 152 (207, Rn. 66, 215, Rn. 85, 310 f., Rn. 328).
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D. Grundsatzurteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
Die Beschwerdeführer seien auch unmittelbar, selbst und gegenwärtig betroffen und der Grundsatz der Subsidiarität gewahrt948. Entsprechend seiner ständigen Rechtsprechung verweist das Bundesverfassungsgericht die Beschwerdeführer nicht darauf, weitere Vollzugsakte auf Grundlage des BNDG abzuwarten, da eine Kenntniserlangung von den Maßnahmen kaum möglich bzw. ausgeschlossen und auch durch Auskunftsrechte gemäß § 22 BNDG nicht zu erlangen sei949. Dies überzeugt, da allenfalls für den deutschen Staatsbürger gemäß § 10 IV 2 BNDG eine nachträgliche Benachrichtigung überhaupt vorsehen gewesen wäre. Dass die Beschwerdeführer als Journalisten mit Informanten-Kontakt und potentiell nachrichtendienstlich relevanten Arbeitsgebieten selbst von der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung betroffen sein könnten, ist angesichts der Vielzahl von Telekommunikationsvorgängen im heutigen Arbeitsleben nicht besonders fernliegend, weswegen der Erste Senat diese Zulässigkeitsschwelle denn auch ohne Weiters nimmt950. Hierzu verweist das Gericht, in Einklang mit seiner langjährigen Rechtsprechung, auf die Streubreite der Maßnahme und der geheimen Folgemaßnahmen, wodurch die Wahrscheinlichkeit einer Betroffenheit in individuellen Rechten dargelegt sei951. Dies gelte auch für den deutschen Rechtsanwalt in Guatemala, der zwar an sich nicht unter die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung falle (§ 6 IV BNDG)952, allerdings durch Filterfehler dennoch erfasst werden könne. Die Verfassungsbeschwerde wahrt für den Senat auch die Anforderungen der Subsidiarität. Hier nutzt das Gericht die Gelegenheit, kürzlich gemachte Ausführungen zur Zulässigkeit von Rechtssatzverfassungsbeschwerden zu präzisieren. In einer Entscheidung zu automatisierten Kennzeichenerfassungsvorschriften in Baden-Württemberg und Hessen hat der Erste Senat ausführlich die Anforderungen an den Subsidiaritätsgrundsatz bei einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz beschrieben und hohe Anforderungen gestellt953. Danach bedürfe es auch bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde der Ausschöpfung aller fachgerichtlichen Rechtsbehelfe – in Form von Feststellungs- und Unterlassungsklagen – 948
BVerfGE 154, 152 (209 ff., Rn. 71 ff.). BVerfGE 154, 152 (208 f., Rn. 72); grundlegend zur Zulässigkeit von Rechtssatzverfassungsbeschwerden unlängst BVerfGE 150, 309 (324, Rn. 35); wie hier auch schon zum artverwandten Problem beim BKAG BVerfGE 141, 220 (261 f., Rn. 82); 120, 372 (394); zu den Auskunftsrechten vertieft P. Wolff, Auskunfts- und Informationspflichten der Nachrichtendienste, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. VIII § 1 Rn. 20 ff. Sehr weit geht jüngst BVerfGE 156, 11 (33 f., Rn. 59), wo eine gegenwärtige Betroffenheit der Beschwerdeführer angenommen wurde, obschon der streitgegenständliche § 6a ATDG in der Praxis noch nicht angewandt wird; kritisch dazu Löffelmann, Anmerkung (Fn. 125), S. 33. 950 BVerfGE 154, 152 (210 f., Rn. 73 ff.). 951 BVerfGE 154, 152 (210 f., Rn. 74) unter Verweis auf BVerfGE 141, 220 (262, Rn. 84); 133, 277 (312 f., Rn. 86 f.); 100, 313 (356). 952 BVerfGE 154, 152 (211, Rn. 75). 953 BVerfGE 150, 309, 1. Leitsatz, (326 ff., Rn. 40 ff.). 949
III. Die wesentlichen Erwägungen des Ersten Senats
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selbst wenn diese allenfalls dazu führen könnten, dass das Fachgericht eine Vorlage nach Art. 100 I GG vornähme954. Etwas anderes gelte nur, wenn es sich um spezifisch verfassungsrechtliche Fragen handele und von einer vorangegangenen Prüfung durch Fachgerichte keine verbesserte Entscheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht zur erwarten sei955. Bei der vorliegenden Entscheidung betont der Senat, dass es bei dieser Sonderkonstellation – die im Falle der Regelungen des BNDG einschlägig ist – auch in Zukunft bleibe956; somit beseitigt der Senat etwaige Unklarheiten jedenfalls in Bezug auf Sicherheitsgesetze, bei denen es um die grundsätzliche Frage einer Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geht. Zudem weist das Bundesverfassungsgericht noch auf eine gravierende Erschwernis bei der Erlangung fachgerichtlichen Rechtsschutzes vor dem gemäß § 50 I Nr. 4 VwGO erstinstanzlich zuständigen Bundesverwaltungsgericht im Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung hin, was sich jedoch auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung übertragen lässt. Das Bundesverwaltungsgericht stellt in einer Reihe von Entscheidungen sehr hohe und im Ergebnis für die Kläger regelmäßig nicht erfüllbare Anforderungen an die Darlegung eines feststellungsfähigen Rechtsverhältnisses im Sinne des § 43 I VwGO957. Da der Kläger in den Verfahren aufgrund der Geheimhaltung nicht sicher war, ob er – wie vermutet – von Aufklärungsmaßnahmen des Bundesnachrichtendienstes betroffen war oder nicht bzw. seine Daten zwischenzeitlich als nachrichtendienstlich irrelevant gelöscht wurden, verneinte das Bundesverwaltungsgericht im Ergebnis das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen958. Damit verlangt das Bundesverwaltungsgericht im Endeffekt den Nachweise des Klägers, dass seine Telekommunikation erfasst wurde – diesen wird er kaum jemals führen können959. Das Bundesverfassungsgericht stellt somit klar, dass die Beschwerdeführer auf Grundlage der instanzgerichtlichen Rechtsprechung – würde man diese als Subsidiaritätserfordernis auch hier verlangen – überhaupt keinen Rechtsschutz hätten erlangen können960. Das Gericht musste also ohnehin selbst über die Ausland954
BVerfGE 150, 309 (327, Rn. 44). BVerfGE 150, 309 (327, Rn. 44.); nunmehr auch BVerfGE 156, 11 (34, Rn. 60). 956 BVerfGE 154, 152 (212 f., Rn. 78 f.). 957 BVerwGE 161, 76 (78 Rn. 14); 157, 8 (12 f.; Rn. 16 ff.) – Härting II; BVerwG NVwZ 2014, 1666 (1668 ff., Rn. 19 ff.) – Härting I; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 834 m. Fn. 171, konstatiert zu Recht „kaum überwindbare Substantiierungshürden“. 958 BVerwGE 157, 8 (12 f.; Rn. 10 ff.); BVerwG NVwZ 2014, 1666 (1668 ff., Rn. 19 ff.). 959 Zu dieser Kritik auch eingehend Schantz, Rechtsschutz (Fn. 489), S. 875 ff. 960 BVerfGE 154, 152 (213, Rn. 80); auf den de facto-Ausschluss fachgerichtlichen Rechtsschutzes verweist auch Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 3 f.; schon in BVerfGE 143, 1 (21, Rn. 60) konnte man mit dem Verweis auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren im Zusammenhang mit der Feststellung der fehlenden Parteifähigkeit der G 10-Kommission im Organstreit einen versteckten Hinweis an den 6. Senat des BVerwG sehen, dass seine restriktive Linie verfassungsrechtlichen Vorga955
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D. Grundsatzurteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
Ausland-Fernmeldeaufklärung entscheiden, da die Beschwerdeführer anderenfalls de facto rechtsschutzlos gestellt worden wären961. An das Bundesverwaltungsgericht ist dieser Hinweis jetzt sehr deutlich. Dies überrascht gleichwohl, da das Bundesverfassungsgericht 2017 eine Verfassungsbeschwerde des Rechtsanwaltes Härting gegen die in Bezug genommene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen hatte962. 2. Lehrbuchartige Ausführungen zum Grundrechtsschutz samt detaillierter „Segelanweisung“ für den Gesetzgeber im Einzelnen Die Begründetheit gliedert sich in drei große Abschnitte, von denen schon rein mengenmäßig der Löwenanteil auf die Maßstabsbildung von allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung einer strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung entfällt963. Zunächst widmet sich das Bundesverfassungsgericht erstmals in seiner Rechtsprechung964 jedoch ausführlich der – im Gesamtkomplex technische Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst mit der höchsten Aufmerksamkeit bedachten – verfassungsdogmatischen Grundsatzfrage der Geltung der Grundrechte für Ausländer im Ausland, die wie „ein Elefant im Raum“ 965 steht966. Nach Ansicht des Ersten Senats löst sich dieser Elefant schnell in Luft auf: Art. 1 III GG begründe eine umfassende Grundrechtsbindung des deutsche Staates967; der Norm ließen sich keine Einschränkunben wohl nicht entspricht, so zumindest die Annahme bei Huber, Parteifähigkeit (Fn. 730), S. 1707. 961 Zum gleichgelagerten Problem schon beim BKAG-Urteil aufgrund des Urteils BVerwG NVwZ 2014, 1666 (1668 ff., Rn. 19 ff.) Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 990 m. Fn. 11. 962 BVerfG-K, Beschluss vom 26.4.2017 – 1 BvR456/17: Der Beschwerdeführer habe seine individuelle Betroffenheit durch die strategische Fernmeldeaufklärung nach §§ 5 ff. G 10 (konkret in Bezug auf § 6 I 5 G 10) nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Der EGMR hat eine hiergegen gerichtete Beschwerde unter dem Aktenzeichen 81996/17 (zusammen mit einer Beschwerde von Reporter ohne Grenzen, AZ: 81993/ 17) zur Entscheidung angenommen, siehe dazu auch den Bericht unter https://www. sueddeutsche.de/politik/bundesnachrichtendienst-egmr-geheimdienst-1.516994 (20.1. 2021). 963 BVerfGE 154, 152 (237–300, Rn. 136–300); für eine kompakte Zusammenfassung siehe auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 717 ff.; Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 3 ff. 964 Zur diesbezüglichen Premiere in der Rechtsprechung des BVerfG statt aller Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 717. 965 Pointiert der Berichterstatter Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 15. 966 Dazu eingehend F. I. 3. 967 Affirmativ in einer ersten Bewertung in Blogbeiträgen T. Schwander, Eine Antwort, viele neue Fragen, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/eine-antwort-vieleneue-fragen (30.5.2020); Schiffbauer, Würde (Fn. 937); B. Reinke, Rights reaching beyond borders, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/rights-reaching-beyond-bor ders/ (30.5.2020); aus der Aufsatzliteratur Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 717;
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gen entnehmen, die die Grundrechtsbindung staatlicher Gewalt von einem irgendwie gearteten territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder „der Ausübung spezifischer Hoheitsbefugnisse“ abhängig machten968. Postwendend schränkt der Senat diese fundamentale Aussage wieder ein, indem er sie ausdrücklich auf die streitgegenständliche abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte – sowie in concreto Art. 10 I und 5 I 2 GG – beschränkt969. Die Vorschriften der §§ 6 ff. BNDG griffen in das Fernmeldegeheimnis und die Pressefreiheit der Beschwerdeführer ein, letzteres insbesondere hinsichtlich des Telekommunikationskontaktes mit Informanten970. Die Grundrechteingriffe fänden jeweils auf verschiedenen Stufen der Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung statt971. Hier bleibt der Erste Senat in seinem Begründungsaufwand in der Gesamtschau der umfassenden Entscheidung vergleichsweise knapp und müht sich nicht in die Niederungen technischer Details der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung herab. Damit verschenkt er – so viel sei hier schon vorweggenommen – grundrechtliches Differenzierungspotential972. Die Frage einer Ungleichbehandlung von Unionsbürgern durch § 6 III BNDG als möglicher Eingriff in Gleichheitsrechte lässt der Senat auch hier ausdrücklich offen, denn der Anwendungsbereich des Unionsrechts ist – wie bereits erwähnt – insoweit nicht abschließend geklärt973. Eine Vorlage sei dem Senat nicht möglich, da die Vorschriften schon aus anderen Gründen verfassungswidrig seien974. Die Befugnisse der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung hält das Bundesverfassungsgericht im Übrigen für kompetenzkonform975, jedoch wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot schon formell für verfassungswidrig976. Der Erste Senat hätte es schon bei diesem Verdikt bewenden lassen können977, er wendet sich jedoch im Folgenden extensiv der materiell-rechtlichen Dimension zu, was den Anspruch als Grundsatzentscheidung mit Leitfunktion untermauert978. Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2221, spricht insoweit von einem „bahnbrechend[en]“ Urteil; ausführlich zur Position des BVerfG unter F. I. 3. g). 968 BVerfGE 154, 152 (215, Rn. 88). 969 BVerfGE 154, 152 (215, Rn. 87 f.); ausführlich hierzu unter F. I. 3. j). 970 BVerfGE 154, 152 (227 f., Rn. 111). 971 BVerfGE 154, 152 (228 ff., Rn. 113 ff.). 972 Dazu F. II. 1. 973 BVerfGE 154, 152 (228 f., Rn. 112). 974 BVerfGE 154, 152 (228 f., Rn. 112). 975 Dazu F. III. 1. 976 BVerfGE 154, 152 (232 ff., Rn. 121 ff., 236 f., 134 f.); siehe F. III. 2. 977 Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 4; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 834. 978 Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 719 ff. betont ebenfalls die sehr detaillierten Ausführungen des Senats; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 834, spricht vom „Monumentalstil“ des Berichterstatters Masing und weist darauf hin, dass 244 (!) der 326 Randnummern des Urteils auf die Ausarbeitung abstrakt genereller Maßstäbe entfallen.
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D. Grundsatzurteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
In Hinsicht auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung wird schon bei dem den Abschnitt einläutenden Obersatz deutlich, dass der Senat der im Sicherheitsrecht altbekannten – nicht zwangsläufig kritikwürdigen – Herangehensweise einer „Ja, aber“-Entscheidung auch hier folgt979. Im fünften Leitsatz spricht das Gericht von der „strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung“, die mit dem Fernmeldegeheimnis nicht grundsätzlich unvereinbar sei. Diese Formulierung – abseits des verwechselbaren Begriffs „Fernmeldeaufklärung“ – dürfte kein Zufall sein und wird jedenfalls in dieser Studie als übergreifender Terminus für sämtliche strategischen Aufklärungsansätze des Bundesnachrichtendienstes, sprich G 10 und BNDG, verstanden und verwendet. Im Urteil selbst heißt es sodann, dass das Grundgesetz dem „Instrument der strategischen Überwachung“ und der Kooperation mit Partnerdiensten zum Datentausch „nicht grundsätzlich entgegen“ stehe980. Die Befugnisse des BNDG genügten aber nicht sich aus den Grundrechten ergebenen „zentralen [übergeordneten] Anforderungen“ 981. Diese Anforderungen werden sodann – wie beim BKAG-Urteil – aus dem Gebot der Normenklarheit und Bestimmtheit982 sowie aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip – legitimer Zweck, Geeignet- und Erforderlichkeit werden nur am Rande gestreift – im engeren Sinne983 entwickelt984. Das Bundesverfassungsgericht nimmt – wie allgemein bereits beschrieben – Rekurs auf seine Rechtsprechung zu heimlicher präventiv-polizeilicher Überwachung und will diese, ausdrücklich unter Berücksichtigung seiner dritten Abhörentscheidung zum G 10, für das „Instrument der strategischen Überwachung als besonderes Mittel der Auslandsaufklärung“ insgesamt weiterentwickeln985. Hier liegt der Schwerpunkt der Entschei979 Mit selbiger Wertung Barczak, Raum (Fn. 915), S. 690; siehe exemplarisch etwa für eine „Ja, aber“-Entscheidung aus dem Sicherheitsrecht BVerfGE 125, 260 (316 ff.) zur Vorratsdatenspeicherung, wo der Senat ebenfalls ein gänzlich neues Ermittlungsinstrument zu begutachten hatte und dieses dem Grunde nach gestattet, aber hierfür einschränkende Regelungen aufstellt. Rusteberg, Entscheidung (Fn. 200) spricht von „sowohl-als-auch“-Entscheidungen, konkret in Bezug auf die Rechtsprechung zur automatisierten Kennzeichenerfassung II. 980 BVerfGE 154, 152 (237, Rn. 136). 981 So prononciert der Obersatz in BVerfGE 154, 152 (237, Rn. 136), der den „Dogmatikteil“ der Entscheidung einläutet; den Vergleich mit der Formulierung von „übergreifenden Anforderungen“ (BVerfGE 141, 220 [268, Rn. 103]) – die aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abgeleitet werden –, welche sich auch im BKAG-Urteil des Ersten Senats findet, betont ebenso Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411. 982 BVerfGE 154, 152 (237 ff., Rn. 137 ff.) mit Verweis auf BVerfGE 141, 220 (265, Rn. 94); siehe F. III. 3. 983 BVerfGE 154, 152 (239 ff., Rn. 141 ff.). 984 Zu den Parallelen, die sich schon aus dem Aufbau der Entscheidung ergeben, BVerfGE 141, 220 (267 ff., Rn. 98 ff.); es wird, wie beim BKAG-Urteil, gleichsam ein „Allgemeiner Teil“ dogmatischer Anforderungen aus der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne entwickelt, hierzu in Bezug auf präventiv-polizeiliche Rechtsprechung Trute, Rechtsprechungsanalyse (Fn. 196), S. 104; siehe auch Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 990, 996 f.; zum Ganzen F. III. 4. 985 BVerfGE 154, 152 (239 f., Rn. 141).
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dung, die stellenweise lehrbuchartige Ausführungen enthält. Aus der Perspektive des Nachrichtendienstrechts ist die Darlegung der nach Ansicht des Ersten Senats einschlägigen Maßstäbe für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung mindestens genauso bedeutend wie die Aussagen zur territorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses und der Pressefreiheit. Die heimliche, strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung – deren Eingriffsgewicht der Erste Senat reichlich abstrakt und ohne Rekurs auf die einfachgesetzlichen Normen oder tatsächlichen technischen Fähigkeiten vermisst – stelle vor allem aufgrund ihrer Anlasslosigkeit und Streubreite sowie der Metadatenbevorratung bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung eine Befugnis von „besonders schwerem Eingriffsgewicht“ dar986. Dies gelte grundsätzlich unabhängig davon, ob die Überwachung im In- oder Ausland erfolge oder sich auf Inländer, deutsche Staatsbürger oder Ausländer im Ausland beziehe987. Ebenjenes besondere Gewicht komme der „strategischen Telekommunikationsüberwachung“ insoweit zu, als sie auch nunmehr in Form der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auch die gezielte Überwachung anhand von formalen Selektoren ermögliche – hier bestehe ein entscheidender Unterschied zur Entscheidung von 1999988. Die bereits angesprochene Differenz zwischen der damaligen Situation und der heutigen Ausbreitung der Telekommunikation in alle Lebensbereiche, die mit unübersehbaren Datenmengen „inzwischen zunehmend jede Art individuellen Handelns und zwischenmenschlicher Interaktion in elektronischen Signalen“ durchdringe und somit für den Bundesnachrichtendienst überwachbar werde, greift das Bundesverfassungsgericht zur Bestimmung der Eingriffsintensität explizit auf 989. Zugleich erkennt der Senat das Offensichtliche an: Die heutigen Datenanalysemöglichkeiten und deren Aussagekraft – insbesondere von Metadaten – lasse sich mit den Mitteln von 1999 nicht mehr vergleichen990. Was genau diese neuen Methoden in technischer Hinsicht ausmacht, legt der Senat indes nicht offen, sondern verweist vielmehr allgemein darauf, dass mittlerweile Programme zur Spracherkennung, Übersetzung oder Bilderkennung schon einer allgemeinen Öffentlichkeit zur Verfügung ständen991. Hatte das Bundesverfassungsgericht in der dritten Abhörentscheidung noch eingehend auf die faktischen Umstände als intensitätsmindernde Faktoren abgestellt, verweist es jetzt richtigerweise auf die gegenteilige Entwicklung. Begrenzungsfaktoren erkennt der Erste Senat nur noch in der Tatsache, dass der Bundesnachrichtendienst nur einen Ausschnitt der Telekommunikation erfassen kann und in der Beschränkung auf infor986
BVerfGE 154, 152 (241 ff., Rn. 145 ff.). Ausdrückliche Festlegung in BVerfGE 154, 152 (241, Rn. 147). 988 BVerfGE 154, 152 (244, Rn. 152). 989 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151). 990 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151); siehe hierzu auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 719 f. 991 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151). 987
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D. Grundsatzurteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
mationelle Befugnisse des Dienstes, die zudem in erster Linie auf das Inland begrenzt seien992. Die strategische Überwachung könne aber trotz der besonders hohen Eingriffsintensität als spezifische „Ausnahmebefugnis“ zur Auslandsaufklärung gerechtfertigt sein, wenn sie auf eine Behörde ohne eigene Exekutivbefugnisse beschränkt bleibe und mit deren speziellen Aufgabenprofil in Verbindung stehe, obschon sie auf klassische sicherheitsrechtliche Einschreitschwellen verzichte und nur „final angeleitet und begrenzt“ 993 sei994. Der Gesetzgeber habe aber zahlreiche einschränkende Maßgaben zur Datenerfassung, Verarbeitung und Auswertung aufzustellen, wie eine Kapazitätsbegrenzung, Regelungen über die technischen Filter, Ausdifferenzierung der Überwachungszwecken und des Verfahrens, den Umgang mit Suchbegriffen, die Methoden der Datenauswertung, Lösch- und Protokollpflichten einschließlich solcher für Datensammlungen sowie für den Schutz des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung und besonderer Vertrauensbeziehungen995. Dezidierte Anforderungen werden auch für die Datenübermittlung anhand des für das gesamte Sicherheitsrecht als allgemeingültig erklärten Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung996 und den Einsatz der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung innerhalb einer Kooperation aufgestellt997. Hinzuträten hohe, übergeordnete Anforderungen an die Kontrolle der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, als Kompensation für fehlende Transparenz und Rechtsschutzmöglichkeiten, die nach den gleichfalls sehr detaillierten Vorgaben des Senats gänzlich neu zu regeln sein dürften998. Hierbei bemüht das Bundesverfassungsgericht bisweilen eine immense Detailtiefe: So definiert der Senat z. B. auch die Sachmittelausstattung, die Berufserfahrung des vorzusehenden richterlichen Personals und gibt sogar die Größenordnung personeller Schlagkraft der unabhängigen Kontrollinstanz vor999. 992
BVerfGE 154, 152 (241 f., Rn. 148, 249 f., Rn. 165). BVerfGE 154, 152 (245, Rn. 157). 994 BVerfGE 154, 152 (244 ff., Rn. 154 ff., 250, Rn. 166); dazu ausführlich unter F. III. 4. d). 995 So die reine Auflistung (!) in BVerfGE 154, 152 (251, Rn. 169); siehe auch den Verweis hierauf bei Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 953; Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411. 996 BVerfGE 154, 152 (265 ff., Rn. 211 ff.); zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Datenübermittlungen F. III. 5. 997 BVerfGE 154, 152 (278 ff., Rn. 243 ff.). 998 BVerfGE 154, 152 (286 ff., Rn. 265 ff., 290 ff., Rn. 272 ff.); hierzu in einem ersten Zugriff auch C. Benz, Konsequenzen aus dem BND-Urteil – das Ende der Kooperation?, abrufbar unter https://www.juwiss.de/77-2020/ (30.5.2020); siehe ausführlich zur operativen Nachrichtendienstkontrolle F. III. 6. 999 BVerfGE 154, 152 (295 f., Rn. 288); dezidiert kritisch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181, der bezweifelt, dass solche „Mikromaßgaben“ aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgen sollen; ebenso Muckel, Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 635; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832. 993
III. Die wesentlichen Erwägungen des Ersten Senats
197
All das – was hier erst angerissen ist – destilliert der Erste Senat „relativ freihändig“ aus der Angemessenheit einer Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 10 I GG und Art. 5 I 2 GG durch die §§ 6 ff. BNDG1000. Am Ende dieser detailliertesten Maßstabsausführungen beschäftigt sich der Senat mit den konkreten einfachrechtlichen Befugnissen nur noch im groben Zügen, da diese schon formell verfassungswidrig seien1001. Es werden schlicht die offensichtlichen Verstöße gegen die soeben aufgestellten Maßstäbe herausgestellt. Einem derart konkreten Anforderungskatalog konnten die Vorschriften zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung schon wegen der gesetzgeberischen Prämisse eines grundrechtsungebundenen Handelns des Bundesnachrichtendienstes schlechterdings nicht entsprechen1002. Das Ergebnis hätte nicht klarer ausfallen können – praktisch alles, was in der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung geregelt wurde, ist schon im Ansatz nicht mit der Auslegung des Grundgesetzes durch den Ersten Senat vereinbar. Auf diese Wertungen wird bei der verfassungsrechtlichen Analyse im Detail jeweils zurückzukommen sein.
1000
Pointiert Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830. BVerfGE 154, 152 (300 ff., Rn. 301 ff.): „zentrale Defizite“; diesen bemerkenswerten Unterschied zwischen Maßstabsbildung in monographischer Stärke und einer gleichsam kursorischen Prüfung der einfachgesetzlichen Rechtslage betont auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 719; ebenso Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 834; dazu F. IV. 1002 So ebenfalls erneut Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 719. 1001
E. Technische Hintergründe, praktische Umsetzung und Differenzierungsprobleme der technischen Fernmeldeaufklärung: Erkenntnisse der Post-Snowden-Ära I Nachdem die normativen Hintergründe und der rechtliche „Ist-Stand“ dargelegt worden sind, ist nunmehr die tatsächliche Anwendung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung unter den heutigen faktischen Gegebenheiten zu analysieren. Das gesamte Instrument zeichnet sich durch einen hohen Grad technischer Komplexität aus. Insbesondere das Internet und die immer größere Verbreitung der hierauf gestützten Kommunikationsvorgänge werfen technologische Verständnisfragen auf. Zwar sollen im Rahmen dieser Untersuchung die rechtswissenschaftlichen Problemfelder klar im Vordergrund stehen; gleichwohl ist ein Grundverständnis der informationstechnischen Vorgänge unerlässlich, um die Umsetzung bzw. Umsetzbarkeit der rechtlichen Vorgaben und ihre Präzision einschätzen zu können. Ohne entsprechende informationstechnische Kenntnisse ist die Arbeit der Nachrichtendienste im Bereich der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung mittlerweile „überhaupt nicht mehr zu verstehen“ 1003. Die Debatte hierüber muss mithin auch immer eine des technisch Machbaren, nicht nur eine des normativ Zwingenden sein. In der galoppierenden Digitalisierung liegt gleichsam eine drohende Gefahr für die Rechtswissenschaft: Die Einschätzung von Überwachungstechnologien und deren verhältnismäßigen Einsätzen im freiheitlichen Rechtsstaat einem geballten informationstechnischem Expertenwissen zu überlassen (bzw. zwangsläufig überlassen zu müssen). Die Beantwortung rechtlicher Fragen im Bereich der Überwachungstechnologien setzt das Verständnis von komplexen technischen Fachfragen voraus, die nicht immer leicht zugänglich sind1004. Grundlagenwissen ist jedoch hierfür unverzichtbar, um die gesellschaftlichen Folgen von Überwachungstechniken noch abschätzen zu können und mithin ihr Potential zur Freiheitseinschränkung1005. Insbesondere gilt dies in einem Feld, in dem sich rechtliche Normierungen und hieraus resultierende Einhegungen staatlicher Eingriffsbefugnisse auf technische Möglichkeiten beziehen und somit auch verlassen. 1003 Prononciert Brissa, Entwicklungen (Fn. 485), S. 766, der die Wichtigkeit des Verständnisses und der Aufarbeitung technischer Fachkenntnisse insbesondere für die juristische Bewertung von nachrichtendienstlichen Tätigkeiten unterstreicht. 1004 Prägnant Gärditz, Perspektive (Fn. 14), S. 3, der sogar „oft nur sehr unvollständige Antworten“ der Rechtswissenschaft auf „Überwachungs-Technikrisiken“ diagnostiziert. 1005 Erneut Gärditz, ebda., S. 3.
E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
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Im Bereich der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung ist am vordringlichsten die Frage nach der Unterscheidbarkeit von rein nationaler, deutscher, internationaler und Ausland-Ausland-Telekommunikation zu stellen. Sie ist für den Regelungskomplex de lege lata schlichtweg „konstitutiv“ 1006. Deswegen soll im Folgenden der Versuch einer Beschreibung der technischen Hintergründe der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung unternommen werden, wenngleich er aus informationstechnischer Sicht zwangsläufig unterkomplex bleiben muss1007. Details können und sollen nur durch Fachspezialisten beantwortet werden. Erschwerend zu der technischen Komplexität herrscht, wie in kaum keinem anderen Bereich des Sicherheitsrechts, größtmögliche Geheimhaltung vor, was die konkreten informationstechnischen Fähigkeiten des Bundesnachrichtendienstes angeht. Details zu den Möglichkeiten und Kapazitäten der Fernmeldeaufklärung sind heute das „Tafelsilber eines Nachrichtendienstes“ 1008. Durch die Aufklärungsbestrebungen des NSA-Untersuchungsausschusses und hieraus resultierende Gutachten1009 und umfangreiche Medienrecherchen1010 konnten aber zum Teil klarere Erkenntnisse über die Funktionsweise der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung gewonnen werden1011. Neue Einblicke ermöglichten ferner die mündliche Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung1012 sowie die schriftlichen Urteilsgrün-
1006
Prononciert Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 2. Zu dem Problem der Vereinfachung technischer Sachverhalte schon Arenz, Schutz (Fn. 509), S. 21. 1008 So S. Mayer-Ottens, Technischer Direktor beim Bundesnachrichtendienst, auf dem 2. Symposium zum Recht der Nachrichtendienste v. 15.–16. März 2018 in Berlin; gleichlautend zitiert auch bei P. Förster, 2. Symposium zum Recht der Nachrichtendienste – Reform der Nachrichtendienste zwischen Vergesetzlichung und Internationalisierung, in: NVwZ 2018, S. 711 (712). 1009 Siehe hierzu vor allem das Sachverständigengutachten von G. D. Rodosek, Sachverständigengutachten Beweisbeschluss SV 13-1 Untersuchungsausschuss 18. Wahlperiode; prägnante Darstellung bei K. Rechthien, Sachverständigen-Gutachten gemäß Beweisbeschluss SV-13, beide abrufbar unter https://netzpolitik.org/2016/bnd-kanninternetverkehr-nicht-zuverlaessig-nach-in-und-ausland-filtern-und-verstoesst-so-gegengesetze (20.10.2018); gute Einführung in die Überwachungstechnik bei M. Waidner, Stellungnahme zur Anhörung des NSA-Untersuchungsausschusses am 26. Juni 2014, MAT A SV-1/2 zu A.-Drs. 53, S. 1 ff.; dazu auch S. Gaycken, Sachverständigengutachten „IT-Infrastruktur“ zur Anhörung des 1. Untersuchungsausschusses, MAT A SV-1/1 zu A.-Drs. 53, S. 1 ff. 1010 Als prominentestes Beispiel sei hier nur die seinerzeit maßgebliche Enthüllung der Kooperation mit der NSA zur Fernmeldeaufklärung an Datenleitungen der Telekom genannt, aufgedeckt von Mascolo/Leyendecker/Goetz, Eikonal (Fn. 461), S. 6. 1011 Dies unterstreichen Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 265; Heumann, Exceptionalism (Fn. 778), S. 351. 1012 Mündliche Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung am 14. und 15. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17. 1007
200
E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
de1013. Vieles bleibt jedoch weiterhin im Dunkeln, weswegen hier kein Anspruch auf abschließende Richtigkeit erhoben werden kann.
I. Überwachung paket- statt leitungsvermittelter Telekommunikation auf unterschiedlichen Strecken: Technische Evolution respektive Revolution der Fernmeldeaufklärung 1. Geringeres Volumen nicht-leitungsgebundener Übertragung Die strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung betreibt der Bundesnachrichtendienst maßgeblich auf zwei Übertragungswegen, dem nicht-leitungsgebundenen und dem leitungsgebundenen. Die nicht-leitungsgebundene Kommunikation ist dabei diejenige, die per Satellit oder Richtfunkverkehr übertragen wird1014. Bis in die 1990er Jahre wurden weite Teile der nachrichtendienstlich relevanten Kommunikation über diese Satellitenverbindungen abgewickelt, aber mit Beginn des neuen Jahrtausends nahm die Übertragungsmenge auf dem Satellitenweg rasant ab1015. Die Bedeutung der satellitengestützten Übertragung hat maßgeblich in Folge der immer schneller voranschreitenden Ausbreitung des Internets als globales Kommunikationsnetzwerk an Bedeutung verloren, da die Übertragung per Kabel preiswerter ist und einen weit höheren Datendurchsatz ermöglicht1016. Deswegen wird die satellitenbasierte Übertragung von Kommunikation und Daten weitgehend nur noch als Reserve genutzt, falls die Kabelverbindungen an ihre Kapazitätsgrenzen gelangen1017. Eine Ausnahme bildet die Satellitenkommunikation in Gebieten, in denen es keine leitungsgebundenen Anschlüsse oder ein Mobilfunknetz gibt. Dies ist insbesondere in Krisengebieten oder auf hoher See der Fall, wo der Bundesnachrichtendienst aufgrund der zu erwartenden nachrichtendienstlich relevanten Inhalte auch immer noch auf die Überwachung von Satellitenkommunikation setzt1018. Im Be1013
BVerfGE 154, 152 (178 ff., Rn. 4 ff.). Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 2. 1015 Schon 2001 betrug der Anteil der Übertragung der satellitengestützten Übertragungswege in einigen Regionen unter 10 Prozent, und der Richtfunkverkehr spielte bereits keine Rolle mehr, siehe hierzu BT-Drs. 14/5655, S. 17; zur früheren Bedeutung der satellitengestützten Aufklärung J. Seifert, Die elektronische Aufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BND), in: B. M. Kraske (Hrsg.), Pflicht und Verantwortung, FS Claus Arndt, 2002, S. 175 (176). 1016 BT-Drs. 14/5655, S. 17; zur Abkehr von der satelliten- hin zur leitungsgebundenen Kommunikation P. Schaar, Globale Überwachung und digitale Souveränität, in: ZFAS 8 (2015), S. 447 (451 f.). 1017 Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 4 unter Verweis auf BT-Drs. 14/5655, S. 17. 1018 Siehe dazu vor allem die von Netzpolitik veröffentlichten – nicht verifizierbaren – Bestrebungen des BND unter dem Operationsnamen ABSINTH zur signifikanten Ausweitung seiner Abhörfähigkeiten von Satellitentelefonie und assoziierten Datenuplinks, wie den maßgeblich in Krisengebieten verbreiteten Anbietern Thuraya und Inmarsat mit Verweis auf Dokumente von Edward Snowden und eingestuften BND-eigenen 1014
I. Überwachung paket- statt leitungsvermittelter Telekommunikation
201
reich der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung wurden seit Juni 2017 17 Überwachungsanordnungen erlassen, nur 3 davon bezogen sich auf Kabelerfassung, der Rest war auf die Satellitenaufklärung gerichtet, die nach den Angaben des Bundesnachrichtendienstes häufig auftragsrelevant war1019. Im Allgemeinen aber führte die rasante Verlagerung der internationalen Kommunikation auf kabelbasierte Leitungswege nach Ende des Kalten Krieges beim Bundesnachrichtendienst zu erheblichen Anpassungsbestrebungen, wie der ehemalige Präsident des Dienstes Uhrlau betont1020. 2. Unterschiedliche technische Vermittlung von Kommunikation Die Vermittlung von Kommunikation ist wiederum in zwei unterschiedliche technische Übertragungsarten untergliedert, in sogenannte leitungs- und paketvermittelte Kommunikation. Um die Übertragbarkeit älterer Vorschriften auf neue Übertragungswege bewerten zu können, müssen die technischen Unterschiede der Ansätze aufgezeigt werden1021. a) Leitungs- und paketvermittelte Datenübertragung Die klassische Kommunikation und Datenübertragung insbesondere in Form von Telefon und Fax erfolgte bis Mitte der 1990er Jahre – und weit überwiegend auch zum Zeitpunkt der dritten Abhörentscheidung – in leitungsvermittelter Form. Bei dieser Technik wird die Übertragungsstrecke der Sprache des Anrufers oder der Daten zum Ziel vor dem Versenden festgelegt und zudem exklusiv für diesen einen Vermittlungsvorgang genutzt, da für die gesamte Zeit der Übertragung eine elektrische Verbindung zwischen den Anschlüssen besteht1022. Am Beispiel des herkömmlichen Telefonsystems lässt sich dieser technische Vorgang anschaulich verdeutlichen: Von einzelnen Telefonanschlüssen des Kunden führt eine direkte Leitung zu einer Vermittlungsstelle, zwischen den einzelnen VerDokumenten, abrufbar unter https://netzpolitik.org/2017/geheimes-projekt-absinthder-bnd-arbeitet-an-einer-erheblichen-erweiterung-seiner-satelliten-ueberwachung (22.9. 2018); zur Bedeutung der Überwachung von Satellitenkommunikation in Krisengebieten mit ausdrücklicher Nennung der Anbieter Thuraya und Inmarsat auch Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 3. 1019 So die Angaben der Mitarbeiter des BND in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17; siehe nunmehr auch BVerfGE 154, 152 (184, Rn. 16). 1020 BT-Drs. 18/12850, S. 708. 1021 Dies unterstreicht D. Lageveen, Telekommunikationsüberwachung im Internet, 2011, S. 19; zu der wichtigen Unterscheidung zwischen leitungs- und paketvermittelter Kommunikation und der nötigen Anpassung an neue Übertragungswege im BND siehe die Zusammenfassung der Zeugenaussagen in BT-Drs. 18/12850, S. 712 ff. 1022 Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 8; Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 5; Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 27.
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
mittlungsstellen bestehen ebenfalls größere, leistungsfähigere Kabelverbindungen. Für ein Telefonat zwischen zwei Anschlüssen wird also über diese Vermittlungsstellen eine direkte Verbindung zwischen den jeweiligen Endanschlüssen der Telefonkunden geschaltet, die während des gesamten Kommunikationsvorganges aufrecht erhalten bleibt1023. Im Falle einer internationalen Telefonverbindung sind mehrere solcher Vermittlungsstellen beteiligt, und es verlaufen feste Kabelbündelverbindungen zwischen den jeweiligen Ländern, auf denen in der Folge mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit auch nur Kommunikation zwischen den angeschlossenen Territorien durchgeleitet wird1024. Dies führt dazu, dass sich insbesondere bei internationalen Telefonverbindungen im Falle einer leitungsvermittelten Verbindung der Ausgangspunkt des Gespräches sowie der Zielanschluss in den allermeisten Fällen exakt bestimmen lassen1025. Heutzutage jedoch ist der Datenverkehr größtenteils in Form der paketvermittelten Kommunikation organisiert1026. Hierauf basieren der Inhalt von Websites, Datenanwendungen wie Videostreams, E-Mails, Chats, Foren, sozialen Netzwerken, „Voice over IP“, Videokonferenzen und die weitverbreiteten Messengerdienste1027. In Deutschland werden voraussichtlich bis Ende 2018 auch die gesamten herkömmlichen leitungsvermittelten Telefonanschlüsse, auf „All-IP Anschlüsse“ umgestellt werden, mit der Folge, dass ausschließlich nur noch paketvermittelte Übertragung für die Endnutzer bereitgestellt wird1028. Bei der paketvermittelten Übertragung wird zunächst ein einzelner Kommunikationsverkehr in verschie1023 Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 5; auf die Exklusivität der Leitung und der damit früher verbundenen hohen Kosten verweist auch M. Sievers, Der Schutz der Kommunikation im Internet durch Artikel 10 des Grundgesetzes, 2003, S. 29. 1024 Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 5.; Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 23 gibt hierzu als Beispiel den genauen Ablauf eines fiktiven Telefonates von Deutschland nach Washington D.C., USA unter den Voraussetzungen einer leitungsvermittelten Verbindung wieder. 1025 Siehe dazu die Zeugenaussage des BND Mitarbeiter im Bereich der TA, Zeuge A. S., BT-Drs. 18/12850, S. 713; ausführliche Befragung des Zeugen in Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 71 ff. 1026 Zur paketvermittelten Kommunikation instruktiv die technische Einführung – gleichwohl für den juristischen Gebrauch ausgelegt – von K. Sohr/T. Kemmerich, Technische Grundlagen der Informationssicherheit, in: Kipker, Cybersecurity (Fn. 54), Kap. 2 Rn. 102 ff. 1027 Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 5; W. Hoffmann-Riem, Freiheitsschutz in den globalen Kommunikationsinfrastrukturen, in: JZ 2014, S. 53 (53). 1028 Siehe zur Abwicklung der leitungsvermittelten Übertragung die Aussage des Zeugen Landefeld, Beirat der DE-CIX Management GmbH, wonach ab 2018 nur noch paketvermittelte Kommunikation existieren wird: BT-Drs. 18/12850, S. 713; zur Umstellung der Endnutzeranschlüsse auf „All-IP“ durch den Marktführer Deutsche Telekom AG M. Spehr, Jetzt sprechen nur noch Bits und Bytes, abrufbar unter http:// www.faz.net/aktuell/technik-motor/computer-internet/deutsche-telekom-stellt-auf-ip-tele fonie-statt-festnetz-um-13688149.html (22.7.2018).
I. Überwachung paket- statt leitungsvermittelter Telekommunikation
203
dene Datenblöcke fragmentiert1029. Zur Versendung im Datennetzwerk enthält jedes Datenpaket dabei die Kennung des Empfangsgerätes, zumeist die des jeweiligen Sendegerätes, sowie eine Ordnungsnummer, die es ermöglicht, die jeweiligen Einzelpakte am Empfangsgerät wieder sinnvoll zusammenzusetzen um die Information darstellen zu können1030. Diese Datenpakete werden sodann über diverse Übertragungswege verschickt und erst am Endgerät des Empfängers wieder in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt1031. Eine Verdeutlichung lässt sich auch bei dieser technischen Variante am besten am Beispiel einer herkömmlichen physischen Postsendung erreichen: Diese wird in einzelne Teile separiert und dann über verschiedene Postverteilzentren auf den Weg zum Empfänger gebracht, wobei es für diesen nicht vorhersehbar und auch irrelevant ist, welchen Weg die einzelnen Paket- oder Postkartenteile wählen1032. So kann es durchaus sein, dass ein Paket, das nur innerhalb Deutschlands verschickt werden soll, einen Weg z. B. über die USA oder Großbritannien nimmt, um dann wieder nach Deutschland zurückgeleitet zu werden. Eine Unterscheidung zwischen Inland und Ausland ist bei der paketvermittelten Telekommunikation nicht vorgesehen1033. Der technische Vorteil hierbei ist, dass bei einer Überlastung oder einem Defekt eines bestimmten Übertragungsweges einfach ein anderer genutzt werden kann1034. Bei der Paketvermittlung erfolgt die Übertragung eines Datenpaketes immer mit vielen anderen zusammen auf einem Leitungsweg und nicht exklusiv wie bei der leitungsvermittelten Übertragung1035. b) All-IP-Kommunikation als einheitlicher Standard – Funktionsweise der Paketvermittlung im Überblick aa) Das Internet als Netz von Netzen Das Internet als Datennetzwerk besteht nicht als ein großes, zusammenhängendes Netz, sondern es handelt sich um eine Verknüpfung von ca. 11.000 Einzel1029 BT-Drs. 14/5655, S. 17; Arenz, Schutz (Fn. 509), S. 23; Waidner, Stellungnahme (Fn. 1009), S. 10. 1030 Darstellung bei Boehm/Böhme/Andrees, Sachverständigengutachten (Fn. 533), S. 7. 1031 Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 8; Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 6. 1032 Beispiele bei Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 5; Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 28. 1033 BVerfGE 154, 152 (226 f., Rn. 109); F. Schneider, Aktuelle Herausforderungen für die Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen durch die Nachrichtendienste, in: K&R 2020, S. 500 (501 f.). 1034 Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 17; Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 28. 1035 Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), S. 501; eingängig U. Sieber, Technische Grundlagen, in: T. Hoeren/ders./B. Holznagel (Hrsg.), Handbuch MultimediaRecht (2006), Rn. 51 (in der aktuellen Ergänzungslieferung fortgefallen);
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
netzen, den sogenannten Autonomen Systemen (AS), die meist von Telekommunikationsanbietern, sogenannten Internet Service Providern (ISP), betrieben werden1036. Eine Möglichkeit der Verbindung von vielen Autonomen Systemen bieten sogenannte Internet Exchange Points (IXP). Hierbei handelt es sich um netzneutrale Dienstanbieter, die eine technischen Plattform bereitstellen, auf der Autonome Systeme miteinander flexibel verbunden werden können1037. Sie wurden eingerichtet, damit die Internet Service Provider ihre Netze schnell und relativ simpel verbinden können1038. Global existieren derzeit in etwa 350 solcher Internet Exchange Points, an die im Durchschnitt 150 bis 500 Autonome Systeme angeschlossen sind1039. 27 dieser Knotenpunkte sind in Deutschland belegen1040. Einer der größten Internetknotenunkte weltweit ist der DE-CIX mit Hauptsitz Frankfurt a. M., mit über 700 angeschlossenen Autonomen Systemen aus ca. 60 Ländern und mit einem Tagesspitzendatendurchsatz von 6 TBit/s, was nach Angaben der Betreiber physisch Lastwagen voll mit herkömmlichen DVDs am Tag (!) bedeutet1041. Die Knotenpunkte bewältigen mithin einen ganz erheblichen Datenverkehr und transportieren zugleich aufgrund ihrer Verbindungsfunktion eine große Bandbreite verschiedenster Daten. (1) Glasfaserkabel als physische Netzstruktur Glasfaserkabel bilden das verbindende physische Element der ständig expandierenden globalen Kommunikation, da sie die einzelnen Autonomen Systeme 1036 Zum Ganzen Waidner, Stellungnahme (Fn. 1009), S. 9; Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 5 f.; den verschiedenen lokalen Ausprägungen der Datennetze auch A. S. Tanenbaum/D. J. Wetherall, Computernetzwerke, 5. Aufl. 2012, S. 41 ff., 501; ein guter Überblick über die technischen und rechtstatsächlichen Hintergründe des Internets und seiner Anwendungen findet sich in der juristischen Literatur etwa bei T. Böckenförde, Die Ermittlung im Netz, 2003, S. 17 ff.; der BND geht hingegen von ca. 66.000 autonomen Systemen weltweit aus, so zumindest die Angaben in der Mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17; siehe auch das Protokoll auf https://netzpolitik.org/2020/bundesverfassungsgericht-verhandelt-ueber-dasbnd-gesetz/ (15.1.2020). 1037 Siehe ausführlich zu IXP das Rechtsgutachten von Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 1; Details bei Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 7. 1038 Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 11. 1039 Angaben bei Waidner, Stellungnahme (Fn. 1009), S. 13. 1040 BVerfGE 154, 152 (184, Rn. 16). 1041 Zu den Zahlen der Bericht der FAZ, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/ wirtschaft/diginomics/frankfurter-internetknoten-de-cix-meldet-neuen-weltrekord-beimdatendurchsatz-15329421.html (15.8.2018); Beschreibung des Internetknotenpunktes bei Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 11; zum DE-CIX siehe auch BVerfGE 154, 152 (184, Rn. 16); BVerwGE 162, 179 (180 f.); ebenso Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 7; Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 39; zur Entwicklung der Menge des Datenverkehrs und den Auslastungsspitzen des DE-CIX am Standort Frankfurt a. M. finden sich detaillierte Analysen unter https://www.de-cix.net/de/locations/germany/frankfurt/statistics (1.6.2022).
I. Überwachung paket- statt leitungsvermittelter Telekommunikation
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miteinander vernetzen1042. Das Verlegen von Glasfaserkabeln ist aufwändig und mit hohen Kosten verbunden, weswegen die zu transportierenden Daten durch verschiedene Lichtwellenlängen innerhalb der Adern des Glasfaserkabels geschachtelt werden und in Kanälen gebündelt werden1043. Nach derzeitigem Stand der Vermittlungstechnik wird auf einem Faserpaar der neuesten Generation eine Datenlast von 19, 2 TBit/s transportiert, wobei ein Kabel aus mehreren dieser Faserpaare besteht1044. Die jeweiligen einzelnen Wellen auf einem Faserpaar werden an Netzwerkanbieter vermietet, die diese dann wiederum an ihre Kunden weitervermitteln, wodurch eine große Mischung des Datenverkehrs auf einem Glasfaserpaar entsteht. Dadurch führt eine Überwachung einer solchen Kabelverbindung zur Erfassung von vielen tausend verschiedenen Verkehren und Diensten verschiedenster Firmen, Institutionen und privater Endnutzer1045. (2) Netzwerkarchitektur, IP und Routing (a) OSI-Schichten- und TCP/IP-Referenzmodell Um die Funktionsweise von Computernetzwerken abstrakt darstellen zu können, wurde das OSI-Schichtenmodell entwickelt, welches das erste Konzept für den internationalen Datenaustausch darstellt und dazu dienen soll, offene Computersysteme miteinander zu verbinden1046. Es bildet die Grundlage für das sogenannte TCP/IP-Referenzmodell, das heute den internationalen Standard zur Übertragung in Computernetzwerken darstellt1047. Es besteht aus vier Schichten, der Anwendungsschicht, der Transportschicht, der Internetschicht (auch als Vermittlungs- oder Netzwerkschicht bezeichnet) und der Verbindungsschicht1048. 1042 Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 3; dazu auch im Kontext des Berichtes über die Kooperation von NSA und BND Mascolo/Leyendecker/Goetz, Eikonal (Fn. 461), S. 6. 1043 Dazu erneut Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 3; zur Verlegung von Glasfaserkabeln im Ozean, die bereits 2008 95 Prozent der globalen Telekommunikation übertrugen, H. Martin-Jung, Die Schlagadern des Internets, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 34 v. 9./10. 2. 2008, S. 22 (22). 1044 Die Zahl nennt Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 3, in seiner Ausarbeitung für den Untersuchungsausschuss des Bundestages. 19,2 TBit/s (Terrabit pro Sekunde) entsprechen 192000 GBit/s (Gigabit pro Sekunde). 1045 Fazit für den Untersuchungsausschuss von Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 5. 1046 Gute Einführung samt graphischer Darstellung bei Sohr/Kemmerich, Grundlagen (Fn. 1026), Kap. 2 Rn. 122 ff.; Tanenbaum/Wetherall, Computernetzwerke (Fn. 1036), S. 66 ff.; Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 38. 1047 Ausführlich zum technischen Hintergrund des für den Vorläufer des Internets entwickelten TCP/IP-Modells Tanenbaum/Wetherall, Computernetzwerke (Fn. 1036), S. 70 ff.; dazu auch schon aus juristischer Warte Arenz, Schutz (Fn. 509), S. 24. 1048 Zu dem Modell mit teilweise unterschiedlichen Bezeichnungen Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 30 ff.; Sieber, Grundlagen (Fn. 1035), Rn. 42 ff.; Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 38.
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
Die Anwendungsschicht beinhaltet die Daten, die der Computernutzer bei der Verwendung eines Programmes, etwa dem Schreiben einer E-Mail, generiert und die über das Computernetzwerk versandt werden sollen, mithin den tatsächlichen Inhalt (sogenannter payload), hier den Text einer Nachricht1049. Die Transportschicht sorgt für eine Verbindung zwischen zwei Computern und bringt dafür die Daten aus der Anwendungsschicht in ein für das Transportnetz verständliches Maß und Format. Auf dieser Schicht wird bildlich gesprochen eine geschriebene Nachricht in eine standardisierte Briefform gebracht, um sie anschließend verschicken zu können1050. Die folgende Internetschicht mit dem Internet-Protokoll (IP) ist der „Klebstoff“ des Internets1051. Sie sorgt dafür, dass die Datenpakete von ihrem Sender zum Empfänger gelangen1052. Dafür übernimmt das InternetProtokoll die Daten oder Sprachnachricht in Paketform von dem Transportprotokoll und versieht diese mit einem sogenannten IP-Header, der neben weiteren Informationen vor allem die Quelle und den Zielort des Paketes in Form der IPAdresse angibt1053. Es handelt sich bei diesem Schritt – um im bereits bemühten Bild der postalischen Übertragung zu bleiben – um das Einführen der Inhaltsdaten in einen genormten Briefumschlag mit Adresse und Absender, der um den jeweiligen Inhalt des Datenpaketes gestülpt wird, um seine Zustellung innerhalb des Verbundes der Autonomen Systeme erst zu ermöglichen1054. (b) IP-Adresse Die Adresse im Internet stellt die Internet-Protokoll-Adresse (IP-Adresse) dar, die jedem Gerät, welches Daten in einem Netzwerk austauschen will, zugewiesen wird1055. Die Vergabe der IP-Adressen erfolgt durch die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), die regionalen Vergabestellen jeweils IP-Adressblöcke zur Weiterverteilung an Internet Service Provider und zum Teil auch an Einzelnutzer, in Form von Firmen, Forschungsnetzwerken oder Institutio-
1049 Allgemein Sohr/Kemmerich, Grundlagen (Fn. 1026), Kap. 2 Rn. 105, 130; am Beispiel einer E-Mail mit dem assoziierten SMTP-Protokoll verdeutlicht Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 40 die Anwendungssicht; ausführlich zu den vielen verschiedenen Anwendungen bzw. Protokollen der Anwendungsschicht Tanenbaum/Wetherall, Computernetzwerke (Fn. 1036), S. 695 ff. 1050 Zu diesem Schritt Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 31. 1051 Prägnante Formulierung bei Tanenbaum/Wetherall, Computernetzwerke (Fn. 1036), S. 502. 1052 Waidner, Stellungnahme (Fn. 1009), S. 10; Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 41. 1053 Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 32 ff.; Sieber, Grundlagen (Fn. 1035), Rn. 52. 1054 Sieber, Grundlagen (Fn. 1035), Rn. 52. Die anschließende vierte Schicht ist sodann mit der physikalischen Übermittlung befasst und kann hier außer Betracht bleiben. 1055 Ausführlich zum Internet-Protokoll Sohr/Kemmerich, Grundlagen (Fn. 1026), Kap. 2 Rn. 109 ff.
I. Überwachung paket- statt leitungsvermittelter Telekommunikation
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nen zur Verfügung stellt1056. Die für Europa regional zuständige Vergabestelle ist das RIPE NCC1057. (aa) Festnetzanschlüsse IP-Adressen werden im Bereich von privaten Endnutzer Festnetzanschlüssen allerdings aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit der Adressen weitgehend nicht auf Dauer bzw. statisch vergeben, wie etwa an große Firmen oder staatliche Institutionen1058. Vielmehr erfolgt die Vergabe wechselnd bzw. dynamisch, da vielfach bei privaten Nutzern eine permanente Verbindung zum Internet nicht erforderlich ist und so die einem Internet Service Provider zugewiesenen IP-Adressen einer größeren Zahl von Endnutzern zu Verfügung gestellt werden können1059. In der Folge ist eine Zuordnung dieser Adressen zu einem Endnutzeranschluss nur durch Zuhilfenahme zusätzlicher Bestandsdaten im Sinne des § 3 Nr. 6 TKG n. F., wie etwa des Namens und der Anschrift des jeweiligen Kunden möglich1060.
1056 Eingehend zur Vergabe von IP-Adressen siehe Sieber, Grundlagen (Fn. 1035), Rn. 52 ff. und Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 43 ff.; die regionalen Vergabestellen für IPAdressen listet Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 34 auf. 1057 Zum Réseaux IP Européens T. Hoeren, Geolokalisation und Glücksspielrecht (Teil 1), in: ZfWG 2008, S. 229 (230). 1058 Zur Begrenztheit der aktuellen sog. IPv4 Adressen C. Wegener/J. Heidrich, Neuer Standard – Neue Herausforderungen: IPv6 und Datenschutz, in: CR 2011, S. 479 (479). 1059 BVerfGE 155, 119 (131 f., Rn. 10, 184, Rn. 141). 1060 BVerfGE 155, 119 (131 ff., Rn. 10 ff.); T. Herbst, Was sind personenbezogene Daten?, in NVwZ 2016, S. 902 (903); Sieber, Grundlagen (Fn. 1035), Rn. 55 ff.; zur vormals umstrittenen Frage der rechtlichen Einordnung des Zugriffes auf Bestandsdaten des Anschlussinhabers bei Nutzung einer dynamischen IP-Adresse vgl. H. Lutz, in: H.-W. Arndt/T. Fetzer/J. Scherer/K. Graulich (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Telekommunikationsgesetz, 3. Aufl. 2021, § 95 Rn. 3, insb. Fn. 7 – zur heutigen Einordnung im Schutzbereich siehe Fn. 1208. Die Begrenzung der überhaupt verfügbaren IPAdressen wird sich jedoch höchstwahrscheinlich in Zukunft durch die Umstellung auf eine neue Version des Internet-Protokolls der Version 6 (IPv6) erübrigen, was zu einer deutlich vermehrten Zuweisung von statischen IP-Adressen auch an private Nutzer führen könnte. Eine Zuordnung würde technisch erheblich vereinfacht – jedoch auch eine leichtere Deanonymisierung im Internet; zu der Umstellung auf IPv6 und der Zuweisung von statischen IP-Adressen an Endnutzer und den (datenschutz-)rechtlichen Risiken B. Freund/C. Schnabel, Bedeutete IPv6 das Ende der Anonymität im Internet? – Technische Grundlagen und rechtliche Beurteilung des neuen Internet-Protokolls, in: MMR 2011, S. 495 (496 ff.); zu den größeren Risiken der Deanonymisierung bei IPv6 bei Auskunftsverlangen der Behörden auch schon BVerfGE 130, 151 (198 f.); Wegener/ Heidrich, Standard (Fn. 1058), S. 481 gehen hingegen nicht davon aus, dass vermehrt statische IP-Adressen an private Nutzer vergeben werden. Jedenfalls werden auch im Rahmen der laufenden Umstellung auf IPv6 derzeit an private Nutzer weiterhin dynamische IP-Adressen vergeben, statische Netzadressen bleiben momentan (noch) Institutionen und Großnutzern vorbehalten, siehe dazu BVerfGE 155, 119 (184, Rn. 141).
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
(bb) IP-Adresse im Mobilfunk und bei öffentlichen Netzwerken Moderne Smartphones sind allesamt internetfähig und verwenden eine Vielzahl von Applikationen, wie etwa Browser zum Aufrufen von Webseiten oder Messenger-Dienste, wie WhatsApp, die eine Datenverbindung voraussetzen und mithin auch eine IP-Adresse benötigen, um mit dem globalen Netz verbunden werden zu können1061. Im Bereich des Mobilfunks sowie öffentlich zugänglicher Netzwerke setzt sich das Problem der Begrenztheit der IP-Adressen indes fort. Deswegen weisen Mobilfunkanbieter nur einem Netzwerkelement, dem sogenannten NAPT-Device, eine öffentliche, mit dem Internet verbundene IP-Adresse zu, den Endgeräten ihrer Kunden hingegen eine sogenannte private IP-Adresse, die nicht mit dem Internet verknüpft ist, sondern ausschließlich der Identifizierung innerhalb des eigenen Netzes dient1062. Diese Technik ermöglich damit, dass eine öffentliche IP-Adresse auf viele Nutzer aufgeteilt werden kann und nicht durch jeden Mobilfunkkunden eine öffentliche IP-Adresse „verbraucht“ wird. Eine Zuordnung der öffentlichen zu den privaten IP-Adressen der Mobiltelefone ist nur mit weiteren Daten möglich1063. Um dies auch nach Abschluss der jeweiligen Verbindungsvorgänge zwischen NAPT-Device und dem Mobiltelefon zu realisieren, wäre der Ansatz der hochumstrittenen Vorratsdatenspeicherung im Sinne der §§ 113a, b TKG a. F. (§§ 175, 176 TKG n. F.) nötig, welche derzeit jedoch nicht umgesetzt wird1064. Im Bereich der mobilen Kommunikation 1061 Zur Entwicklung des Mobilfunks hin zu paketvermittelter Übertragung Sohr/ Kemmerich, Grundlagen (Fn. 1026), Kap. 2 Rn. 150; allgemein zur ubiquitären Verbreitung des Mobilfunks auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 163. 1062 Hintergrunderläuterung bei A. Petri, Vorratsdatenspeicherung: Rechtsunsicherheit für Anbieter, abrufbar unter https://www.telekom.com/de/konzern/management-zur-sa che/details/vorratsdatenspeicherung-rechtsunsicherheit-fuer-anbieter-494376 (25.4.2018). 1063 Hierzu werden sogenannten NAT-Tabellen benötigt, die die privaten IP-Adressen sowie Portnummern speichern, eingehend Petri, ebd.; siehe auch den Bericht über die Weigerung der Deutsche Telekom AG, diese NAT-Tabellen sowie die öffentlichen IPAdressen gemäß §§ 113a, 113b TKG a. F. zu speichern, abrufbar unter https://www. golem.de/news/ip-adressen-deutsche-telekom-klagt-gegen-vorratsdatenspeicherung-17 06-128232.html. 1064 Allerdings bezieht sich die Speicherpflicht in § 113b III Nr. 1 TKG a. F. explizit nicht auf private IP-Adressen, sondern nur auf öffentliche, T. Mayen, in: Scheurle/ders., TKG-Kommentar (Fn. 343), § 113b TKG Rn. 19. Mithin wäre eine Zuordnung schlechterdings nicht möglich, da die privaten IP-Adressen, die in Verbindung mit der Portnummer eine Zuordnung zur öffentlichen IP-Adresse erst ermöglichen, gerade nicht gespeichert werden dürfen. Die deutschen Telekommunikationsanbieter sind derzeit ohnehin nicht verpflichtet, die Vorratsdatenspeicherung umzusetzen, da die §§ 113a, 113b TKG a. F. nach einer einstweiligen Anordnung des OVG Münster wegen Verstoßes gegen Unionsrecht nicht angewandt werden und die Bundesnetzagentur die Speicherpflicht für alle Telekommunikationsunternehmen – unbesehen der inter partes-Wirkung des Beschlusses – in der Folge ausgesetzt hat, siehe hierzu den Beschluss des OVG Münster NVwZ-RR 2018, S. 43 ff.; ebenso zuvor VG Köln, Urteil vom 20.4.2018 – 9 K 7417/17; Stellungnahme der Bundesnetzagentur, abrufbar unter https://www.bundes netzagentur.de/DE/Fachthemen/Telekommunikation/OeffentlicheSicherheit/Ueberwa chung_Auskunftsert/VDS_113aTKG/node.html (1.5.2022); zum aktuellen Stand Wittreck,
I. Überwachung paket- statt leitungsvermittelter Telekommunikation
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können die einzelnen Endgeräte ohne diese nicht immer der übergeordneten öffentlichen IP-Adresse zugeordnet werden. Dasselbe gilt bei der Nutzung von öffentlichen W-LAN Netzen, bei denen ebenfalls weitere Angaben hinzugezogen werden müssen1065. (cc) Ermittlung von Kommunikationsanschlüssen und Kommunikationsteilnehmern mittels IP-Adressen Mit einer IP-Adresse kann jeweils immer nur der Inhaber des Telekommunikationsanschlusses ermittelt werden, der tatsächliche Nutzer kann jedoch hiervon abweichen, in dem z. B. der Netzanschluss eines Bekannten oder ein öffentlich zugängliches Netzwerk genutzt wird, um sich mit dem Internet oder hierüber vermittelten Kommunikationsdiensten zu verbinden. Der eigentliche Telekommunikationsteilnehmer, der sich hinter der IP-Adresse verbirgt ist – nach dem aktuellen Stand der Technik – nicht per Abfrage beim Internetanbieter ermittelbar1066. Hierzu müssen weitere Daten hinzugezogen werden. (c) IP-Pakete Für die Fernmeldeaufklärung ist noch von Interesse, wie ein IP-Paket aufgebaut ist, da dies beeinflusst, welche Informationen sich auf welcher Schicht befinden bzw. ausgelesen werden können. Parallel zum skizzierten TCP/PISchichtenmodell durchlaufen zu sendende Daten auf dem Ausgangsrechner die verschiedenen Netzwerkschichten von der Anwendungsschicht bis zur Verbindungsschicht und werden dabei auf jeder Schicht mit einem neuen Header verseKosten (Fn. 112), S. 140 m. Fn. 124; siehe auch Mayen, ebd., § 113b Rn. 1 f. Für einen Überblick über die lange Geschichte der Vorratsdatenspeicherung mit ihren zahlreichen Urteilen vgl. nur A. Oehmichen/C. Mickler, Die Vorratsdatenspeicherung – Eine never ending story?, in: NZWiSt 2017, S. 298 ff. Welche Auswirkungen die neuesten Urteile des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung, EuGH, Urteil vom 6.10.2020, C-623/17 – Privacy International sowie EuGH, Urteil vom 6.10.2020, C-511/18 – La Quadrature du Net u. a., haben werden, bleibt letztlich abzuwarten. Das BVerwG hat die deutsche Regelung dem EuGH gleichfalls zur Vorabentscheidung vorgelegt, BVerwG, Beschluss vom 25.9.2019, 6 C 12.18 sowie 6 C13.18. 1065 Etwa das WLAN-Netzwerk eines Hotels, in dem mehrere unterschiedliche Personen eingeloggt sind, die dann nach außen sichtbar nur unter einer einzigen öffentlichen IP-Adresse auftreten. Eine individuelle Identifikation würde dann die Analyse weiterer Daten (Betriebssystem, Bildschirmauflösung etc.) voraussetzen, dazu mit selbigem Bsp. Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 20. 1066 Zum Problem der Personenidentifizierung bei Strafverfolgung durch IP-Tracking ferner aus strafprozessualer Sicht B. Krause, IP-Tracking durch Ermittlungsbehörden: Ein Fall für § 100g StPO – zugleich Besprechung des BGH-Beschl. v. 23.09.2014 – 1 BGs 210/14, in: NStZ 2016, S. 139 (139 f.), der darlegt, dass zwar oftmals, aber nicht immer der tatsächliche Telekommunikationsteilnehmer ermittelt werden könne; zur Erfassung des jeweiligen Anschlusses und nicht des tatsächlichen Teilnehmers Wegener/ Heidrich, Standard (Fn. 1058), S. 480; zu möglichen Änderungen unter IPv6 ausführlich Freund/Schnabel, IPv6 (Fn. 1060), S. 495.
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
hen und in ein neues Format überführt, welches für die folgende Schicht auslesbar ist1067. Es wird dadurch quasi auf jeder Schicht ein neuer Umschlag erstellt, in den der vorherige Datensatz eingefügt wird. Spiegelbildlich werden auf der Empfängerseite dieselben Schichten durchlaufen und dabei schrittweise vom jeweiligen Header „befreit“, sodass am Ende des Entkapsellungsprozesses der eigentliche Inhalt des Datenpaketes auf der Anwendungsebene wieder zur Verfügung steht1068. (d) Routing – stetig wechselnde Übertragungswege von Datenpaketen Beim Transport von Datenpaketen im Internet muss der günstigste Weg zum Ziel nicht auch der geographisch kürzeste sein, die bestimmenden Faktoren für die „Routingentscheidung“ des IP-Paketes sind vielmehr vertragliche Absprachen der Betreiber der autonomen Systeme, die Auslastungen einzelner Leitungen sowie die Kosten einer Durchleitung1069. Deshalb ist es, wie bereits angedeutet, durchaus möglich, dass eine rein innerdeutsche Kommunikation aus Kostengründen einen Umweg im Routing über die USA nimmt1070. Übertragungsstrecken, die ausschließlich rein internationale Kommunikation von und nach Deutschland oder rein innerdeutsche Verkehre durchleiten, gibt es wegen der Mannigfaltigkeit der Routingwege bei der paketvermittelten Übertragung schlicht nicht1071. Im Ergebnis gehen die Datenpakete damit Umwege, und aufgrund von stetig wechselnden Bedingungen im Netz lässt sich kaum vorhersagen, welchen Weg ein Datenpaket genau nehmen wird1072. Dies stellt die strategische Auslandstelekom1067 Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 52, beschreibt diesen als Encapsulation bezeichneten Prozess anschaulich und graphisch mit entsprechenden schematischen Abbildungen. 1068 Dazu erneut Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 53. 1069 Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 16; Waidner, Stellungnahme (Fn. 1009), S. 11; vertiefte Darstellung bei Tanenbaum/Wetherall, Computernetzwerke (Fn. 1036), S. 546 ff. 1070 Betonung bei Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), S. 502; Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 11; Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 22; S. Heumann/T. Wetzling, Strategische Auslandsüberwachung: Technische Möglichkeiten, rechtlicher Rahmen und parlamentarische Kontrolle, 2014, S. 15, abrufbar unter https:// www.stiftung-nv.de/de/publikation/strategische-auslands%C3%BCberwachung-technischem%C3%B6glichkeiten-rechtlicher-rahmen-und (17.10.2018). 1071 So die explizite Feststellung bei Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 21, in Bezug auf die Frage einer Auswahl von Übertragungsstrecken für eine Fernmeldeüberwachung; im Zusammenhang mit den Snowden-Veröffentlichungen wurde darüber nachgedacht, ob ein rein nationales Routing bzw. ein Routing nur innerhalb des Schengen-Raumes faktisch möglich und implementierbar ist, kritischer zur Umsetzbarkeit C. L. Geminn, Die Debatte um nationales Routing – eine Scheindebatte? – Eine kritische Analyse der Argumentationslinien, in: MMR 2015, S. 98 (98 ff., 102 f.); vgl. zu dieser Diskussion auch BT-Drs. 18/12850, S. 405 ff. 1072 Dahingehend BVerfGE 154, 152 (226 f., Rn. 109); ferner Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 141 f.; Waidner, Stellungnahme (Fn. 1009), S. 11; Lageveen, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 1021), S. 40 unterstreicht die Unvorhersehbarkeit der Wegewahl im Internet.
II. Zugriff auf Telekommunikationssatelliten
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munikationsüberwachung vor das Problem, einen nachrichtendienstlich relevanten Verkehr in Gänze – also alle IP-Pakete – erfassen zu können und zusätzlich nur solchen Verkehr auszuleiten, für den auch die Befugnis hierzu besteht1073. Eine vollständige Erfassung aller Telekommunikation einer konkreten Person oder Institution ist damit auch beim Einsatz formaler Selektoren in der Regel wohl nicht möglich1074. Ebenso existieren keine Datenleitungen, die ausschließlich nationalen oder internationalen bzw. Ausland-Ausland Verkehr leiten. Die Möglichkeit sich ständig ändernder Wege stellt mithin den gravierendsten Unterschied zur leitungsvermittelten Kommunikation dar1075.
II. Zugriff auf Telekommunikationssatelliten und Strecken durch den Bundesnachrichtendienst Nachrichtendienste nutzen diverse Zugangspunkte zu den globalen Kommunikationsnetzwerken, um Fernmeldeaufklärung zu betreiben. Dabei ist die Wahl des jeweiligen Zugangs entscheidend, um möglichst diejenigen Übertragungswege anzuzapfen, die potentiell die meisten nachrichtendienstlich relevanten Telekommunikationsdaten und Inhalte übermitteln. In den Medien und den Snowden-Dokumenten wurde über einige, vormals geheime, Zugriffspunkte des Bundesnachrichtendienstes berichtet. Im Bereich der nicht-leitungsgebundenen Übertragung ist als prominentestes Beispiel die Empfangsstationen mit ihren Antennenfeldern zur Überwachung satellitengestützter Kommunikation auf dem Gelände der Mangfall-Kaserne in Bad Aibling zu nennen („Überwachung des offenen Himmels“ 1076), wo der Bundesnachrichtendienst gemeinsam mit der National Security Agency Fernmeldeaufklärung betrieb1077. Bei der leitungsgebundenen Fernmeldeaufklärung ist ferner der frühere Zugriff auf Glasfaserkabel der Deutschen Telekom AG als eine der sensibelsten Operationen des Bundesnachrichtendienstes publik geworden, bei dem unter dem Decknamen „Eikonal“ anfangs nur leitungs- und später auch paketvermittelte Kommunikation – wiederum in Kooperation mit der National Security Agency – erfasst wurde1078. Eine solche Tätigkeit von Partnerdiensten auf deutschem Staatsgebiet soll nach der 1073
Zum Problem der Erfassung relevanter Datenpakete BT-Drs. 18/12850, S. 714 ff. Vgl. BVerfGE 154, 152 (241 f., Rn. 148). 1075 Dies betont bereits M. Germann, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Internet, 2000, S. 65. 1076 Begriffsprägend Huber (Fn. 511), Vorb. G 10 Rn. 23 ff. 1077 BT-Drs. 18/12850, S. 761 ff. erläutert ausführlich die Satellitenaufklärung in Bad Aibling, die Geschichte des Standortes, seines Auftragsprofiles und die Kooperation mit der NSA; zu den Standorten Schöningen und Gablingen BT-Drs. 18/12850, S. 995 ff. 1078 Ein Überblick über die Operation Eikonal und die Kooperation mit der NSA findet sich in BT-Drs. 18/12850, S. 887 ff.; dazu auch erneut der maßgebliche Pressebericht von Mascolo/Leyendecker/Goetz, Eikonal (Fn. 461), S. 6. 1074
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
BNDG-Novelle eingestellt worden sein1079. Zudem hatte und hat der Bundesnachrichtendienst Zugriff auf den wichtigen Datenknotenpunkt DE-CIX in Frankfurt a. M. und den hierüber laufenden Verkehr mit seinen signifikanten Datenmengen1080. Am DE-CIX hat der Bundesnachrichtendienst rein technisch gesehen Zugriff auf bis zu 1, 2 Billionen Verbindungen jeden Tag1081. Der Bundesnachrichtendienst ist nach den Angaben des Betreibers in der Lage, rund fünf Prozent der am DE-CIX durchgeleiteten Telekommunikation zu erfassen1082. Grundsätzlich ist bei leitungsgebundener Übertragung eine Überwachung dort zu erwarten, wo der Datenverkehr gebündelt wird und daher ein großes Volumen ausgeleitet werden kann, z. B. direkt bei großen Internet Service Providern, bei den Zuleitungen zu Internet Exchange Points1083, den Anlandestationen von globalen Tiefseeglasfaserkabeln1084 und sonstigen grenzüberschreitenden Fasern1085. Ganze autonome Systeme können indes nicht erfasst werden, da sie hierfür technisch zu groß sind; deswegen werden einzelne Kabelstrecken bzw. Übertragungswege durch den Bundesnachrichtendienst überwacht1086. An all diesen Punkten, insbesondere dem DE-CIX, können große Datenmengen als Rohdatenstrom in Form des Lichtes auf der Glasfaserleitung durch den 1079 Angaben des BND in der Mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 15. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17. 1080 Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 3; zur Überwachung am DE-CIX ausführlich das Gutachten von Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 1 ff.; dazu auch Wegener, Verfassung (Fn. 115), S. 300; vgl. ferner die Befragung von K. Landefeld, Beirat der DE-CIX Management GmbH, Stenographisches Protokoll I der 43. Sitzung des NSAUA, S. 6 ff.; kritisch zur Überwachung am DE-CIX ders., Mit Sicherheit verunsichernd, in: DRiZ 2016, S. 373 (373). 1081 D. Hipp/M. Hoppenstedt/M. Knobbe u. a., Im Maschinenraum, in: Der Spiegel Nr. 21 v. 16.5.2020, S. 42 (43). 1082 BVerfGE 154, 152 (185, Rn. 18). 1083 D. Nees, Wie viel Demokratie vertragen unsere Außenbeziehungen?, in: DÖV 2016, S. 674 (675); Gaycken, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 1; Waidner, Stellungnahme (Fn. 1009), S. 13 f. 1084 Die Endstellen dieser Unterseekabel waren z. B. Ziel der Operation TEMPORA des britischen GCHQ. Eine Kurzdarstellung von TEMPORA findet sich bei Gaycken, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 5. Auch bei dem Zugriff auf Unterseekabel kooperiert der BND nach – unbestätigter und hier nicht verifizierbarer – Veröffentlichung von vertraulichen Schriftstücken mit der NSA und weiteren Nachrichtendiensten und bzw. oder Netzanbietern und erhält somit Daten aus den globalen Hauptglasfaserleitungen, vgl. hierzu den Bericht auf Netzpolitik, abrufbar unter https:// netzpolitik.org/2014/rampart-a-die-nsa-schnorchelt-mehr-als-3-terabit-pro-sekunde-vonglasfasern-ab-und-der-bnd-macht-mit (23.9.2018). 1085 Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 12; vgl. auch allgemein zu technischen Erhebungsmethoden der Nachrichtendienste BT-Drs. 18/12850, S. 351 ff. 1086 Angaben des BND in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17.
II. Zugriff auf Telekommunikationssatelliten
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Telekommunikationsanbieter gespiegelt oder in Teilen abgesplittet und in einem Strang an den Bundesnachrichtendienst ausgeleitet werden, um diese sodann einer nachrichtendienstlichen Untersuchung zu unterziehen1087. Im Falle des Spiegelns wird der relevante Rohdatenstrom dupliziert und die Kopie in einen vom Bundesnachrichtendienst gemieteten Anschluss geleitet. Beim Splitten hingegen wird das Licht auf der Glasfaserleitung aufgetrennt und ein „Y-Stück“ eingesetzt, der sogenannte Splitter, sodass das hindurchgeleitete Licht gebrochen und ein Teil des Lichtsignales in eine Glasfaserleitung des Bundesnachrichtendienstes geleitet und der andere dem Netzbetreiber wieder zugeführt wird1088. In beiden Fällen gelangt eine Kopie des gesamten Datenstromes in ein Rechenzentrum des Bundesnachrichtendienstes1089. Er ist damit zunächst für den Bundesnachrichtendienst vollumfänglich verfügbar. Bei der Satellitenüberwachung beschafft sich der Bundesnachrichtendienst die Daten mittels Abfanganlagen, die an verschiedenen Standorten im Bundesgebiet angesiedelt sind, selbst1090. In den bisher genannten Konstellationen befinden sich die Zugriffspunkte auf die Telekommunikationsverkehre innerhalb des deutschen Staatsgebiets. Teilweise erfolgt die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung jedoch vom Ausland aus, wie § 7 BNDG veranschaulicht. So können mobile Anlagen zur Erfassung der Satellitenkommunikation – maßgeblich relevant in Krisengebieten – eingesetzt werden oder, unter Mitwirkung der dortigen Telekommunikationsanbieter bzw. in Kooperation mit zuständigen ausländischen Behörden, die dem Bundesnachrichtendienst beschränkten Zugang zu technischer Infrastruktur zur Verfügung stellen, Glasfaserkabel außerhalb der Bundesrepublik angezapft werden1091. Der Bundesnachrichtendienst nutzt diesen „Spezialfall“ der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, wenn eine Aufklärung von deutschem Staatsgebiet aus technischen oder sonstigen tatsächlichen Gründen nicht möglich ist, der Aufklärungsauftrag den Zugriff auf Telekommunikation aber dennoch erfordert1092.
1087
Zu den Zugriffspunkten auch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 61. Zu diesen beiden unterschiedlichen Ansätzen unlängst BVerwGE 162, 179 (181, Rn. 5). 1089 BVerwGE 162, 179 (181, Rn. 5). 1090 Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 3; Huber (Fn. 511), § 10 G 10 Rn. 14; Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 8 f. 1091 Zur Auslandserfassung von Telekommunikationsverkehren im Rahmen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung die Beschreibung von Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 3, § 7 BNDG Rn. 1; zur Ausleitung von Daten an den Bundesnachrichtendienst im Ausland auch BT-Drs. 18/9041, S. 25. 1092 Hierzu erneut instruktiv Dietrich (Fn. 771), § 7 BNDG Rn. 1. 1088
214
E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
III. Identifizierung relevanter und legal erhebbarer Verkehre bei paketvermittelter Kommunikation als konstitutive technische Herausforderung Die Identifizierung der für den Bundesnachrichtendienst relevanten und unter den unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen zu erhebenden Telekommunikationsverkehre stellt diesen bereits aufgrund der schieren Menge der verfügbaren Datenströme vor eine große Herausforderung. Zunächst werden die ausgeleiteten Daten – wie bereits grundlegend skizziert – auf ihren Inhaltsquerschnitt und damit auf eine mögliche nachrichtendienstliche Relevanz untersucht und bereits die geographische Herkunft von Fernmeldeverkehren eingegrenzt (1.). Aufgrund der Ausgestaltung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung de lege lata muss sodann technisch eine geographische Bestimmung des Ausgangs- und Endpunktes eines einzelnen Telekommunikationsverkehrs erfolgen, um zwischen rein inländischer, internationaler und Ausland-Ausland-Kommunikation differenzieren zu können. Ferner muss sichergestellt werden, dass nur solche Telekommunikationsteilnehmer überwacht werden, für die eine entsprechende Rechtsgrundlage existiert (2.). Erst nach diesen Schritten findet ein Abgleich mit den Suchbegriffen – sofern diese zum Einsatz kommen – statt und im Trefferfall prüfen dann Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes die Telekommunikationsverkehre mit Inhaltsdaten händisch auf ihre nachrichtendienstliche Relevanz1093. Nicht selektierte Daten werden rückstandslos gelöscht. Metadaten werden hingegen im Fall der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung pauschal gespeichert und maßgeblich computergestützt ausgewertet1094. 1. Streckenauswahl mittels Datenanalyse Es existieren verschiedene Ansätze, um zu analysieren, woraus der Datenverkehr auf einer bestimmen Leitung besteht. Grundsätzlich ist für den Datentransport nur der Header des IP-Paketes auf der Internetschicht nötig, um es zum Ziel zu bringen; der eigentliche Inhalt auf der Anwendungsschicht ist hierfür irrelevant1095. Um jedoch zu erfahren, was genau auf einer Leitung übermittelt wird, müssen der Datenstrom in Gänze gespiegelt werden und sodann der Inhalt der Datenpakete untersucht werden. Hierbei kommt eine Technik namens Deep Packet Inspection (DPI) zum Einsatz. Die „Tiefe“ der Analyse bezieht sich hierbei auf das Schichtenmodell, da über die Transport- und Internetschicht hinaus auch auf die Anwendungsschicht zugegriffen werden kann und somit der Inhalt des Pake1093 So die jedenfalls die Darstellung des Ablaufes bei Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 229 f.; Schantz, Rechtsschutz (Fn. 489), S. 874. 1094 BVerfGE 154, 152 (187, Rn. 22). 1095 R. Mantz, Freund oder Feind auf meiner Leitung? – (Un-)Zulässigkeit des Eingriffs in den Datenstrom durch TK-Anbieter mittels Deep Packet Injection, in: MMR 2015, S. 8 (9).
III. Identifizierung relevanter und legal erhebbarer Verkehre
215
tes verfügbar wird1096. Damit ist z. B. der Zugriff auf den Absender und Empfänger einer E-Mail im Header der E-Mail1097, den Text, aber auch jede andere Anwendung möglich, die das Paket transportiert, wodurch präzise bestimmt werden kann, welche Kommunikationsvorgänge genau auf einer Faser oder an einem Internet Exchange Point übertragen werden1098. Möchte man erneut den Vergleich mit der hergebrachten Post bemühen, so käme dies einer Öffnung und Durchsicht von Briefen gleich1099. Diese Methode bietet aufgrund ihrer Tiefe den besten Einblick in einen konkreten Datenverkehr und ermöglicht mithin die Identifizierung nachrichtendienstlich relevanter Verkehrsstrecken. Allerdings benötigt sie sehr große Speicher- und Rechenkapazitäten 1100. Ob der Bundesnachrichtendienst Deep Packet Inspection einsetzt und eine ganze Leitung analysiert, ist unklar1101. Das BNDG eröffnet jedoch die Möglichkeit einer Eignungsprüfung gemäß § 12 I Nr. 2 BNDG, um die nachrichtendienstliche Relevanz zu überwachender Telekommunikationsnetze festzustellen, was die Ausleitung und folgende Analyse eines gesamten Datenstromes wohl voraussetzt1102. Ferner kann der Bundesnachrichtendienst neben eigener Analyse auf öffentlich verfügbare Informationen über Übertragungswege zurückgreifen und Auskunftsersuchen an Telekommunikationsdienstleister richten1103. Die Beurteilung des Inhaltes von Datenströmen bezeichnet der Bundesnachrichtendienst als „Streckenauswahl“; diese diene schon im Vorfeld dazu, eine Erfassung von auch nach der 1096 Erläuterung anhand des Referenzmodells bei A. Królikowski, Packet Inspection in Zeiten von Big Data, in: Telemedicus e. V. (Hrsg.), Überwachung und Recht, 2014, S. 141 (145 ff.). 1097 Vertiefte technische Erläuterung bei Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 60. 1098 Diese Methode der Analyse der Zusammensetzung des Netzverkehrs für eine nachrichtendienstliche Überwachung bespricht Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 9 ff., der auch eine Beispielanalyse aus den Vereinigten Staaten anführt. Die Telekommunikationsdienstleister nutzen Deep Packet Inspection etwa, um Schadprogramme auszufiltern, Cyberattacken zu unterbinden und Störungen in der Netzinfrastruktur zu verhindern. Hierbei wird nicht auf den Inhalt zugegriffen. Diese und weitere Einsatzmöglichkeiten von DPI erläutert M. Bedner, „Deep Packet Inspection“ – Technologie und rechtliche Initiativen, in: CR 2010, S. 339 (341 ff.). 1099 Beispiel mitsamt Einführung in die DPI bei Bedner, ebd., S. 340; weitergehende Besprechung der DPI mitsamt einer Einschätzung der Legalität ders., Rechtmäßigkeit der „Deep Packet Inspection“, 2009, S. 2 ff. 1100 Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 12; die Studie zitiert K. Biermann, Der unvermeidliche Beifang des BND, abrufbar unter http://www.zeit.de/ digital/datenschutz/2016-10/chaos-computer-club-bnd-de-cix-ueberwachung (24.9.2017), ohne DPI könne der BND bei der strategischen Fernmeldeaufklärung nicht auskommen, da ohne diese eine Bestimmung der zu überwachenden Leitung unmöglich sei. 1101 Bedner, Inspection (Fn. 1098), S. 341 qualifiziert die DPI jedoch als Mittel zur „lawful interception“ von Telekommunikation durch „Geheimdienste“; den Einsatz der DPI nimmt auch Biermann, ebda., an. 1102 So Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 164. 1103 So der Zeuge A. F., Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 109 f.
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
Ansicht des Dienstes grundrechtlich geschützten Telekommunikationsteilnehmern zu verhindern1104. Wenn beispielsweise die Strecke Afghanistan–Pakistan erfasst werde, sei mit wenig bis kaum – unstreitig – G 10-geschützter Telekommunikation zu rechnen; somit handele es sich schon quasi um einen ersten Filterschritt1105. Gleiches gilt für die Fälle, in denen bereits hier Daten aus technischen Gesichtspunkten, etwa Daten von Streaming-Diensten oder aus Online-Gaming, ausgesondert werden1106. 2. Separator und „Daten-Filter-System“ als technischer Grundrechtsschutz Der Bundesnachrichtendienst nutzt nach den Erkenntnissen des NSA-Untersuchungsausschusses eine „Filterkaskade“, die die Einhaltung der strikten Trennung von rein nationalen-, internationalen und Ausland-Ausland-Telekommunikationsverkehren sowie der Telekommunikation von deutschen Staatsbürgern bei der nachrichtendienstlichen Überwachung sicherstellen soll1107. Durch diese Kaskade wird der beim Internet Provider ausgleitet bzw. an Satellitenempfangsanlagen durch den Bundesnachrichtendienst selbst erfasste Datenstrom in einem nächsten Schritt gerastert. Dabei muss stets der einzelne Telekommunikationsverkehr in den Blick genommen werden und nicht lediglich der aus einer Vielzahl von Verbindungen und Datenpakten bestehende Datenstrom1108. Das vom Bundesnachrichtendienst angewandte wohl zweistufige Verfahren setzt sich – nach den öffentlich zur Verfügung stehenden Informationsquellen – aus einem sogenannten Separator und einem nachfolgenden Filterungssystem zusammen1109. Für die verschiedenen Erfassungsstränge und Informationsarten bestehen spezifisch auf die jeweiligen Anforderungen zugeschnittene Filtersysteme1110. Die un1104
BT-Drs. 18/12850, S. 787 ff. Beispiel und Wiedergabe entsprechender Zeugenaussagen in BT-Drs. 18/12850, S. 946 f. 1106 BVerfGE 154, 152 (185 f., Rn. 19). 1107 Die Bezeichnung „Filterkaskade“ prägte der Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschusses Sensburg bei der Befragung eines Zeugen aus dem BSI, Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 73; Zusammenfassung der Zeugenaussagen über diesen Filterungsprozess, BT-Drs. 18/12850, S. 912 ff. 1108 So auch A. F., Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 110. 1109 Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 17 ff. Ob der Bundesnachrichtendienst mittlerweile ein abweichendes Filtersystem verwendet oder einzelne Komponenten substantiell optimiert hat, ist nicht bekannt, allerdings werden die Filtersysteme des Bundesnachrichtendienstes nach offiziellen Angaben laufend weiterentwickelt, hierzu BT-Drs. 19/422, S. 15; teilweise ist auch noch von weiteren Filterstufen die Rede, etwa in Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 102; die öffentliche Verfügbarkeit der Information über die Filter übersieht Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 265 m. Fn. 95, der davon ausgeht, dass es überhaupt keine zugänglichen Details über den Filterungsprozess gäbe. 1110 Stenographisches Protokoll I der 16. Sitzung des NSA-UA, S. 18. 1105
III. Identifizierung relevanter und legal erhebbarer Verkehre
217
terschiedlichen Systeme mit ihren Eigenarten sind nicht öffentlich bekannt und dürften auch in ihrer Komplexität den Rahmen einer juristischen Untersuchung übersteigen. Selbiges gilt für die Genauigkeit der Filtersysteme – diese blieb bezeichnenderweise auch im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung zwischen den Parteien letztlich strittig1111. Deswegen verstehen sich die hiesigen Schilderungen als simplifizierte Veranschaulichung der Filterkaskade; sie beziehen sich maßgeblich, soweit nicht weiter differenziert, auf die Erfassung von leitungsgebundener, paketvermittelter Telekommunikation. a) Separator Der erste Filterschritt in Form des Separators schließt sich unmittelbar an die Spiegelung und Ausleitung der Daten beim Internetprovider an. Es handelt sich hierbei um ein Gerät, das zunächst eine Datenreduktionsfunktion erfüllt, indem bestimmte von vornherein als nachrichtendienstlich irrelevant eingestufte IPAdressräume sofort aussortiert und gelöscht werden1112. Die maßgebliche Funktion des Separators ist jedoch die geographische Zuordnung der jeweiligen IP-Pakete und als Folge eine Einstufung der erfassten Verkehre in G 10- und „Routineverkehre“ anhand ihrer IP-Adresse1113. Der Separator teilt den erfassten Verkehr dafür in vier Kategorien auf, „gesichert G 10“, „gesichert Nicht-G 10“, „nicht identifiziert“ und „Spam“ 1114. Der „Spam“ Anteil wird ausgesondert. Die Kategorie „nicht identifiziert“ wurde (zumindest im Zeitraum um 2004, als die Kabelerfassung von paketvermittelten Verkehren begann) zur Sicherheit dem Bereich G 10 zugeschlagen, um im Zweifelsfall eine Erfassung von Grundrechtsträgern verhindern1115. Für den Bereich Ausland-Ausland-Telekommunikation blieb damals in der Folge nur ein Prozent der Datenrate übrig1116. Technisch wird der G 10-relevante Teil des Verkehrs in einem Strang ausgeleitet (auch als DE-Pakete bezeichnet)1117 und der als „Routineverkehr“ eingestufte Anteil auf einem anderen Strang, welche sodann getrennt weiterverarbeitet werden1118.
1111
BVerfGE 154, 152 (186, Rn. 19). Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 18; zum vom Zeugen im Ausschuss beschriebenen Zeitrahmen wurden aufgrund der großen Datenmengen bis zu 90 Prozent schon durch den Separator verworfen, BT-Drs. 18/12850, S. 922. 1113 Übersicht, freilich ohne technische Einzelheiten bei Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 115; detailliert Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 18; sowie Stenographisches Protokoll I der 28. Sitzung des NSA-UA, S. 33; zusammenfassend BT-Drs. 18/12850, S. 925. 1114 Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 72. 1115 Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 75. 1116 Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 75. 1117 BT-Drs. 18/12850, S. 925. 1118 BT-Drs. 18/12850, S. 925. 1112
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
b) DAFIS-Filter Im Anschluss an den Separationsprozess müssen zum einen die einzelnen erfassten IP-Pakete wieder zu einer sinnvollen Einheit zusammengeführt werden, zum anderen soll eine weitere Sicherung die Verkehre, die unstreitig unter das G 10 fallen, erneut filtern sowie den reinen Ausland-Ausland-Verkehr um Deutsche bereinigen. Dazu nutzt der Bundesnachrichtendienst ein selbstentwickeltes, automatisiertes Daten-Filter-System („DAFIS“), das speziell für die Identifizierung von deutschen Telekommunikationsverkehren entwickelt wurde1119. Der DAFIS-Filter folgt nach Zeugenaussagen als nächster Schritt auf den Separator1120. Der DAFIS-Filter wird sowohl auf den vom Separator ausgeleiteten G 10Strang als auch auf den „Routine-Strang“ angewendet1121. Dies geschieht, um auch im Bereich des „Routine-Stranges“ eventuell fälschlich zugeordnete deutsche Kommunikation noch aufzufinden und ausfiltern zu können1122. Das Datenfilterungssystem umfasst seinerseits insgesamt drei Stufen: Auf der ersten Filterstufe werden die Telekommunikationsdaten anhand technisch eindeutig identifizierbarer Parameter auf ihren Grundrechtsbezug überprüft, indem im Bereich der leitungsvermittelten Telefonie nach der Länderkennung „0049“ und im paketvermittelten Segment etwa nach der Top Level Domain1123 „.de“ gefahndet wird1124. Auf einer zweiten Stufe erfolgt ein – immer noch vollautomatischer – Abgleich mit einer „G 10-Positivliste“ 1125, die Telekommunikationsmerkmale deutscher Staatsangehöriger enthält, welche nicht bereits durch den auf rein technische Telekommunikationsmerkmale fokussierten ersten Filterschritt ausgesondert wurden1126. Dabei werden etwa deutsche natürliche Personen im Ausland oder ausländische Staatsbürger mit dauerhaftem oder temporärem Aufenthalt im 1119 Kurze Zusammenfassung in BVerfGE 154, 152 (185 f., Rn. 19); eine ausführliche Darstellung des DAFIS-Filters liefert als sog. Sachverständige Vertrauensperson des NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestages Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 27; zum Einsatz von DAFIS sowohl für die Filterung der BND-eigenen Erfassung, also auch zur automatisierten Überprüfung von durch die NSA bereitgestellte Selektoren BT-Drs. 18/12850, S. 790; zur Filterung von NSA-Selektoren auch BVerfGE 143, 1 (2, Rn. 3). 1120 Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 20. 1121 BT-Drs. 18/12850, S. 926; Einlassung des Zeugen Breitfelder, Stenographisches Protokoll I der 28. Sitzung des NSA-UA, S. 22; ebenso Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 20; a. A. Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 123, der die Aussage von Breitfelder dahingehend versteht, dass lediglich eine DAFIS-Filterung des reinen „Routine-Stranges“ erfolge. 1122 BT-Drs. 18/12850, S. 926; Stenographisches Protokoll I der 28. Sitzung des NSA-UA, S. 22. 1123 Technischer Hintergrund und Funktion erläutert bei Sieber, Grundlagen (Fn. 1035), Rn. 59 ff. 1124 Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 192; Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 28. 1125 Formulierung von Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 28. 1126 Hierzu Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 219.
III. Identifizierung relevanter und legal erhebbarer Verkehre
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Inland identifiziert1127. Solche Personen können dem Bundesnachrichtendienst etwa durch bereits durchgeführte Individualüberwachungsmaßnahmen gemäß § 3 G 10 bekannt geworden sein1128. Abschließend erfolgt auf einer dritten und letzten Filterstufe erstmals ein inhaltlicher Abgleich mit einer Wortdatenbank, die „deutsche Interessen“ beinhaltet1129. In der Praxis werden hierunter deutsche und europäische schutzwürdige Personen und Einrichtungen zu verstehen sein, die unabhängig vom Standort und den jeweiligen Telekommunikationsmerkmalen aus der Aufklärung ausgeschlossen werden sollen1130. Es handelt sich mithin um eine politisch motivierte Filterung, die Ziele ausnehmen soll, deren Erfassung als nicht opportun eingestuft wird. Eine genauere Einschätzung wie das Filterungssystem weitergehend im Detail funktioniert, ist öffentlich nicht zugänglich.1131. Bemerkenswert ist allerdings, dass eine Untersuchung und Zertifizierung des Separators und von DAFIS gemäß § 9 BSIG durch das zuständige Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik im Regelbetrieb nie stattgefunden hat. Stattdessen wurden lediglich Dokumente geprüft und eine Vor-Ort-Besichtigung im Testbetrieb bzw. unter Laborbedingungen durchgeführt1132. Bei der Vernehmung eines vom Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik bestellten Technikers für die Zertifizierung des Separators und des DAFIS-Filters im NSA-Untersuchungsausschuss hieß es gar, was das Filter-System genau tue, wüssten nur der liebe Gott und der Bundesnachrichtendienst allein1133. 1127 Siehe erneut die Zusammenfassung von Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 192, basierend auf dem grundlegenden Prüfbericht von Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663) S. 28. 1128 Beispiel zur Generierung der G 10-Liste von Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 28 f. 1129 Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 29, 184 ff. 1130 Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 192; Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 29, 184 ff. 1131 Dies ist insoweit verständlich, als die Offenlegung von Details hierüber womöglich für Akteure von nachrichtendienstlichem Interesse die Möglichkeit böte, ihr Kommunikationsverhalten anzupassen bzw. ihre Übertragungen sogar als deutschen und mithin geschützten Fernmeldeverkehr zu tarnen. Auf diese von einer weitgehenderen Transparenz ausgehende Gefahr weist auch S. Heumann, Bundesnachrichtendienst unter Beobachtung: Erste Erkenntnisse aus eineinhalb Jahren Überwachungsdebatte, 2015, S. 6, hin; die Studie ist abrufbar unter https://www.stiftung-nv.de/de/publikation/bun desnachrichtendienst-unter-beobachtung-erste-erkenntnisse-aus-eineinhalb-jahren (17.4. 2018). Zudem ließen genauere Angaben über den Filterprozess auch einen Rückschluss auf die technischen Kapazitäten des Bundesnachrichtendienstes im Bereich der Fernmeldeaufklärung zu. 1132 Siehe dazu den Bericht von Biermann, Beifang (Fn. 1100); zudem A. Roth, Wer kontrolliert wen?, in: vorgänge 215 (2016), S. 3 (7); ebenso der für die Zertifizierung seinerzeit zuständige BSI-Ingenieur und Zeuge Golke in seinem Eingangsstatement, Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 7. 1133 So der Abg. v. Notz, Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 30.
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
aa) Geolokalisation von IP-Adressen mittels Separator nicht gänzlich fehlerfrei Fraglich ist, wie genau eine durch den Separator vorgenommene Geolokalisation von IP-Adressen sein kann. Es gibt verschiedene technische Ansätze, die eine geographische Zuordnung von IP-Adressen zum Ziel haben. Ganz grundlegend wird dabei zwischen aktiven Messverfahren und passiven tabellenbasierten Verfahren differenziert1134. Die Messverfahren stützen sich dabei auf Antwortzeiten, auch Latenzen genannt, die diejenige Zeit angeben, die ein Datenpaket im Netz von einem zum anderen Rechner benötigt1135. Semantische Verfahren hingegen basieren auf der Ausleitung standortbezogener Informationen einer zu ermittelnden Adresse und dem Abgleich mit öffentlich zugänglichen Datenbeständen, was die Bearbeitung wesentlich größerer Datenmengen ermöglicht1136. Der aktuell meistgenutzte Ansatz besteht jedoch in der Konsultation kommerziell betriebener Datenbanken, die eine geografische Zuordnung von IP-Adressen gegen eine Gebühr bereitstellen1137. Viel mehr als der technische Ansatz ist für die juristische Bewertung die Frage der Genauigkeit solcher Analysemethoden entscheidend1138. Eine einheitliche 1134 Differenzierung in der Arbeit von P. T. Endo/D. F. H. Sadok, Whois Based Geolocation: a strategy to geolocate Internet Hosts, in: 24th IEEE International Conference on Advanced Information Networking and Applications, Recife 2010, S. 408 (409); dem folgend Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 28; leicht differenzierte Einteilung bei Hoeren, Geolokalisation (Fn. 1057), S. 231. 1135 Definition bei Hoeren, Geolokalisation (Fn. 1057), S. 230. 1136 Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 25; Einführung in den Datenbankabgleich bei T. Hoeren, Zoning und Geolocation – Technische Ansätze zu einer Reterritorialisierung des Internets, in: MMR 2007, S. 3 (4 f.). Eine Möglichkeit besteht darin, auf Informationen des für Europa zuständigen RIPE NCC zurückzugreifen und mit einer der im Internet öffentlich zugänglichen „whois“ Abfragen, die bei der Vergabestelle hinterlegten Besitzer einer IP-Adresse (Internet Service Provider, Unternehmen, öffentliche Institution etc.) sowie weitere Informationen, wie etwa Postanschrift des Besitzers, Kontaktemail und Telefonnummern einzusehen, woraus sich dann Rückschlüsse auf geographische Standorte ziehen lassen, dazu F. Backu, Geolokalisation und Datenschutz, in: ITRB 2009, S. 88 (89); Hoeren, Geolokalisation (Fn. 1057), S. 231. „Whois“ Abfragen sind etwa möglich unter https://www.whois.com/whois/ (11.8.2017). Ein weiterer Ansatz ist es, den Weg eines Datenpaketes über die verschiedenen Router zu ermitteln, indem ein „Echopaket“ gesendet wird und die passierten Router eine Antwort nach der Durchleitung zum anfragenden System zurücksenden (sogenanntes Tracing); dazu vertieft Hoeren, Geolokalisation (Fn. 1057), S. 231; Sieber, Grundlagen (Fn. 1035), Rn. 71 ff. 1137 Ein Anbieter ist etwa https://www.maxmind.com/de/home (20.10.2018). 1138 Im rechtswissenschaftlichen Kontext ist die Geolokalisation von IP-Adressen bisher nur eingeschränkt behandelt worden. Hoeren, Zoning (Fn. 1136), S. 3 spricht 2007 noch davon, dass sich bisher nur wenige Juristen mit dem Thema auseinandergesetzt hätten. Vor allem im Bereich der rechtlichen Kontrolle von Online-Glücksspielen werden Fragen der Geolokalisation virulent, dazu ders., Geolokalisation (Fn. 1057), S. 313 ff.; ebenso wird unter den Termini „Geoblocking“ und „Zoning“ die geographische Beschränkung von Inhalten im Internet, wie etwa Video- und Musikstreaming-
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Bewertung ist in der Literatur nicht ersichtlich, es wird jedoch mit prozentualen Angaben gearbeitet, und zum Teil werden sogar Annäherungswerte in Kilometern auf eine zu bestimmende IP-Adressen-Position publiziert1139. Für die Genauigkeit von tabellenbasierten Abfragen werden Zahlen von 96 bis 98 Prozent Genauigkeit1140 bzw. 99 Prozent auf Länderebene und 80 Prozent auf Städteebene1141 angenommen. Dabei ist allerdings eine durchschnittliche Abweichung von ca. 400 bis 500 Kilometern möglich1142. Ebenso spielt bei der Abfrage von IP-Datenbanken deren Güte und Aktualität eine ausschlaggebende Rolle1143. Um auch anfänglich anhand der IP-Adresse falsch zugeordneten Datenverkehr von Deutschen oder Inländern noch zu erkennen, nutzt der Bundesnachrichtendienst nach eigenen Angaben weitere – nicht näher spezifizierte – „Formalkriterien“ und Metadaten zur Filterung1144. Eine abschließende Fehlerquote konnte auch im Verfahren um die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung bedauerlicherweise nicht bestimmt werden1145. Im Ergebnis fällt die Bewertung der Geolokalisationsverfahren gemischt aus. Einerseits wird angenommen, dass die aufgezeigten Ansätze hinreichend zuverlässige Entscheidungen über die Quell- und Ziel-IP-Adresse ermöglichten und mithin eine Identifizierung von reiner Inlands-, internationaler sowie AuslandDienste, diskutiert, die ebenfalls eine Lokalisierung der IP-Adresse voraussetzen. Zu den hiermit assoziierten urheber- und insbesondere europarechtlichen Fragen vgl. A. Wiebe, Geoblocking im Lichte von europäischem Recht und europäischer Rechtsprechung, in: ZUM 2015, S. 932 ff.; M. Schwarz, Geoblocking und Portability aus urheber- und europarechtlicher Sicht, in: ZUM 2015, S. 950 ff.; siehe nunmehr zur neuen EU Geoblocking-Verordnung (VO [EU] 2018/302), die am 3.12.2018 in Kraft trat, vgl. hierzu nur J. Bernhard, Die Geoblocking-Verordnung in der Praxis, in: NJW 2019, S. 472 (472 ff.). 1139 Aktive Messverfahren eignen sich nicht für größere Datenmengen, und die Ergebnisse zur Standortbestimmung wurden unter Laborbedingungen erzielt und sind mithin nicht ohne Weiteres auf reale Situationen übertragbar, weswegen sie hier außer Betracht bleiben, siehe weiterführend Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 28; Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 13. 1140 Zahlen bei Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 29; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 13, geht von einer Genauigkeit von 90 bis 95 Prozent hinsichtlich der Bestimmbarkeit der Zielregion von IP-Adressen aus. Der eco-Verband der Internetwirtschaft e. V. nimmt eine Leistungsfähigkeit des Filtersystems des BND von 96 bis 98 Prozent an, hierzu eco, Praktische Auswirkungen und technische Implikationen des Entwurfs eines Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (BT-Drs. 18/9041), S. 7, abrufbar unter https://www.eco.de/wp-content/blogs.dir/20161014-_eco _stn_-bndg-e.pdf (18.4.2018). Die Bundesregierung selbst beziffert die Genauigkeit der IP-Adressen Länderzuordnung mit 98 Prozent, BVerfGE 154, 152 (186, Rn. 19). 1141 Zahlen bei Hoeren, Geolokalisation, (Fn. 1057), S. 314. 1142 Einschätzung von Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 29. 1143 An deren Aktualität zweifelt Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 13; die Notwendigkeit für die Filterfunktion betont Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 40. 1144 BVerfGE 154, 152 (186, Rn. 19). 1145 Dazu erneut BVerfGE 154, 152 (186, Rn. 19).
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
Ausland-Kommunikation1146. Andere betonen, dass keine der Geolokationsmethoden genau genug sei, festzustellen, wo sich eine IP-Adresse tatsächlich befände1147. Es lässt sich aber dennoch eine wichtige, insoweit unbestrittenen, Erkenntnis zur Frage der Geolokalisation für die gesamte Fernmeldeaufklärung festhalten: Eine 100-prozentige Genauigkeit bei der Bestimmung der geographischen Lage von IP-Adressen und damit dem Anfangs- und Endpunkt von Telekommunikationsverbindungen ist mit den zur Verfügung stehenden Methoden technisch schlechterdings nicht zu erreichen1148. Es verbleibt daher stets ein Restrisiko, dass IP-Adressen falsch zugeordnet werden. Dieses Risiko steigt naturgemäß mit der Menge der zu lokalisierenden Adressen. Am Internet-Exchange-Point DE-CIX werden jeden Tag mehrere Milliarden Verbindungen verarbeitet1149. Dies könne, so der Betreiber, jedoch selbst bei einer unterstellten Filtergenauigkeit von 99,9 Prozent bedeuten, dass täglich mehrere Millionen Verkehre fälschlich anhand ihrer IP-Adresse zugeordnet würden1150. Die Bundesregierung beharrt hingegen darauf, dass die Fehlerquote insgesamt sehr gering sei1151. Mit einer weiteren starken Zunahme der Datenvolumina in Zukunft ist indes zu rechnen, da immer mehr und immer komplexere Anwendungen immer mehr Daten generieren, die über das Internet versandt werden. Zudem existieren zahlreiche Verschleierungstechniken, die eine Zuordnung gänzlich unmöglich machen und die mit verhältnismäßig geringem Aufwand und bereits mit begrenz-
1146 Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 29; für eine Einsetzbarkeit in juristischen Fragestellungen, konkret im Glücksspielrecht Hoeren, Geolokalisation (Fn. 1057), S. 314; a. A. zuvor lehnt noch ders., Zoning (Fn. 1136), S. 6, einen Einsatz aufgrund von Ungenauigkeiten im Kontext präziser juristischer Differenzierungsnotwendigkeiten ab. 1147 Rechthien, Sachverständigen-Gutachten (Fn. 1009), S. 2, 13; allgemein kritisch ohne direkten Bezug zur Geolokalisation auch Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 557 f. 1148 Zu diesem Ergebnis gelangen auch die im NSA-Untersuchungsausschuss geladenen Zeugen, worunter sich auch Mitarbeiter des BND befinden, die unmittelbar mit den technischen Details der paketvermittelten Fernmeldeaufklärung befasst sind, Zusammenfassung in BT-Drs. 18/12850 S. 718 ff.; für die Privatwirtschaft siehe die Aussage des Zeugen Landefeld in Stenographisches Protokoll I der 43. Sitzung des NSA-UA, S. 73; ebenso resümieren in Bezug auf Geolokalisationstechniken aus der Literatur Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 122; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 192; T. Wetzling, Germany’s intelligence reform: More surveillance, modest restraints and inefficient controls, 2017, S. 23 f., abrufbar unter https://www.stiftung-nv.de/de/publika tion/germanys-intelligence-reform (28.3.2018); Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 10; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 13; Schantz, Rechtsschutz (Fn. 489), S. 874; Backu, Geolokalisation (Fn. 1136), S. 89. 1149 Angaben bei eco, Auswirkungen (Fn. 1140), S. 7. 1150 So zumindest die Einschätzung in der Stellungnahme von eco, Auswirkungen (Fn. 1140), S. 7. Dem Papier lässt sich jedoch nicht entnehmen, wie diese Zahlen zustande kommen, noch werden weitere Nachweise dargeboten. Diese Aussage lässt sich somit schwerlich verifizieren. 1151 BVerfGE 154, 152 (186, Rn. 20).
III. Identifizierung relevanter und legal erhebbarer Verkehre
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ten Technikkenntnissen eingesetzt werden können, weswegen die referierten Ergebnisse in diesen Fällen nicht erreicht werden können1152. Spätestens seit den Snowden-Veröffentlichungen dürften sich zahlreiche Personen und Institutionen von nachrichtendienstlichem Interesse derartiger Techniken bedienen. Es sei nur abschließend angemerkt, dass, rein theoretisch, durch die Manipulation von Routingwegen, Daten sogar absichtlich bei ihrem Transport über das Ausland geleitet werden könnten1153. Im Ergebnis ist die Geolokalisation von IP-Adressen nicht gänzlich fehlerfrei – die fälschliche geographische Zuordnung einer deutschen IP-Adresse als im Ausland befindlich und umgekehrt kann schlechterdings nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden1154. bb) Aussonderung von geschützten Telekommunikationsteilnehmern als komplexe Herausforderung Die Geolokalisation von IP-Adressen bezieht sich immer nur auf einen einzelnen Verbindungsvorgang bzw. ein einzelnes Datenpaket und bestimmt bei diesem die Quell- und Ziel-IP-Adresse geographisch. Bei der Fernmeldeaufklärung kommt es indes maßgeblich ebenso auf den Standort der an dem Kommunikationsvorgang beteiligten individuellen Personen sowie deren Staatsangehörigkeit an. Ein besonderes Charakteristikum moderner paketvermittelter Kommunikation ist die Tatsache, dass die weit überwiegende Anzahl der Privatnutzer sowie diverse kleinere Unternehmen sich der Programme und Applikationen von Kommunikationsdienstleistern bedienen, um zu kommunizieren, und nicht etwa eigene Server besitzen. Viele dieser Anwendungen sind unabhängig von den eigentlichen Netzbetreibern und werden, im Gegensatz zur Telefonie oder zu SMS-
1152 Hierzu zählt der Einsatz von Virtual-Private-Networks (VPN) und die Nutzung von Proxy-Servern, über die eine Einwahl eines Rechners in das Internet erfolgt, ebenso wie Dial-Up-Verbindungen. In diesen Fällen lassen sich im Regelfall nur der Standort des Proxy-Servers bzw. des VPN-Endpunktes lokalisieren. Zu den verschiedenen Verschleierungsmethoden vertiefend Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), S. 502; Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 29 f.; Backu, Geolokalisation (Fn. 1136), S. 89; Hoeren, Geolokalisation (Fn. 1057), S. 311 f. 1153 Auf die Manipulierbarkeit von Routingwegen und die hiermit verknüpfte theoretische Möglichkeit, inländische Schutzstandards zu unterlaufen weist T. Wischmeyer, Überwachung ohne Grenzen, 2017, S. 81, aus Sicht der US-amerikanischen Interpretation des begrenzten territorialen Schutzbereiches des 4. Verfassungszusatzes hin. 1154 Von einer nahezu „unmöglichen“ Zuordnung von digitaler Kommunikation zu Hoheitsgebieten spricht Brissa, Entwicklungen (Fn. 485), S. 770; zweifelnd auch Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 55; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 228; Heumann, Erkenntnisse (Fn. 1131), S. 6; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 2 f.; Hoffmann-Riem, Freiheitsschutz (Fn. 1027), S. 56, hält geographische Anknüpfungspunkte für Kommunikation generell für überholt; im Ergebnis auch BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 116 f.); a. A. allgemein bezogen auf den gesamten Filterprozess ohne direkten Bezug zur Geolokalisation der Jurist der Abteilung Technische Aufklärung beim BND A. F., Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 102.
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
Diensten, als sogenannte Over-The-Top-Dienste (OTT-Dienste) über das „offene Internet“ erbracht1155. Als solche sind z. B. die E-Mail-Dienste „Gmail“, „GMX“ aber auch Instant Messenger wie „WhatsApp“, „Facebook Messenger“ oder, jedenfalls faktisch, VoIP-Anwendungen, etwa „Skype“, zu klassifizieren1156. Die Messenger Kommunikation spielt gerade im Bereich der Mobiltelefone eine immer größer werdende Rolle, verdrängt weitgehend die SMS und mindert sogar die Anzahl der Telefonate1157. (1) Mehrere Übertragungswege bei Client-Server-Architektur Bei E-Mail Diensten und Messengern rufen die Nutzer eine Website des EMail-Dienstleisters auf oder installieren eine Messengerapplikation auf ihrem Endgerät, dem sogenannten Client, und übermitteln sodann die Nachricht über Server an ihren Kommunikationspartner1158. Deswegen ist von einer Client-Server-Architektur die Rede. Grundsätzlich unterscheiden sich die klassische E-Mail und die Messenger bei der Übertragungsweise kaum, obschon sie auf unterschiedlichen informationstechnischen Protokollen beruhen1159. Sobald z. B. Nutzer A eine E-Mail oder Messengernachricht schreibt, wird diese an den Server 1 des jeweiligen Dienstleisters gesendet und von dort an einen weiteren Server 2 des anderen Dienstleisters (sofern nicht derselbe Server 1 zuständig ist) und dann erst an den jeweiligen Zielnutzer B1160: Wenn unterschiedliche E-Mail1155 Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), S. 500; J. Kühling/T. Schall, WhatsApp, Skype & Co. – OTT-Kommunikationsdienste im Spiegel des geltenden Telekommunikationsrechts, in: CR 2015, S. 641 (641). 1156 Rechtlich ist die Einordnung von OTT-Diensten freilich nach wie vor im Fluss. „Gmail“ ist nach jüngster Ansicht des EuGH ein OTT-Dienst, der über das offene Internet erbracht wird und damit kein Telekommunikationsdienstleister im Sinne des § 3 Nr. 24 TKG a. F., EuGH, Urteil vom 13.6.2019 – C-193/18, Rn. 26 ff. – Gmail; „Skypeout“, die Bezahlversion des VoIP-Anbieters „Skype“, soll rechtlich hingegen als Telekommunikationsdienstleister einzustufen sein, EuGH, Urteil vom 5.6.2019 – C-142/18, Rn. 22 ff. – Skype Communications; siehe dazu Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), S. 500 f.; zuvor schon H. Gersdorf, Telekommunikationsrechtliche Einordnung von OTT-Diensten am Beispiel von Gmail. in: K&R 2016, S. 91 (91 f.); Kühling/Schall, ebd., S. 642; siehe zu den Datenflüssen bei Facebook auch R. Klecha, Datenübermittlung in die USA nach dem Safe-Harbor-Urteil des EuGH, 2018, S. 28 ff.; allgemein zu OTT-Diensten auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 164. 1157 Zur Expansion der Messenger im Mobilfunkbereich M. Schneider, WhatsApp & Co. – Dilemma um anwendbare Datenschutzregeln – Problemstellung und Regelungsbedarf bei Smartphone-Messengern, in: ZD 2014, S. 231 (232). 1158 Kühling/Schall, WhatsApp (Fn. 1155), S. 643; zu den technischen Details in Bezug auf Echtzeitkommunikationsdienste Wölm, Schutz (Fn. 507), S. 29 ff. 1159 Schneider, Dilemma (Fn. 1157), S. 232. 1160 Die Übertragungswege illustrieren A. Grünwald/C. Nüßing, Kommunikation over the Top – Regulierung für Skype, WhatsApp oder Gmail?, in: MMR 2016, S. 91 (92 f.); dazu auch Kühling/Schall, WhatsApp (Fn. 1155), S. 644; Rodosek, Sachverständigengutachten (Fn. 1009), S. 20; zum gesamten Problem der Zuordnung von paketbasierter Kommunikation zu individuellen Kommunikationsteilnehmern mit den hier im
III. Identifizierung relevanter und legal erhebbarer Verkehre
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Dienstleister genutzt werden, entstehen damit mindestens drei separate Übertragungswege zwischen A und Server 1, zwischen den Servern 1 und 2 und Server 2 und B. Bei Messengerkommunikation kann auch häufig ein Server für eine Vielzahl von Nutzern zuständig sein. Im Rahmen der Fernmeldeaufklärung wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass nur einer dieser Übermittlungsvorgänge durch den Bundesnachrichtendienst erfasst wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Verkehre durch das Ausland geroutet werden. Bei der skizzierten Beispielskommunikation wird sehr wahrscheinlich also entweder nur der Datenfluss von A zu seinem Dienstleister, von Server 1 zu Server 2 oder die finale Übermittlung hin zu B. Deswegen kann die Quell- und Ziel-IP-Adresse – sofern man eine korrekte Geolokalisation unterstellt – im Regelfall lediglich Rückschlüsse auf den Standort von A sowie dem Server 1, bzw. den Servern 1 und 2 oder von Server 2 und B zulassen. Bei einer E-Mail freilich wird im Header der gesamte Übertragungsweg abgebildet, sodass sich bei einer Erhebung auf der letzten Teilstrecke sowohl der Standort von A und B sowie der übermittelnden Server ermitteln lassen, wenn der Header ausgewertet wird1161. Damit ließe sich theoretisch sowohl der Standort des von A und B verwendeten Internetanschlusses bestimmen. Insoweit handelt es sich jedoch um eine Besonderheit der E-Mail, die in dem hierfür verwendeten Anwendungsprotokoll begründet liegt1162. Vor allem Messengerdienste arbeiten mit anwendungsspezifischen, internen Nutzerkennungen, die nicht zwangsläufig eine IP-Adresse beinhalten müssen und übertragen auch bei den einzelnen Verbindungen als Quell-IP lediglich diejenige des Serverbetreibers (Facebook etc.)1163. Hier stößt die Lokalisation von individuellen Teilnehmern an ihre Grenzen. Diese Beispiele geben einen Eindruck, wie hochkomplex das Auffinden der konkreten geographischen Position eines Kommunikationsteilnehmers ist. (2) Einschränkungen der DAFIS-Filter Die Filterung auf der ersten DAFIS-Stufe etwa anhand der Top-Level-Domain „.de“ kann allenfalls einen unterstützenden Beitrag zur geographischen Zuordnung Folgenden verwendeten Beispielen siehe instruktiv M. Bäcker, Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz über den Bundesnachrichtendienst (BNDG), 2018, S. 57 f., abrufbar unter https://freiheitsrechte.org/link/bndg-vb/ (30.4.2018). 1161 Zu den Angaben im E-Mail-Header, der Auflistung der beim Versand durchlaufenen Server sowie zum SMTP-Protokoll A. Marberth-Kubicki, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 586 ff.; Germann, Gefahrenabwehr (Fn. 1075), S. 71 f. 1162 Bei Gmail wiederum wird mit hoher Wahrscheinlichkeit als Absender nur der Server von Google angezeigt, siehe dazu die Beschreibung der Rückverfolgung einer E-Mail unter https://www.whatismyip.com/how-to-trace-an-e-mail-address (30.4.2018). 1163 So ist die IP-Adresse eines Facebooknutzers wohl nicht zurückzuverfolgen, da lediglich die Adresse des Facebookservers in den USA übertragen wird, siehe dazu die Beschreibung unter, https://www.whatismyip.com/can-i-get-the-ip-address-of-afacebook-user/ (30.4.2018); hierzu auch M. Bäcker, Verfassungsbeschwerde BNDG (Fn. 1160), S. 57 f.
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
leisten, etwa wenn die E-Mail eines deutschen Staatsbürgers von einem deutschen Anschluss an einen Empfänger im Ausland verschickt, versehentlich durch den Separator als Ausland-Ausland-Verkehr eingestuft wurde, aber die E-MailAdresse eines deutschen Providers genutzt wird, die auf „.de“ endet. In diesem Falle ließe sich der geschützte Verkehr noch aus dem Ausland-Ausland-Strom isolieren. Allerdings existieren zahlreiche Anbieter etwa von E-Mail-Konten, wie „Gmail“ oder Microsofts „Outlook“, die ihre Server im Ausland betreiben – in der Regel in den USA – deren Nutzung gleichwohl bei deutschen Kunden weit verbreitet ist1164. Eine Zuordnung anhand der Top-Level-Domain wird somit ungleich schwieriger, wenn solche Anbieter genutzt werden, um rein national oder auch international zu kommunizieren, da die E-Mail-Adressen dann auf „.com“ enden1165. In diesem Fall kann die Sicherung der IP-Geolokalisation (SeparatorStufe) leerlaufen und auch die erste DAFIS-Filterstufe, was dazu führt, dass bei rein nationaler Kommunikation beider Teilnehmer mittels „Gmail“ teils erst durch „manuelle Maßnahmen“, sprich das Lesen der Nachrichten durch Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes, festgestellt werden kann, dass (deutsche) Grundrechtsträger betroffen sind1166. In diesem Fall kann die automatisierte Filterung versagen. Ebenso ist es denkbar, dass eine ausländische Staatsangehörige – wohlmöglich noch mit permanentem Aufenthalt in der Bundesrepublik1167 – eine E-Mail auf Polnisch von Hamburg nach München über einen US-Provider sendet1168. Dann würde selbst eine nachträgliche sprachliche Auswertung des Inhaltes der E-Mail kaum mehr Klärung über den geschützten Status der Kommunikation bringen können. Auf der ersten DAFIS-Stufe ist ebenso eine Aussonderung von geschützten Verkehren nicht mehr zu realisieren, wenn gar deutsche Staatsbürger im Ausland über ausländische Anbieter (.com) oder Messenger kommunizieren1169. Wenn der Bundesnachrichtendienst nicht weiß, dass es sich 1164 Die verbreitete Belegenheit von Internetdienstleistern bzw. deren Servern im (nicht EU-)Ausland sowie deren weitreichende Nutzung durch deutsche Staatsangehörige betonen M. Lachenmann, Das Ende des Rechtsstaates aufgrund der digitalen Überwachung durch die Geheimdienste?, in: DÖV 2016, S. 501 (504); M. Heidebach, Die NSA-Affäre in Deutschland – Stößt der Grundrechtsschutz an seine Grenzen?, in: DÖV 2015, S. 593 (594); Schantz, Rechtsschutz (Fn. 489), S. 874; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 557; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 2. 1165 Die Frage einer verlässlichen Zuordnung von „.com“ Top-Level-Domains wirft auch Schaar, Überwachung (Fn. 1016), S. 449 auf. 1166 Dazu Heumann, Erkenntnisse (1131), S. 5 f.; noch 2014 war dies wohl der Fall, wie eine Verhandlung vor dem BVerwG ergab, siehe dazu die Zusammenfassung eines Prozesstages durch N. Härting, abrufbar unter http://www.cr-online.de/blog/2014/05/ 29/bnd-ueberwachung-prozesstag-in-leipzig-neue-erkenntnisse/. 1167 Dieses weitere Kriterium müsste nach Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827, noch Beachtung finden. 1168 Beispiel bei Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 228. 1169 Beispiel mit Bezug auf deutsche Staatsbürger, die per Handy – mit ausländischen SIM-Karten – im Ausland miteinander kommunizieren, in: Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 119 ff., 138 ff.
III. Identifizierung relevanter und legal erhebbarer Verkehre
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um einen auch nach seiner Rechtsauffassung geschützten Grundrechtsträger handelt, kann er diesem auch keinen rechtlichen Schutz zukommen lassen1170. Hier gibt es keinerlei Anhaltspunkte mehr auf einen geschützten Verkehr. In Anbetracht von globalen Reise- und Berufsverbindungen ist dies kaum ein utopisches Szenario. Dies gilt erst recht bei der Nutzung von Mobiltelefonen, die über Landesgrenzen verbracht werden können und somit auf einmal eine inländische Telekommunikation darstellen können, obschon die Telefonnummer als rein ausländischer Selektor gesteuert wird1171. Es wird beispielhaft deutlich, wie viele unterschiedliche Konstellationen möglich sind und wie komplex die Aussonderung der Telekommunikation von individuellen Teilnehmern ist. Eine Filterung anhand der Top-Level-Domain, aber auch des Landeskenners „0049“ kann im Ergebnis nicht mit letzter Sicherheit geschützte Verkehre ausfiltern, dafür ist dieser Erfassungsansatz schlichtweg zu grob angelegt1172. Eine Aussonderung von geschützten Teilnehmern wäre zwar auf der zweiten Filterstufe immer noch möglich, allerdings ist zu beachten, dass der Bundesnachrichtendienst die Positivliste nur anlassbezogen ergänzt, also keine eigenständige, routinemäßige Aktualisierung vornimmt, um noch unbekannte Personen, die auch nach seiner bisherigen Rechtsauffassung nicht außerhalb des G 10 überwacht werden dürfen, zur Auflistung hinzuzufügen1173. Eine solche rein präventive Erhebung und Speicherung der personenbezogenen Daten von nicht überwachbaren Grundrechtsträgern erschiene ohnehin datenschutzrechtlich höchst bedenklich1174. Um nämlich fehlerfrei zu funktionieren, müssten darin denklogisch alle geschützten Teilnehmer und somit alle deutschen Staatsbürger und sich im Inland permanent oder temporär aufhaltenden Personen gespeichert werden. Damit kann aber in diesem zweiten Filterungsschritt realistischerweise nur eine begrenzte Aussonderung erfolgen. Insgesamt stellt der DAFIS-Filter zwar ein weiteres Sicherungssystem neben dem Separator dar, jedoch kann auch dieser Sicherungsmechanismus aufgrund 1170 So auch die Schlussfolgerung von A. F., Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 120. 1171 Dieses Beispiel weiterer Verkomplizierung einer Zuordnung präsentiert Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), S. 502. 1172 Kritisch zur ersten DAFIS Stufe Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 227 f.; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 10; Lachenmann, Ende (Fn. 1164), S. 504; Schantz, Rechtsschutz (Fn. 489), S. 874. 1173 Darauf weist Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 29 hin. 1174 Auf die datenschutzrechtliche Unzulässigkeit einer pauschalen Erhebung und Speicherung personenbezogener Daten für die G 10-Positivliste weist auch die seinerzeitige BfDI A. Voßhoff, Datenschutzrechtliche Beratung und Kontrolle gemäß § 24 und § 26 Absatz 3 Bundesdatenschutzgesetz der Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten in bzw. in Zusammenhang mit der Dienstelle des BND in Bad Aibling, 2016, Teil 1 C. I. 1., abrufbar unter https://netzpolitik.org/2016/geheimer-pruefberichtder-bnd-bricht-dutzendfach-gesetz-und-verfassung-allein-in-bad-aibling/#Sachstandsbe richt (17.1.2018), in ihrem als „geheim“ eingestuften Bericht hin.
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E. Technische Hintergründe und praktische Umsetzung
der technischen Gegebenheiten und der Vielzahl der unterschiedlichen Kombinationen aus möglichen Kommunikationsanbietern und deren Sitz und der Staatsangehörigkeiten der Nutzer und deren Aufenthaltsort im Ergebnis nicht immer mit abschließender Sicherheit garantieren, dass keine geschützten Verkehre, wie rein nationale oder internationale Kommunikation (ohne G 10-Anordnung bzw. im Ausland-Ausland-Strang) erfasst werden1175. Der Bundesnachrichtendienst gibt die Fehleranfälligkeit der gesamten Filterkaskade im Rahmen der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung mit ca. 30 erst nachträglich – d. h. durch händische Auswertung – erkannten Telekommunikationsverkehren von Deutschen oder Inländern im Monat an1176. Eine endgültige, unabhängige Darstellung über die Genauigkeit der Filterkaskade liegt auch nach jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht vor. Angesichts der Wichtigkeit dieser Frage wäre zu überlegen gewesen, ob nicht eine neutrale Sachverständigenbegutachtung des Filterprozesses – etwa durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik – zur Befriedung dieses Streitpunktes hätte beitragen können.
IV. Fazit: Technische Herausforderungen als drohendes Vollzugsdefizit normativer Fiktion Die Einteilung von Kommunikationsverkehren in die drei Klassen rein national, international und Ausland-Ausland stellt den Bundesnachrichtendienst vor eine große technische Herausforderung – sie ist normativ gefordert, widerspricht jedoch der grundlegenden Ausrichtung moderner Datennetze. Die paketvermittelte Nachrichten- und Datenübertragung ist gekennzeichnet durch stetig wechselnde Übertragungswege, eine dezentrale Organisationsstruktur einhergehend mit der Ermangelung eines umfassenden Registers der geographischen Position von IP-Adressen, einer teils schwierigen Zuordnung einzelner Personen zu diesen IP-Adressen und zahlreichen Verschleierungs- und Tarnmöglichkeiten bei gleichzeitig stetig zunehmender Datenflut. Dabei kommt es schon aufgrund der 1175 Insgesamt zweifelnd an der Effektivität der DAFIS-Filterung Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), S. 501 ff.; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 660), S. 227 f.; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 164; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 13; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 10; BfDI, Stellungnahme der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit zum Entwurf eines Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BT-Drs. 18/9041), AS-Drs. 18(4)660, S. 5 f.; a. A. Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 170, der davon ausgeht, dass an der technischen Zuverlässigkeit von DAFIS keine Zweifel bestünden; a. A. allgemein auf den Filterprozess bezogen der Zeuge A. F., Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 102, wonach in den von ihm zu bezeugenden fünf Jahren im Justiziariat G 10 des BNDG lediglich ein nach dem G 10 unstreitig geschützter Teilnehmer erst nachträglich erkannt worden sei, was indes ausschließlich auf dem konspirativen Verhalten der Person beruht habe. 1176 BVerfGE 154, 152 (186, Rn. 20) – „täglich im Durchschnitt tatsächlich nur ein Telekommunikationsverkehr“; Hipp/Hoppenstedt/Knobbe, Maschinenraum (Fn. 1081), S. 43.
IV. Fazit
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schieren Menge an Daten zwangsläufig zu vereinzelten Lücken in der Ausfilterung von geschützten Kommunikationsverkehren und mithin zu fehlerhaften Erfassungen. Über die genaue Fehlerquote herrscht weiter Unklarheit. Gleichwohl unternimmt der Bundesnachrichtendienst erhebliche technische Anstrengungen, um auch in Zeiten der Paketvermittlung den derzeitigen rechtlichen Anforderungen bestmöglich zu entsprechen. Inwieweit eine Aufteilung von Telekommunikation in geographische Ursprungsorte juristisch haltbar oder notwendig ist, soll im Folgenden weiter untersucht werden.
F. Verfassungsrechtliche Anforderungen an eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung Instrumente des Sicherheitsrechts, wie die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung, stehen unter besonderer verfassungsrechtlicher Beobachtung, wovon eine Vielzahl höchstrichterlicher Entscheidungen – zuletzt prominent in Form des BNDG-Urteils sowie der Beschlüsse zur Bestandsdatenauskunft II und zur Antiterrordatei II – zeugt1177. In diesem Abschnitt sollen übergreifende Leitlinien zur verfassungsrechtlichen Einordnung und hieraus resultierende konkrete Anforderungen für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung gewonnen werden. Dabei ist auf die Entwicklung in Literatur und Rechtsprechung einzugehen, insbesondere freilich auf die Einzelheiten der jüngsten Grundsatzentscheidung zum BNDG. Eine gemeinsame Behandlung zunächst aller strategischen Ansätze zur Auslandstelekommunikationsüberwachung (nach G 10 und BNDG) erscheint wegen ihrer sachlichen Nähe dabei grundsätzlich sinnvoll, wenngleich auf spezifische Besonderheiten jeweils eingegangen werden muss. Die einfachrechtliche Ausgestaltung in zwei formellen Gesetzen ist hierfür zunächst unerheblich, da der Gesetzgeber zwar eine solche einfachrechtliche Trennung vornehmen mag. Über die Verfassungsmäßigkeit des gesetzlichen Dualismus ist damit aber selbstredend noch nicht entschieden.
1177 Bereits seit 1999, dem Jahr der grundlegenden Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung, sind 17 Entscheidungen des BVerfG zum Sicherheitsrecht ergangen, davor waren es insgesamt nur vier; Angaben nach M. Bäcker, zit. nach M. Geismann/F. Gilles/A. Adenauer, Podiumsdiskussion: Der Gesetzgeber in der verfassungsrechtlichen Aufgabenfalle – Gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen der deutschen Nachrichtendienste?, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Nachrichtendienste (Fn. 57), S. 227 f. m. Fn. 3; tabellarische Übersicht über die Verfassungsgerichtsrechtsprechung zum Sicherheitsrecht bei Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 2; siehe auch mit ähnlicher Stoßrichtung (und einer ersten Einschätzung des Urteils zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes) wie hier K. F. Gärditz, Konturen eines allgemeinen Nachrichtendienstverfassungsrechts, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/konturen-eines-allgemeinen- nachrichtendienstverfassungsrechts/ (05.05.2022); zum vorerst letzten Stand BVerfG, Urteil vom 26.4.2022, 1 BvR 1619/17 – Bayerisches Verfassungsschutzgesetz sowie BVerfGE 156, 11 – Antiterrordatei II. Die immer höhere Geschwindigkeit der aufeinanderfolgenden Entscheidungen ist ebenso bemerkenswert, wie die Tatsache, dass das Gericht sich mehrfach mit denselben sicherheitsrechtlichen Befugnissen zu befassen hat (siehe etwa Kennzeichenerfassung II, Bestandsdatenauskunft II, Antiterrordatei II). Auch das erneut als Leitentscheidung abgefasste Judikat zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz wird sicherlich nicht das Ende der verfassungsgerichtlichen Ausleuchtung und normativen Detaillierung des Sicherheitsverfassungsrechts darstellen.
F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
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Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung wirft grundlegende verfassungsrechtliche Fragen auf. Allen voran steht die Frage nach der territorialen Reichweite der Grundrechte, hier konkret des Fernmeldegeheimnisses: Gilt, vereinfacht gesprochen, das Grundgesetz auch dort, wo der Normativitätsanspruch besonders unter Druck gerät, nämlich jenseits der Staatsgrenze und in „zwielichtig“ erscheinenden Grenzbereichen staatlichen Handelns, wie nachrichtendienstlichen Operationen1178, wenn also der Bundesnachrichtendienst beispielsweise in Afghanistan den Mobilfunk von „Terroristen“ oder Taliban-Kämpfern aufklärt1179? Ist der Bundesnachrichtendienst in diesen Konstellationen an die Grundrechte gebunden oder sind diese Telekommunikationsvorgänge aus verfassungsrechtlicher Sicht für den Dienst schlicht „vogelfrei“ 1180? Es handelt sich um eine fundamentale Frage und nicht lediglich um ein „interessantes Gedankenspiel“ 1181. Letztendlich steht auch zur Debatte, ob dem Bundesverfassungsgericht in seiner kürzlich ergangenen Wertung zuzustimmen ist. Die Lösung dieser in Zeiten der Globalisierung grundsätzlich kaum zu überschätzenden Fallgestaltung1182 übt einen großen Reiz aus und erscheint bereits aufgrund ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die allgemeine Grundrechtsdogmatik als vorrangig. Bevor man sich allzu übereilt der – zweifelsohne bedeutsamen, wie schwierigen1183 – zugrundeliegenden dogmatischen Debatte um den territorialen Anwendungsbe1178
Zugespitzte – wohl rhetorische – Frage bei Schwander, Wirkungen (Fn. 16),
S. 19. 1179 Das Beispiel mit korrespondierender Frage nach der Grundrechtsberechtigung von Ausländern, die wegen „Terrorismus-Verdachts im Ausland von deutschen Staatsorganen überwacht“ werden, präsentiert F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 119, der indes selbst betont, dass die – von ihm abgelehnte – Gleichbehandlung der Fallgestaltung einer Grundrechtsberechtigung dieser Individuen mit einem Inlandssachverhalt einem „Grenzbereich des Rechts“ entnommen sei und deshalb „insofern ein ungeeigneter Untersuchungsgegenstand sein“ könne. Weswegen eine Bewährung des Rechts gerade in diesem Randbereich einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht zugänglich sein sollte, bleibt in dem Beitrag indes unbeantwortet. 1180 Formulierung angelehnt an die Zusammenfassung eines BND-Rechtsgutachtens, so wiedergegeben in BT-Drs. 18/12850, S. 1567. 1181 So aber F. Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, § 6 Rn. 141. 1182 Zur Dimension der zugrundeliegenden Problematik des Geltungsbereiches von Recht allgemein Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 15 f.; zur verfassungsrechtlichen Herausforderungen bei zwischenstaatlicher Kooperation als Folge der Globalisierung instruktiv ferner die Monographie von Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 2 ff. Vgl. auch Schmalenbach, Anstöße (Fn. 13), S. 246 ff . Eine umfassende Erörterung dieses äußerst interessanten wie multidimensionalen staatstheoretischen Themenkomplexes, der eine der zentralen Herausforderungen des Rechtsstaates im 21. Jahrhundert darstellt, würde den Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung indes übersteigen. Hier soll der Fokus auf die grundrechtlichen Herausforderungen bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung mit ihren spezifischen extraterritorialen Problemfeldern beschränkt bleiben. 1183 Lenski, Datenströme (Fn. 35), S. 334, spricht von „eine[m] der schwierigsten und bisher wenig geklärten Bereiche der Grundrechtsdogmatik“.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
reich zuwendet, muss ausgelotet werden, ob und wenn ja unter welchen Prämissen sich bereits aus dem sachlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses Ansätze für die Auflösung des skizzierten Konfliktes ergeben. Diesen und weiteren Abgrenzungsfragen, die sich auch durch vom Bundesnachrichtendienst vertretene Rechtsauffassungen im Rahmen der Ermittlungen des NSA-Untersuchungsausschusses aufgetan haben, soll bei der Bestimmung des Schutzbereiches des Fernmeldegeheimnisses nachgegangen werden (I.). Die durch die bereits dargelegten technischen Feinheiten gekennzeichnete Fernmeldeaufklärung wirft zudem diffizile Detailprobleme hinsichtlich ihres Eingriffscharakters auf, die eine differenzierte Betrachtung unter kritischer Würdigung von durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes entwickelten Argumentationsfiguren, sowie eine Bestimmung der Eingriffsintensität der Maßnahmen nötig macht (II.). Die Bestimmung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Rechtfertigung von anlasslosen strategischen Auslandsaufklärungsmaßnahmen von Telekommunikation mit technischen Mitteln zieht – unter besonderer kritischer Berücksichtigung des BNDG-Urteils der Ersten Senats – hieraus die Konsequenzen (III.). Die dezidierten Einzelanforderungen, die vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne an die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung stellt, sind schließlich auf die einfachrechtlichen Vorschriften anzuwenden (IV.).
I. Schutzdimensionen und territorialer Geltungsbereich des Fernmeldegeheimnisses Das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 I GG ist unbestritten das einschlägige Grundrecht für eine verfassungsrechtliche Einordnung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung1184. Aufgrund der Entwicklung moderner Kommunikationstechnologien wird in Literatur und Rechtsprechung ebenso der zeitgemäße Begriff des Telekommunikationsgeheimnisses verwendet1185. An der Ausrichtung des Schutzbereiches ändert dies nichts, der Begriff des Telekommunikationsgeheimnisses ist jedoch inklusiver, da er auch neuartige Wege der Fern1184 BVerfGE 154, 152 (227 f., Rn. 111) stellt dies knapp in einer Randnummer ohne weitergehende Ausführungen fest; maßgeblich vor allem zuvor zur strategischen Fernmeldeaufklärung BVerfGE 100, 313 (358 ff.); statt aller aus der Literatur für das G 10 C. Gusy, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 7. Aufl. 2018, Art. 10 Rn. 100 ff.; für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 377 f.; zur dogmatischen Frage, ob es sich bei Art. 10 I GG um ein einheitliches Grundrecht handelt, siehe nur H. D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG (Fn. 274), Art. 10 Rn. 1, der sich dafür ausspricht; dagegen etwa A. Guckelberger, in: H. Hofmann/H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 15. Aufl. 2020, Art. 10 Rn. 5; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 25 m. Fn. 102 m.w. N., die von jeweils einzelnen Grundrechten des Brief-, Post- und Telekommunikationsgeheimnisses ausgehen. 1185 Siehe hierzu etwa BVerfGE 154, 152 (227 f., Rn. 111); Jarass, ebda., Art. 10 Rn. 5; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 36 ff.; vgl. zum Begriff der Telekommunikation auch Art. 73 I Nr. 7, 87f GG.
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kommunikation mit technischen Mitteln umfasst und zugleich mehr am heutigen Sprachgebrauch orientiert ist. Aufgrund des ausdrücklichen Wortlautes des Grundgesetzes soll in dieser Arbeit dennoch der hergebrachte Begriff des Fernmeldegeheimnisses verwendet werden1186, ohne freilich hiermit eine inhaltliche Begrenzung auf bestimmte Technologien vorzunehmen. 1. Sachlicher Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses aus praxisorientierter Warte a) Vertraulichkeitsschutz von Fernkommunikation durch formalen Anknüpfungspunkt Das Fernmeldegeheimnis schützt bekanntermaßen die Vertraulichkeit individueller Kommunikation, bei der aufgrund einer räumlichen Distanz zwischen den Kommunikationsteilnehmern eine Übermittlung durch Dritte erfolgt und hierdurch eine besondere Gefährdungslage für die Vertraulichkeit („Geheimnis“) durch die Zugriffsmöglichkeit – maßgeblich staatlicher Stellen – entsteht, die von den Nutzern nicht beherrschbar ist1187. Das Grundrecht sichert hierdurch eine „kommunikative Privatheit“ unter Abwesenden und begründet zugleich eine grundrechtlich geschützte „Privatheit auf Distanz“, wodurch der mögliche Verlust von kommunikativer Vertraulichkeit durch die technisch bedingte Einschaltung Dritter kompensiert werden soll1188. Es ermöglicht damit die freie Persönlichkeitsentfaltung durch einen Kommunikationsaustausch mittels Telekommunikation1189. Umfasst sind alle individuellen Kommunikationsvorgänge „über das Medium drahtloser oder drahtgebundener Wellen“ 1190. Das Bundesverfassungsgericht formuliert auch noch grundsätzlicher und unterstreicht die herausgehobene Stellung des Fernmeldegeheimnisses für den Persönlichkeitsrechtsschutz1191: Der Schutz der „kommunikativen Selbstbestimmung“ 1192 „gewährleistet die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch einen privaten, vor der Öffentlichkeit verborgenen Austausch von Kommunikation und schützt damit zugleich die Würde des 1186 Für eine am Verfassungswortlaut orientierte Terminologie aus jüngster Zeit etwa auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 23 f. 1187 BVerfGE 106, 28 (36); 85, 386 (396); statt vieler siehe nur Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 15; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 195; Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 8. 1188 Zur „kommunikativen Privatheit“ vermittelt durch das Fernmeldegeheimnis ausführlich Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 15 ff. mit hiesigen Zitaten; allgemein zum „Wert der Privatheit“ und ihrer Verortung im Grundgesetz instruktiv Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 90 ff., 117 ff. 1189 BVerfGE 106, 28 (35 f.); hierauf verweist nunmehr auch BVerfGE 154, 152 (208 f., Rn. 70). 1190 Für die Ausbildungsliteratur exemplarisch N. Petersen, Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht II, 2019, § 3 Rn. 192. 1191 Siehe etwa BVerfGE 143, 1 (10, Rn. 35). 1192 Pointiert Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 42 (57. Ergänzungslieferung 2010).
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Menschen“ 1193. Die in Art. 10 I GG garantierten Grundrechte sind somit in ihrem Kern Ausdruck der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG und in Folge dessen nach Art. 79 III GG auch einer Änderung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen1194. Das Fernmeldegeheimnis nimmt deshalb einen hohen Rang in der Rechtsordnung unter dem Grundgesetz ein. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sichert das Fernmeldegeheimnis die „unkörperliche Übermittlung an individuelle Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs“ 1195 „vor einer Kenntnisnahme durch die öffentliche Gewalt“ 1196. Art. 10 I GG knüpft somit technisch an das jeweilige Medium, mittels dessen die kommunikative Persönlichkeitsentfaltung realisiert wird, an, welches der Staat – freilich vorbehaltlich einer verfassungskonformen Eingriffsbefugnis – nicht infiltrieren darf 1197. Das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses hat mithin einen „formalen Anknüpfungspunkt“; es sichert gegen „Eingriffe in die durch die Telekommunikationsanlage übermittelte Kommunikation“ 1198. Bei den durch das Fernmeldegeheimnis geschützten Inhalten dieser Übermittlung kommt es, aufgrund des formalen Anknüpfungspunktes des Geheimnisschutzes, auf die Form oder den Bedeutungsgehalt nicht an; geschützt werden alle Ausdrucksformen (Sprache, Schrift, Bilder, Zeichen oder sonstige Daten)1199. Dabei sind auch „leere“ Sendungen, die etwa nur das technische Funktionieren einer Verbindung mittels einer E-Mail ohne Text prüfen, geschützt, ebenso wie beim Briefgeheimnis leere Umschläge1200. Art. 10 I GG macht deswegen auch keinen Unterschied zwischen privater, geschäftlicher, politischer oder sonstiger Kommunikation, sondern bezieht sich auf alle mittels Fern1193
BVerfGE 110, 33 (53). H.-J. Papier, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz in der digitalen Gesellschaft, in: NJW 2017, S. 3025 (3027), betont den Menschenwürdebezug des Fernmeldegeheimnisses und den hieraus resultierenden Schutz des Kernbereiches privater Lebensgestaltung; zur Nähe des Fernmeldegeheimnisses zur Menschenwürde etwa auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 27; Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 58. 1195 BVerfGE 130, 151 (179); 125, 260 (309); 120, 274 (306 f.); 115, 166 (182); 100, 313 (358); siehe auch Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 9. 1196 BVerfGE 130, 151 (179); 125, 260 (309); 106, 28 (37); 100, 313 (358). 1197 BVerfGE 106, 28 (38); 100, 313 (363); so auch Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 44, 60 f.; M. Bäcker, Die Vertraulichkeit der Internetkommunikation, in: H. Rensen/ S. Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I, 2009, S. 99 (103). 1198 BVerfGE 106, 28 (37); zum formalen Anknüpfungspunkt des Fernmeldegeheimnisses auch P. Badura, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Fn. 275), BK, Art. 10 (Viertbearbeitung 2014), Rn. 29; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 41; R. Stettner, Schutz des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, 2011, § 92 Rn. 45. 1199 BVerfGE 120, 274 (307) mit entsprechender Aufzählung; Guckelberger (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 5, 20 ff.; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 41; Stettner (Fn. 1198), § 92 Rn. 45. 1200 Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 44 m. Fn. 2. 1194
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meldetechnik ausgetauschten Nachrichten1201. Ebenso wenig kommt es auf einen personalen Bezug des Inhaltes an, denn auch insoweit ist die formale Modalität des Geheimnisschutzes des Fernmeldegeheimnisses entscheidend1202. Unerheblich ist ferner die eingesetzte technische Übermittlungsart1203. Der Schutz des Fernmeldegeheimnisses endet mit dem Abschluss des Übermittlungsvorganges1204. Bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung stellen sich Abgrenzungsfragen in Bezug darauf, wann genau ein Übermittlungsvorgang beendet ist1205, indes nicht, da die Ausleitung bzw. Erfassung des Datenstromes durch den Bundesnachrichtendienst unzweifelhaft während eines laufenden Übermittlungsvorganges erfolgt. Darüber hinaus werden nicht nur der Kommunikationsinhalt, sondern auch die näheren Umstände der Telekommunikation geschützt1206. Hierzu zählt insbesondere, ob und wann zwischen welchen Personen und Fernmeldeanschlüssen Fernmeldeverkehr stattgefunden habe oder versucht worden ist1207. Damit schützt das Fernmeldegeheimnis die Verkehrsdaten – welche das Bundesverfassungsgericht auch als nähere Telekommunikationsumstände bezeichnet – eines Telekommunikationsvorganges umfassend, also beispielsweise Teilnehmeridentitäten, Nummern, Anschlusskennungen, dynamische IP-Adressen und sonstige mitübertragene Daten eines Telekommunikationsvorganges, soweit diese Auskunft über die 1201
BVerfGE 106, 28 (35 f.); 100, 313 (358). Zu Recht Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 44; Stettner (Fn. 1198), § 92 Rn. 45; anders und insoweit im Gleichlauf zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 79 f., 155, 287; ihm folgend in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Inland aus Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 480 (noch zur 57. Ergänzungslieferung 2010); allgemein zur Telekommunikationsüberwachung in diese Richtung wohl auch Badura (Fn. 1198), Art. 10 Rn. 54. Zu der Frage einer Individualisierbarkeit von natürlichen Personen als konstitutive Voraussetzung eines Eingriffes in das Fernmeldegeheimnis unten unter F. II. 1. c). 1203 Guckelberger (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 21; Jarass (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 3; Stettner (Fn. 1198), § 92 Rn. 55. 1204 Siehe etwa BVerfGE 120. 274 (307 f.); 115, 166 (184); Durner (Fn. 544), Art. 10 GG Rn. 124 ff. 1205 Ausführlich zur Frage, wann ein Medium in den Herrschaftsbereich des Empfängers gelangt ist, Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 31 f. Diese Frage ist zwar von allgemeinem dogmatischen Interesse, bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung wird sie jedoch aufgrund der technischen Ausgestaltung der Überwachung nicht virulent. 1206 BVerfGE 100, 313 (358); 85, 386 (396); 67, 157 (172); Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 65; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 44; Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 112; W. Löwer, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 6. Aufl. 2012, Art. 10 Rn. 24; zum historischen Hintergrund des Gedankens, dass das Fernmeldegeheimnis auch die Umstände der Telekommunikation schützt, Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 29 f. 1207 Formulierung etwa in BVerfGE 130, 151 (179); 125, 260 (309); 120, 274 (307); 67, 157 (172); Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 377; Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 112. 1202
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näheren Umstände desselben geben1208. Die Kommunikationsumstände müssen dabei richtigerweise einen eigenständigen Schutz erfahren, der nicht lediglich vom Kommunikationsinhalt abgeleitet ist1209. Der Aussagewert von Verkehrsbzw. Metadaten geht bei Nutzung moderner Verarbeitungsmethoden aufgrund ihrer standardisierten Auswertbarkeit weit über den reinen Inhalt einer Nachricht hinaus und ist für staatliche Stellen vielmals von größerem Interesse als der eigentliche Bedeutungsgehalt der Telekommunikation1210. Hinzukommt, dass bei der paketvermittelten Telekommunikation Inhaltsdaten vielfach nur verschlüsselt übertragen werden und für den Bundesnachrichtendienst – vorbehaltlich geeigneter Techniken zur Dekryptierung – nicht zwingend lesbar sind; bei Verkehrsbzw. Metadaten besteht dieses Hindernis nicht, da sie aus technischen Gründen unverschlüsselt übermittelt werden1211. Bei der strategischen und der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung verfolgt der Bundesnachrichtendienst aus den vorgenannten Gründen einen „metadatenzentrierten“ Ansatz1212. Deswegen muss der sachliche Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses gerade im Bereich nachrichtendienstlicher Aufklärung (aber freilich nicht nur da) bereits dann eröffnet sein, wenn staatliche Stellen auf die Telekommunikation ausschließlich zum Zweck der Erhebung von Verkehrsdaten zugreifen und nicht nur, um hieraus Rückschlüsse auf den Inhalt der Kommunikation zu ziehen1213. Ansonsten bliebe 1208 Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 65; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 42; das BVerfG hat den Zugriff auf die „hinter“ einer dynamischen IP-Adresse befindlichen Bestandsdaten als Eingriff in Art. 10 I GG klassifiziert: BVerfGE 155, 119 (166, Rn. 90, 168 ff., Rn. 98 ff.); BVerfGE 130, 151 (181); differenziert hierzu Bäcker, Vertraulichkeit (Fn. 1197), S. 111 ff.; zum Ganzen auch Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 9 f. 1209 So zu Recht Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 9 f. m. Fn. 39; Bäcker, Vertraulichkeit (Fn. 1197), S. 103; unklar BVerfGE 107, 299 (312 f.), wonach das Fernmeldegeheimnis in erster Linie die Inhalte schütze und nur „ebenso“ die Kommunikationsumstände. 1210 Dahingehend auch explizit unter Berücksichtigung der technischen Dimension nachrichtendienstlicher Auswertung von Metadaten BVerfGE 154, 152 (244, Rn. 153) unter Verweis auf BVerfGE 125, 260 (319) sowie EuGH, Urteil vom 8.4.2014 – C-293/12 u. a., Rn. 48, 56 – Digital Rights Ireland; siehe auch Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 5 f. 1211 Auf diesen wichtigen Umstand, der in der Praxis – sofern eine Entschlüsselung nicht möglich ist – große Bedeutung haben dürfte, weist der EGMR, Urteil vom 13.9. 2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 353 – Big Brother Watch zu Recht hin, wenn er die Bedeutung der Metadaten rechtlich einordnet; zu möglichen kryptographischen Verfahren sowie deren technischen Hintergründen und Einsatzoptionen ausführlich Sohr/Kemmerich, Grundlagen (Fn. 1026), Kap. 2 Rn. 33 ff.; dies lässt unberücksichtigt Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), 503. 1212 BT-Drs. 18/12850, S. 728 spricht von einem „metadatenzentrierten Ansatz“; zum ebenfalls auf Sammlung und Auswertung von Metadaten ausgerichteten Ansatz der NSA instruktiv Greenwald, Überwachung (Fn. 2), S. 200 ff.; vgl. zur Verknüpfung von Datensätzen allgemein BVerfGE 156, 11 (39 f., Rn. 73) sowie § 6a V ATDG. 1213 Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 10; Bäcker, Vertraulichkeit (Fn. 1197), S. 103.
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der grundrechtliche Schutz, mit Blick auf die moderne Kommunikation mit ihrer Vielzahl von Verkehrsdaten, unvollständig. Die Rechtsauffassung des Bundesnachrichtendienstes, wonach Verkehrs- bzw. Metadaten nicht dem sachlichen Schutzbereich unterfielen, sofern kein Personenbezug hergestellt werden könne, was jedenfalls regelmäßig in Auslandssachverhalten der Fall sei, ist deswegen in ihrer Pauschalität jedenfalls nicht haltbar1214. Über seine konkrete Abwehrfunktion im Einzelfall hinaus soll Art. 10 I GG – als Ausprägung einer staatstheoretischen Perspektive mit Gemeinwohlbezug1215 – auch die „Bedingungen einer freien Telekommunikation überhaupt aufrechterhalten“ 1216. Das Bundesverfassungsgericht arbeitete in der Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung die überindividuelle Dimension des Grundrechtes angesichts der Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst klar heraus, indem es festhielt, dass „mit der grundrechtlichen Verbürgung der Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses [. . .] vermieden werden [soll,] daß der Meinungsund Informationsaustausch mittels Fernmeldeanlagen deswegen unterbleibt oder nach Form und Inhalt verändert verläuft, weil die Beteiligten damit rechnen müssen, daß staatliche Stellen sich in die Kommunikation einschalten und Kenntnisse über die Kommunikationsbeziehungen oder Kommunikationsinhalte gewinnen“ 1217. Dabei verzahnt das Bundesverfassungsgericht den individualrechtlichen Gedanken eines möglichen Einschüchterungs- bzw. Abschreckungseffektes auf die freie Grundrechtsausübung durch die Bürger – hier die Unbefangenheit eines kommunikativen Austausches in einer freien Gesellschaft – mit dem objektivrechtlichen Ansatz der Freiheit des telekommunikationsbasierten Austausches als Funktionsbedingung des demokratischen Gemeinwesens1218. Der Datenschutz, 1214 Auch weiterhin zur der Ausklammerung von nicht personenbezogenen Metadaten in §§ 19, 26 BNDG-E BT-Drs. 19/26103, S. 56, 76; zur auch innerhalb des Dienstes und zwischen BfDI und BND diskutierten Rechtsauffassung, wonach Metadaten teilweise nicht dem Schutzbereich des Art. 10 I GG unterfielen, Stenographisches Protokoll I der 16. Sitzung des NSA-UA, S. 25; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 128 ff., m.w. N.; zur gleichen Stoßrichtung einer nachrichtendienstfreundlichen Rechtsauffassung der damaligen Vorsitzenden des Geheimdienstausschusses des USamerikanischen Senats Dianne Feinstein nach den Snowden-Enthüllungen, wonach die Sammlung der Metadaten von US-Bürgern keine Überwachung im Rechtssinne sei, da hierbei keine Inhalte der Telekommunikation erfasst würden, siehe dazu Greenwald, Überwachung (Fn. 2), S. 200. 1215 Pointiert Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 196. 1216 BVerfGE 100, 313 (359); ebenso BVerfGE 113, 348 (383); 107, 299 (313). 1217 BVerfGE 100, 313 (359); 130, 151 (179); so auch unlängst erneut BVerfG-K, NJW 2016, 3508 (3510, Rn. 36). 1218 Hierzu im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses instruktiv Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 195 f. Bei der Ausgestaltung des Schutzbereiches leuchtet dieser Argumentationsstrang zunächst noch intuitiv ein, da er sich in die Betonung des Bedeutungsgehaltes des Fernmeldegeheimnisses – gerade in Zeiten ubiquitärer (Tele-) Kommunikation – widerspruchslos einfügt. Einem Belastungstest wird die Annahme des BVerfG, es gäbe einen Einschüchterungseffekt auf die Grundrechtsausübung, je-
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den das Fernmeldegeheimnis speziell für Distanzkommunikation verbrieft, ist schließlich ein „Eckpfeiler des demokratischen Rechtsstaats“ 1219. Angesichts der heutigen Abhängigkeit von Telekommunikation in jedem Lebensbereich ist die Wichtigkeit der Sicherung eines von staatlicher Kenntnisnahme grundsätzlich freien Austausches mit Medien kaum zu überschätzen, da eine drohende Überwachung die Kommunikation äußerst breitenwirksam hemmen könnte. Ergänzend hierzu droht eine permanente Verfüg- und Nutzbarkeit einmal erfasster Daten bei staatlichen Stellen. Um die Bedingungen ebenjener freien Kommunikation aufrecht zu erhalten, hat das Bundesverfassungsgericht deswegen unter Betonung des Gemeinwohlbezuges die Schutzwirkung des Fernmeldegeheimnisses – insoweit im Gleichlauf mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung – auch auf den sich an die erstmalige Erhebung anschließenden Informations- und Datenverarbeitungsprozess erstreckt1220. Die freie Kommunikation leide, wie der Senat im dritten Abhörurteil betonte, schließlich auch, „wenn zur befürchten ist, daß der Staat Kenntnis von Fernmeldeumständen und -inhalten in anderen Zusammenhängen zum Nachteil der Kommunikationspartner verwertet“ 1221. Somit besteht der grundrechtliche Schutz durch das Fernmeldegeheimnis über den gesamten „Lebenszyklus“ des Kommunikationsvorganges und der hieraus resultierenden Daten1222. b) Neue Kommunikationsformen als Herausforderung für den Grundrechtsschutz: Vermischung von Massen- und Individualkommunikation in der digitalen Welt Das Fernmeldegeheimnis ist in Zeiten der Digitalisierung und der permanenten Zunahme von Telekommunikation und hieraus resultierender Datenspuren im Zentrum der Debatte um den Schutz digitaler Privatheit bei der Nutzung von Kommunikationsmedien1223. Um mit der fortschreitenden Technik schrittzuhaldoch auf Eingriffsebene unter F. II. 1. b) cc) (2) unterzogen werden müssen. Dort hat die Rechtsfigur ihren argumentativen Schwerpunkt. 1219 Prägnant J. Masing, Herausforderungen des Datenschutzes, in: NJW 2012, S. 2305 (2305 ff.), der in seinem Beitrag die hochgradig spannende wie beunruhigende Vision der Abwicklung der DDR-Staatssicherheit unter den Bedingungen der heutigen Datenmengen und ihrer Aussagekraft ausmalt. Dieses Gedankenexperiment unterstreicht eindrücklich den hohen Wert des (nicht nur) durch Art. 10 I GG vermittelten (Telekommunikations-)Datenschutzes für ein freiheitliches Gemeinwesen. 1220 BVerfGE 125, 260 (309); 100, 313 (359), unter explizitem Verweis auf die entsprechend weite Reichweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, die das BVerfG bereits im Volkszählungsurteil herausarbeitete, BVerfGE 65, 1 (46); Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 37 spricht von der „datenschutzrechtlichen Dimension des Grundrechts“; zum Ganzen auch Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 16. 1221 BVerfGE 100, 313 (359). 1222 Anschaulich Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 20. 1223 Zur Bedeutung des Fernmeldegeheimnisses in der digitalen Welt statt vieler Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 20 ff.; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 306; Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 2 ff.
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ten, ist das Grundrecht seit jeher entwicklungsoffen ausgestaltet und umfasst nicht nur herkömmliche, sondern auch neuartige Übertragungstechniken1224. Deswegen sind neben klassischen, leitungsvermittelten Telefongesprächen unproblematisch auch VoIP-Anwendungen, SMS, E-Mail, geschlossene Chats und internetgestützte Messengerdienste vom sachlichen Schutzbereich erfasst1225. Gegen eine Einbeziehung des Internets bzw. der hierdurch vermittelten Telekommunikation in den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses wird teilweise eingewandt, dass aufgrund der ungesicherten Übertragung bei paketvermittelten Verbindungen eine hinreichende Schutzfähigkeit des Mediums und damit eine „objektive [. . .] Schutzgeeignetheit“ nicht gegeben sei1226. Dies gelte insbesondere für E-Mails, da diese ohne Verschlüsselung, einer Postkarte gleich, offen von jedem im Netz gelesen werden könnten. Diese Sichtweise kann – obschon sie technisch grundsätzlich zutrifft1227 – jedoch nicht überzeugen, da das Fernmeldegeheimnis gerade vor den Gefahren der Distanzkommunikation und den hiermit verbundenen Zugriffsmöglichkeiten Dritter, wie etwa derjenigen des Bundesnachrichtendienstes, schützen soll. Hieraus besteht der zentrale Schutzumfang der Verfassungsnorm. Bei der Überwachung de facto zu überwindende Zugangshürden können für den grundrechtlichen Schutz keine Rolle spielen1228. Das Recht stellt die Rahmenbedingungen eben dieses Schutzes auf, nicht die Technik. Ansonsten wäre das Fernmeldegeheimnis weithin obsolet, da sich beinahe jede technische Abschirmung mit dem nötigen Aufwand und entsprechen-
1224 Siehe nur Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 108; Böckenförde, Ermittlung (Fn. 1036), S. 420. 1225 BVerfGE 125, 260 (311); 120, 274 (307); hierzu etwa Jarass (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 3; Stettner (Fn. 1198), § 92 Rn. 55; Bäcker, Vertraulichkeit (Fn. 1197), S. 103 f.; zu den Besonderheiten von E-Mails bei Speicherung auf dem Server bzw. sofortigem Abruf und Speicherung auf dem Endgerät des Nutzers Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 12 ff. m.w. N. 1226 So M. Pagenkopf, in: Sachs, GG (Fn. 309), Art. 10 Rn. 14b; für eine Vertraulichkeitserwartung auch Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 389 f., die aus einer mangelnden Vertraulichkeitserwartung von Ausländern im Ausland schließen wollen, dass diesen – neben weiteren Überlegungen – kein Grundrechtsschutz aus dem Fernmeldegeheimnis zukommen könne. Dabei handelt es sich, wie die Autoren selbst freilich betonen, um eine Verknüpfung von inhaltlichem und räumlichem Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses. Hiergegen spricht schon im Ansatz, dass Grundrechte keine subjektive Erwartungshaltung voraussetzten; so auch etwa nun Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 224 f., 1227 Zur E-Mail-Sicherheit mit möglichen Verschlüsselungstechniken instruktiv Sohr/ Kemmerich, Grundlagen (Fn. 1026), Kap. 2 Rn. 91 ff. 1228 So in Bezug auf E-Mails auch explizit BVerfGE 125, 260 (311); Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 33 f., der den Vergleich zu einer Postkarte bemüht, die auch leicht zugänglich, jedoch dennoch nicht vom Schutz des Art. 10 I GG ausgenommen sei; zum Postgeheimnis insoweit auch Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 47; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 31; Löwer (Fn. 1206), Art. 10 Rn. 16; a. A. T. Groß, in: K. H. Friauf/W. Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 10 (2016), Rn. 21.
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den Ressourcen überwinden lässt. Mehr noch, durch die Umstellung der gesamten Telekommunikationsinfrastruktur auf die Paketvermittlung1229 wäre nach dieser Ansicht schon der Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses für den weit überwiegenden Teil der Distanzkommunikation nicht mehr eröffnet und der grundrechtliche Schutz damit aufgehoben. Die Telekommunikation wäre damit, jedenfalls aus Sicht des Fernmeldegeheimnisses, für staatliche Stellen praktisch vogelfrei und hoheitliche Informationseingriffe nicht mehr normierungs-, geschweige denn rechtfertigungsbedürftig1230. Dieses Auslegungsergebnis kann kaum beabsichtigt sein, da das Fernmeldegeheimnis entgegen Art. 19 II GG in seinem Wesensgehalt aufgegeben würde. Im Ergebnis kann es auf die tatsächliche, objektive Schutzgeeignetheit eines Mediums nicht ankommen. aa) Theoretische Fragen der Abgrenzung anhand des Mediums und der Telekommunikationsteilnehmer im Überblick Problematischere Abgrenzungsfragen stellen sich zumindest in der Theorie da, wo eine klare Trennung von Individual- und Massenkommunikation nicht mehr sicher möglich ist oder wo zu rein zwischenmenschlicher Kommunikation auch solche zwischen Mensch und Maschine oder gar Maschine-zu-Maschine-Verkehre hinzukommen. Das Fernmeldegeheimnis schützt nach der bisher landläufigen Definition nur die individuelle Kommunikation, da sonst das spezifische „Geheimnis“ fehle1231. Bei internetbasierten Anwendungen wie Chats oder sozialen Netzwerken – die gerade im Fokus des Bundesnachrichtendienstes stehen1232 – ist indes oftmals fraglich, ob sie an individuelle Teilnehmer oder die Allgemeinheit gerichtet sind1233. Dabei werden als Abgrenzungskriterien gegen eine Kenntnisnahme durch die Öffentlichkeit etwa eine technische Zugangssteuerung durch den Nutzer (Privatsphäre-Einstellungen in sozialen Netzwerken, passwortgeschützte Chats etc.)1234 oder eine Zugriffsauthorisierung, die einen Eingriff annimmt, wenn sich der Staat gegen den Willen des Kommunikationsbe1229 Dazu unter Betonung der ubiquitären Verbreitung eben dieser All-IP-Kommunikation F. Deusch/T. Eggendorfer, Das Fernmeldegeheimnis im Spannungsfeld aktueller Kommunikationstechnologien, in: K&R 2017, S. 93 (93); siehe auch die Nachweise in Fn. 1028. 1230 Zu anderen möglicherweise einschlägigen Grundrechten, wie hier dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, mit einer exemplarischen Auflistung BVerfG-K, NJW 2016, 3508 (3510, Rn. 35). 1231 Statt aller Jarass (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 6; Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 68, 118 ff. mit breiter Darstellung auch von kritischen Ansichten hierzu. 1232 Vgl. zur sogenannten SOCMINT Wolf, Big Data (Fn. 456), S. 19 ff. 1233 Unlängst Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 36; siehe hierzu ferner nur Jarass (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 6; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 39; insbesondere auch Bäcker, Vertraulichkeit (Fn. 1197), S. 103 ff. 1234 Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 64; Huber (Fn. 511), § 1 G 10 Rn. 18; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 39.
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teiligten oder auf einem technisch hierfür nicht vorgesehenen Weg Zugang verschafft1235, vorgeschlagen1236. Hochumstritten ist auch die Einordnung von Cloud Computing in das tradierte Konzept des Art. 10 I GG, was maßgeblich damit zusammenhängt, ob man in der Funktion eher das Teilen einer gemeinsamen Dokumentensammlung mit mehreren Nutzer oder eine gleichsam auf externe Server ausgelagerte Speicherfunktion erblickt1237. Kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht in einer Kammerentscheidung kurzerhand bereits das reine „Surfen“ im Internet dem Schutz des Art. 10 I GG unterstellt, da nach Ansicht des Senats sich schon nach dem Vortrag des Beschwerdeführers aus der Verfassungsbeschwerde selbst ergebe, dass der Nutzer „die Internetnutzung in Form des ,Surfens‘, ,Googelns‘ und Abrufens von Webseiten vertraulich“ wissen wolle1238. Beim empfängergesteuerten Abruf von Informationen und Daten aus dem Internet sei das Kriterium der körperlosen Übermittlung von Informationen an einen individuellen Empfänger erfüllt1239. Es handele sich auch nicht lediglich um einen ungeschützten, rein technischen Austausch, sondern es werde willensgesteuert auf konkrete Informationsgehalte zugegriffen, weswegen das spezifische Gefährdungspotential für die durch Art. 10 I GG geschützte Privatheit der Kommunikation vorhanden sei1240. Damit stellt die Kammer einerseits auf das Vertrauen des Kommunizierenden in das genutzte Medium ab und klassifiziert andererseits den Austausch von Datenpaketen mit dem Server als kommunikativ-sozialen Vorgang mit einem Fernkommunikationsmedium, der dann als individuelle Kommunikation dem Fernmeldegeheimnis unterfällt1241. Auf den ersten Blick befremdet dies, da man intuitiv unter den Begriff Kommunikation einen beidseitigen, menschlichen Austausch subsumieren
1235 Bäcker, Vertraulichkeit (Fn. 1197), S. 106 ff., der einen Eingriff bei der Überwachung des laufenden Datenverkehrs – was die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung durch den BND unproblematisch einschließt – annimmt; kritisch zur Begrenzung auf dieses Kriterium allerdings Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 189 f. 1236 Siehe ausführlich zu medienspezifischen Einzelfragen ausführlich und kommentarähnlich Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 60 ff. 1237 Siehe dazu ausführlich etwa Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 75 ff.; Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 18 ff. 1238 BVerfG-K, NJW 2016, 3508 (3510, Rn. 37); gegen eine Einbeziehung des reinen „Surfens“ im Internet durch Websitebesuche noch Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 121, der diese Ansicht als wohl vorherrschend ausweist; Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 20; differenziert Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 66 ff., der jedenfalls das Surfen und anfallende Kommunikationsumstände unter Art. 10 I GG fassen will. 1239 BVerfG-K, NJW 2016, 3508 (3510, Rn. 38). 1240 BVerfG-K, NJW 2016, 3508 (3510, Rn. 38). 1241 Zum sozialen Aspekt der Kommunikation im Sinne des Art. 10 I GG durch „Surfen“ im Internet W. Bär, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 6.7.2016 – 2 BvR 1454/13, in: ZD 2017, S. 135 (136), der der Kammer zustimmt.
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will1242. Die Ansicht der Kammer überzeugt jedoch bei genauerer Betrachtung, da auch beim menschlich indizierten Abruf von Datenpaketen aus dem Internet private Kommunikationsinhalte in Form der spezifischen Suchanfragen oder Eingaben übermittelt und hierbei mittels eines Mediums übertragen werden, welches externen Zugriffsrisiken ausgesetzt ist, die der Nutzer nicht beherrschen kann. Dass dabei ein technisches Protokoll auf diese Anfragen und Eingaben anstelle eines Menschen antwortet, ändert nichts an der Schutzbedürftigkeit der individuellen Distanzkommunikation vor unbeherrschbaren Fremdeingriffen1243. Überdies können aus dem Nutzungsverhalten im Internet, gerade durch Nachrichtendienste, aussagekräftige Rückschlüsse auf „Interessen, Wünsche und Vorlieben“ eines Menschen gezogen werden1244, weswegen die Nutzung des Internets aus Sorge vor staatlicher Überwachung unterbleiben könnte, wovor das Fernmeldegeheimnis gerade schützen soll. Die Fähigkeit, auf dieses vergleichsweise neue Phänomen der Kommunikation mit Maschinen reagieren zu können, ist eine logische Folge der Entwicklungsoffenheit des Fernmeldegeheimnisses. In Zukunft wird die „Kommunikation“ mit Maschinen bzw. Algorithmen absehbar zu einem alltäglicheren Prozess werden und bei Unkenntnis des menschlichen Benutzers durch diesen vielfach nicht einmal mehr bemerkt werden. Dieser Kommunikationsvorgang muss sodann auch grundrechtlichen Schutz erfahren. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Kammerentscheidung hierfür erste, wichtige Weichen gestellt. Richtigerweise unterfällt mithin auch die Kommunikation von Mensch zu Maschine, jedenfalls beim „Surfen“ im Internet, dem Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses1245. Eine Schutzbereichseröffnung wird man dann ebenso für das „Gespräch“ mit Assistenzsoftware Echo-Systemen wie Amazons Alexa annehmen müssen, die in immer größerem Maß, als Vorboten einer omnipräsenten Kommunikation mit Technik, schon heute in private Smart-Home1242 Zur Frage, ob menschliche Kommunikation für eine Eröffnung des Schutzbereiches des Art. 10 I 3. Var. GG vorliegen muss und den hierzu vertretenen Ansichten, vertieft J. Marosi/E. Skobel, Von Menschen und Maschinen, in: DÖV 2018, S. 837 (838 f.), die überzeugend darlegen, dass aus dem Begriff der Telekommunikation selbst nicht zwangsläufig die Erfordernis einer menschlichen Kommunikation resultiert; für die Notwendigkeit menschlicher Kommunikation und gegen die Auffassung des BVerfG, dass Surfen unter den Schutz des Art. 10 I GG falle, hingegen L. Eidam, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 6.7.2016 – 2 BvR 1454/13, in: NJW 2016, S. 3511 (3512); M. Soiné, Identifizierung von E-Mails mit Schadprogrammen durch Sicherheitsbehörden – Grundrechtsfragen bei der Auslegung des „entwicklungsoffenen“ Fernmeldegeheimnisses, in: MMR 2015, S. 22 (23); allgemein auch Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 17. 1243 Marosi/Skobel, ebda., S. 841 f. 1244 Dazu BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151). 1245 BVerfG-K, NJW 2016, 3508 (3510, Rn. 38) unter Verweis auf T. Singelnstein, Möglichkeiten und Grenzen neuerer strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen – Telekommunikation, Web 2.0, Datenbeschlagnahme, polizeiliche Datenverarbeitung & Co, in: NStZ 2012, S. 593 (594 f.), der – konsequent – auch weitere Grenzfälle, wie OnlineBanking und Cloud-Computing dem Schutzbereich unterstellen möchte; a. A. Eidam, Anmerkung (Fn. 1242), S. 3512; Soiné, Identifizierung (Fn. 1242), S. 23.
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Haushalte Einzug halten – allen datenschutzrechtlichen Bedenken zum Trotz1246. Dies weckt auch bei staatlichen Sicherheitsbehörden Begehrlichkeiten, was eine grundrechtliche Antwort durch Schutzbereichserweiterung nötig macht1247. Analog einer Website beim „Surfen“ antwortet hier ein technisches – ungleich komplexeres – Protokoll mit dem einzigen Unterschied, dass die menschliche Dateneingabe nicht per Tastatur oder Maus erfolgt, sondern per Spracheingabe. Weitere, für die Zukunft in ihrer Wichtigkeit kaum zu überschätzende Abgrenzungsfragen stellen sich ferner bei rein technischen Verbindungen, aus denen – zumindest dem ersten Anschein nach – keine Umstände der menschlich indizierten Telekommunikation an sich hervorgehen, wie etwa zwischen Mobiltelefon und Sendemast zur Kontaktsicherung oder beim Einsatz eines IMSI-Catchers1248. 1246 Das System Alexa von Amazon hört nach Medienberichten teilweise Kommunikation der Nutzer auch ohne Einschaltbefehl ab und leitet diese zur Auswertung an menschliche Mitarbeiter des Konzerns weiter, siehe hierzu etwa O. Voss, Eine Wanze namens Alexa, abrufbar unter https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/amazons-sprach assistent-in-der-kritik-eine-wanze-namens-alexa/24216142.html (13.4.2019). 1247 Auch das BfV und der BND haben die nachrichtendienstliche Nutzungsmöglichkeit von Assistenzsoftware-Systemen längst erkannt und wünschen sich Zugriff auf die Geräte, siehe M. Weller/M. Adam, Nachrichtendienste wollen auf Sprachassistenten zugreifen, abrufbar unter https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2019/04/alexa-amazonabhoerung-verfassungsschutz-nachrichtendienste.html (2.4.2019); nach Rechtsauffassung der Bundesregierung ist eine Überwachung dieser Smart-Home-Geräte jedenfalls mit strafprozessualen Maßnahmen bereits unter der geltenden Gesetzeslage möglich, da es sich insofern nicht um eine neue Geräteklasse handele, die weitergehende Befugnisnormen notwendig machen würde, vgl. dazu BT-Drs. 19/11478 (Vorabfassung) sowie den Bericht unter https://netzpolitik.org/2019/bundesregierung-polizei-darf-auf-datenvon-alexa-und-co-zugreifen (13.7.2019); entschieden dagegen indes R. Frau, Der nachrichtendienstliche Zugriff auf Smarthome-Geräte – Grundrechtseingriffe in Alexa, Google Home & Co, in: GSZ 2020, S. 149 (152 ff.), der eine Verfassungsänderung für nötig hält, da ein Abhören der Smart-Home-Geräte auch einen Eingriff in Art. 13 GG darstelle, und Art. 13 IV GG diesen nur zur Gefahrenabwehr erlaube, wozu die Nachrichtendienste indes – auch nach hier vertretener Ansicht – nicht berufen seien. Die Eröffnung von Art. 10 I GG verneint der Beitrag indes, da ein Gespräch unter Anwesenden stattfinde. Dies berücksichtigt aber nicht die Datenübertragung an den Server durch das Gerät auf menschliche Veranlassung hin, wo dann ein Zugriff in einen laufenden, durch Art. 10 I GG geschützten Telekommunikationsvorgang stattfinden kann. Demnach sprechen die besseren Gründe dafür, auch Art. 10 I GG als eröffnet anzusehen, jedenfalls in Bezug auf die Kommunikation mit dem Server, der letztlich die begehrten Informationen liefert, das Smart-Home-Gerät ist nur das genutzte Medium. Vgl. zur neuen Herausforderung an den Grundrechtsschutz durch den Zugriff auf Smart-Home-Geräte auch weitergehend M. Löffelmann, Datenerhebung aus dem „Smart Home“ im Sicherheitsrecht, in: GSZ 2020, S. 244 (244 ff.); S. Marx, Der staatliche Zugriff auf die digitalen Sprachassistenten Alexa, Google Home und Co., in: DVBl. 2020, S. 488 (488 ff.); D. Rüscher, Alexa, Siri und Google als digitale Spione im Auftrag der Ermittlungsbehörden?, in: NStZ 2018, S. 687 (687 ff.). 1248 Zum IMSI-Catcher BVerfG-K NJW 2007, 351 (353 f., Rn. 57 ff.), wonach der Einsatz des IMSI-Catchers keinen Eingriff in Art. 10 GG darstelle, da bei dessen Nutzung insoweit lediglich maschinelle, jedoch keine menschlich veranlasste Kommunikation stattfinde; kritisch zum Ausschluss des IMSI-Catchings aus dem Schutzbereich von Art. 10 I GG zu Recht Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 316 ff., der betont, dass das
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Der Bundesnachrichtendienst ist jedenfalls der Rechtsauffassung, dass reine Maschine-zu-Maschine-Kommunikation nicht dem sachlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses unterliege, da es hier gänzlich an einem menschlich gesetzten Impuls zur Telekommunikation mangele, was für die Eröffnung des Art. 10 GG-Schutzes jedoch konstitutiv sei1249. Dabei ist jedoch zumindest zu bedenken, dass Einschüchterungseffekte auf die Grundrechtsausübung als objektivrechtliche Dimension des Fernmeldegeheimnisses auch durchaus bei reiner Maschine-zu-Maschine Kommunikation entstehen können, wenn der menschliche Benutzer grundsätzlich mit staatlicher Überwachung beim Datenaustausch rechnen muss1250. Eine Einordnung von Maschine-zu-Maschine-Kommunikation erscheint jedenfalls im Ansatz denkbar, wenn der durch Art. 10 I GG originär intendierte Schutz kommunikativer Privatheit zumindest mittelbar durch einen staatlichen Zugriff auf die von durch menschliche Benutzer genutzten Geräte, die die Daten automatisch übermitteln und austauschen, unter Druck geraten kann. Allerdings offenbaren alle vorgenannten Streitpunkte ein zentrales Problem in der Praxis: Wie soll zwischen Medien und Anwendungen, Individual- und Massenkommunikation, Mensch-zu-Maschine oder Maschine-zu-Maschine-Kommunikation, mithin über die Geltung des Fernmeldegeheimnisses insgesamt, überhaupt unterschieden werden? bb) Technologische Praxisperspektive: Ununterscheidbarkeit in Zeiten paketvermittelter Telekommunikation In der hier interessierenden (nachrichtendienstlichen) Überwachungsrealität beziehen sich die aufgezeigten Unterscheidungsfragen dabei nicht nur auf das
vom IMSI-Catcher aufgefangene Aktivsignal des Mobiltelefons bereits untrennbar mit der Bereitschaft zur Telekommunikation verknüpft sei; ebenso Schwabenbauer, Kommunikationsschutz (Fn. 632), S. 22; A. Nachbaur, Standortfeststellung und Art. 10 GG – Der Kammerbeschluss des BVerfG zum Einsatz des „IMSI-Catchers“, in: NJW 2007, S. 335 (337). 1249 So der Vortrag des BND in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14.1.2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17; siehe auch https://netzpolitik.org/2020/bundesverfassungsgericht-ver handelt-ueber-das-bnd-gesetz/ (15.1.2020); nunmehr auch zum BNDG-E BT-Drs. 19/ 26103, S. 56, 76; sehr kritisch dazu Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 5 f.; eco, Stellungnahme (Fn. 21), S. 4 f.; BfDI, Stellungnahme (Fn. 21), S. 6 f.; dagegen auch BVerfG-K, NJW 2016, 3508 (3510, Rn. 38); Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 85 in Bezug auf § 5 I 3 Nr. 8 G 10; Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 55 ff. m.w. N.; Brunst (Fn. 643), § 7 Rn. 86; für eine Einbindung der Kommunikation von Computern untereinander bzw. allgemein von machine to machine Kommunikation hingegen Marosi/Skobel, Menschen (Fn. 1242), S. 844 f.; A. Grünwald/ C. Nüßing, Machine To Machine (M2M)-Kommunikation – Regulatorische Fragen bei der Kommunikation im Internet der Dinge, in: MMR 2015, S. 378 (382); Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 60. 1250 So richtigerweise Marosi/Skobel, Menschen (Fn. 1242), S. 839: „Für die Schutzbedürftigkeit kommt es nicht darauf an, wie die Daten entstanden sind.“
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einzelne jeweilige Medium, sondern vielmehr auf den gesamten Übertragungsweg. Es handelt sich gleichsam um die Makroperspektive derselben Problemlage. Bei den Spiegelungen der Glasfaserkabel, die dem Bundesnachrichtendienst ausgeleitet werden, lassen sich Massen- und Individualkommunikation de facto nur dann unterscheiden, wenn an den Inhalt oder an die Kommunikationsumstände, konkret an die jeweiligen Anwendungsprotokolle oder Portnummern, angeknüpft wird1251. Nur so könnte der Bundesnachrichtendienst die jeweiligen Anwendungen im Datenstrom detektieren und den Kategorien Massen- oder Individualkommunikation, Mensch-zu-Maschine oder Maschine-zu-Maschine zuordnen. Damit würde jedoch eine der zentralen Schutzfunktion des Art. 10 I GG zuwiderlaufende Entscheidung über die Schutzbereichseröffnung erst nach einer Kenntnisnahme des Kommunikationsinhaltes bzw. der Umstände getroffen1252. Das „Geheimnis“ wäre bereits gelüftet, bevor überhaupt über dessen Geltung entschieden wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung richtigerweise auch die Speicherpflicht von Internetzugangsdaten gemäß § 113a IV TKG a. F. als Eingriff in das Fernmeldegeheimnis gewertet1253. Zwar schütze Art. 10 I GG nur Individualkommunikation, der zu speichernde Internetzugang ermögliche jedoch auch die Massenkommunikation. Da aber, so das Bundesverfassungsgericht, „eine Unterscheidung zwischen Individual- und Massenkommunikation ohne eine der Schutzfunktion des Grundrechts zuwiderlaufende Anknüpfung an den Inhalt der jeweils übermittelten Information nicht möglich ist, ist bereits in der Speicherung der den Internetzugang als solchen betreffenden Daten ein Eingriff zu sehen, auch wenn sie Angaben über die aufgerufenen Internetseiten [und mithin Angrenzungsfaktoren zwischen Individual- und Massenkommunikation] nicht enthalten“ 1254. Hieraus folgt, dass die gesamte paketvermittelte Telekommunikation in einem ausgeleiteten Datenstrang im Zweifel dem Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses unterfällt, wenn irgendeine Möglichkeit besteht, dass es sich auch um Individualkommunikation handeln könnte1255. Im Ergebnis wird damit die gesamte Internetkommu1251 Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 40 unter Berufung auf Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 129 f., der die Notwendigkeit einer technischen Filterung anhand der Anwendungen betont, um Massen- und Individualkommunikation zu unterscheiden; instruktiv so auch Bäcker, Vertraulichkeit (Fn. 1197), S. 105. 1252 So zur Speicherung von Internetdaten bei der Vorratsdatenspeicherung bereits ausdrücklich BVerfGE 125, 260 (311); ferner für die Literatur Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 64; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 40, auf die das BVerfG explizit verweist; dahingehend in Bezug auf die Unterscheidung zwischen menschlicher und rein maschineller Kommunikation auch Marosi/Skobel, Menschen (Fn. 1242), S. 839, 842. 1253 BVerfGE 125, 260 (311). 1254 So ausdrücklich BVerfGE 125, 260 (311). 1255 Für diese – letztlich aus technischen Gegebenheiten schlicht zwingende – Zweifelsregelung streiten in der Literatur auch Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 64; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 40; Löwer (Fn. 1206), Art. 10 Rn. 20; Groß (Fn. 1228), Art. 10 Rn. 19; so bereits schon instruktiv in seiner Monographie Germann, Gefahrenabwehr
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nikation – jedenfalls in Form der hier interessierenden, an den Bundesnachrichtendienst ausgeleiteten oder von ihm selbst erfassten Datenmassen – dem Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses zuzuordnen sein1256. Diese Erkenntnis ist die logische Folge des formalen Anknüpfungspunktes des Fernmeldegeheimnisses, allerdings mit der Erweiterung, dass bei der Ausleitung von Massendaten übergeordnet bereits am Leitungsschutz selbst und nicht erst am einzelnen Fernkommunikationsmedium bzw. dessen Transport durch Dritte anzuknüpfen ist. Anderenfalls ließe sich in der Praxis der sachliche Schutzbereich des Art. 10 I GG vielfach nicht hinreichend sicher zur Anwendung bringen; es drohten insoweit vermeidbare Schutzlücken. Nach der richtigerweise vorzunehmenden Einordnung des „Surfens“ im Internet als von Art. 10 I GG geschützter Individualkommunikation ist es zu diesem – letztlich vom einzelnen Medium abstrahierten – Ergebnis ohnehin kein allzu großer Schritt mehr. Der zu befürwortende Ansatz hin zu einem einheitlichen Kommunikationsschutz unter Art. 10 I GG unabhängig vom eingesetzten Medium1257, ist letztlich die Konsequenz der Ununterscheidbarkeit von Massen- und Individualkommunikation ohne Kenntnisnahme des Inhalts bzw. konkret des payloads eines IP-Pakets. Nur bei einem auf den Übertragungsweg bezogenen Verständnis kann der Grundrechtsschutz durch das Fernmeldegeheimnis in diesen Fällen konsequent aufrecht erhalten bleiben und effektiviert werden. Die hier angerissenen Einzelfallprobleme einer Abschichtung von Individualund Massenkommunikation und der basalen Frage, wann überhaupt (Tele-)Kommunikation mittels Fernmeldeeinrichtungen vorliegt, bzw. welche Art von Teilnehmern diese definiert, werden damit keinesfalls obsolet: Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Betrachtungsweisen derselben Problemlage. Betrachtet man die jeweiligen Medien und Kommunikationsvorgänge isoliert – gleichsam aus der Mikroperspektive – müssen diese Fragen einer grundrechtssicheren Lösung zugeführt werden; die hier eingenommene – eher praktisch-technisch deter-
(Fn. 1075), S. 118; kritisch Bäcker, Vertraulichkeit (Fn. 1197), S. 105 f., der jedoch vor allem den häufig in der Literatur mitgeäußerten Ansatz ablehnt, wonach ein technischer Schutzzugang (Passwort etc.) die Trennung von Individual- und Massentelekommunikation ermöglichen soll. Zu Recht weist Bäcker auf hiermit einhergehende Abgrenzungsschwierigkeiten hin. Die Zweifelsregel ist nach hiesigem Verständnis jedoch eher auf die tatsächliche Implementierung eines wirksamen Schutzes durch das Fernmeldegeheimnis aufgrund der rein technischen Ununterscheidbarkeit paketvermittelter Telekommunikation ohne Kenntnisnahme von deren Inhalt oder Umständen bezogen. Eine Entscheidung in der Frage, anhand welcher Kriterien Individual- von Massentelekommunikation in Bezug auf das jeweilige Einzelmedium – welches über das Internet als Intermediär erst vermittelt wird – unterschieden werden soll, ist damit nicht intendiert. 1256 Für einen weiten Schutzbereich im Ergebnis auch Bäcker, Vertraulichkeit (Fn. 1197), S. 109; so auch konsequent Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 130, der konstatiert, dass „das Medium Internet als Ganzes in den Schutzbereich des Art. 10 GG“ fällt; ebenso schon Germann, Gefahrenabwehr (Fn. 1075), S. 118. 1257 Hierfür plädiert etwa Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 40, Fn. 157 m.w. N.
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minierte – Makroperspektive fokussiert hingegen die übergeordnete Untrennbarkeit paketvermittelter Internetkommunikation, zumal wenn sie wie hier als Datenstrom in Gänze ausgeleitet wird, als ausschlaggebenden Punkt. Nach alledem unterfallen die dem Bundesnachrichtendienst ausgeleiteten oder von ihm selbst erhobenen Datenstränge dem sachlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses – unabhängig davon, welche Telekommunikationsanwendungen sie beinhalten. c) Lex specialis zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung Der Grundrechtsschutz des Fernmeldegeheimnisses erstreckt sich nicht mehr auf die nach Abschluss des Telekommunikationsvorganges im Herrschaftsbereich eines Teilnehmers noch vorhandenen bzw. gespeicherten Inhalte und Umstände des Vorganges, wenn der Nutzer eigene Schutzvorkehrungen gegen den unauthorisierten Datenzugriff treffen kann1258. Bei personenbezogenen Informationen greift dann, wie bei allen personenbeziehbaren Daten, die nicht in einem Zusammenhang mit einem konkreten Telekommunikationsvorgang stehen, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG1259. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung neben dem Fernmeldegeheimnis nicht zur Anwendung, da Art. 10 I GG eine speziellere Garantie enthält, die das allgemeinere Grundrecht aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG verdrängt und „aus der sich besondere Anforderungen für die Daten ergeben, die durch Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis erlangt werden“ 1260. Dabei lassen sich jedoch die Maßgaben, die das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG entwickelt hat, weitgehend – aber nicht uneingeschränkt – auf das als lex specialis ausgestaltete Fernmeldegeheimnis übertragen1261. Dies zeigt sich besonders in der bereits erwähnten Erstreckung des Fernmeldegeheimnisses auf den Datenauswertungs- und Bearbeitungsprozess, der sich an die erstmalige Erhebung durch staatliche Stellen anschließt. Es bleiben jedoch einzelne, fernmeldegeheimnisspezifische Besonderheiten bestehen, insbesondere die Tatsache, dass durch den formalen Anknüpfungspunkt an das Kommunikationsmedium keine personale Kommunikation erforderlich ist, mithin anders als beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung jedenfalls
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BVerfGE 120, 274 (307 f.) Statt aller Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 44. 1260 BVerfGE 125, 260 (310) unter Verweis auf BVerfGE 100, 313 (358 f.); a. A. Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 310 ff., der von einer nebeneinander Anwendbarkeit von Art. 2 I i.V. m. Art. 1 I GG und Art. 10 I GG ausgeht; kritisch dazu Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 199, der Thiel methodische Ungenauigkeit vorwirft. 1261 BVerfGE 125, 260 (310); 100, 313 (359); 65, 1 (46); zur Übertragung der Grundsätze aus dem Volkszählungsurteil Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 214 ff.; für eine sehr weitgehende Parallelität indes Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 74 ff. 1259
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für einen begründungsbedürftigen Ersteingriff durch die Erfassung der Telekommunikation keine personenbezogenen Daten vorliegen müssen1262. d) Verhältnis zum Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme und zur Pressefreiheit Beim Zugriff auf Computersysteme lässt das Fernmeldegeheimnis eine Lücke, da ein konkreter Übermittlungsvorgang bereits abgeschlossen ist und Art. 10 I GG daher nicht mehr einschlägig ist. Für die Online-Durchsuchung, bei der neben reinen Telekommunikationsdaten auch weitere im System gespeicherte Daten erfasst werden, hat das Bundesverfassungsgericht daher das subsidiäre Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme entwickelt; eine reine Quellen-Telekommunikationsüberwachung, bei der nur spezifische Telekommunikationsdaten erhoben werden, richtet sich hingegen nach Art. 10 I GG, wenn diese Beschränkung durch technische Vorkehrungen und rechtliche Vorgaben tatsächlich sichergestellt ist1263. Diese Fälle sind für die hier interessierende strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung indes nicht einschlägig, da der Bundesnachrichtendienst die Daten gerade während des laufenden Telekommunikationsvorganges abfängt1264. Hervorzuheben ist für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst noch das Verhältnis zur Pressefreiheit aus Art. 5 I 2 GG. Schließlich können gerade auch Presseangehörige – wie die Beschwerdeführer im Verfahren gegen das BNDG – von strategischen Überwachungsmaßnahmen nachdrücklich betroffen sein, insbesondere wenn ihre Kommunikation mit Informanten und Quellen durch den Bundesnachrichtendienst erfasst wird oder dies zumindest droht1265. Art. 10 I GG ist neben der Pressefreiheit 1262
Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 103; siehe auch die Nachweise in Fn. 1202. Zur Abgrenzung BVerfGE 120, 274 (308 f.); ausführlich Gudermann, OnlineDurchsuchung (Fn. 85), S. 128 ff. 1264 Die Frage der Abgrenzung wird freilich virulent, wenn die verfassungsrechtliche Einordnung der nunmehr implementierten nachrichtendienstlichen Quellen-Telekommunikationsüberwachung und – der jedenfalls implizit wohl mit erfolgenden – OnlineDurchsuchung in § 11 Ia G 10 n. F. vorgenommen werden soll. Hier spricht in einem ersten, summarischen Zugriff vieles dafür, dass die Erfassung bereits durchgeführter Telekommunikation nach § 11 Ia 2 G 10 n. F., die auf dem Endgerät als ruhende Telekommunikation verbleibt, dem Schutzbereich des Rechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme unterfällt; siehe dazu auch Wissenschaftlicher Dienst, Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Fn. 330), S. 7 m.w. N. 1265 BVerfGE 154, 152 (228, Rn. 111); BVerfGE 100, 313 (365); siehe dazu auch aus Sicht von Pressevertretern die Einschätzung der BNDG Novelle Reporter ohne Grenzen, Stellungnahme – Wahrung der Meinungs- und Pressefreiheit durch eine grundrechtskonforme Fassung des BND-Gesetzes, S. 4 ff., abrufbar unter https://www.repor ter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Presse/Downloads/Berichte_und_Dokumente/ 2016/160804_ROG_Stellungnahme_zum_BND-Gesetzentwurf.pdf (2.4.2019); dazu auch 1263
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anwendbar und wird durch diese ergänzt, wenn die Vertraulichkeit der berufsbezogenen Kommunikation mit Quellen und Informanten beeinträchtigt ist1266. Es besteht zwischen dem Fernmeldegeheimnis und der Pressefreiheit insoweit ein „funktioneller Zusammenhang“ zum Schutze der Vertraulichkeit der Informationsbeschaffung und der Redaktionsarbeit1267. Dabei wirkt sich die Pressefreiheit erst in Kombination mit dem Fernmeldegeheimnis aus, da die geschützte Fernkommunikation neben Art. 10 I GG aufgrund ihrer Telekommunikationsteilnehmer und des Inhaltes auch den Schutz durch Art. 5 I 2 GG erfährt1268. Ebenso kann die Berufsfreiheit ergänzend zum Schutz durch das Fernmeldegeheimnis hinzutreten, wenn etwa die berufliche Telekommunikation von Rechtsanwälten durch den Bundesnachrichtendienst erfasst wird1269. e) Fazit Das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 I GG schützt in sachlicher Hinsicht sowohl die Inhalte eines Telekommunikationsvorganges als auch dessen Umstände, die unter den Bedingungen moderner Technik in Form der Verkehrs- bzw. Metadaten anfallen. Der durch Art. 10 I GG vermittelte Geheimnisschutz will die Nutzer vor den durch diese unbeherrschbaren Gefahren einer Kommunikation auf Distanz unter Einschaltung Dritter bewahren. Es handelt sich dabei um einen formalisierten Vertraulichkeitsschutz hinsichtlich des jeweiligen Mediums, der weder am Inhalt noch am personalen Charakter einer Nachricht anknüpft, weswegen auch „leere“ Sendungen vom sachlichen Schutzbereich erfasst sind. Das durch Art. 10 I GG geschützte „Geheimnis“ ist mithin der durch den telekommunikationsbasierten Übermittlungsvorgang übertragene, wie auch immer geartete Inhalt oder die Umstände der Telekommunikation. Das Fernmeldegeheimnis schützt – auch als Ausdruck seiner übergeordneten Gemeinwohlbedeutung – über die reine Datenerhebung hinaus vor jedem Folgeeingriff in Form von Datennutzungen und Weiterverwendungen. Das Grundrecht ist dabei entwicklungsoffen ausgestaltet und umfasst auch neuartige technische Übermittlungsformen, ebenso die Stellungnahme eines Medienbündnisses, Gemeinsame Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundeskanzleramtes sowie zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD (BT-Drs. 18/9041), Entwurf eines Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes, S. 8, abrufbar unter https://www.re porter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/user_upload/StN_Medienbu__ndnis_BNDGesetz.pdf (2.4.2019). 1266 BVerfGE 100, 313 (365); C. Grabenwarter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Fn. 272), Art. 5 I, II (2018), Rn. 331. 1267 BVerfGE 107, 299 (310) konkret zur Rundfunkfreiheit, was jedoch auf die Pressefreiheit unproblematisch übertragbar ist, da der Senat selbst auf seine Entscheidung im dritten Abhörurteil und die dortigen Grundsätze verweist. 1268 Dahingehend auch BVerfGE 154, 152 (228, Rn. 111, 231, Rn. 120, 309, Rn. 325). 1269 Auf Art. 12 I GG verweist auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831.
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wie die Kommunikation mit Maschinen in Form des simplen „Surfens“ im Internet. Eine in der Theorie notwendige Abgrenzung von Individual- und Massenkommunikation sowie von Mensch-zu-Maschine und Maschine-zu-Maschine Kommunikation, die dem sachlichen Schutzbereich des Art. 10 I GG zugrunde liegt, ist in der Praxis bei Erfassung von Datenströmen paketvermittelter Telekommunikation im Regelfall nicht mehr praktikabel, da dies nur durch eine Kenntnisnahme des Inhaltes bzw. der Umstände der Kommunikation gelingen könnte, was aber dem Schutzzweck des Fernmeldegeheimnisses zuwider läuft. Abschließend bleibt noch festzuhalten, dass das Fernmeldegeheimnis lex specialis zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist. Die zu Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG im Volkszählungs-Urteil entwickelten Maßstäbe können jedoch weitgehend – wenn auch nicht vollumfänglich – auf Art. 10 I GG übertragen werden. Bei der Überwachung von Journalisten kann die Pressefreiheit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ergänzend zum Schutz durch Art. 10 I GG hinzutreten, um dem Quellenschutz und der Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit, als besondere Ausprägungen geschützter journalistischer Telekommunikation, Rechnung zu tragen. Gleiches gilt für die Berufsfreiheit, etwa bei der Telekommunikation von Rechtsanwälten. 2. Jedermann-Grundrecht unter Bewährungsdruck – die „Funktionsträgertheorie“ des Bundesnachrichtendienstes a) Schutz natürlicher Personen durch das Menschenrecht des Fernmeldegeheimnisses Art. 10 I GG ist nach seinem Wortlaut kein Deutschengrundrecht, sondern schützt alle natürlichen Personen1270. Das Fernmeldegeheimnis ist als Grundrecht ein Menschenrecht1271. Dabei handelt es sich zunächst um eine rein auf den personellen Schutzbereich bezogene Feststellung; hiervon klar zu trennen ist die Frage nach der territorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses1272. Die personelle Dimension des Schutzbereiches ist der territorialen gleichsam vorgelagert1273. Die Ausgestaltung des Fernmeldegeheimnis als Jedermann-Grundrecht 1270 Siehe statt vieler Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 24; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 26. 1271 Pagenkopf (Fn. 1226), Art. 10 Rn. 11; Löwer (Fn. 1206), Art. 10 Rn. 4; Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 129. 1272 Zum Grundrechtsschutz des Art. 10 I GG für Jedermann und der Abschichtung des Problems der territorialen Geltung nur Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 24; Proelß/ Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 378. Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 216, sieht in der Vermischung der Frage der personellen Grundrechtsberechtigung mit derjenigen eines etwaig erforderlichen besonderen Statusverhältnisses bei extraterritorialen Sachverhalten zu Recht eine „Ebenenverwechselung“. 1273 So zu Recht erneut Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 218, in Bezug auf die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 III GG; ähnlich Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 176, konkret bezogen auf Art. 10 I GG.
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trifft somit noch keine Aussage über die Auslandsgeltung von Art. 10 GG in räumlicher Hinsicht. Die Norm macht aber aufgrund ihres alle Menschen umfassenden Wortlautes deutlich, dass eine Unterscheidung anhand der Staatsangehörigkeit unter dem Grundgesetz im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses schlicht nicht vorgesehen ist. Dies ergibt sich zudem systematisch aus einem Umkehrschluss: Das Grundgesetz ordnet in den Fällen, in denen es eine Beschränkung der Grundrechte auf Deutsche im Sinne des Art. 116 I GG vorsieht, selbige explizit an, in allen weiteren Fällen – wie bei Art. 10 I GG – kann daher die Staatsangehörigkeit der natürlichen Person keine Rolle spielen1274. Noch erwähnenswert ist zudem, dass der Tatbestand des Art. 10 I GG zunächst an die Grundrechtsträgerschaft eines Telekommunikationsteilnehmers anknüpft; sobald die Teilnehmer bestimmt sind, schützt das Fernmeldegeheimnis jedoch alle am Fernmeldevorgang Beteiligten1275. Die Privatheit ist mithin nicht nur im Interesse eines Teilnehmers geschützt1276. Hieraus resultiert eine untrennbare Einheit des geschützten Telekommunikationsverkehrs, bei dem bereits der Grundrechtsschutz eines Teilnehmers die Sicherung für den gesamten Telekommunikationsvorgang auslöst1277. Der Schutz ist schlechterdings nicht trennbar, da der beidseitige Austausch von Telekommunikation naturgemäß die Beiträge beider Parteien beinhaltet und bei einem staatlichen Zugriff den Verkehr in Gänze offenbaren würde. b) Wesensmäßiger Schutz von juristischen Personen Neben natürlichen sind inländische1278 juristische Personen gemäß Art. 19 III GG durch das Fernmeldegeheimnis geschützt, welches nach ständiger Rechtspre1274 Diesen Umkehrschluss zieht überzeugend B. Schiffbauer, Zur Existenz, Bindungswirkung und Anwendbarkeit von Grundrechten am Beispiel der Fernmeldeaufklärung durch den BND, in: Brings-Wiesen/Ferreau, „Deutscher Herbst“ (Fn. 67), S. 93 (103). 1275 Präzise Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 25. 1276 Prägnant erneut Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 25. 1277 So auch konkret für die strategische Fernmeldeaufklärung, bei der die präzise Bestimmung eines einheitlichen Schutzes des Kommunikationsverkehrs als solchem aufgrund der umstrittenen Grundrechtsberechtigung einzelner Kommunikationsteilnehmer besonders virulent ist, Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 125 f. 1278 Zur Bestimmung des in- bzw. ausländischen Charakters einer juristischen Person anhand der mittlerweile wohl weit mehrheitlich vertretenen und grundsätzlich zustimmungswürdigen – weil letztlich schon am praktikabelsten – sogenannten Sitztheorie oder mittels der als Mindermeinung zu bezeichnenden sogenannten Anerkennungstheorie, die schon aus Gründen einer andernfalls gegebenen Dispositionsfähigkeit des Staates über den Grundrechtsschutz abzulehnen ist, siehe nur C. Enders, in: V. Epping/ C. Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 19 III (Stand: 15.2.2022), Rn. 36 ff.; Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 126 ff.; M. Sachs, in: ders., GG (Fn. 309), Art. 19 III Rn. 51 ff.; P. M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I (Fn. 1184), Art. 19 III Rn. 296 ff.; B. Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Fn. 272), Art. 19 III (2009), Rn. 78 ff. jeweils m.w. N. Für die Sitztheorie streitet – wenngleich in kurzer Fest-
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chung des Bundesverfassungsgerichts und der wohl einhelligen Meinung im Schrifttum dem Grunde nach wesensmäßig auf diese anwendbar ist1279. Dies gilt grundsätzlich unabhängig davon, wovon man die wesensmäßige Anwendbarkeit eines Grundrechts auf juristische Personen dogmatisch abhängig machen möchte1280. Einerseits wird darauf abgestellt, ob die juristische Person ein personales Substrat aufweist, da aufgrund des individualschützenden Charakters der Grundrechte eine „Einbeziehung der juristischen Personen in den Schutzbereich der Grundrechte nur [gerechtfertigt sei], wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der ,Durchgriff‘ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll oder erforderlich erscheinen läßt“ 1281. Andere betonen hingegen den eigenständigen Grundrechtsschutz der juristischen Person – den indes auch das Bundesverfassungsgericht nie als solchen in Frage gestellt hat1282 – und die grundrechtstypische Gefährdungslage, in der diese sich befände1283. Die Unterschiede der ohnehin nicht strikt getrennten Positionen1284 wirken sich indes alstellung, ohne auf die Debatte in der Literatur einzugehen – letztlich auch die Rechtsprechung, siehe BVerfG NVwZ 2008, 670, 671; BVerfGE 21, 207 (208 f.). Instruktiv für eine Neuinterpretation des Inlandskriteriums – dazu sogleich – bei Art. 19 III GG R. Müller-Terpitz, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung, in: JZ 2020, S. 1080 (1082 ff.). 1279 Dazu aus der langjährigen Rechtsprechung BVerfGE 154, 152 (207, Rn. 67); 107, 299 (310); 106, 28 (43); 100, 313 (356); siehe für die Literatur Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 24; Pagenkopf (Fn. 1226), Art. 10 Rn. 11; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 26; Löwer (Fn. 1206), Art. 10 Rn. 6; W. Rüfner, Grundrechtsträger, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 196 Rn. 73; Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 133; zur Sonderfrage der Grundrechtsberechtigung von inländischen juristischen Personen bei Beteiligung eines ausländischen Staates an diesen vgl. monographisch S. Papenbrock, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts bei Beteiligung eines ausländischen Staates im Rechtsvergleich, 2019, S. 69 ff. 1280 Zur Grundsatzfrage der Voraussetzung einer wesensmäßigen Übertragbarkeit von grundrechtlichen Gewährleistungen auf juristische Personen ausführlicher Überblick über die Diskussion bei W. Kahl/P. Hilbert, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Fn. 275), BK, Art. 19 III (2019), Rn. 156 ff.; ebenso bei Papenbrock, ebda., S. 24 ff.; Rüfner (Fn. 1279), § 196 Rn. 57 ff. 1281 BVerfGE 21, 362 (369); für die Durchgriffsgeste etwa Huber (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 206 ff.; W. Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG I (Fn. 1206), Art. 19 III Rn. 43; Remmert (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 26 ff. 1282 Klarstellung bei Remmert (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 35. 1283 Für die These vom Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage aus der aktuellen Literatur M. Ludwigs/C. Friedmann, Die Grundrechtsberechtigung staatlich beherrschter Unternehmen und juristischer Personen des öffentlichen Rechts, in: NVwZ 2018, S. 22 (27); maßgeblich vor allem H. Dreier, in: ders., GG I (Fn. 551), Art. 19 III Rn. 31 ff.; auch das BVerfGE bedient sich des Gedankens, der grundrechtstypischen Gefährdungslage, hält jedoch gleichwohl an der Durchgriffsthese fest: BVerfGE 143, 246 (316 f., Rn. 195). 1284 Vermittelnd etwa Huber (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 205, 214; Remmert (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 28.
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lenfalls in konkreten Einzelfällen aus1285, deren erschöpfende Aufzählung dem Untersuchungsziel nicht sonderlich dienlich erscheint. Die Grundidee dieser beiden Deutungsansätze des Art. 19 III GG kann aber für das Verständnis einer vom Bundesnachrichtendienst in der Praxis bisher maßgeblich genutzten Rechtsansicht – hierzu sogleich – fruchtbar gemacht werden. Die für den Bundesnachrichtendienst wahrscheinlich auftragsgemäß interessanteren ausländischen juristischen Personen des Privatrechts sind nach heute wohl ganz herrschender Meinung hingegen vom grundrechtlichen Schutz prinzipiell ausgenommen1286. Eine Ausnahme besteht, mit unterschiedlichen Begründungen, bekanntlich nur für juristische Personen des Privatrechts mit einem Sitz im EU-Ausland, die einen hinreichenden Inlandsbezug aufweisen, der die „Geltung der Grundrechte in gleicher Weise wie für [originär] inländische juristische Personen geboten erscheinen lässt“ 1287. Bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung nimmt das Bundesverfassungsgericht an, dass die mögliche Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst, die ein spezifisches Interesse deutscher Behörden an juristischen Personen des europäischen Auslands zeige, einen solchen „schutzbedarfsbegründende[n] Inlandsbezug“ darstellen könne1288. Diese Überlegung ist insoweit anschlussfähig, da der Bundesnachrichtendienst plausibel auch europäischen juristischen Personen ein Aufklärungsinteresse – sofern von der Bundesregierung vorgegeben – entgegenbringt. Dies zeigt sich schon in den Regeln zur gezielten Steuerung von europäischen Zielen nach § 6 III BNDG. Voraussetzung für die Annahme dieser Sonderregelung wäre zudem aber – die bei nachrichtendienstlicher Fernmeldeaufklärung richtigerweise abzulehnende – Eröffnung des Anwendungsbereiches der EU-Verträge1289. Deshalb kommt auch juristischen Personen mit Sitz innerhalb der Europäischen Union der Schutz des Fernmeldegeheimnisses jedenfalls nach hier vertretener 1285
Siehe zu dieser Wertung etwa Rüfner (Fn. 1279), § 196 Rn. 63. BVerfGE 129, 78 (95); 100, 313 (364); 23, 229 (236); statt aller aus der Literatur Papenbrock, Grundrechtsberechtigung (Fn. 1279), S. 61 ff.; ferner für die h. M. Krebs (Fn. 1281), Art. 19 III Rn. 35 ff.; J. Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: ders./Kirchhof, HStR IX (Fn. 1279), § 199 Rn. 67 m.w. N.; ausländische juristische Personen können sich aber auf die Prozessgrundrechte der Art. 101 I 2 und Art. 103 I GG berufen, dazu etwa BVerfGE 64, 1 (11); H. D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG (Fn. 274), Art. 19 III Rn. 21. 1287 Maßgeblich aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung BVerfGE 154, 152 (206, Rn. 63) mit hiesigem Zitat; BVerfGE 129, 78 (97) – Cassina; zu dieser Ausnahme nur Jarass (Fn. 1286), Art. 19 III Rn. 23; Enders (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 37. 1288 BVerfGE 154, 152 (206, Rn. 64). 1289 Für die Voraussetzung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge BVerfGE 154, 152 (206 ff., Rn. 63 ff.); 129, 78 (97) – „Die Grundfreiheiten und das allgemeine Diskriminierungsverbot stehen im Anwendungsbereich des Unionsrechts einer Ungleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen aus der Europäischen Union entgegen und drängen insoweit die in Art. 19 Abs. 3 GG vorgesehene Beschränkung der Grundrechtserstreckung auf inländische juristische Personen zurück“ (Hervorhebung nur hier); zur Frage der Anwendbarkeit des Unionsrechts ferner noch ausführlich unter G. II. 1286
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Ansicht bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung durch Nachrichtendienste nicht zu. Zumindest überlegenswert erscheint der Ansatz, das Inlandskriterium des Art. 19 III GG angesichts der Internationalisierung von Konzernstrukturen, gerade im Bereich von Informations- und Telekommunikationsplattformen, die häufig ohnehin aus dem außereuropäischen Ausland gesteuert werden, extensiver zu interpretieren und zu einem Marktortprinzip weiterzuentwickeln1290. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht eine Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen aufgrund der Wortlautgrenze bisher abgelehnt1291, weswegen gerade auch mit Blick auf die bisher geübte nachrichtendienstliche Praxis von der hergebrachten, insoweit engeren Sichtweise, ausgegangen werden soll1292. aa) „Funktionsträgertheorie“ bei juristischen Personen des Privatrechts unanwendbar Aus den unterschiedlichen Schutzniveaus von natürlichen und juristischen Personen ergibt sich für die strategische, vor allem aber für die Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung, schließlich eine komplexe Gemengelage. Eine juristische Person kann als „bloße[s] Zweckgebilde der Rechtsordnung“ naturgemäß nicht von sich aus kommunizieren, sondern tut dies durch natürliche Personen1293. Angesichts dieser Ausgangslage hat der Bundesnachrichtendienst die „Funktionsträgertheorie“ entwickelt, wonach das Handeln der natürlichen Person unmittelbar der hinter ihr stehenden juristischen Person, für welche sie tätig wird, zuzurechnen sei1294. Die „Theorie“ findet nach Ansicht des Dienstes pauschal Anwendung auf juristische Personen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts. In der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung war diese Frage – obschon sie von höchster praktischer Relevanz ist – bislang ungeklärt. Nunmehr hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung hierzu Stellung genommen1295, wobei jedoch entscheidende Fragen offenbleiben. 1290
Dafür unlängst Müller-Terpitz, Grundrechtsberechtigung (Fn. 1278), S. 1084 ff. BVerfGE 129, 78 (94 ff.); dies betont freilich auch Müller-Terpitz, Grundrechtsberechtigung (Fn. 1278), S. 1087. 1292 Für Unternehmen, ohne jede Geschäftstätigkeit in Deutschland nimmt freilich auch Müller-Terpitz, Grundrechtsberechtigung (Fn. 1278), S. 1087, keinen Grundrechtsschutz bei einer Beobachtung durch den BND an. 1293 Zitat in BVerfGE 106, 28 (42); 95, 220 (242); anschaulich mit Beispielen aus der nachrichtendienstlichen Praxis S. Burbaum, Stenographisches Protokoll I der 24. Sitzung des NSA-UA, S. 42; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 153. 1294 Zur „Funktionsträgertheorie“ BT-Drs. 18/12850, S. 755 ff.; zustimmend Karl/ Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 920; kritisch Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 153; Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 30; allgemeiner Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 44. 1295 BVerfGE 154, 152 (207 f., Rn. 69). 1291
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Nach der – bis vor kurzem vertretenen – „Funktionsträgertheorie“ besitzen natürliche Personen, die für eine ausländische juristische Person tätig sind, keinen Individualgrundrechtsschutz, da sie „funktional“ für die gemäß Art. 19 III GG ungeschützte juristische Person tätig werden1296. Wenn zum Beispiel ein deutscher Mitarbeiter im Ausland für eine ausländische juristische Person des Privatrechts, etwa ein Rüstungsunternehmen, dienstlich, also in seiner „Funktion“, ein Telefonat mit einem anderen ausländischen Unternehmen führt, unterfiele diese Kommunikation nach der bisherigen Rechtsauffassung des Bundesnachrichtendienstes nicht dem Fernmeldegeheimnis1297. Somit dürfte das Telefonat in der Folge einfachrechtlich nach dem BNDG überwacht oder gezielt nach § 5 II 3 G 10 erfasst werden und wäre vom sonstigen G 10 und Grundrechtsschutz ausgeschlossen. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, differenziert der Bundesnachrichtendienst nach dem Inhalt der Telekommunikation: Wäre das Telefonat im vorgenannten Beispiel privater Natur, wäre ein Grundrechtsschutz auch nach der „Funktionsträgertheorie“ gegeben und eine Aufklärung einfachrechtlich nur unter den Anforderungen des § 5 G 10, nicht aber nach §§ 6 ff. BNDG bzw. der Ausnahme des § 5 II 3 G 10 möglich1298. Umgekehrt kann einem „Funktionsträger“, der nach Auffassung des Bundesnachrichtendienstes nicht geschützt ist, ein von der geschützten juristischen Person gleichsam abgeleitetes Fernmeldegeheimnis – wohlgemerkt für die dienstliche Kommunikation – zukommen; private Telekommunikation bliebe weiterhin ungeschützt1299: Ein Ausländer arbeitet und kommuniziert für ein deutsches Unternehmen im Ausland. Die „Funktionsträgertheorie“ war und ist für juristische Personen des Privatrechts rechtlich nicht haltbar1300. So wurde teils darauf hingewiesen, dass sich diese „Theorie“ auf keinerlei Rechtsprechung oder juristisch fundierte Literatur stützen kann1301. Jedenfalls bei der Erfassung der Telekommunikation privat1296 Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 180, der sich indes einer inhaltlichen Stellungnahme zur Funktionsträgertheorie enthält. 1297 Beispiel nach BT-Drs. 18/12850, S. 755 (Fall 1 des „G 10-Handbuchs der Abteilung TA im BND vom 20. Februar 2008“), wo noch drei weitere Fallkategorien aufgeführt sind, was freilich nicht abschließend sein kann. 1298 So ausdrücklich BT-Drs. 18/12850, S. 755. 1299 Zu dieser Ableitung des Individualschutzes vom Schutz der juristischen Person nach der „Funktionsträgertheorie“ der Blogbeitrag von M. Bäcker, Der BND baut sich einen rechtsfreien Raum: Erkenntnisse aus dem NSA-Untersuchungsausschuss, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/der-bnd-baut-sich-einen-rechtsfreien-raum-erkenntnisseaus-dem-nsa-untersuchungsausschuss (2.4.2019). 1300 A. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 123 f. 1301 „Öffentliche Bewertung des Parlamentarischen Kontrollgremiums gem. § 10 II, III PKGrG zur BND-eigenen Steuerung in der strategischen Fernmeldeaufklärung“, BTDrs. 18/9142, S. 20 sowie Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 153, die allerdings allgemeiner formulieren und nicht zwischen privaten und öffentlichen juristischen Personen differenzieren; kritisch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 124, der indes die Kritik an der Pauschalität der Aussage ausrichtet. Dem ist insoweit zuzustimmen, als nicht
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rechtlicher juristischer Personen – über öffentliche juristische Personen ist hier noch nichts gesagt – trifft diese Bestandsaufnahme zu. Es handelt sich wohl kaum um eine eigenständige rechtliche „Theorie“ – ungeachtet der Frage, ab wann eine solche überhaupt angenommen werden kann –, sondern vielmehr um einen Auslegungsansatz mit dem Ziel einer größtmöglichen Erfassbarkeit von Telekommunikationsverkehren von juristischen Personen. Hierbei dürfte sich der Bundesnachrichtendienst – jedenfalls an den prägenden Grundgedanken – der These der grundrechtstypischen Gefährdungslage angelehnt haben, um die eigenständige Bedeutung der juristischen Person als Grundrechtssubjekt zu betonen und in der Konsequenz, gleichsam im Umkehrschluss zur sogenannten Durchgriffstheorie, die hinter ihr stehenden natürlichen Personen nicht mehr als eigenständige Grundrechtsträger anzusehen, jedenfalls dann nicht, wenn sie „funktional“ für die juristische Person tätig werden1302. Um jedoch eine Unterscheidung zwischen funktionsbezogener und privater Telekommunikation bei der Überwachung von privatrechtlichen juristischen Personen überhaupt treffen zu können, müssten Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes den Inhalt der Telekommunikation zunächst zur Kenntnis nehmen und bewerten1303. Genau vor dieser Kenntnisnahme will das Fernmeldegeheimnis aber gerade schützen. Parallel zum bereits aufgezeigten Problem der Identifizierung von Individualkommunikation im Internet offenbart sich auch hier der formale Anknüpfungspunkt des Geheimnisschutzes durch Art. 10 I GG. Wenn erst durch Kenntnisnahme über die Schutzwürdigkeit der Kommunikation entschieden werden soll, ist das Fernmeldegeheimnis bereits gebrochen. Der personelle Schutzbereich würde erst nach einem erfolgten Grundrechtseingriff ex post definiert. Ein Anknüpfen an den Kriterien einer dienstlichen und privaten Telekommunikation zur Bestimmung des personellen Schutzbereiches läuft dem Schutzgedanken des Fernmeldegeheimnisses zuwider1304. Zudem ist eine solche Trennung nach privater und dienstlicher Telekommunikation kaum trennscharf zu handhaben und naturgemäß mit Abgrenzungsschwierigkeiten behaftet1305. Die Anwendung des personellen Schutzbereiches des Fernmeldegeheimnis wäre zur Disposition des auswertenden Bundesnachrichtendienstes und damit des eigentlich Grundrechtsverpflichteten gestellt. Dieses Ergebnis zeigt, neben der bereits durch Art. 10 I GG untersagten Kenntnisnahme, schon die Untauglichkeit der „Funktionsträgertheorie“ für die Bestim-
zwischen der Frage der Kommunikationszurechnung zu einer privaten oder öffentlichen juristischen Person differenziert wird. 1302 Dahingehend BT-Drs. 18/12850, S. 756. 1303 So auch ausdrücklich für die Praxis des Bundesnachrichtendienstes der Zeuge Burbaum, BT-Drs. 18/12850, S. 757. 1304 Dahingehend auch BVerfGE 125, 260 (311) in Bezug auf den sachlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses. 1305 Die Abgrenzungsschwierigkeiten betont Bäcker, Raum (Fn. 1299), mit plastischen Beispielen.
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mung des personellen Schutzbereiches des Fernmeldegeheimnisses in Bezug auf privatrechtliche juristische Personen und deren Mitarbeiter. Wollte man die Grundrechtsberechtigung natürlicher Personen von derjenigen der juristischen Person, für die sie tätig werden, abhängig machen, ließe sich dies im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses für Private allenfalls in Gänze, respektive ohne eine von Art. 10 I GG untersagte Differenzierung nach dem Inhalt der Telekommunikation, vertreten. Dies wäre zumindest eine konsequente Verfolgung des Ansatzes einer isolierten grundrechtlichen Betrachtung juristischer Personen, ohne Rücksichtnahme auf die hinter ihr stehenden natürlichen Personen. Gegen eine solch absolute Sichtweise spricht jedoch, dass der Grundrechtsschutz einer juristischen Person, jedenfalls des Privatrechts, nach Art. 19 III GG ergänzend neben und nicht anstelle des Menschenrechts des Fernmeldegeheimnisses für natürliche Personen tritt. Das Bundesverfassungsgericht betont in seiner Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nunmehr ausdrücklich, dass der Schutz von natürlichen Personen durch das Fernmeldegeheimnis nicht deswegen entfällt, „weil sie Funktionsträger einer ausländischen juristischen Person sind“, die sich aufgrund von Art. 19 III GG nicht auf die Grundrechte berufen könne1306. Dies gelte auch dann, wenn aufgrund des Schutzes der natürlichen Person auch der juristischen dieser „im Einzelfall zugleich reflexhaft“ zukomme1307. Es handelt sich also um ein gleichwertiges, gegebenenfalls kumulatives Verhältnis, jedoch nicht um ein alternatives1308. Art. 19 III GG spricht deswegen schon in seinem Wortlaut davon, dass die Grundrechte „auch“ für juristische Personen gelten können. Das Bundesverfassungsgericht betont diesbezüglich ebenfalls, dass Art. 19 III GG nicht die Aufgabe habe, die Zugriffsmöglichkeiten deutscher hoheitlicher Gewalt auf ausländische juristische Personen „unbegrenzt“ zu erweitern, sondern auf eine spezifische „Erweiterung des individuellen Grundrechtsschutzes auf juristische Personen“ ziele1309. Die bewusste Beschränkung dieser Erweiterung auf das Inland reduziere hingegen nicht den umfassenden Grundrechtsschutz von natürlichen Personen1310. Den klaren Aussagen des Bundesverfassungsgerichts gegen die Funktionsträgertheorie und einer Reduktion von Menschenrechten schlicht aufgrund der Tätigkeit für eine grundrechtlich ungeschützte ausländische juristische Person ist – jedenfalls in Bezug auf juristische Personen des Privatrechts – zuzustimmen. Der Grundrechtsschutz der natürlichen Person tritt mithin nicht hinter die Tätigkeit für eine private juristische Person zurück – weder bei der Ausübung einer „Funktion“ noch in Gänze. Im Ergebnis unterfallen daher alle natürlichen Personen dem personellen Schutzbereich des 1306
BVerfGE 154, 152 (208, Rn. 69). BVerfGE 154, 152 (208, Rn. 69). 1308 So zutreffend Bäcker, Raum (Fn. 1299); im Ergebnis auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 278. 1309 BVerfGE 154, 152 (208, Rn. 69). 1310 BVerfGE 154, 152 (208, Rn. 69). 1307
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Fernmeldegeheimnisses, auch wenn sie für eine, aufgrund von Art. 19 III GG nicht geschützte, juristische Person des Privatrechts kommunizieren, da ihnen das Recht aus Art. 10 I GG als Person selbst zukommt1311. Dies gilt sowohl bei der Erfassung mittels Selektoren aus einem Massendatenstrom, als auch bei einer gezielten Steuerung von natürlichen Personen in Funktionen für eine ausländische juristische Person des Privatrechts. bb) Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts: Unterscheidung von Organwaltern und grundrechtsberechtigten Individuen „hinter dem Amt“ Der Bundesnachrichtendienst ging ferner davon aus, dass das Grundgesetz keinen Grundrechtsschutz für juristische Personen des öffentlichen Rechts vorsehe, weswegen auch die für diese handelnden natürlichen Personen als „Funktionsträger“ überwacht werden dürften1312. Inländische öffentlich-rechtliche juristische Personen sind nach langjähriger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Adressaten und nicht Berechtigte der Grundrechte, weswegen ihnen grundsätzlich kein Grundrechtsschutz zukommen kann1313. Vom Menschen und Bürger als hergebrachtem Träger der Grundrechte her gesehen seien sie jeweils nur „eine besondere Erscheinung der einheitlichen Staatsgewalt“ 1314. Für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten gilt nach der ständigen Rechtsprechung eine Ausnahme; diese können sich, gerade auf die in Bezug auf den Bundesnachrichtendienst wichtige Sicherung, jedenfalls zusammen mit dem Fernmeldegeheimnis, auf die für sie einschlägige Pressefreiheit berufen1315. Obschon sie juristische Personen des öffentlichen Rechts sind, unterstehen sie als Sonderfall dem Schutz der Grundrechte. Mit Blick auf den Auftrag zur Auslandsaufklärung nach § 1 II BNDG 1311 Wie hier auch im Ergebnis BVerfGE 154, 152 (208 f., Rn. 70); Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2222; Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 3; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 8; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 153; Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 30; a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 123 f.; Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 920; wohl auch Gröpl, Fernmeldegeheimnis (Fn. 773), S. 15. 1312 So die in BT-Drs. 18/12850, S. 756, dargestellte Argumentation des „G 10-Handbuches des Bundesnachrichtendienstes“; siehe nunmehr auch den Nachweis aus DVSIGINT des BND in BVerfGE 154, 152 (207 f., Rn. 69). 1313 Zusammenfassung der ständigen Rechtsprechung in BVerfGE 143, 246 (313, Rn. 187 f.); aus der Literatur Jarass (Fn. 1286), Art. 19 III Rn. 24; ausführlich zum grundsätzlichen Ausschluss öffentlicher juristischer Personen aus dem Grundrechtsschutz sowie zur „klassischen Ausnahmetrias“ für Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten ferner Papenbrock, Grundrechtsberechtigung (Fn. 1279), S. 39 ff., 45 ff.; Huber (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 244 ff.; Enders (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 45 ff.; Dreier (Fn. 1283), Art. 19 III Rn. 56 ff.; Remmert (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 45 ff. 1314 BVerfGE 143, 246 (313, Rn. 188). 1315 BVerfGE 78, 101 (102 f.); 59, 231 (254); 34, 154 (162); 31, 314 (322) sowie die vorgenannten Nachweise in Fn. 1313.
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wird der Bundesnachrichtendienst jedoch kaum die Telekommunikation inländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts und ihrer Organe zum Ziel haben, selbst wenn diese einen erforderlichen spezifischen Auslandszusammenhang aufwiese. Abgesehen davon ist eine Differenzierung zwischen Amt und natürlicher Person, im weitesten Sinne einer „Funktionsträgertheorie“, bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts wesentlich geläufiger als bei privaten, wenngleich sie freilich nicht unter diesem Schlagwort firmiert. Dennoch können hieraus wichtige Erkenntnisse für spezifische Fragen des persönlichen Schutzbereichs des Fernmeldegeheimnisses in Bezug auf öffentliche juristische Personen im Umfeld der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung des Bundesnachrichtendienstes gewonnen werden. Es handelt sich um eine zweistufige Überlegung, bei der zunächst zu Fragen ist, ob eine natürliche Person, die für eine juristische Person des öffentlichen Rechts als Organwalter tätig ist, bei Ausübung des Amtes überhaupt noch Grundrechtsberechtigt ist. In einem zweiten Schritt erst stellt sich die mit Blick auf das Fernmeldegeheimnis konkrete Frage, wie und wenn ja welche Kommunikation einer natürlichen Person der öffentlichen juristischen Person zugerechnet wird. Die beiden Schritte der Betrachtung sind zwar zu trennen, jedoch nicht dergestalt, dass die Vorabüberlegung der Grundrechtsberechtigung in (Sonder-)Statusverhältnissen entfiele1316. Es kann und muss bei Organwaltern inländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts zunächst zwischen dem Amt, welches für die juristische Person bekleidet wird, und der dahinterstehenden natürlichen Person als Privatmensch unterschieden werden1317. Der Amtswalter hat qua seines Amtes eine staatliche Aufgabe zu erfüllen, bleibt aber in seiner Eigenschaft gleichsam als Mensch „,hinter dem Amt‘“ 1318 aus den Grundrechten berechtigt1319. Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst können sich schließlich trotz des Sonderstatusverhältnisses, in dem sie zum Staat stehen, grundsätzlich auf Grundrechte berufen1320. Die unmittelbare Amtsausübung ist vom Schutzbereich der Grundrechte
1316 So aber wohl Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 117, der die Frage des Grundrechtsschutzes in Sonderstatusverhältnissen streng von der Zurechnung von Äußerungen trennen will. 1317 Hierzu etwa F.-J. Peine, Grundrechtsbeschränkungen in Sonderstatusverhältnissen, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 65 Rn. 43. 1318 Anschaulich Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 224. 1319 Pointiert Peine (Fn. 1317), § 65 Rn. 43. 1320 BVerfGE 138, 296 (328) zum öffentlichen Dienst; BVerfGE 108, 282 (296 ff.) für Beamte; grundlegend zur Abkehr von der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis der Strafgefangenen-Beschluss des BVerfG, BVerfGE 33, 1 (1 ff.); allgemein zu Grundrechten im Sonderstatusverhältnis W. Loschelder, Grundrechte im Sonderstatus, in: Isensee/Kirchhof, HStR IX (Fn. 1279), § 202 Rn. 46 ff.
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wegen ihres staatlichen Charakters hingegen nicht umfasst1321. Dadurch entstehen funktionsgebundene, grundrechtsungeschützte Bereiche, die aus der spezifischen Organstellung für eine staatliche Stelle resultieren1322. Insoweit unterscheidet sich die Reichweite des Grundrechtsschutzes für Organwalter, die für juristische Personen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts tätig werden. Diese spezifische Sonderkonstellation der Tätigkeit eines Organwalters funktional für eine grundrechtsungeschützte öffentliche juristische Person lässt sich deshalb nicht als allgemeingültige Regel auf einen „Funktionsträger“ für eine juristische Person des Privatrechts pauschal übertragen1323. Natürliche Personen nehmen bei ihrer Tätigkeit für private juristische Personen gerade keine staatliche Funktion wahr, die in ihrer unmittelbaren Amtsausübung grundrechtsindifferent ist. Nur das Handeln in einem öffentlich Amt als „eine besondere Erscheinung der einheitlichen Staatsgewalt“ 1324 rechtfertigt ausnahmsweise die Annahme eines punktuellen Fortfalls des Grundrechtsschutzes bei der Ausübung von staatlicher Funktion. Hierfür streitet auch der Grundgedanke des Konfusionsargumentes – welches in voller Härte aufgrund seiner Pauschalität freilich nicht mehr vertreten wird1325 –, dass staatliche Funktionsträger nicht gleichzeitig, also bei der konkreten Amtsausübung, grundrechtsverpflichtet und grundrechtsberechtigt sind. Dieser grundlegende Widerspruch besteht bei der Tätigkeit für eine juristische Person des Privatrechts gerade nicht. Deswegen sind die Situationen zu unterscheiden und können nicht gleichgesetzt werden. Bei der konkreten Zuordnung von Kommunikation – die im Bereich der strategischen Aufklärung schließlich entscheidend ist – können die Äußerungen von Amtsträgern als Richtschnur herangezogen werden. Bei Einlassungen von Amtsträgern ist zwischen dem Staatsamt, dem Parteiamt und der Privatperson anhand der Sprecherrolle zu differenzieren, um die Wortbeiträge und ihren eventuellen
1321 Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 223; Loschelder, ebda., Rn. 48; Peine (Fn. 1317), Rn. 44 präferiert hingegen grundsätzlich eine Beschränkung auf Schrankenstatt auf Schutzbereichsebene, anders jedoch in Bezug auf das Demonstrationsrecht für Beamte während der Dienstzeit, Rn. 45. 1322 Konkret zu Kommunikation von Organwaltern Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 122 f.; allgemeiner Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 478; C. Arndt, Die Herausgabe von Stasi-Unterlagen Prominenter, in: NJW 2004, S. 3157 (3157 ff.); a. A. in Teilen BVerwGE 121, 115 (117 ff.) in Bezug auf die Stasiunterlagen des ehemaligen Bundeskanzlers Kohl; zu Recht kritisch zur fehlenden Trennung zwischen der Privatperson Kohl und der Ausübung des Amtes des Bundeskanzlers als öffentlicher Amtswalter durch das BVerwG in der vorgenannten Entscheidung J. Drohla, Der „Fall Kohl“ und die Verfassungskonformität des neu gefassten Stasi-Unterlagengesetzes, in: NJW 2004, S. 418 (420); von einer Einzelfallentscheidung geht aus Schneider, ebda., S. 120 ff., der die Entscheidung anführt. 1323 So aber Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 123 f. 1324 BVerfGE 143, 246 (313, Rn. 188). 1325 Dreier (Fn. 1283), Art. 19 III Rn. 59; weniger kritisch Huber (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 245 m. Fn. 116.
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grundrechtlichen Schutz durch die Meinungsfreiheit bei Privatmeinungen, ohne Inanspruchnahme der Amtsautorität, identifizieren zu können bzw. den Neutralitätsgrundsatz zum Tragen kommen zu lassen1326. Nach der zustimmungswürdigen Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts darf etwa eine Bundesministerin in ihrer Funktion als Mitglied der Bundesregierung die Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 I 1 GG nicht dadurch verletzen, dass sie auf die spezifisch mit dem „Regierungsamt verbundene Autorität“ zurückgreift, um ihre Meinung zu äußern1327. Diese Trennung nach Sprecherrollen ist auch für das Fernmeldegeheimnis fruchtbar zu machen. Die amtliche Kommunikation eines staatlichen Organwalters ist rechtlich eine solche der Institution, nicht eine des im Einzelfall Handelnden1328. Nichts zwingend anderes ergibt sich auch aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum BNDG. Der Erste Senat bezieht seine bereits referierten Ausführungen eines nicht durch die schlichte Tätigkeit für eine juristische Person entfallenen Grundrechtsschutzes ausdrücklich auf ausländische juristische Personen1329. Rein inländische Fälle sind hiermit nicht expressiv verbis adressiert. Bei inländischen juristischen Personen würde sich die Differenzierungsproblematik zwischen Amt und Person nur im hier skizzierten Fall einer juristischen Person mit hoheitlichen Aufgaben stellen. Mithin kann davon ausgegangen werden, dass an der grundlegenden Unterscheidung einer grundrechtsungeschützten Tätigkeit bei der unmittelbaren Ausführung durch den Amtswalter und dessen hiervon zu trennender privater Grundrechtssphäre nicht höchstrichterlich gezweifelt wird. Sollte der Senat indes dahingehend zu verstehen sein, dass seine Ausführungen auch für inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts gelten, ist dem aufgrund der vorgenannten Erwägungen entgegenzutreten.
1326 Maßgeblich die Rechtsprechungslinie in BVerfG, Urteil vom 9.6.2020, 2 BvE 1/ 19, Rn. 53 ff.; BVerfGE 148, 11 (31 ff., Rn. 61 ff.) – BM Wanka; BVerfGE 138, 102 (116 ff., Rn. 48 ff.) – BM Schwesig; BVerfGE 136, 323 (333 ff., Rn. 28 ff.) – Bundespräsident; ausführlich hierzu, sowie zur Kritik an der Rechtsprechung aus der Literatur monographisch N. K. Preuß, Wahlkampfauftritte ausländischer Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder in Deutschland im Spannungsfeld zwischen Versammlungsfreiheit und Außenpolitik, 2020, S. 149 ff.; zur der Unterscheidung von Sprecherrollen und ihrer grundrechtlichen Absicherung bzw. des Eingreifens des Neutralitätsgebots monographisch ebenfalls D. Dis¸çi, Der Grundsatz politischer Neutralität, 2019, S. 200 ff.; instruktiv ferner T. Barczak, Die parteipolitische Äußerungsbefugnis von Amtsträgern, in: NVwZ 2015, S. 1014 (1015 f.), der die Rechtsprechung des BVerfG stützt. 1327 Maßstabsbildung in BVerfGE 138, 102 (118 f., Rn. 57). 1328 Insoweit ist Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 123 f. m. Fn. 418 zuzustimmen; ferner Sachs (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 66; im Ergebnis auch Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 8; Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 477 f.; Gröpl, Fernmeldegeheimnis (Fn. 773), S. 15, die sich indes auf ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts beziehen. 1329 BVerfGE 154, 152 (207 f., Rn. 69); Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 3.
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Noch nichts gesagt ist damit für ausländische öffentliche juristische Personen. Ob der Senat auch solche in seine Ausführungen miteinbezogen wissen will, lässt sich der Entscheidung gleichfalls nicht direkt entnehmen. Die ausländischen juristischen Beschwerdeführerinnen waren solche des Privatrechts, weswegen ein Begrenzung auf diese naheliegt. In Anbetracht des Charakters des Urteils als Leitentscheidung ist jedoch auch ein gegenteiliges Verständnis durchaus denkbar, zumal der Senat eine Äußerung im Schrifttum als Gegenmeinung präsentiert, die sich gerade explizit – und einzig – auf den fehlenden Grundrechtsschutz für natürliche Personen in Erfüllung einer hoheitlichen Aufgabe bezieht1330. Es ist mithin ferner zu untersuchen, wie die Grundrechtsgeltung in dieser Konstellation zu werten ist. cc) Ausländische Staaten, inter- und supranationale Organisationen jenseits des nationalen Verfassungsrechts Für den Bundesnachrichtendienst von ungleich höherem nachrichtendienstlichem Interesse und Kern seines Aufklärungsauftrags sind schließlich gerade ausländische Staaten und – mit politisch motivierten Einschränkungen – auch inter- und supranationale Organisationen. Prominentestes Beispiel für die Anwendung der „Funktionsträgertheorie“ im Bereich öffentlich-rechtlicher juristischer Personen im Ausland ist der Fall des deutschen Spitzendiplomaten HansJörg Haber, tätig in verschiedenen Funktionen bei der Europäischen Union, der nach Medienberichten vom Bundesnachrichtendienst gezielt mit formalen Selektoren gesteuert und überwacht wurde1331. Bei diesen Auslandssachverhalten stellt sich, im Gegensatz zum Inland, daher konkret die Frage nach der personellen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses für Organwalter öffentlich-rechtlicher Institutionen auch aus praxisorientierter Warte. 1330 BVerfGE 154, 152 (207, Rn. 69) mit dem Verweis auf die abweichende Meinung bei Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 8 – „Auch ausländische natürliche Personen, die in Erfüllung einer hoheitlichen Aufgabe handeln, können nicht von Art. 10 I GG geschützt sein, da ihre amtliche Kommunikation dem fremdem Staat zugerechnet werden muss“ – (Hervorhebung nur hier); genau diese Feinheit der Zitierung abweichender Meinungen in Bezug auf die Grundrechtberechtigung von ausländischen hoheitlichen Funktionsträgern betont nunmehr auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828; von einer Erstreckung der Entscheidung auf ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts geht auch nach der Entscheidung des BVerfG weiterhin aus Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 953; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 176 f., spricht davon, das Urteil zum BNDG sei insoweit „missverständlich“. 1331 M. Arslan, Weltweite Telekommunikationsüberwachung durch Geheimdienste im Spiegelbild der kantischen Idee zum Ewigen Frieden, in: KritV 101 (2018), S. 287 (288); S. Rebiger, BND spähte deutschen Diplomaten und „befreundete“ Staaten aus, abrufbar unter https://netzpolitik.org/2015/bnd-spaehte-deutschen-diplomaten-und-be freundete-staaten-aus/ (2.4.2019); sehr kritisch zu diesem operativen Vorgehen des BND „Öffentliche Bewertung des Parlamentarischen Kontrollgremiums gem. § 10 II, III PKGrG zur BND-eigenen Steuerung in der strategischen Fernmeldeaufklärung“, BTDrs. 18/9142, S. 11.
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Ausländische Staaten sind als originäre Völkerrechtssubjekte von vornherein keine Träger deutscher Grundrechte und unterliegen auch überhaupt keiner nationalen verfassungsrechtlichen Regelung, da sie der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten gemäß Art. 2 Nr. 1 UN-Charta begegnen1332. Damit stellt sich die Frage einer Grundrechtsberechtigung von souveränen Staaten bei hoheitlichem Handeln (acta iure imperii) schon von vornherein nicht, aber auch wenn der Staat ausnahmsweise nicht hoheitlich handelt (acta iure gestionis), handelt es sich um eine Frage der auswärtigen Beziehungen und des Völkerrechts1333. Bei ihren Organen, etwa dem Staatsoberhaupt oder Ministern, ist – wie beim inländischen Pendant – zwischen dem Organ, der juristischen Person und dem Mensch hinter dem Präsidenten- oder Ministeramt als natürliche Person zu differenzieren1334. In Bezug auf ausländische Staatsoberhäupter und Mitglieder ausländischer Regierungen hat das Bundesverfassungsgericht kürzlich in einem obiter dictum festgehalten, dass diese sich in ihrer amtlichen Eigenschaft nicht auf Grundrechte berufen könnten, wenn ihnen die Bundesregierung etwa einen Auftritt zu Wahlkampfzwecken im Bundesgebiet untersage1335. Hierbei entfalte sich nicht hoheitliche Gewalt gegenüber einem ausländischen Bürger, sondern es handele sich um eine Entscheidung in der Außenpolitik gemäß Art. 32 I GG, die dem Prinzip des Art. 2 Nr. 1 UNCharta unterfiele1336. Die Antwort auf die Frage nach der Grundrechtsberechtigung ausländischer Staaten bei hoheitlichem Handeln und ihrer Organwalter in 1332 So ausdrücklich BVerfG-K NJW 2017, 1166 (1166, Rn. 3); aus dem Schrifttum Kahl/Hilbert (Fn. 1280), Art. 19 III Rn. 266; Huber (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 246; Isensee (Fn. 1286), § 199 Rn. 77; zum völkerrechtlichen Status von Staaten und dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten statt aller M. Herdegen, Völkerrecht, 20. Aufl. 2021, § 7 Rn. 3 ff., § 33 Rn. 1 ff.; zum Sonderfall der Anwendbarkeit von Justizgrundrechten nur Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 218 ff. 1333 OVG Münster NVwZ 2017, 648 (649, Rn. 12); die Grundrechte „wollen diese völkerrechtliche Ebene nicht tangieren“ Kahl/Hilbert (Fn. 1280), Art. 19 III Rn. 266; ausdrücklich auch Isensee (Fn. 1286), § 199 Rn. 77 f. 1334 Preuß, Wahlkampfauftritte (Fn. 1326), S. 149 ff., überträgt den Gedanken der Beschränkung von Äußerungsbefugnissen zu Recht und konsequent auf ausländische Hoheitsträger; zum Gleichlauf allgemein wie hier auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 223; dahingehend ebenfalls M. Goldmann, Le gouvernement de soi et des autres: Zu Auftrittsverboten für türkische Regierungsmitglieder, abrufbar unter https://verfas sungsblog.de/le-gouvernement-de-soi-et-des-autres-zu-auftrittsverboten-fuer-tuerkischeregierungsmitglieder/ (2.4.2019). 1335 BVerfG-K NJW 2017, 1166 (1166, Rn. 3) zu Auftrittsverboten türkischer Spitzenpolitiker in Deutschland zu Wahlkampfzwecken; siehe hierzu auch Kahl/Hilbert (Fn. 1280), Art. 19 III Rn. 266; Huber (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 246; T. Schwander, Entscheidungsanmerkung zu BVerfG (K), Nichtannahmebeschl. v. 8.3.2017 – 2 BvR 483/171, in: ZJS 2017, S. 242 (243 f.); N. Petersen, Erdog˘an und die Versammlungsfreiheit, S. 2, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/erdogan-wahlkampfauftritt-deutschland-versammlungsfreiheit/2/ (2.4.2019). 1336 BVerfG-K NJW 2017, 1166 (1166, Rn. 3); Preuß, Wahlkampfauftritte (Fn. 1326), S. 79 ff.; S. Edwards, Erdogan live? – Entscheidungsbefugnis der Bundesregierung, in: ZRP 2017, S. 91 (92).
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ebenjener amtlichen Funktion ergibt sich hiernach nicht aus dem nationalen Verfassungsrecht, namentlich Art. 19 III GG, sondern vielmehr aus den Regeln des Völkerrechts1337. Es handelt sich um eine rechtlich andere Ebene. Die natürliche Privatperson hingegen, die das Amt ausfüllt, ist und bleibt jedoch in personeller Hinsicht Grundrechtsträger des Jedermann-Grundrechtes des Fernmeldegeheimnisses1338. Sie unterliegt als Individuum gerade nicht den übergeordneten Regeln des Völkerrechts. Mit Blick auf die Grundrechte gilt für den Menschen „,hinter dem Amt‘“ 1339 damit, dass es „ein besonderes Gewaltverhältnis [. . .] auch jenseits der Staatsgrenze nicht“ gibt1340. Allerdings müssen ausländische Hoheitsträger vergleichbar mit inländischen Beamten und Staatsdienern Grundrechtseinschränkungen in unmittelbarer Ausübung ihrer hoheitlichen Funktion hinnehmen. Konkret mit Blick auf das Fernmeldegeheimnis bedeutet diese Differenzierung, dass bei amtlicher Kommunikation durch ausländische Organwalter ein grundrechtlicher Schutz durch Art. 10 I GG von vornherein nicht gegeben ist, da es sich – vergleichbar mit dem inländischen Auftrittsverbot türkischer Spitzenpolitiker zu Wahlkampfzwecken – um eine außenpolitisch-völkerrechtliche Frage handelt und nicht um ein Problem der Reichweite des personellen Schutzbereiches der Grundrechte1341. Über die Fernmeldeaufklärung dieser Telekommunikation muss die Bundesregierung im Rahmen ihrer Kompetenz nach Art. 32 I GG politisch entscheiden, mit Blick auf alle Konsequenzen, die ein solches Vorgehen mit sich bringen kann.
1337
Erneut Kahl/Hilbert (Fn. 1280), Art. 19 III Rn. 266; Isensee (Fn. 1286), § 199
Rn. 77. 1338 Allgemeiner zur Grundrechtsberechtigung generell Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 223. 1339 Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 224. 1340 Erneut pointiert Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 223 f.; grundsätzlich auch Preuß, Wahlkampfauftritte, (Fn. 1326), S. 155 ff., die die Möglichkeit der Betroffenheit des türkischen Staatspräsidenten Erdog˘an als Privatperson durch ein Gedicht des Satirikers Jan Böhmermann als Beispiel anführt; siehe dazu LG Hamburg ZUM-RD 2017, 412 (412 ff.), wo die Frage der Grundrechtsberechtigung des türkischen Staatspräsidenten in Bezug auf sein Amt nicht einmal thematisiert wird. Dem ist insoweit unter Zugrundelegung der hiesigen Ausführungen zuzustimmen. Gegen die Entscheidung des LG Hamburg bestehen in der Sache, insbesondere hinsichtlich der Gewichtung des Gesamtzusammenhanges der inkriminierten Äußerungen im Lichte des Art. 5 III 1 GG, jedoch durchgreifende Bedenken; kritisch hierzu auch S. Sajuntz, Die aktuellen Entwicklungen des Presse- und Äußerungsrechts, in: NJW 2017, S. 698 (702 f.). Der BGH hat die Nichtzulassungsbeschwerde indes zurückgewiesen, BGH, Beschluss vom 30.7.2019, VI ZR 231/18. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde gegen die instanzgerichtlichen Urteile ohne Begründung nach § 93d I 3 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG-K, Beschluss vom 26.1.2022 – 1 BvR 2026/19. 1341 Preuß, Wahlkampfauftritte (Fn. 1326), S. 149 ff., verneint die Vergleichbarkeit der Trennung von Sprecherrollen von in- und ausländischen Amtsträgern bei Auftritten und Äußerungen Letzterer im Bundesgebiet, mit dem Ergebnis, dass die Auftritte keinem Grundrechtsschutz unterliegen. Dabei handelt es sich aber um eine Sondersituation, die im Auftritt auf fremden Staatsgebiet begründet ist.
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Völkerrechtlich ist Spionage gegen staatliche Akteure jedenfalls ambivalent zu bewerten, sie ist, zumindest außerhalb eines bewaffneten Konfliktes, weder explizit verboten noch erlaubt1342. Nach dem prominenten Lotus-Grundsatz des Ständigen Internationalen Gerichtshofes1343 ist Staaten aufgrund ihrer Souveränität im Völkerrecht alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist; ein Spionageverbot existiert aber de lege lata nicht, noch hat sich ein solches je völkergewohnheitsrechtlich herausgebildet1344. Bei der reinen Telekommunikationsüberwachung eines fremden Staats zur Informationsgewinnung ohne physischen Zugriff (etwa bei der Überwachung der nicht-leitungsgebundenen Kommunikation) wird man zudem auch keinen Verstoß gegen das völkerrechtliche Interventionsverbot im Sinne des Art. 2 Nr.1 UN-Charta erkennen können1345. Im Ergebnis ist beispielsweise das Steuern inhaltlicher und formaler Selektoren zur Erfassung militärischer Kommunikation, der Diensthandys, offizieller E-Mail-Adressen und Anschlüsse ausländischer Staats- und Regierungschefs und Regierungsmitglieder – die wohl in der Regel gezielt erfolgen wird – ausnahmsweise „grundrechtsindifferent“ 1346. Insoweit besteht ein Unterschied zu „Funk1342 Prägnant Schorkopf, Staatsrecht (Fn. 1181), § 6 Rn. 139; Bormann, Informationsgewinnung (Fn. 92), S. 134 ff.; ausführliche völkerrechtliche Analyse bei H. P. Aust, Spionage im Zeitalter von Big Data – Globale Überwachung und der Schutz der Privatsphäre im Völkerrecht, in: AVR 52 (2014), S. 375 (378 ff.); ders., Stellungnahme (Fn. 549), S. 14 ff.; S. Talmon, Sachverständigengutachten gemäß Beweisbeschluss SV-4 des 1. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages der 18. Wahlperiode, MAT A SV-4/2 zu A.-Drs.: 56, 2014, S. 16 ff. m. Fn. 75; zur völkerrechtlichen Bewertung der Friedensspionage eingehend auch Sule, Spionage (Fn. 406), S. 70 ff.; a. A. A. Peters, Surveillance Without Borders? The Unlawfulness of the NSA-Panopticon, Part I, abrufbar unter https://www.ejiltalk.org/surveillance-without-borders-the-unlaw fulness-of-the-nsa-panopticon-part-i/ (2.4.2019). 1343 Benannt nach dem Urteil des Permanent Court of International Justice, The Case of the S. S. ,Lotus‘, [1927] PCIJ Series A, No. 10. 1344 Siehe nur eingehend Talmon, Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 17. 1345 S. Schmahl, Nachrichtendienste in der Völkerrechtsordnung, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Nachrichtendienste (Fn. 57), S. 21 (25); tendenziell für einen Verstoß gegen das Interventionsverbot mit Zwangswirkung durch die „Überwachung fremder Regierungen“ hingegen W. Ewer/T. Thienel, Völker-, unions- und verfassungsrechtliche Aspekte des NSA-Datenskandals, in: NJW 2014, S. 30 (31 f.); differenziert Bormann, Informationsgewinnung (Fn. 92), S. 137 ff., der zwischen völkerrechtlich erlaubten Maßnahmen, wie Informationserhebungen, die „Jedermann“ durchführen könne, und dem „Bereich der Überwachung“ als zu überwindende „Erheblichkeitsschwelle“ (S. 140) unterscheidet. 1346 So im Ergebnis auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 176 f.; ders. (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 8; bezogen auf die – auf SIGINT Maßnahmen übertragbare – Auswertung menschlicher Quellen bei Auslandsaufklärung vom Ausland aus durch den BND J. Waak, Pirateriebekämpfung durch deutsche staatliche Stellen, 2018, S. 271; ferner Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 378; Zitat bei Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 477 f.; H.-J. Papier, zit. nach BT-Drs. 18/12850, S. 752; Heidebach, NSA-Affäre (Fn. 1164), S. 596 m. Fn. 39; a. A. wohl insoweit Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 278; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 153; konkret zur „Funktionsträgertheorie“ bei der Ausland-Ausland-Fern-
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tionsträgern“ ausländischer juristischer Personen des Privatrechts. Aufgrund des völkerrechtlich determinierten Sachverhaltes kann – anders als bei privatrechtlichen juristischen Personen und ihren Organen – eine notwendige inhaltliche Differenzierung hinsichtlich des dienstlichen bzw. privaten Charakters der zu überwachenden Telekommunikation zumindest in Form einer widerlegbaren Vermutung stattfinden. Andernfalls würde die völkerrechtliche Dimension der Telekommunikation von ausländischen Organwaltern bei hoheitlichem Handeln durch die durch nationales Verfassungsrecht untersagte inhaltliche Differenzierung überlagert und der Grundrechtsschutz mittelbar ausgelöst. Das hoheitliche Handeln fremder Staaten und ihrer Organwalter kann jedoch nicht unter dem Schutz der Grundrechte des Grundgesetzes stehen1347. Deswegen ist es vorzugswürdig, die unmittelbar dienstliche Kommunikation von Organwaltern ausländischer Staaten aus dem personellen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses auszuscheiden. Nur wenn die Telekommunikation nicht in Zusammenhang zur hoheitlichen Funktion steht, also dem Menschen „,hinter dem Amt‘“ 1348 privat zuzuordnen ist, besteht grundrechtlicher Schutz durch das Fernmeldegeheimnis1349. Dann handelt die Privatperson im Schutzbereich des Menschenrechts aus Art. 10 I GG. Die hierfür notwendige inhaltliche Differenzierung muss die natürliche Person wegen ihrer dienstlichen Stellung als Organwalter eines ausländischen Staates als weitergehende Grundrechtseinschränkung – anders als „normale“ Grundrechtsberechtigte des Fernmeldegeheimnisses, die für eine privatrechtliche juristische Person tätig sind – dann letztlich hinnehmen. Die hiermit verbundenen Abgrenzungsschwierigkeiten im Einzelfall bleiben freilich bestehen, hier gilt das zu ausländischen privaten juristischen Personen Gesagte. Das Ergebnis lässt sich aufgrund ihrer quasi staatlichen Stellung und der Fähigkeit zur Ausübung von zumindest faktischer, wenn auch nicht völkerrechtlich legitimierter, hoheitlicher Gewalt auf de facto-Regime mit „stabilisierter Territorialherrschaft“ übertra-
meldeaufklärung auch Bäcker, Raum (Fn. 1299), der eine Differenzierung bei Organwaltern nicht vornimmt und dann insoweit folgerichtig zu einer generellen Grundrechtsberechtigung natürlicher Personen gelangt; nunmehr anders und insoweit wie hier ders., Verfassungsbeschwerde BNDG (Fn. 1160), S. 65. 1347 So auch BVerfG-K NJW 2017, 1166 (1166, Rn. 3); Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828; Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 140 f.; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 8; Huber (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 246; Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 378; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 5; Gröpl, Fernmeldegeheimnis (Fn. 773), S. 15. 1348 Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 224. 1349 Diese überzeugende wie notwendige Trennung nimmt auch vor Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 478. So wird die Erfassung erkennbar privater Mobiltelefone oder des Anschlusses der Privatwohnung eines Ministers eines ausländischen Staates eher unter den Schutz des Fernmeldegeheimnisses fallen. Hier ist indes eine Einzelfallabwägung von Nöten, weswegen sich pauschalierte Annahmen ohne nachrichtendienstliche Erfahrungswerte verbieten.
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gen1350. Nach den gleichen Maßstäben sind auch die Grundrechtsberechtigung internationaler Organisation und der Europäischen Union zu beurteilen1351. Letztere erlangt weder nach der Zuerkennung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit nach Art. 335 S. 1 AEUV1352 noch über die – nach hiesiger Ansicht ohnehin nicht anwendbare – Ausnahme zu Art. 19 III GG für europäische, ausländische juristische Personen1353 Grundrechtsfähigkeit1354. Wenn aber die inter- und supranationalen Organisationen der Stellung ausländischer Staaten gleichzustellen sind, dann muss konsequenterweise auch die hier vertretene Ausnahme hinsichtlich des Grundrechtsschutzes hoheitlicher Telekommunikation von Organwaltern gelten. Die deutschen Organwalter werden schließlich zu Organ- und Amtswaltern der Union und üben deren Hoheitsrechte aus, dies ist ebenso bei internationalen Organisationen der Fall1355. Die Übertragung der Grundsätze gilt selbst dann, wenn der Organwalter oder der „Funktionsträger“ ein deutscher Staatsbürger in Diensten der Europäischen Union ist. Denn an die Staatsangehörigkeit knüpft die Ausnahme des personellen Schutzbereiches des Jedermann-Grundrechts des Art. 10 I GG gerade nicht an, sondern an die besondere Stellung als Organwalter für eine ausländische juristische Person des öffentlichen Rechts, sprich eine fremde Macht. Ob es mit Blick auf die Beziehungen zu internationalen Organisationen und zur Europäischen Union indes ratsam ist, die dienstliche Telekommunikation ihrer Spitzenbeamten – gleich welcher Staatsangehörigkeit und Herkunft – zu überwachen, ist, bei allen angebrachten Zweifeln, aus nationaler Sicht eine politische und keine (verfassungs-)rechtliche Frage1356. Sollte der Erste Senat – was, wie dargelegt, nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist – in seinem BNDG-Urteil dahingehend zu verstehen sein, dass auch bei Funktionsträgern, die für eine ausländische juristische Person handeln, Grundrechtschutz für unmittelbar dienstliches Handeln bzw. Kommunikation an1350 Überzeugend Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 478, der als Beispiel den sogenannten Islamischen Staat (der nunmehr seine territoriale Machtausübung einstweilen eingebüßt hat) und die Taliban in Afghanistan anführt; ihm folgt Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 141 ff. 1351 Kahl/Hilbert (Fn. 1280), Art. 19 III Rn. 267; Huber (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 247 f.; Isensee (Fn. 1286), § 199 Rn. 82. 1352 Kahl/Hilbert (Fn. 1280), Art. 19 III Rn. 267. 1353 Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 222. 1354 Zum Ganzen aus der europarechtlichen Literatur statt vieler M. Athen/O. Dörr, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 335 AEUV (2013), Rn. 32. 1355 F. Becker, Gebiets- und Personalhoheit des Staates, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. XI, 3. Aufl. 2013, § 230 Rn. 34 f. 1356 Eine rechtliche Dimension bekommt die Überwachung freilich bei der Betrachtung europarechtlicher Vorgaben. Kritisch zu einer Spionage der Mitgliedstaaten untereinander sowie gegen die Union und ihre Organe – freilich unter der Prämisse der Eröffnung des Anwendungsbereiches der Verträge – Sule, Spionage (Fn. 406), S. 247 ff., 317 ff.
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zunehmen ist bzw. dieser parallel fortbesteht, kann dem nicht gefolgt werden. Mit der zweiten Kammer des Zweiten Senats1357 und den vorgenannten Literaturstimmen ist an der langjährigen Grundannahme festzuhalten, dass sich ausländische Amtswalter in hoheitlicher Funktion schlechterdings nicht auf die Grundrechte berufen können. Die gilt insbesondere, da der Erste Senat ausdrücklich einen „reflexhaft“ übertragenen Grundrechtsschutz auch auf die juristische Person, für die der Funktionsträger tätig ist, als mögliche Folge akzeptiert1358. Damit würde im Falle der gezielten Erfassung der amtlichen Telekommunikation eines ausländischen Ministers, die schon aufgrund der im Falle einer Grundrechtsgeltung durch Art. 10 I GG untersagten inhaltlichen Differenzierung nicht zwischen dienstlich und privat unterschieden werden dürfte, im Extremfall der ausländischen juristischen Person – also einem fremden Staat – „reflexhaft“ Grundrechtsschutz zukommen1359. Der ausländische Staat wäre mithin grundrechtsberechtigt, die deutsche Staatsgewalt nicht. Diese Überlegung zeigt, dass eine Erstreckung des richtigen Ansatzes zum Schutz von Funktionsträgern ausländischer privater juristischer Personen nicht pauschal auf solche des öffentlichen Rechts übertragen werden kann. c) Fazit Das Fernmeldegeheimnis schützt als Menschenrecht alle natürlichen Personen. Ferner besteht grundrechtlicher Schutz durch Art. 10 I GG für inländische juristische Personen. Die vom Bundesnachrichtendienst aufgestellte „Funktionsträgertheorie“ ist bei ausländischen juristischen Personen des Privatrechts und der für sie tätigen natürlichen Personen mit dem personellen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses unvereinbar. Das Fernmeldegeheimnis der juristischen und natürlichen Person besteht nebeneinander – es handelt sich um ein kumulatives, nicht um ein alternatives Verhältnis. Der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts im BNDG-Urteil ist insoweit zuzustimmen. In- und ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts unterfallen hingegen grundsätzlich nicht dem personellen Schutz des Fernmeldegeheimnisses. Ausländische Staaten, inter- sowie supranationale Organisationen und ihre Organwalter, in unmittelbarer Ausübung ihre Amtes, begegnen der Bundesrepublik Deutschland bei hoheitlichem Handeln nach dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten gemäß Art. 2 Nr. 1 UN-Charta und damit nach den Regeln des Völker- und nicht des nationalen Verfassungsrechts. Deswegen ist die hoheitlich-dienstliche Telekommunikation von Organwaltern dieser öffentlich-rechtlichen juristischen Per1357 BVerfG-K NJW 2017, 1166 (1166, Rn. 3) – der hier geäußerte Rechtsgedanke ist, wie dargelegt, auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung des Bundesnachrichtendienstes übertragbar. 1358 BVerfGE 154, 152 (208, Rn. 69). 1359 Kritisch zu dieser „angreifbaren Weichenstellung“ des BVerfG deshalb auch Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 953.
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sonen vom personellen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses nicht erfasst, die private hingegen schon. Die insoweit unumgängliche inhaltliche Unterscheidung zwischen dienstlicher und privater Telekommunikation ist durch die Organwalter als Resultat ihrer professionellen Stellung im Staatsapparat einer fremden Macht letztlich hinzunehmen. Die „Funktionsträgertheorie“ hat insoweit einen sehr spezifischen, begrenzten Anwendungsbereich. Sollte das Bundesverfassungsgericht eine Erstreckung des Funktionsträgerschutzes auch auf Organwalter ausländischer öffentlicher juristische Personen – und mithin reflexhaft auf die juristische Person selbst – bei seinem Urteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vor Augen gehabt haben, kann dem nicht gefolgt werden. 3. Territoriale Reichweite des Fernmeldegeheimnisses: Räumlich begrenzter Schutzbereich oder globales Freiheitsrecht? Die Grundrechte des Grundgesetzes wirken zuallererst im „physikalischen Machtgefäß des Staates“, in seinem Territorium, und haben daher eine originär geographisch eingegrenzte Geltungsreichweite1360. Die innerstaatliche Rechtsordnung dient als „Leitbild“ der Grundrechte, denn traditionell konnte bekanntermaßen allein im Territorium eines souveränen Staates Hoheitsgewalt faktisch ausgeübt werden1361, die wiederum durch die Grundrechte der Verfassung eingehegt wird. Das Inland ist mithin der hergebrachte „Sanktionsbereich“ des Staates, in dem er seine im Gesetzgebungsverfahren erlassenen Normen hoheitlich und notfalls mit (unmittelbarem) Zwang durchzusetzen vermag1362. Der „normale Geltungsbereich der Grundrechte“ ist somit das Territorium der Bundesrepublik, wo diese die Beziehungen der Deutschen und die der Ausländer – bei JedermannGrundrechten – zum Staat bestimmen und mit ihren jeweiligen Schutzbereichen verfassungsrechtlich verankerte Freiheitsrechte entfalten1363. Von dieser Prämisse 1360 Treffendes Zitat bei Schmalenbach, Anstöße (Fn. 13), S. 246; zum national-territorialen Ausgangspunkt der Grundrechte stellvertretend monographisch V. Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 404 f. 1361 Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1073; zu diesem „Leitbild“ A. v. Arnauld, Das (Menschen-)Recht im Auslandseinsatz – Rechtsgrundlagen zum Schutz von Grund- und Menschenrechten, in: D. Weingärtner (Hrsg.), Streitkräfte und Menschenrechte, 2008, S. 61 (70). 1362 Prägnant D. Merten, Räumlicher Geltungsbereich von Grundrechtsbestimmungen, in: D. Dörr/U. Fink/C. Hillgruber u. a. (Hrsg.), Die Macht des Geistes, FS Harmut Schiedermair, 2001, S. 331 (332). 1363 Pointiert der grundlegende Beitrag von J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2. Aufl., 2000, § 115 Rn. 77 (in der aktuellen dritten Auflage entfallen); dazu in der Neuauflage auch Rüfner (Fn. 1279), § 196 Rn. 34; W. Graf Vitzthum, Extraterritoriale Grundrechtsgeltung – Zu Bedingungen nachrichtendienstlicher Auslandsaufklärung, in: A. FischerLescano/H.-P. Gasser/T. Marauhn u. a. (Hrsg.), Frieden in Freiheit, FS Michael Bothe, 2008, S. 1213 (1213), spricht vom „Kernbereich der Geltung der Grundrechte“.
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ging auch der Parlamentarische Rat aus, der angesichts der politischen Lage Deutschlands im Jahre 1949 kaum ein tatsächliches extraterritoriales Handeln deutscher Staatsgewalt vorhersehen konnte und sich in der Folge mit dieser Frage nicht tiefergehend auseinandersetzte1364. Dementsprechend schweigt das Grundgesetz zur extraterritorialen Reichweite der Grundrechte; konkrete Hinweise, wie etwa zur Unterscheidung zwischen Deutschen- und Jedermann-Grundrechten, sucht man im Verfassungstext vergeblich1365. Die regelmäßige Begrenzung der Grundrechtsgeltung auf das Staatsgebiet der Bundesrepublik ist – neben vormals faktischen Einschränkungen – unmittelbare Folge des völkerrechtlichen Territorialitätsprinzips, wonach die Ausübung von staatlicher Hoheitsgewalt auf das Territorium des jeweiligen Staates beschränkt ist, sofern nicht ein anderer Staat die Ausübung selbiger auf seinem Territorium gestattet oder sich eine sonstige Rechtfertigung für die Machtausübung aus dem Völkerrecht ergibt1366. Die selbstverständlich anmutende grundsätzliche Beschränkung des Geltungsbereichs der Grundrechte auf das Inland gilt nach wie vor, auch in Zeiten grenzüberschreitender Zusammenarbeit und der Erosion tradierter Begrenzungen staatlicher Herrschaftsausübung1367. Damit ist jedoch bereits die weithin konstatierte Tendenz einer „Entterritorialisierung“ des öffentlichen Rechts bzw. einer „Enträumlichung“ der Staatsgewalt angesprochen, die durch den Wegfall der Limitierungen der Herrschaftsausübung rein auf das vom Staat kontrollierte Territorium gekennzeichnet ist und sich maßgeblich – wenn freilich auch nicht ausschließlich – in der Digitalisierung und der Verlagerung von Lebens- und Kommunikationswelten in den virtuellen Raum – mit den einhergehenden Überwachungsmöglichkeiten – manifestiert1368. 1364 Dahingehend BVerfGE 154, 152 (216, Rn. 89); 100, 313 (362); das Fehlen einer Auseinandersetzung des historischen Verfassunggebers mit dem Problem der extraterritorialen Grundrechtsgeltung aufgrund der historischen Umstände der Zeit unterstreichen Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 36, 183; C. Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 277; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 1226; D. Looschelders, Die Ausstrahlung der Grund- und Menschenrechte auf das internationale Privatrecht, in: RabelsZ 65 (2001), S. 463 (474 f.), leitet hieraus indes ab, dass den Grundrechten auch durch Auslegung keine kollisionsrechtlichen Aussagen entnommen werden könnten. Dem ist mit Blick auf die ohnehin weitreichende Auslegungsnotwendigkeit gerade verfassungsrechtlicher Normen zu widersprechen. Zudem bildet die historisch-genetische Auslegung nur einen von mehreren Auslegungsansätzen, wie Ohler, ebda., richtigerweise betont. 1365 Exemplarisch J. Menzel, Internationales Öffentliches Recht, 2011, S. 537. 1366 Zur Gebietshoheit und zum Territorialitätsprinzip siehe aus der völkerrechtlichen Literatur nur A. v. Arnauld, Völkerrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 337 ff., 348; zur Einordnung in die Frage der extraterritorialen Grundrechtsgeltung Schorkopf, Überstaatlichkeit (Fn. 1179), S. 110 f.; M. A. Yousif, Die extraterritoriale Geltung der Grundrechte bei der Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland, 2007, S. 17. 1367 Zum fortwährenden Primat des innerstaatlichen Grundrechtschutzes exemplarisch Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 279. 1368 Zur „Entterritorialisierung“ bzw. „Enträumlichung“ des (öffentlichen) Rechts und der Staatsgewalt etwa instruktiv etwa U. Schliesky, Digitalisierung – Herausforderung
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Dieser Wandel hin zu einer Handlungsmöglichkeit der staatlichen Gewalt jenseits der eigenen Staatsgrenzen ist – zumindest im Bereich der strategischen Überwachung der Auslandskommunikation – gerade die Folge des technischen Fortschritts und der Loslösung von rein faktisch-physischen Formen der Herrschaftsausübung. Der Bundesnachrichtendienst mit seinem Auftrag zur Auslandsaufklärung steht insbesondere, aber nicht ausschließlich, wegen seiner Befugnis zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung im Zentrum dieser Entwicklung1369. Das Bundesverfassungsgericht nahm auf das Schwinden hergebrachter Grenzen staatlicher Machtausübung durch geographische Beschränkungen und die „Enträumlichung“ der Herrschaftsgewalt bereits in der Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung nicht-leitungsgebundener Satellitenkommunikation durch den Bundesnachrichtendienst 1999 explizit Bezug1370: „Die Staatsgrenzen waren im allgemeinen zugleich die Grenzen der Staatsgewalt. Erst die Entwicklung der Technik hat es ermöglicht, daß die Staatsgewalt ihre Tätigkeit auch auf das Gebiet anderer Staaten erstrecken kann, ohne durch Organwalter körperlich anwesend sein zu müssen. Insbesondere läßt der Einsatz von Satelliten unter anderem die Erfassung von Kommunikationsvorgängen außerhalb Deutschlands ohne Inanspruchnahme fremden Territoriums zu“ 1371. Dies gilt freilich vielmehr noch im Jahr 2020 als 1999. Das Gericht konstatiert zur heutigen gesellschaftlichen Realität, dass die „Informationstechnik erlaubt, über Grenzen hinweg unmittelbar und ungehindert durch räumliche Distanzen miteinander zu kommunizieren und sich ohne Zeitverlust zu koordinieren“ 1372. Zugleich hätten sich im „Zuge der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten und damit verbundenen internationalisierten Handlungszusammenhängen“ „potentiell aus dem Ausland drohende Gefahren“ vervielfältigt1373.
für den demokratischen Verfassungsstaat, in: NVwZ 2019, S. 693 (693 f.), unter besonderer Berücksichtigung der Verbreitung der virtuellen Räume; zur Diskussion zusammenfassend Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 11 m. Fn. 2, 3; ausführlich Schmalenbach, Anstöße (Fn. 13), S. 246 ff.; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1073; F. Becker, Grenzüberschreitende Reichweite deutscher Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof, HStR XI (Fn. 1355), § 240 Rn. 1 ff.; für eine strikte Wahrung territorialer Grenzen als Voraussetzung für demokratische Gemeinschaften und ihrer Fähigkeit zur Rechtsdurchsetzung indes prononciert K. F. Gärditz, Territoriality, Democracy, and Borders: A Retrospective on the „Refugee Crisis“, in: German Law Journal 17 (2016), S. 907 (908), den Schwander, ebda., S. 11 als Beleg anführt. 1369 BVerfGE 154, 152 (224 f., Rn. 105); daneben sind freilich, als weitere zentrale Fallgruppe, Auslandseinsätze der Bundeswehr zu nennen; statt vieler so etwa auch Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2222. 1370 Auf die Ausführungen des BVerfG verweisen auch Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 1; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 98. 1371 Anschaulich und aus heutiger Sicht zugleich absolut selbstverständlich BVerfGE 100, 313 (362). 1372 BVerfGE 154, 152 (225, Rn. 107). 1373 BVerfGE 154, 152 (225, Rn. 107).
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Diese neuen Herausforderungen an den Grundrechtsschutz können jedenfalls nicht pauschal mit einer „Nichtanwendbarkeit“ der Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsberührung abgetan werden1374. Die technischen Fähigkeiten des Bundesnachrichtendienstes zur weltweiten SIGINT-Aufklärung und die bereits dargelegte Staatspraxis der Auslegung der Befugnisse der §§ 5 ff. G 10, 6 ff. BNDG und die damit einhergehende Trennung von Telekommunikation nach Verbindungen, bei denen sich zumindest ein Teilnehmer im Ausland befindet, der Kommunikation deutscher Staatsbürger und reiner Ausland-Ausland-Telekommunikation werfen daher die zentrale Problematik des territorialen Geltungsbereiches bzw. der Reichweite des Schutzes durch die Grundrechte, konkret des Fernmeldegeheimnisses, auf 1375. Ist der Schutzbereich von Art. 10 GG territorial begrenzt oder handelt es sich grundsätzlich um ein globales Freiheitsrecht? Und wenn das Fernmeldegeheimnis auch extraterritorial gelten sollte, wie wirkt es jenseits der Grenzen der Bundesrepublik, und sind gegebenenfalls Anpassungen an den Umfang bzw. die Intensität der Grundrechtsgeltung notwendig1376? Zur Erhellung dieses Problemfeldes ist zunächst eine begriffliche Klärung vorzunehmen (a)), zu bestimmen, wann in Fällen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung überhaupt extraterritorial gehandelt wird (b)); ferner sind allgemeine grundrechtsdogmatische Generallösungen (c)) sowie hier nicht einschlägige Grundrechtsdimensionen abzuschichten (d)). Sodann soll ein Überblick über die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis zur dritten Abhörentscheidung erfolgen (e)) und eine (Rück-)Schau auf die breite Debatte in der Literatur zur räumlichen Reichweite der Grundrechte (f)), freilich mit dem konkreten Fokus auf das Fernmeldegeheimnis. Erst mit diesem Hintergrund kann sich der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung und den dort getroffenen Aussagen zur räumlichen Reichweite der Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt zugewandt werden (g)). Dem schließt sich eine bewertende Stellungnahme an (h)). Zuletzt folgt eine Zusammenfassung (i)) sowie eine Einschätzung, wie genau das Fernmeldegeheimnis extraterritorial wirkt bzw. wo Beschränkungen gegebenenfalls dogmatisch zu verorten sind (j)). 1374 Pointiert Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 280, zur notwendigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der extraterritorialen Reichweite der Grundrechte. 1375 Allgemein zum Problem der Ausweitung des extraterritorialen Handelns und der Übertragung von Staatsgewalt an internationale Organisationen als Herausforderung für einen lückenlosen Individualrechtsschutz H. A. Kastler, Föderaler Rechtsschutz, 2017, S. 115; statt aller aus der aktuellen Literatur für die Frage der Auslandsgeltung der Grundrechte bei der technischen Auslandsaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst an dieser Stelle Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 463. 1376 Zur notwendigen Differenzierung zwischen dem „Ob“ der Grundrechtsgeltung bei extraterritorialen Sachverhalten und der konkreten Ausgestaltung des Umfangs, dem „Wie“, siehe statt vieler schon Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 4; zur schieren Möglichkeit einer solchen Unterteilung nunmehr auch BVerfGE 154, 152 (224, Rn. 104).
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a) Begriffsklärung der Termini und Abschichtung rein objektivrechtlicher Ansätze Zunächst muss Klarheit über den zu diskutierenden Themenkomplex geschaffen werden. Bereits bei der rein begrifflichen Eingrenzung des Problemkreises einer möglichen grundrechtlichen Bindung bei Sachverhalten mit Auslandsbezug ergeben sich Schwierigkeiten. Eine einheitliche, gesicherte Terminologie zur – ohnehin teils konturlosen – Materie „Auslandsgeltung der Grundrechte“ existiert nicht1377. So ist von Wirkung, Geltung, Anwendbarkeit und Durchsetzbarkeit von Grundrechten bei Sachverhalten mit Auslandsberührung die Rede1378. Das Bundesverfassungsgericht spricht, im Einklang mit Art. 1 III GG, von der „Bindung“ der deutschen Staatsgewalt im Ausland1379. Dabei wird in der Literatur teils danach differenziert, ob erstens eine Grundrechtsnorm überhaupt existiert und ob sie zweitens „Anspruch auf Verbindlichkeit“ zu erheben vermag1380 – es wird mithin zwischen einer generellen Anwendbarkeit der Grundrechte im Sinne des völkerrechtlich geprägten Gedankens einer jurisdiction to pescribe und einer faktischen Durchsetzbarkeit im Sinne der ebenfalls dem Völkerrecht entstammenden jurisdiction to enforce unterschieden1381. In dieselbe Richtung deutet die Überlegung, zwischen einem Ansatz der allgemeinen Staatslehre, mit einem territorial durch Völkerrecht begrenzten Geltungsbereich von Recht, und einer Rechtsebene des Grundgesetzes mit weitergehender Reichweite zu differenzieren1382. Dem entspricht auch der Ansatz, eine Geltung von Recht nur auf dem Staatsgebiet eines Staates anzunehmen, die Anwendbarkeit jedoch hiervon zu separieren und auch jenseits des Territoriums für möglich zu erachten1383. Ferner wird überlegt, die Grundrechtsgeltung in ihrer territorialen Reichweite bloß als objektiv-recht-
1377 Zu diesem Problem Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 23; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 9; D. Lorenz, Der territoriale Anwendungsbereich der Grund- und Menschenrechte, 2005, S. 143; ebenso bereits die grundlegende Monographie von G. Elbing, Zur Anwendbarkeit der Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsbezug, 1992, S. 46 ff. 1378 Dazu nur Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 23. 1379 BVerfGE 154, 152 (215, Rn. 87). 1380 Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 48. 1381 Dazu etwa Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 23 ff.; plastische Unterscheidung nach „Gebotsbereich“ und „Sanktionsbereich“ bei Merten, Geltungsbereich (Fn. 1362), S. 332 f., der die „Geltung“ einer Norm bei deren Durchsetzbarkeit annehmen will und hiervon die mögliche „Wirkung“ auch außerhalb des Sanktionsbereiches abschichtet; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 8 ff.; für eine Berücksichtigung faktischer Beschränkungen etwa prominent H. Quaritsch, Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR2 V (Fn. 1363), § 120 Rn. 77. 1382 Zu dieser Unterteilung Schiffbauer, Existenz (Fn. 1274), S. 98 ff. 1383 So Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 37 ff. unter Berufung auf Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 139 ff., S. 279 ff. In der Folge wird dann auch zwischen dem räumlichen Geltungsbereich der Grundrechte und deren Anwendungsbereich unterschieden.
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liche Wertentscheidung zu verstehen, mit der Folge, dass ihre individualschützende Funktion entfiele1384. Die Bundesregierung neigte ebenfalls zu der Ansicht, dass im Ausland zwar eine grundsätzliche Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt gegeben sei, diese würde aber keine subjektiven Rechte für den Einzelnen entfalten1385. Hiergegen ist schon im Ansatz einzuwenden, dass die Grundrechte von ihrem Kern und Telos her originär subjektive Abwehrrechte darstellen, denen die subjektive Rechtsnatur „inhärent“ ist1386. Das Grundgesetz kennt keine Grundrechtberechtigung von Individuen, der dann aber keine „subjektivrechtliche Entsprechung“ nachfolgt1387. Derartige Bestrebungen sollen daher bereits bei der Definition des Untersuchungsgegenstandes abgeschichtet werden. In dieser Arbeit soll unter Geltung und Wirkung eines Grundrechtes mithin die objektive Bindung der deutsche Staatsgewalt an dieses verstanden werden und ebenso die – für den Grundrechtsschutz schlechterdings konstituierende – subjektiv-rechtliche Dimension des Grundrechtsschutzes für den Einzelnen1388. Begrifflich lässt sich indes äquivalent von der territorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses und in Bezug auf staatliche Stellen von deren Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes sprechen. b) Definition von Extraterritorialität im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses Neben dem Terminus der Geltung eines Grundrechtes bzw. seiner Wirkung ist ebenfalls klärungsbedürftig, wann genau ein Sachverhalt mit Auslandsbezug überhaupt vorliegt und der Problemkreis der extraterritorialen Geltung der Grund-
1384 In diese Richtung Löffelmann, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 806), S. 38 f.; ders. (Fn. 129), § 3 Rn. 15, in Bezug auf die Geltung des Art. 10 GG bei der Erfassung von Ausland-Ausland-Telekommunikation durch den BND; allgemein in diese Richtung auch Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 241. 1385 So der Vortrag der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17. 1386 Pointiert BVerfGE 154, 152 (218, Rn. 92); zu Recht gegen einen rein objektivrechtlichen Ansatz auch Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 4; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 205 f.; allgemein zur subjektiv-rechtlichen Qualität der Grundrechte H. D. Jarass, Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 38 Rn. 34 ff. m.w. N. 1387 Erneut BVerfGE 154, 152 (218, Rn. 92). 1388 BVerfGE 154, 152 (218, Rn. 92) – „Der Charakter als Individualrecht gehört zum zentralen Gehalt des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes.“; zu diesem Verständnis von Geltung bzw. Wirkung Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2223; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 25; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 150 f.; ebenso v. Arnauld, Auslandseinsatz (Fn. 1361), S. 62 m. Fn. 4; wie hier auch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 10.
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rechte damit eröffnet ist1389. Hierbei sind die im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses denkbaren Sachverhaltskonstellationen – ergänzend zur bereits dargelegten, einfachrechtlichen Unterscheidung durch das Merkmal der „internationalen Telekommunikationsbeziehungen“ in § 5 I 1 G 10 oder der Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung in § 6 I BNDG – kurz zu umreißen, um die Problemfelder deutlicher herausarbeiten zu können1390. Andere Konstellationen, in denen die deutsche Staatsgewalt allein oder gemeinsam mit anderen Staaten und internationalen Organisationen im Ausland tätig wird, wie etwa bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, werden entsprechend der Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes nur in Ansätzen und als Vergleichsmaßstab berücksichtigt1391. Der oben beschriebene Normalfall der Grundrechtsgeltung gegenüber einem deutschen Staatsbürger im Sinne des Art. 116 I GG innerhalb des deutschen Staatsgebietes, der nicht durch extraterritoriale Ereignisse beeinflusst ist, bildet als rein inländischer Sachverhalt den Ausgangspunkt der Debatte, da insoweit keinerlei Bezug zum Ausland besteht und hierdurch eine negative Abgrenzung erreicht werden kann1392. Als „Ausland“ gelten fremde Staaten sowie Gebiete, die völkerrechtlich keinem Völkerrechtssubjekt zustehen, wie die hohe See, der Weltraum und herrenloses Territorium1393. 1389 Definitionen finden sich etwa bei Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 25 ff.; konkret zu Datenvorgängen Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 172 f.; allgemein Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 44 ff. 1390 Zu den möglichen Konstellationen im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses und der Überwachung mittels Fernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst tabellarisch Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 92, die allerdings zunächst auf die Belegenheit der Abhöreinrichtung als Kriterium verzichtet, hierauf aber freilich später (S. 126 ff.) zurückkommt; ebenso Gröpl, Fernmeldegeheimnis (Fn. 773), S. 15; Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 51 ff., 55, listet allgemein, ohne einen Bezug zu einem konkreten Grundrecht, 22 (!) verschiedene Konstellationen auf, um sodann einzugestehen, dass die Fallgruppen aufgrund verschiedenster Kombinationsmöglichkeiten „nicht scharf“ (Hervorhebung im Original) voneinander zu trennen seien. 1391 Zur rechtlichen Bewertung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr und hiermit etwaig einhergehender grundrechtlicher Bindungen statt vieler H. Sauer, Parameter eines materiellen Auslandseinsatzrechts, in: DÖV 2019, S. 714 (714 ff.); B. Fassbender, Militärische Einsätze der Bundeswehr, in: Isensee/Kirchhof, HStR XI (Fn. 1355), § 244 Rn. 1 ff. et passim; zum Einsatz der Bundesmarine gegen Piraten und den hiermit einhergehenden völker- und verfassungsrechtlichen Problemstellungen unlängst F. Sax, Soldaten gegen Piraten, 2018, S. 25 ff.; zu den völker- und verfassungsrechtlichen Dimensionen der Auslandseinsätze allgemein auch D. Thym, Zwischen „Krieg“ und „Frieden“: Rechtsmaßstäbe für operatives Handeln der Bundeswehr im Ausland, in: DÖV 2010, S. 621 (621 ff.); v. Arnauld, Auslandseinsatz (Fn. 1361), S. 62 ff.; zu Systemen der kollektiven Sicherheit, in denen die Bundeswehr tätig werden kann, statt aller S. Oeter, Systeme kollektiver Sicherheit, in: Isensee/Kirchhof, HStR XI (Fn. 1355), § 243 Rn. 1 ff. et passim; alle jeweils m.w. N.; für eine diesbezügliche Beschränkung des Untersuchungsgegenstandes „Extraterritorialität“ etwa auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 27. 1392 Strukturierung von Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 537, 571. 1393 Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 16; Definition nach Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 27; zum Staatsgebiet als Element des klassischen Staatsverständnisses nach
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Konkret auf das Fernmeldegeheimnis bezogen wäre ein rein inländischer Fall die – einfachrechtlich untersagte – Überwachung rein nationaler Kommunikation zweier deutscher Staatsbürger durch im Inland befindliche Abhörstationen. Zur Bestimmung des Auslandsbezuges im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses muss nämlich nicht nur an die Staatsangehörigkeit (deutsch oder nichtdeutsch) und an den Aufenthaltsort eines zu überwachenden Telekommunikationsteilnehmers (Erfolgsort der Überwachung im Inland oder Ausland) angeknüpft werden1394, sondern darüber hinaus ebenso an den Ort des relevanten Staatshandelns (Handlungsort in Form der physischen Belegenheit der Überwachungseinrichtung)1395. Gleichgelagert und ohne Auslandsbezug wäre der Fall – ebenfalls einfachrechtlich de lege lata nicht aufklärbarer – rein nationaler bzw. rein inländischer Telekommunikation zwischen Deutschen und nicht Deutschen bzw. Inländern oder nur unter Inländern (deutsch oder nicht-deutsch) innerhalb der Bundesrepublik1396. Bezug zum Ausland haben hingegen die Fälle einer grenzüberschreitenden Telekommunikation, bei denen sich ein Teilnehmer (deutscher oder nichtdeutscher) physisch im Inland aufhält und ein anderer außerhalb der Bundesrepublik. Sachverhalte, die vollständig im Ausland angesiedelt sind, umfassen diejenige Kommunikation, bei denen kein Teilnehmer (deutscher oder nichtdeutscher) sich im Inland befindet1397. Hinzutritt in den jeweiligen Konstellationen noch der Belegenheitsort der Überwachungseinrichtung, die sich entweder im Bundesgebiet oder außerhalb dessen befinden kann. Bei der Überwachung von Ausländern im Ausland (gegebenenfalls sogar mittels einer im Ausland belegenen Überwachungsanlage) ist – als vermeintlich maximale Entfernung von der deutschen Rechtsordnung – auch von „reinen Auslandsachverhalten“ die Rede1398. c) Abschichtung allgemein grundrechtsdogmatischer Ansätze oder eines „Verfassungskollisionsrechtes“ Zum Themenkomplex der extraterritorialen Geltung von Grundrechten und deren Wirkungsintensität sind mannigfaltige Ansätze in der Literatur entwickelt worden, die die Materie als Problem der allgemeinen Grundrechtsdogmatik beJellinek und zur Freiheit der hohen See aus der völkerrechtlichen Literatur nur v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 74 ff., 804 ff. 1394 Soweit auch Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 91. 1395 Die begriffliche Unterscheidung in Erfolgs- und Handlungsort bei der Fernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst findet sich überzeugenderweise so auch bei Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 565; maßgeblich dazu BVerfGE 100, 313 (363 f.). 1396 Gröpl, Fernmeldegeheimnis (Fn. 773), S. 15. 1397 Übersicht bei Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 91. 1398 So beispielsweise J. Hecker, Allgemeine Verfassungsfragen der Nachrichtendienste, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. III § 2 Rn. 44 m. Fn. 129.
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greifen und hierbei einen „holistischen“ Ansatz1399 zu entwickeln suchen, der ein Gesamtkonzept zur Frage der Grundrechtsgeltung bei Sachverhalten mit Auslandsberührung bieten soll1400. So wurde prominent – offensichtlich begrifflich, aber auch inhaltlich, in Anlehnung an die kollisionsrechtlichen Regeln des internationalen Privatrechts1401 – durch Isensee eine noch zu leistende Entwicklung eines „Verfassungskollisionsrechts“ gefordert1402. In anderen Veröffentlichungen wird auch von einem „Grundrechtskollisionsrecht“ 1403 oder einem „internationalen Grundrechtskollisionsrecht“ 1404 gesprochen, die in den jeweiligen Studien entwickelt werden1405. Bei all diesen Vorschlägen wird ihr generalistischer, vom Einzelfall losgelöster Anspruch einer allgemeingültigen Lösung der Geltungsreichweite von Grundrechten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten schon in der Wortwahl des ausgearbeiteten Konzeptes offensichtlich, wobei freilich durchaus mehr oder weniger große Abwägungsspielräume verbleiben sollen1406. Wenn-
1399 Prononciert T. Schwander, Wessen Freiheit? Auslandsnachrichtendienste und Grundrechte, in: Brings-Wiesen/Ferreau, „Deutscher Herbst“ (Fn. 67), S. 73 (78), der damit zugleich den Ansatz seiner Dissertation unterstreicht. 1400 Einen grundlegenden, allgemein grundrechtsdogmatischen Zugriff mit jeweiligen Lösungsansätzen wählen die Arbeiten von Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 45 ff., der freilich nur flexible „Leitlinien“ etablieren will; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 13 ff.; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 1 ff.; Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 2 ff.; umfassende Lösungskonzepte präsentieren ebenfalls R. Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994, S. 2 ff.; H. Bungert, Das Recht ausländischer Kapitalgesellschaften auf Gleichbehandlung im deutschen und US-amerikanischen Recht, 1993, S. 183 ff.; freilich bezogen auf das jeweils einzelne Grundrecht statt auf Art. 1 III GG, dennoch mit einem umfassenden Lösungskonzept antretend Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 29 ff.; M. Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 96 ff.; J. Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32 (1974), S. 49 (50 ff.). 1401 Zu dieser Nähe Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 69; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 5 ff.; zu gedanklichen Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen der verfassungsrechtlichen Perspektive Isensees und genuin international privatrechtlichen Ansätzen instruktiv H. Kronke, Die Wirkungskraft der Grundrechte bei Fällen mit Auslandsbezug, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 38 (1998), S. 33 (42 ff.). 1402 So die grundlegenden Arbeiten von Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 77 ff.; ders., Stellung (Fn. 1400), S. 60, deren Ansatz eines „Verfassungskollisionsrechts“ das Schlagwort der Debatte um eine generelle Lösung der Problematik der extraterritorialen Reichweite der Grundrechte liefert. 1403 So die Bezeichnung bei Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 33 ff.; Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 96. 1404 Terminus von Bungert, Gleichbehandlung (Fn. 1400), S. 184. 1405 Kritisch zum Begriff des „Verfassungskollisionsrechtes“ etwa Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 5 ff. 1406 Zum Streit um die Flexibilität der einzelnen Ansätze siehe die Zusammenfassung bei Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 143 f. m.w. N.; zum Abwägungsprozess insbesondere Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 312, der mit seinem auf den Schutzbereich einzelner Grundrechte ausgerichteten Ansatz hierfür mehr Spielräume lässt.
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gleich Zweifel angebracht sind, ob angesichts der kaum abzuschätzenden Bandbreite möglicher Sachverhalte mit Auslandsberührung und den einhergehenden Grundrechtsfragen allgemeingültige Bewältigungskonzepte – trotz etwaig verbleibender Flexibilität – etabliert werden können und sollten1407, oder ob nicht in der Verallgemeinerung auch die Gefahr einer Vereinfachung komplexer Situationen liegt, soll in dieser Arbeit der Fokus ohnehin auf dem Fernmeldegeheimnis und der Auslandsaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst liegen; auch hierzu existiert ein breites Publikationsfeld1408. Eine allgemeingültige Lösung – neben den bereits bestehenden, umfänglichen Ausarbeitungen – für den gesam1407 Kritisch zu allgemeingültigen Lösungen der Fälle einer extraterritorialen Grundrechtsgeltung auch Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 46, der sich insoweit von „schematischen und generalisierenden Lösungen“ abgrenzen will; ferner entschieden M. Nettesheim, Verfassungsbindung der auswärtigen Gewalt, in: Isensee/Kirchhof, HStR XI (Fn. 1355), § 241 Rn. 58 – „keine Generalisierung möglich“; Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 282; Möstl, Vorgaben (Fn. 62), S. 1397; K. T. Rauser, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten, 1990, S. 293; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 1364), S. 1227; M. Schröder, Zur Wirkkraft der Grundrechte bei Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Elementen, in: I. v. Münch (Hrsg.), Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht, FS Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, S. 137 (141, 146); dahingehend konkret zur territorialen Reichweite im Kontext der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auch Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 6 – „Die territoriale und personale Reichweite des Grundrechtsschutzes lässt sich sinnvoll nur grundrechtsspezifisch diskutieren.“ 1408 Die Frage der extraterritorialen Geltung des Art. 10 I GG – in Zusammenhang mit der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst – steht seit der NSA-Affäre im Zentrum der Debatte; siehe hierzu – ohne Anspruch auf abschließende Vollständigkeit – die Beiträge von Schluckebier, Sicherheitsgewährleistung (Fn. 148), S. 15 f.; R. Will, Anlass und Folgen eines Gutachtens, in: Dietrich/Gärditz, Sicherheitsverfassung (Fn. 521), S. 207 (214 ff.); Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 6 ff.; Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 55 ff.; Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 40 ff.; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 225 ff.; Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 43 ff.; Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 14 ff.; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 150 ff.; Brissa, Entwicklungen (Fn. 485), S. 770 ff.; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 528 ff.; ders., Rechtsbindung (Fn. 377), S. 467 ff.; Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 378 ff.; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 163 f.; Groß (Fn. 1228), Art. 10 Rn. 23; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 5 ff.; Lachenmann, Ende (Fn. 1164), S. 504 f.; Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1338 ff.; Heidebach, NSA-Affäre (Fn. 1164), S. 595 ff.; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 560 f.; ders., Erhebung (Fn. 12), S. 16 ff.; Hoffmann-Riem, Stellungnahme (Fn. 12), S. 11 f.; ders., Freiheitsschutz (Fn. 1027), S. 55 f.; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 3 ff.; vor den Veröffentlichungen Edward Snowdens schon Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 43; Löwer (Fn. 1206), Art. 10 Rn. 11; Stettner (Fn. 1198) § 92 Rn. 24 ff.; Durner (Fn. 544) Art. 10 Rn. 88 f., 133, 242, 251.; Vitzthum, Grundrechtsgeltung (Fn. 1363), S. 1213 ff.; Soiné, Aufklärung (Fn. 51), S. 209 ff.; Sievers, Schutz (Fn. 1023), S. 127 ff.; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 98 ff.; aus der älteren Literatur Müller-Terpitz, „strategische Kontrolle“ (Fn. 62), S. 302; P. Badura, Territorialprinzip und Grundrechtsschutz, in: J. Isensee/H. Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, FS Walter Leisner, 1999, S. 403 (405 ff.); Möstl, Vorgaben (Fn. 62), S. 1396 f.; Arndt, Grundrechtsschutz (Fn. 546), S. 461; Gusy/Hueck, Fernmeldegeheimnis (Fn. 561), S. 464 f.; Gröpl, Fernmeldegeheimnis (Fn. 773), S. 16 ff.; aus der Perspektive des Kalten Krieges bereits Borgs-Maciejewski (Fn. 92), § 1 G 10 Rn. 21.
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ten Themenkomplex der extraterritorialen Reichweite der Grundrechte jenseits von Art. 10 GG ist mithin von vornherein weder erforderlich noch angestrebt und würde den Rahmen und das Ziel dieser Untersuchung übersteigen. Die grundlegenden Argumentationsmuster allgemeiner Ansätze finden sich freilich auch in der konkreten Debatte um die Reichweite von Art. 10 GG wieder und haben deshalb auch in dieser Arbeit insoweit ihren Platz, als dass die hier interessierende Fallkonstellation unter ausgewählte abstrakte Ansätze subsumiert werden muss. Das Bundesverfassungsgericht bezieht seine neue Entscheidung zur extraterritorialen Bindung deutscher Staatsgewalt gleichfalls explizit nur auf das Fernmeldegeheimnis und die Pressefreiheit1409. d) Status negativus des Fernmeldegeheimnisses Analog zur Abschichtung dogmatisch umfassender Lösungsansätze zur allgemeingültigen Klärung der extraterritorialen Reichweite der Grundrechte kann in dieser Arbeit der Problemkreis der räumlichen Geltungsreichweite der Leistungspflichten und Schutzansprüche – der status positivus im Sinne der klassischen Statuslehre Georg Jellineks1410 – außenvorbleiben1411. Die leistungsrechtliche Di1409 BVerfGE 154, 152 (215, Rn. 88); so auch Krebs, Pflichten (Fn. 770); Schwander, Antwort (Fn. 967). 1410 Grundlegende Entwicklung der Statuslehre der Grund- und Menschenrechte in seiner berühmten Schrift durch G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 89 ff. 1411 Allgemein zu den unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen des status negativus und positivus etwa Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 282), Rn. 111 ff.; ausführlich Jarass (Fn. 1386), § 38 Rn. 15 ff.; zur extraterritorialen Geltung der „nicht-abwehrrechtlichen“ wie „originär leistungsrechtlichen“ Dimension konkret im Kontext der Debatte um das Asylrecht des Art. 16a GG monographisch A. Dippel, Extraterritorialer Grundrechtsschutz gemäß Art. 16a GG, 2020, S. 92 ff.; zum status positivus und seinen Besonderheiten bzw. etwaig notwendiger Differenzierungen im Vergleich zum status negativus ferner Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 200 ff.; Vitzthum, Grundrechtsgeltung (Fn. 1363), S. 1219 f.; maßgeblich auch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 146 ff. In der fachgerichtlichen Rechtsprechung zeichnet sich eine – vorsichtige – Tendenz zur grundsätzlichen Anerkennung der extraterritorialen Schutzpflichten der Grundrechte auch gegenüber Ausländern im Ausland, zumindest bei einem hinreichend engen Bezug zur deutschen Staatsgewalt, ab, so etwa bei der Nutzung deutschen Territoriums für den Einsatz bewaffneter US-Kampfdrohnen im Jemen, hierzu OVG Münster, Urteil vom 19.3.2019, 4 A 1361/15, juris, Dokument-Nr. MWRE219023869, Rn. 100 ff., zuvor VG Köln, Urteil vom 27.5.2015, 3 K 5625/14, juris, Dokument-Nr. JURE150008938, Rn. 35 ff., welches die Klage jedoch insgesamt abgewiesen hatte; differenzierte Analyse der Entscheidungen durch H. P. Aust, US-Drohneneinsätze und die grundrechtliche Schutzpflicht für das Recht auf Leben: „German exceptionalism“?, in: JZ 2020, S. 303 (303 ff.); die Entscheidung des OVG lehnt P. Heinemann, US-Drohneneinsätze vor deutschen Verwaltungsgerichten, in: NVwZ 2019, S. 1580 (1580 ff.), ab, da sie die Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten überdehne indem das Gericht im konkreten Sachverhalt auf einen hinreichenden territorialen oder personellen Bezug zur Bundesrepublik verzichte und ferner die Unterbrechung der Verantwortung deutscher Staatsgewalt durch das Dazwischentreten der Handlungen der USA, die die eigentliche Kontrolle über die Drohneneinsätze ausübten, übergehe. Das BVerwG hat das Urteil des
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mension der Grundrechte erfordert, im Gegensatz zu einem reinen Unterlassen beim status negativus, ein aktives staatliches Tun1412. Bei Sachverhalten mit Auslandsbezug sind auch in diesem Statusverhältnis mannigfaltige Situationen mit Grundrechtsrelevanz denkbar. So wurde in der Debatte um die extraterritoriale Grundrechtsgeltung von Leistungsrechten durch Quaritsch als ostentatives Beispiel einer Geltendmachung von Leistungsrechten der Fall eines „hungernden Inder[s]“ erdacht1413, der „als Bittsteller an die deutsche Botschaft zu Delhi kommt“ und dort zwar an die Wohltätigkeit appellieren, jedoch nicht das „Grundrecht auf Gewähr eines menschenwürdigen Existenzminimums“ aus Art. 1 in Verbindung mit Art. 2 I GG geltend machen könne1414. Es wird also in diesem Fall staatliches Handeln in Form von Unterstützungsgewährung erstrebt. Ungeachtet der Frage, wie diese plakative Fallgestaltung – die auch die heutigen ökonomischen Realitäten in Indien als „IT-Hochburg“ nicht mehr vollumfänglich korrekt wiedergibt1415 – grundrechtlich zu bewerten ist, zeigt sich der Unterschied zum hier in Rede stehenden Problem. Nachrichtendienstliche Aufklärungsmaßnahmen stellen – ihre Grundrechtsrelevanz bei extraterritorialen Sachverhalten unterstellt – gerade klassisches staatliches Eingriffshandeln in das Fernmeldegeheimnis dar, weswegen der status negativus betroffen ist1416. Das Fernmeldegeheimnis könnte schließlich durch simples Unterlassen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung seitens des BundesnachrichtenOVG indes nunmehr aufgehoben, da u. a. die Annahme, bereits eine rein technische Verbindung durch den Übermittlungsvorgang begründe einen hinreichenden Bezug zum deutschen Staatsgebiet, rechtsfehlerhaft sei. Dass eine Schutzpflicht gegenüber Ausländern im Ausland, hier deren Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, grundsätzlich bestehen könne, bejaht aber auch das BVerwG, BVerwG, Urteil vom 25.11.2020, 6 C 7.19, juris, Dokument-Nr. WBRE202100124, Rn. 38 ff., 60 ff. Insgesamt ist das Urteil aber von dem Bestreben getragen, eine – aus Leipziger Sicht ansonsten wohl drohenden – Entgrenzung der Verantwortlichkeit deutscher staatlicher Stellen auszuschließen, Rn. 49 ff. Gegen die Entscheidung des BVerwG ist beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde unter dem Aktenzeichen 2 BvR 508/21 anhängig. Siehe für Schutzpflichten auch die Verpflichtung der Bundesregierung zur Rückholung deutscher Staatsbürger aus von vormals vom sogenannten Islamischen Staat kontrollierten Gebieten aufgrund verfassungsrechtlicher Schutzpflichten, die sich aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte, konkret aus Art. 2 II 1 i.V. m. Art. 1 I 2 GG, ergeben soll, OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6.11.2019, OVG 10 S 43/19, juris, Dokument-Nr. MWRE190003800, Rn. 20 ff., zuvor VG Berlin NVwZ 2019, 1302 (1303 f., Rn. 9 ff.); zu dieser fachgerichtlichen Rechtsprechung T. Schwander, Die Pflicht zur Rückholung Deutscher aus dem vormaligen IS-Gebiet, in: NVwZ 2019, S. 1260 (1260 ff.). 1412 Siehe nur Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 146. 1413 So explizit Quaritsch (Fn. 1381), § 120 Rn. 76. 1414 Gedanke fortgeführt von Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 87. 1415 Kritisch zu dem Bild des „hungernden Inders“ Vitzthum, Grundrechtsgeltung (Fn. 1363), S. 1219, der richtigerweise auf die wirtschaftliche Entwicklung Indiens zum Schwellenland und zum internationalen Dienstleister für IT-Unternehmen hinweist. 1416 Prägnant pars pro toto Schwander, Auslandsnachrichtendienste (Fn. 1399), S. 79 f. m. Fn. 80; Schiffbauer, Existenz (Fn. 1274), S. 98 f.; Vitzthum, Grundrechtsgeltung (Fn. 1363), S. 1217 f.
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dienstes in jedem Fall gewahrt werden1417. Deswegen kann und soll die verfassungsrechtliche Wertung in dieser Arbeit auf den status negativus des Fernmeldegeheimnisses beschränkt bleiben. Das Bundesverfassungsgericht hat aus demselben Grund, die Auslandsgeltung des status positivus der Grundrechte in seiner Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung offengelassen1418. e) Die zentralen Eckpfeiler der bisherigen Rechtsprechungsentwicklung des Bundesverfassungsgerichts: Vom Washingtoner Abkommen zur dritten Abhörentscheidung Das Bundesverfassungsgericht hatte bisher in einer längeren Reihe von Rechtsprechung immer mal wieder, zu unterschiedlichen Sachverhalten mit ebenso variabler Tiefe, die Möglichkeit, sich zur Frage der extraterritorialen Grundrechtsgeltung in Ansätzen zu verhalten, ohne diese freilich in der Sache zu beantworten. Diese Rechtsprechungsentwicklung soll, da sie zentrale Argumente auch der bisherigen Debatte im Schrifttum vorzeichnet, einleitend dargelegt werden. Nur in Kenntnis dieses Hintergrundes lässt sich die neue Entscheidung des Ersten Senats zum BNDG mit ihrer grundlegenden dogmatischen Wertung sinnvoll einordnen1419. aa) Meilensteine der Rechtsprechung bis zur dritten Abhörentscheidung Das Bundesverfassungsgericht unterstrich noch 1999, dass die Frage der räumlichen Geltungsreichweite des Fernmeldegeheimnisses in der Verfassungsrechtsprechung bisher nicht geklärt sei1420. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung 1417 So erneut Schiffbauer, Existenz (Fn. 1274), S. 98; allgemein zu Abwehrrechten als reiner Unterlassungspflicht des Staates Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 282), Rn. 134. 1418 BVerfGE 154, 152 (215, Rn. 88) – „jedenfalls“ für die Grundrechte als Abwehrrechte gelte die Entscheidung, siehe auch Rn. 104; zur Frage, ob damit auch Leistungsrechte extraterritoriale Wirkungen entfalten, ist eine neue Debatte entbrannt. Für eine Deutung des Urteils hin zur Annahme von extraterritorialen Schutzpflichten, insbesondere hinsichtlich der rechtsstaatlichen Ausgestaltung von Lieferketten deutscher Unternehmen, Krebs, Pflichten (Fn. 770); eine perspektivische Erstreckung des Urteils auf den status positivus verneint hingegen Reinke, Borders (Fn. 967); Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2224, hält in Bezug auf ein Lieferkettengesetz allenfalls ein abgestuftes Schutzkonzept für möglich. Vgl. nunmehr den Entwurf eines Gesetzes über die unternehmerische Sorgfaltspflicht in Lieferketten, abrufbar unter https://www. bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/gesetz-unternehmerische-sorgfalts pflichten-lieferketten.html (27.3.2021). 1419 Die Wichtigkeit des Blicks zurück auf die bisherigen Positionen zum Verständnis des Urteils zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung betonen auch Krebs, Pflichten (Fn. 770); Schiffbauer, Würde (Fn. 937). 1420 BVerfGE 100, 313 (362); eine Übersicht über die einschlägige Rechtsprechung zu Fragen der extraterritorialen Reichweite der Grundrechte vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung präsentiert Dippel, Grundrechtsschutz (Fn. 1411), S. 55 ff.; ausführlich und chronologisch wie hier Schwan-
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finden sich in der Tat zuvor nur vereinzelt belastbare Aussagen zum Themenkomplex der extraterritorialen Geltung der Grundrechte. Die wichtigsten Fragmente sind allerdings trotz ihrer Seltenheit hervorzuheben, um die Grundlinien der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts nachzeichnen zu können. Bereits 1957 hatte das Gericht zum sogenannten Washingtoner Abkommen ausgesprochen: Die „Grundrechte binden die deutsche öffentliche Gewalt auch, soweit Wirkungen ihrer Betätigung im Ausland eintreten“ 1421. Dabei betonte der Senat jedoch, dass hinsichtlich des damals in Rede stehenden Auslandsvermögens in der Schweiz besondere Umstände vorliegen könnten, die eine differenzierte Bewertung im Vergleich zu einem reinen Inlandssachverhalt rechtfertigten1422. Ein weiterer Meilenstein in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Entscheidung zur Auslieferung eines ehemaligen Fremdenlegionärs an Frankreich aufgrund eines Haftbefehls eines Militärgerichtes, trotz einer nach damaligem französischen Strafrecht drohenden Todesstrafe1423. Zwar sei die Vorgabe des Art. 102 GG eine „Entscheidung von großem staats- und rechtspolitischem Gewicht“ für die Bundesrepublik, welche jedoch aus der besonderen historischen Situation Deutschlands herrühre; sie könne deswegen kein „Werturteil“ über andere Rechtsordnungen bedeuten, die keinerlei Erfahrungen mit Unrechtsregimen gemacht hätten, deren historische und staatspolitische Entwicklung anders verlaufen sei und die aufgrund anderer staatsphilosophischer Grundüberzeugungen eine abweichende Entscheidung für sich getroffen hätten1424. Die Bundesrepublik könne angesichts des – wohlgemerkt damaligen1425 – Standes der Gesetzgebung in der „Kulturwelt“ nicht für sich in Anspruch nehmen, dass die Todesstrafe mit dem erreichten Stand der Zivilisation schlechterdings unvereinbar sei und es deswegen gestattet oder sogar geboten sei, ihre Auffassung unter allen Umständen durchzusetzen und damit eine „rechtsstaatlich-sittliche Superiorität für sich
der, Wirkungen (Fn. 16), S. 41 ff.; knapp Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2221 f.; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 71 ff.; verdichtet Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 558 f.; nach Fallgruppen gegliedert Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 128 ff.; an den Argumentationsfiguren des Gerichts ausgerichtet M. Baldus, Transnationales Polizeirecht, 2001, S. 129 ff.; zuvor bereits umfassende Analyse von Hofmann, Grundrechte (Fn. 1400), S. 31 ff. 1421 BVerfGE 6, 290 (295); zum Hintergrund des Verfahrens Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 14. 1422 Die Position des BVerfG fasst zusammen Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 558. 1423 BVerfGE 18, 112; die Bedeutung des Beschlusses unterstreicht Hofmann, Grundrechte (Fn. 1400), S. 33. 1424 BVerfGE 18, 112 (117). 1425 Die Entscheidung ist heute freilich überholt, sie steht der Rechtsprechung des EGMR entgegen sowie der nunmehr einfachrechtlichen Regelung eines Auslieferungsverbotes bei drohender Todesstrafe in § 8 IRG, dazu instruktiv Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 44; unter Verweis auf Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 41; Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 130. Die Weitergeltung der Entscheidung BVerfGE 18, 112 wurde letztlich offen gelassen in BVerfGE 60, 348 (354).
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in Anspruch zu nehmen“ 1426. Das Grundgesetz habe eine „völkerrechtsfreundliche Grundhaltung“, die Achtung vor fremden Rechtsordnungen und deren Anschauungen einfordere1427. Diesen Gedankengang griff das Gericht dem Grunde nach im vielfach zitierten sogenannten Spanier-Beschluss wieder auf 1428. Es hielt jedoch auch fest, dass Sachverhalte und Vorschriften des internationalen Privatrechts und des hierdurch anwendbaren ausländischen Rechts im Einzelfall an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen seien1429. Damit wies das Gericht dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit insoweit eine untergeordnetere Bedeutung zu und stufte seine Vorrangstellung zurück1430. Das Bundesverfassungsgericht identifizierte Art. 1 III GG als „Leitnorm“, die die Kollisionsnormen des deutschen internationalen Privatrechts und des anzuwendenden ausländischen Rechts an die Grundrechte binde1431. Anderslautende Ansichten in der damaligen internationalprivatrechtlichen Literatur und Zivilrechtsprechung würden dem Vorrang der Verfassung und der elementaren Bedeutung der Grundrechte unter dem Grundgesetz nicht gerecht1432. Die Achtung einer fremden Rechtsordnung – die im Auslieferungsurteil noch sehr in den Vordergrund gerückt worden war – geht nämlich nicht soweit, dass ausländisches Recht, welches das internationale Privatrecht für anwendbar erklärt, ohne Ansehung seiner grundrechtlichen Wertung immer angewendet werden muss und darf 1433. Konkret sei der persönliche Schutzbereich von Art. 6 I GG nicht auf Deutsche beschränkt, und ein Eingriff in die Eheschließungsfreiheit könne auch durch eine ausländische Norm bewirkt werden, wenn diese durch einen Anwendungsbefehl deutschen Rechts zu berücksichtigen sei1434. Es komme vielmehr „darauf an, ob eine innerstaatliche Rechtshandlung deutscher Staatsgewalt in bezug (sic) auf einen konkreten Sachverhalt, der eine 1426
BVerfGE 18, 112 (117 f.). BVerfGE 18, 112 (121). 1428 BVerfGE 31, 58; Kronke, Wirkungskraft (Fn. 1401), S. 35 m.w. N., erkennt in dem Beschluss eine „epochemachende“ Entscheidung; Hofmann, Grundrechte (Fn. 1400), S. 34, spricht von einer „ganz grundlegenden Entscheidung“. 1429 BVerfGE 31, 58 (72 ff.). 1430 Befund bei Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 44 f., der sich auf Schröder, Wirkkraft (Fn. 1407), S. 143 stützt. 1431 BVerfGE 31, 58 (72 f.). 1432 BVerfGE 31, 58 (72); zur zuvor abweichenden Rechtsprechung des BGH Looschelders, Ausstrahlung (Fn. 1364), S. 473. 1433 Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 50, der auch die vormalige Position der Literatur zum internationalen Privatrecht beleuchtet, die von einer Grundrechtsbindung nur ausging, soweit das Kollisionsrecht dies zuließ; zum Überblick über die zeitgenössische Literatur siehe bereits in der Entscheidung, BVerfGE 31, 58 (72); gegen die Bestimmung der Anwendbarkeit der Grundrechte durch das einfache Recht auch Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 141 f. 1434 BVerfGE 31, 58 (71); komprimierte Zusammenfassung bei Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2221. 1427
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mehr oder weniger starke Inlandsbeziehung aufweist, zu einer Grundrechtsverletzung“ führe1435. Die Reichweite der Grundrechte sei dabei unmittelbar aus den Verfassungsnormen selbst zu erschließen1436. Die Anerkennung der Grundrechtsgeltung für anzuwendendes ausländisches Privatrecht stelle keine unzulässige Ausweitung des Geltungsbereiches des Grundgesetzes oder gar einen „Oktroi“ deutscher Wertvorstellungen gegenüber ausländischen Rechtsordnungen dar1437. Zwar sei das Grundgesetz insgesamt „von einer völkerrechtsfreundlichen Tendenz getragen“, hieraus lasse sich aber kein Vorbehalt ableiten, wonach die Grundrechte zurücktreten müssten1438. Insgesamt resümiert das Bundesverfassungsgericht, dass bei jeder Verfassungsnorm durch Auslegung zu ermitteln sei, ob sie bei Sachverhalten mit Auslandsbezug eine Differenzierung zuließe oder sogar verlange, wobei auch die Grundhaltung des Grundgesetzes gegenüber dem Völkerrecht und den anderen Staaten in diesem Wertungsprozess eine Rolle spielen könne1439. Das Bundesverfassungsgericht implementierte in den Entscheidungen mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit einen Auslegungsgrundsatz in der Debatte um die extraterritoriale Geltung der Grundrechte – wobei es sich weniger um eine klassische Auslegungsregel, sondern vielmehr um eine Konfliktvermeidungsregel handelt1440 –, stellte aber zugleich die generelle Geltungsmöglichkeit der Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsberührung heraus und favorisierte eine einzelfallbezogene Lösung anhand des jeweiligen Grundrechts durch Auslegung des selbigen1441. Andeutungen zum Geltungsbereich des Grundgesetzes machte das Bundesverfassungsgericht ferner in der Entscheidung zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR, wonach Art. 23 GG a. F. die Hoheitsgewalt auf dieses Gebiet beschränke1442. Das Urteil konnte dahingehend gedeutet werden, dass der Geltungsbereich des Grundgesetzes grundsätzlich auch die Reichweite der Grundrechte bestimme1443. Eine weitere Aussage zum Themenkomplex der Geltungsreichweite der Grundrechte findet sich ebenfalls im Rahmen der juristischen Auseinandersetzungen um die deutsch-deutschen Beziehungen. In der Entscheidung zu den Ostverträgen hielt das Bundesverfassungsgericht fest, die 1435
Pointiert BVerfGE 31, 58 (75). BVerfGE 31, 58 (73). 1437 BVerfGE 31, 58 (74 f.). 1438 BVerfGE 31, 58 (75 f.). 1439 BVerfGE 31, 58 (77). 1440 So die Wertung bei O. Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG I (Fn. 1206), Art. 24 Rn. 3; M. Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, S. 166; allgemein zum Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ausführlich statt vieler M. Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Fn. 272), Art. 25 (2021), Rn. 6 ff. 1441 Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 1364), S. 1234, spricht insoweit von einer „moderat verstandenen Grundrechtsbindung“ (Fettdruck im Original, J. V.) des BVerfG. 1442 BVerfGE 36, 1 (28 ff.). 1443 So die Wertung von Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 45. 1436
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Grundrechte bänden nur die deutsche Staatsgewalt, nicht aber staatliche Vertragspartner bei völkerrechtlichen Verträgen; weiterhin habe die Bundesregierung bei außenpolitischen Sachverhalten einen breiten Ermessensspielraum, da schließlich der Abschluss völkerrechtlicher Verträge – aber auch allgemein die Außenpolitik – Fragen des politisch Machbaren beträfen1444. Eine zweite wirkmächtige Argumentationslinie zum extraterritorialen Geltungsbereich von Grundrechten zeigte sich in der Entscheidung über einen Sachverhalt mit direktem Auslandsbezug, dem sogenannten Fremdrenten-Beschluss1445. Das Bundesverfassungsgericht erklärte sozialversicherungsrechtliche Regelungen, welche die Auszahlung von im Inland erworbenen Ansprüchen an im Ausland lebende Ausländer untersagte, in der damaligen konkreten Ausgestaltung für mit dem Gleichheitsgebot des Art. 3 I GG unvereinbar1446. Zwar sei der Staat zur sozialen Absicherung grundsätzlich nur denjenigen Personen gegenüber verpflichtet, für die er verantwortlich sei, also im Regelfall deutsche Staatsbürger oder hier lebende Ausländer1447. Eine hinreichende Beziehung zum deutschen Staat bestehe aber in den streitgegenständlichen Fällen, da die Beschwerdeführerinnen Ansprüche innerhalb Deutschlands erworben hätten bzw. es um Versorgungsansprüche von in Deutschland vormals sozialversicherungspflichtigen Ehemännern gehe, weswegen sie sich auf Art. 3 I GG berufen könnten1448. Ob ein solcher Bezug zwingend erforderlich ist, ließ das Gericht indes offen1449. Es legte damit aber den Grundstein für den Gedanken einer möglicherweise notwendigen, irgendwie gearteten Beziehung von Ausländern zur Bundesrepublik jedenfalls zur Entfaltung grundrechtlicher Abwehr- bzw. im konkreten Fall der Leistungsrechte. Noch erwähnenswert erscheint die Zweitregister-Entscheidung, bei der es um die mögliche Absenkung kollektivarbeitsrechtlicher Schutzstandards durch An1444 BVerfGE 40, 141 (166, 178); so auch später, unter Bezugnahme auf BVerfGE 40, 141 (178), zur Verfassungsbeschwerde von Rudolf Heß gegen seine Inhaftierung im alliierten Berliner Kriegsverbrechergefängnis Spandau und dem breiten Ermessenspielraum der Bundesregierung bei Gewährung diplomatischer Hilfestellungen BVerfGE 55, 349 (364 f.); dazu instruktiv Hofmann, Grundrechte (Fn. 1400), S. 37 f. 1445 BVerfGE 51, 1. 1446 BVerfGE 51, 1 (15 ff.); Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 45 f.; Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 134. 1447 BVerfGE 51, 1 (27). 1448 BVerfGE 51, 1 (22 f.). 1449 So auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 46; die Notwendigkeit des Bezuges ebenso offen gelassen in einer Entscheidung zum Familiennachzug BVerfGE 76, 1 (45 ff.), da jedenfalls jeweils ein Ehepartner oder Elternteil sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhielt und somit eine dem Sinn des Art. 6 I GG entsprechende Ehe- bzw. Familieneinheit bestehe. Das Gericht verweist jedoch auf Isensee, Stellung (Fn. 1400), S. 61 ff., und damit auf die „grundsätzlich fraglich“ erscheinende räumliche Erstreckung verfassungsrechtlicher Gewährleistungen außerhalb des geografischen Hoheitsbereiches der Bundesrepublik Deutschland.
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wendung ausländischen Rechts bei Schiffen mit einer Eintragung im internationalen Seeschifffahrtsregister ging1450. Um eine möglichst weitgehende Grundrechtsgeltung auch bei globalisierten Sachverhalten zu bewahren, sei eine partielle Absenkung des inländischen Schutzniveaus möglich, wenn ansonsten das Grundrecht noch weniger zur Geltung käme1451. Dabei nimmt das Bundesverfassungsgericht sogar explizit in Kauf, dass der Gesetzgeber insoweit vor der „internationalen Rechtswirklichkeit“ 1452 – ergo den ökonomischen Realitäten eines globalisierten Marktumfeldes – gleichsam kapituliert, um wenigsten ein Bisschen Grundrechtsschutz aufrechterhalten zu können. Das Bundesverfassungsgericht illustriert damit seine durchaus vorhandene Flexibilität bei der Grundrechtsgeltung mit Auslandsberührung und den Willen, auch wirtschaftlich-faktische Limitierungsfaktoren anzuerkennen. Bis zum Urteil über die strategische Fernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst war die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch eine grundsätzliche Anerkennung der Geltung der Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsbezug gekennzeichnet, wobei das Gericht immer über Fälle zu befinden hatte, bei denen entweder kein wirklich extraterritorialer Sachverhalt zu entscheiden war oder jedenfalls eine rechtlich-faktische Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland bestand1453. Ein reiner Auslandssachverhalt war jedoch noch nicht zur Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht gelangt. Das Bundesverfassungsgericht hat in Fällen mit Auslandsbezug eine Anpassung des Grundrechtsschutzes an die Spezifika der jeweiligen extraterritorialen Konstellationen grundsätzlich gebilligt. Dabei hat das Gericht maßgeblich die Achtung fremder Rechtsordnungen als Folge der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes unterstrichen, zugleich aber auch Grenzen für die Rücknahme grundrechtlichen Schutzes aufgezeigt. bb) Urteil zur strategischen Fernmeldeaufklärung – BVerfGE 100, 313 Das Urteil zur strategischen Fernmeldeaufklärung bildete lange Zeit die Referenzentscheidung zur Frage der (extra-)territorialen Reichweite der Grundrechte und des Fernmeldegeheimnisses1454. Der 2. Leitsatz – der freilich nicht der Bindungswirkung unterliegt1455 – lässt bei erster Lektüre der an Seiten umfangreichen Entscheidung zunächst eine abschließende Klärung aller Fragen, zumindest 1450
BVerfGE 92, 26. BVerfGE 92, 26 (41 ff.); Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 559. 1452 BVerfGE 42, 26 (42). 1453 Siehe auch die selbige Wertung bei Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2221. 1454 Hier befasste sich das BVerfG schließlich erstmals mit einer rein extraterritorialen Grundrechtsgeltung, siehe hierzu auch erneut Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2221. 1455 Hierauf weist Seifert, Aufklärung (Fn. 1015), S. 182, zu Recht hin. 1451
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für die Praxis, vermuten1456: „Der räumliche Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses ist nicht auf das Inland beschränkt“ 1457. Das Bundesverfassungsgericht formulierte jedoch schon im Anschluss, noch im Leitsatz selbst, eine Bedingung für die Auslandsgeltung des Fernmeldegeheimnisses. Art. 10 GG könne auch eingreifen, wenn „eine im Ausland stattfindende Telekommunikation durch Erfassung und Auswertung im Inland hinreichend mit inländischem staatlichem Handel verknüpft ist“ 1458. Hier setzte sich zunächst die bereits skizzierte Rechtsprechungslinie fort, wonach ein irgendwie gearteter Bezug zur Bundesrepublik eine Auslandsgeltung von Grundrechten bewirken kann. Die Heranziehung des Leitsatzes stellt freilich nur einen oberflächlichen Erstbefund dar. Bei näherer Betrachtung geht das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung nämlich sehr zurückhaltend vor und bezieht in der Sache nur Stellung, soweit es zur Entscheidung der Verfassungsbeschwerde absolut unumgänglich ist1459. (1) Fortführung bekannter Argumentationslinien Zunächst stellte das Gericht in Einklang mit seiner vorherigen Rechtsprechung fest, dass der dogmatische Ausgangspunkt der Frage nach der räumlichen Geltungsreichweite der Grundrechte im Allgemeinen Art. 1 III GG sei1460. Der Senat nahm jedoch sogleich wieder eine Einschränkung vor, indem er betonte, dass aus der von Art. 1 III GG angeordneten umfassenden Bindung der staatlichen Gewalt an die Grundrechte noch keine „abschließende Festlegung der räumlichen Geltungsreichweite der Grundrechte“ folge1461. Das Gericht griff als einschränkenden Faktor auf die notwendige Abstimmung mit dem Völkerrecht und fremden Rechtsordnungen zurück. Bei der extraterritorialen Grundrechtsgeltung gelte es eine notwendige „Abgrenzung und Abstimmung“ mit anderen Staaten und deren Rechtsordnungen vorzunehmen1462. Dazu müssten zum einen die Verantwortlichkeit und Reichweite deutscher Staatsorgane berücksichtigt und zum andern das nationale Verfassungsrecht mit dem Völkerrecht abgestimmt werden1463. Der Senat sah mithin erneut die bloße Möglichkeit eines Konfliktes mit anderen Rechtsordnungen, den es soweit als möglich zu vermeiden gelte1464. Eine konkrete Uneinigkeit mit einer einzelnen, bestimmten Jurisdiktion konnte das Bun1456 Die zunächst herausstechende Aussage des Leitsatzes betont auch Vitzthum, Grundrechtsgeltung (Fn. 1363), S. 1214. 1457 BVerfGE 100, 313 (313). 1458 BVerfGE 100, 313 (313) – Hervorhebung nicht im Original. 1459 Die Zurückhaltung des BVerfG bei der Entscheidung unterstreicht ebenfalls Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 564 f. 1460 BVerfGE 100, 313 (362). 1461 BVerfGE 100, 313 (362). 1462 BVerfGE 100, 313 (362). 1463 BVerfGE 100, 313 (362 f.). 1464 Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 289.
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desverfassungsgericht schon deswegen nicht benennen, weil bei einer abstrakten Gesetzesgrundlage wie dem G 10 oder dem BNDG eine potentielle Betroffenheit aller Rechtsordnungen weltweit gegeben sein könnte, sofern der Bundesnachrichtendienst Fernmeldeaufklärung in bzw. über diese Länder betreibt1465. Die Reichweite der Grundrechte sei unter Berücksichtigung von Art. 25 GG aus der Verfassung selbst zu ermitteln; je nach dem welches Grundrecht einschlägig sei, seien „Modifikationen und Differenzierungen“ zulässig1466. (2) Geographische Belegenheit der Überwachungsanlagen als genuine link des Grundrechtsschutzes Nach diesen allgemeineren Ausführungen gelangte der Senat nun zum Kern des Problems, um nach dessen Beschreibung allerdings sogleich maßgebliche Fragen als konkret nicht entscheidungserheblich offen zu lassen. Dabei nutzte das Bundesverfassungsgericht wiederum bekannte, gesicherte Argumentationsmuster. Die moderne Technik der Satelliten- und Richtfunktechnik erlaube einen Zugriff auf ausländischen Telekommunikationsverkehr mit Überwachungseinrichtungen, die auf dem Territorium der Bundesrepublik stationiert seien; damit werde bereits „durch die Erfassung und Aufzeichnung des Telekommunikationsverkehrs mit Hilfe der auf deutschem Boden stationierten Empfangsanlagen des Bundesnachrichtendienstes eine technisch-informationelle Beziehung zu den jeweiligen Kommunikationsteilnehmern und ein – den Eigenarten von Daten und Informationen entsprechender – Gebietskontakt hergestellt“ 1467. Ebenso fände die Auswertung der Daten innerhalb der Bundesrepublik statt1468. Unter diesen – durch den Senat damals wohl als außergewöhnlich qualifizierten – Umständen sei eine Telekommunikation im Ausland mit „staatlichem Handeln im Inland derart verknüpft, daß die Bindung durch Art. 10 GG selbst dann eingreift, wenn man dafür einen hinreichenden territorialen Bezug voraussetzen wollte“ 1469. Hier nutzte das Bundesverfassungsgericht die aus seiner Rechtsprechung bekannte Argumentation mit einer konkret identifizierbaren Beziehung zum Staatsgebiet zur Begründung der Grundrechtsgeltung, nunmehr nicht nur in Form von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen, sondern der physischen Belegenheit der nachrichtendienstlichen Überwachungstechnik. In der physischen Überwachungsstation erblickte der Senat bereits einen hinreichenden Gebietskontakt1470. Mit dem Anknüpfungspunkt des Gebietskontaktes vertiefte das Bundesverfassungsgericht 1465 Dahingehend auch Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 86; wie hier Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 296. 1466 BVerfGE 100, 313 (363) unter Verweis auf BVerfGE 92, 26 (41 f.) – Zweitregister; 31, 58 (72 ff.) – Spanier. 1467 BVerfGE 100, 313 (363). 1468 BVerfGE 100, 313 (363). 1469 BVerfGE 100, 313 (363 f.). 1470 Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 87.
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den völkerrechtlichen Abgrenzungsgedanken. Zugleich stellte es eine Verbindung zur völkerrechtlichen Einhegung extraterritorialer Normsetzung durch Staaten her, die nur dann völkerrechtskonform erfolgen kann, wenn ein genuine link zum Territorialitätsprinzip gegeben ist1471. Diesen genuine link verortete der Senat in der Stationierung der Empfangsanlagen auf deutschem Boden und ermöglicht in der Folge, insoweit auf völkerrechtrechtlich gesichertem Terrain, zumindest im referierten Rahmen eine extraterritoriale Grundrechtsgeltung1472. Ob der genuine link in Form des Gebietskontaktes oder der Personalhoheit, ergo der deutschen Staatsbürgerschaft, generell erforderlich ist, ließ das Gericht unbeantwortet. Der Senat ergänzte stattdessen ausdrücklich, dass über „geheimdienstliche“ Tätigkeiten, die nicht dem G 10 Regelungsregime unterfielen, ebenso wenig zu entscheiden sei, „wie über die Frage, was für ausländische Kommunikationsteilnehmer im Ausland gilt.“ 1473 Letzteren Aspekt konnte der Senat 1999 nur deswegen unbeantwortet lassen, weil er die Verfassungsbeschwerde eines uruguayischen Staatsbürgers mit Wohnsitz in Uruguay wegen unzureichenden Vortrages persönlicher Betroffenheit bereits mit knapper Begründung als unzulässig verwarf 1474. (3) Vermeintliche und tatsächliche Unsicherheiten nach der Entscheidung 1999 Aus der Ausklammerung entscheidender Fragen seitens des Gerichts resultierte lange Zeit die grundlegende Debatte um die extraterritoriale Geltung des Fernmeldegeheimnisses im Wesentlichen. Was genau aber blieb ungeklärt nach Analyse der Entscheidung? Menzel hat zwar zu Recht hervorgehoben, dass sich der Senat mit aller Macht um die Frage herumwinde, wie der Sachverhalt zu beurteilen wäre, wenn die Überwachung deutscher Staatsbürger vom Ausland aus 1471 Zum Erlass von Hoheitsakten mit Auslandsbezug allgemein v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 345 ff.; zur Notwendigkeit eines genuine link bei extraterritorialer Normsetzung durch Staaten aus der völkerrechtlichen Literatur V. Epping, Der Staat als die „Normalperson“ des Völkerrechts, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 7 Rn. 71 ff. m.w. N.; konkret zum dritten Abhörurteil Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 87; Nettesheim (Fn. 1407), § 241 Rn. 57; allgemein auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 213 f., in Bezug auf die Möglichkeit zur Erstreckung des Fernmeldegeheimnisses über die eigenen Staatsgrenzen hinaus; ferner Schorkopf, Überstaatlichkeit (Fn. 1179), S. 111; Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 79; Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 129. 1472 Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 87. 1473 BVerfGE 100, 313 (364). 1474 BVerfGE 100, 313 (357). Eine vertiefte Darlegung, warum die Einlassungen des ausländischen Beschwerdeführers den Darlegungsanforderungen nicht hinreichend entsprachen, wäre seinerzeit indes nicht deplatziert gewesen; kritisch dazu Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 570 m. Fn. 153; Müller-Terpitz, Kontrolle (Fn. 62), S. 302; Möstl, Vorgaben (Fn. 62), S. 1397, unterstreicht, dass aufgrund der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers aus Uruguay die wesentliche Frage der Auslandsgeltung von Grundrechten bei der Telekommunikation von Ausländern im Ausland bedauerlicherweise keiner abschließenden Lösung durch das BVerfG zugeführt wurde.
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erfolgen würde und der territoriale Anknüpfungspunkt mithin entfiele; die Argumentation mit dem Verweis auf das, was nicht zu entscheiden wäre, bleibe insgesamt „apokryph“, da der Gesichtspunkt des Gebietskontaktes hier gerade nicht wiederaufgenommen werde1475. Es erscheint jedoch kaum vorstellbar, dass das Bundesverfassungsgericht seinerzeit den deutschen Staat bei Handlungen gegenüber seinen eigenen Staatsbürgern gänzlich aus der Grundrechtsbindung entlassen wollte, wenn dieser vom Ausland aus operiert. Der genuine link – sofern man diesen zur unabdingbaren Voraussetzung extraterritorialen Grundrechtschutzes machen wollte – hätte in diesem Fall aus der deutschen Staatsbürgerschaft der Betroffenen und des hieraus resultierenden besonderen Näheverhältnisses zur deutschen Staatsgewalt durch das Personalitätsprinzip bestanden, welches überdies auch völkerrechtlich traditionell zur extraterritorialen Normsetzung in Bezug auf eigene Staatsangehörige berechtigt1476. Das Gericht betonte zudem, dass nur über „geheimdienstliche Aktivitäten“ außerhalb des für Deutsche einschlägigen G 10 und der Frage der Grundrechtsberechtigung von Ausländern im Ausland nicht zu entscheiden sei1477. Deutsche Staatsbürger fallen jedoch in keine der genannten Kategorien. Menzel unterstreicht zudem im Anschluss, dass selbst wenn man davon ausgehen wolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsbindung bei Handlungen gegenüber Deutschen vom Ausland aus mit seinen Ausführungen offenhalten wollte, zumindest die Literaturlage in dieser Hinsicht eindeutig sei1478. Stimmen, die die Telekommunikation deutscher Staatsbürger im Ausland, auch bei einer Überwachung vom Ausland aus, aus dem Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses ausnehmen wollen, sind – soweit ersichtlich – nicht laut geworden1479. Tatsächlich ungeklärt blieb nach den Ausführungen des Gerichts, was für die Telekommunikation von mindestens zwei Ausländern im Ausland bei Überwachung vom Inland aus galt. Noch unsicherer war ferner, wie „reine Auslandssachverhalte“ zu bewerten sind, bei denen die Überwachungseinrichtung im Ausland stationiert ist, also kein unmittelbarer Gebietskontakt zur Bundesrepublik gegeben ist1480. Insgesamt zeigt die Entscheidung, dass das Bundesverfassungs1475
Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 564 f. Für die Staatsangehörigkeit als Grundrechtschutz begründendes Anknüpfungskriterium bei deutschen Staatsangehörigen sogar Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 18; Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 86; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 113, 125; Merten, Geltungsbereich (Fn. 1362), S. 341 ff.; Badura, Territorialprinzip (Fn. 1408), S. 411; Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 138, 142. 1477 BVerfGE 100, 313 (364); Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 16. 1478 Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 564 f. 1479 Erneut der Befund von Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 564 m. Fn. 136, dem zuzustimmen ist. Abweichende Publikationen sind nicht ersichtlich. 1480 Teilweise wird die dritte Abhörentscheidung indes dahingehend ausgelegt, dass bereits über die Grundrechtsgeltung im Ausland allgemein entschieden worden sei, so jedenfalls ohne weitere Differenzierung Pagenkopf (Fn. 1226), Art. 10 Rn. 15; Brissa, 1476
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gericht bisher von Fall zu Fall entschied und eine übergeordnete Dogmatik – trotz wiederkehrender Ansätze in der Argumentationslinie des Gerichts – zur Bewertung von Fällen mit Auslandsbezug bislang nicht gegeben war1481. cc) Extraterritoriale Datentransfers im BKAG-Urteil In seinem bereits vielzitierten Urteil zum BKAG befasste sich das Bundesverfassungsgericht bereits auch mit Fragen der extraterritorialen Grundrechtsgeltung, allerdings spezifisch auf Datenübermittlung ins Ausland beschränkt1482. Danach bleibe die deutsche Staatsgewalt aufgrund Art. 1 III GG auch dann an die Grundrechte gebunden, wenn Daten ins Ausland übermittelt würden1483. Die ausländische Staatsmacht unterliege weiterhin nur ihren eigenen rechtlichen Bindungen. Die deutschen datenschutzrechtlichen Garantien dürften durch den Austausch zwischen Sicherheitsbehörden nicht unterlaufen werden1484. Das Grundgesetz – konkret durch die Präambel sowie Art. 1 II, 9 II, 16 II, 23 bis 26 GG und Art. 59 II GG – binde die Bundesrepublik in die internationale Gemeinschaft ein und richte mithin die öffentliche Gewalt auf die internationale Zusammenarbeit aus1485. Deshalb sei auch die „Eigenständigkeit der ausländischen Rechtsordnung zu berücksichtigen“, deren „Abgrenzungslinien, Kategorien und Wertungen mit denen der deutschen Rechtsordnung und auch des Grundgesetzes nicht identisch sind und auch nicht sein müssten“ 1486. Allerdings seien Garantien des menschenrechtlichen Schutzes für internationale Datenübermittlungen sicherzustellen und es müsse kategorisch ausgeschlossen sein, dass der deutsche Staat „seine Hand zur Verletzung der Menschenwürde“ reiche1487. Damit öffnet das Bundesverfassungsgericht die deutsche Rechtsordnung für die sicherheitsbehördliche Zusammenarbeit im Bereich des Datenaustausches. Es bekräftigt die Entwicklungen (Fn. 485), S. 771; dagegen Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 165 f. 1481 Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 40 ff., spricht von einem „case-by-case“-Ansatz des BVerfG; Schwander, Rückholung (Fn. 1411), S. 1261; ders., Wirkungen (Fn. 16), S. 52 unter Verweis auf Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 559, der vor einer Verallgemeinerung von aus dem Kontext der jeweiligen Entscheidung losgelösten Aussagen warnt; Baldus, Polizeirecht (Fn. 1420), S. 126, kritisiert, dass in den Entscheidungen des BVerfG kein über die jeweilige Fallgestaltung hinausgehendes dogmatisches System zu erkennen sei. 1482 BVerfGE 141, 220 (341 ff., Rn. 325 ff.); kompakt hierzu etwa Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 993; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 51 ff. mit weiteren Entscheidungen aus der jüngeren Rechtsprechung nach dem dritten Abhörurteil. 1483 BVerfGE 141, 220 (341 ff., Rn. 324 ff.). 1484 BVerfGE 141, 220 (342, Rn. 327). 1485 BVerfGE 141, 220 (341 f., Rn. 325). 1486 BVerfGE 141, 220 (343, Rn. 331). 1487 BVerfGE 141, 220 (342, Rn. 328, 344, Rn. 335); zum absoluten Verbot einer Verletzung der Menschenwürde kurz zuvor auch in einem Auslieferungskontext BVerfGE 140, 317 (347, Rn. 62) – Europäischer Haftbefehl II.
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Grundrechtsbindung beim Handeln deutscher Staatsgewalt bei Folgen im Ausland – hier in Form der Datenübermittlung – und die Notwendigkeit, ausländische Rechtsordnungen zu respektieren und gegebenenfalls auch nationale Grundrechtsstandards situativ, bis zu einem gewissen Grad, zurückzunehmen. Damit steht auch diese Entscheidung in der bisherigen Linie des Gerichts. Eine finale Aussage zur Grundrechtsgeltung im Ausland hat das Bundesverfassungsgericht indes auch in diesem Urteil nicht getroffen und auch über die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Dantentransfers zu ausländischen öffentlichen Stellen hinaus nicht treffen müssen. f) Überblick über die bisherigen Strömungen der Debatte im Schrifttum Die Frage nach der extraterritorialen Reichweite der Grundrechte ist in der bisherigen literarischen Debatte keinesfalls ein neues Phänomen1488. So ist in den bereits angesprochenen Versuchen einer – zumeist grundrechtsdogmatischen, gesamtheitlichen – Durchdringung und Systematisierung des Problems eine dem „Ruf der deutschen Wissenschaft“ entsprechende, ganze Bibliotheken füllende Anstrengung gesehen worden1489. Dem Befund ist zweifelsohne zuzustimmen. Es besteht ein breites – kaum noch zu überblickendes – Meinungsfeld mit zahlreichen, generalistischen Ansätzen, die jedoch nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen sind, sondern durchaus fließende Übergänge aufzeigen1490. Ebenso finden sich rein grundrechtsbezogene Beiträge exklusiv zum Fernmeldegeheimnis1491. Eine einheitliche Meinung hatte sich im Schrifttum – vor der neuen Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts – trotz jahrzehntelanger Debatte bisher noch nicht gebildet1492. Die Befürworter einer extraterri1488 Prägnant zur bereits langanhaltenden Debatte in der Literatur die Einschätzung von Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 465; einen verfassungsgeschichtlichen Überblick über die Debatte einer extraterritorialen Geltung von Recht schon in vorkonstitutioneller Zeit bietet Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 178 ff. 1489 Pointiert Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 127. 1490 Einen Überblick über die Literaturlandschaft geben orientierungshalber Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 43 ff.; 104 ff., 119 ff.; Dippel, Grundrechtsschutz (Fn. 1411), S. 62 ff.; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 63 ff., mit hiesiger Wertung, dessen Gliederung des Meinungsstandes hier partiell gefolgt wird; weitere Übersichten – mit teils erheblich divergierender Auswertungstiefe des Schrifttums – finden sich etwa bei Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 158 ff.; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 76 ff.; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 6 ff.; Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 560 ff.; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 453 ff., m. Fn. 270 ff.; nach den wesentlichen Stimmen der Diskussion gestaffelte Darstellung bei Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 70 ff.; ebenso mit leicht anderer Schwerpunktsetzung Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 143 ff.; ferner auch schon Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 100 ff. 1491 Siehe die Nachweise in Fn. 1408. 1492 Zu dieser Einschätzung in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 172 „hoch umstritten“; allgemein auch das Fazit von Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 88 ff.; ferner Lenski, Datenströme (Fn. 35), S. 334 „wenig geklärt“; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 453 „nicht abschließend geklärt“.
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torialen Grundrechtsgeltung postulieren, dass eine „grundsätzliche Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt für extraterritoriales Handeln nicht mehr angezweifelt“ werde1493. Vertreter restriktiverer Ansätze beharren indes darauf, dass sich „die These, wonach Art. 1 Abs. 3 GG die Geltung aller Grundrechte des GG für deutsche Stellen anordnet unabhängig davon, wo diese tätig werden“ sich „nicht durchgesetzt“ habe1494. Eine „Geltung der deutschen Grundrechte außerhalb des Bundesgebietes für Ausländer“ sei „alles andere als selbstverständlich“ 1495. Die Debatte wird auch deswegen so intensiv geführt, weil die Rechtsauslegung weitgehende praktische und politische Konsequenzen mit sich bringt – für die Überwachungsmöglichkeiten des Bundesnachrichtendienstes, mehr noch aber für staatliches Handeln in einer globalisierten Welt allgemein1496. Die prominentesten vorgeschlagenen Systeme seien – ohne einen Anspruch auf abschließende Vollständigkeit, angesichts der Vielzahl an Beiträgen, zu reklamieren – im Folgenden in wesentlichen Zügen dargestellt1497. Hierbei muss auf die grundrechtsdogmatischen Vorschläge insoweit eingegangen werden, als sich Auswirkungen auf das Fernmeldegeheimnis zeitigen. Dafür ist eine konkrete Subsumption der hier interessierenden Umstände der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung unter die jeweiligen abstrakten Deutungsansätze vorzunehmen. aa) Anknüpfung an die Rechtsprechung zum Gebietskontakt Die dritte Abhörentscheidung hat, wie dargelegt, Interpretationsspielräume gelassen, die in der Literatur aufgegriffen wurden. Die Beiträge setzen bei den Aussagen des Gerichts zum territorialen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses an. Dabei wurde vor allem die Passage hervorgehoben, in der das Bundesverfassungsgericht die Reichweite der Grundrechtsgeltung von Art. 10 I GG bei der Überwachung von Deutschen im Ausland durch die Stationierung der Überwa1493 Verallgemeinerung von Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1074; H. Dreier, in: ders., GG I (Fn. 551), Art. 1 III Rn. 44 Fn. 147, spricht von der „ganz h. M.“ 1494 Pointiert Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 51, der freilich ebenso konstatiert, dass nach vorherrschender Auffassung eine grundsätzliche Grundrechtsgeltung auch für die Ausland-Ausland-Telekommunikation anerkannt sei, Rn. 55. Hiervon geht Gusy wohl auch aus, wobei Details noch nicht geklärt seien; strikter hingegen Badura (Fn. 1198), Art. 10 Rn. 86, der davon ausgeht, dass die Meinung, dass insbesondere das Fernmeldegeheimnis eine ubiquitäre Grundrechtsgeltung entfalte, „keine allgemeine Anerkennung“ beanspruchen könne. 1495 Aus der älteren Literatur noch mit großer Gewissheit vorgetragen von T. Oppermann, Transnationale Ausstrahlung deutscher Grundrechte?, in: F. J. Kroneck/ders. (Hrsg.), Im Dienste Deutschlands und des Rechts, FS Wilhelm G. Grewe, 1981, S. 521 (523). 1496 Die Tragweite der Entscheidung unterstreicht Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 15 f. 1497 Für weitere Darstellungen sei erneut auf die Übersichten in Fn. 1490 verwiesen.
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chungsanlagen auf deutschem Boden und dem hieraus resultierenden genuine link durch Gebietskontakt mittels Erhebung und Auswertung der Daten auf deutschem Boden begründet1498. Wenn eben dieser Gebietskontakt die Grundrechtsgeltung für deutsche Telekommunikationsbeziehungen im Ausland begründe, sei kaum ersichtlich, weswegen dann nicht auch für Ausländer im Ausland der Grundrechtsschutz eröffnet sei – schließlich läge der Gebietskontakt, sofern überhaupt erforderlich, auch in diesem Fall in Form der hiesigen Abhöranlagen vor; mithin sei auch in dieser Konstellation von einer Grundrechtsbindung auszugehen1499. Eine andere Rechtsauffassung sei nach Ergehen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Fällen einer strategischen Überwachung von deutschem Staatsgebiet aus – wie etwa am DE-CIX – „in jeder Hinsicht und offenkundig [. . .] unhaltbar“ 1500. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht den Fall der Kommunikation von Ausländern im Ausland explizit aus seiner Entscheidung ausgenommen, weswegen die Vertreter restriktiver Ansätze davor warnen „verallgemeinernde Schlussfolgerungen“ über den entscheidungserheblichen Sachverhalt hinaus zu ziehen1501. Wenn es tatsächlich nur auf eine technischinformationelle Beziehung zum Gebiet der Bundesrepublik ankäme, dann sei der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, dass über die Rechtslage von Ausländern im Ausland nicht zu entscheiden sei, überflüssig und ohne Sinn1502. Das Gericht gehe vielmehr davon aus, dass Aufklärungsmaßnahmen jenseits des G 10 zulässig seien1503. Dennoch wurde die Entscheidung – wegen des unzweifelhaft vorhandenen Gebietskontaktes bei Aufklärung vom Inland aus – dahingehend verstanden, dass jedenfalls im Ergebnis ausschließlich offengeblieben sei, was gelte, wenn Ausländer im Ausland überwacht würden und die Überwachungseinrichtung des Bundesnachrichtendienstes ebenfalls im Ausland belegen sei1504. Nach diesen Ansichten schränkte sich das Problem der extraterritorialen Geltung 1498
BVerfGE 100, 313 (363 f.). So etwa Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 126; Jarass (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 7; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 227; Pagenkopf (Fn. 1226), Art. 10 Rn. 15; maßgeblich vor allem auch Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 163; ders., Rasterfahndung (Fn. 422), S. 2574; ders., Post (Fn. 589), S. 395; ferner Lenski, Datenströme (Fn. 35), S. 335; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 43; Stettner (Fn. 1198), § 92 Rn. 26; Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 374; Müller-Terpitz, „strategische Kontrolle“ (Fn. 62), S. 302; Möstl, Vorgaben (Fn. 62), S. 1397. 1500 Ostentativ Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 5, in seinem Rechtsgutachten für die DE-CIX Management GmbH. 1501 So etwa Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 16; dagegen auch entschieden Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 166. 1502 Prononciert Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 383; so schon Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 127. 1503 So Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 383. 1504 Deutung der Entscheidung bei Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 560; ders., Erhebung (Fn. 12), S. 18 f.; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 4; Lachenmann, Ende (Fn. 1164), S. 505; die Auswertung der Daten im Inland als Anknüpfungspunkt betont auch Heidebach, NSA-Affäre (Fn. 1164), S. 596. 1499
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des Fernmeldegeheimnisses faktisch erheblich ein, denn ein Großteil der Telekommunikation dürfte durch den Bundesnachrichtendienst von deutschem Boden aus erfasst werden1505. Zumindest diese Telekommunikation wäre in der Folge stets durch Art. 10 I GG geschützt, unabhängig davon, ob Deutsche grenzüberschreitend bzw. im Ausland oder Ausländer im Ausland miteinander kommunizierten. Jegliche territoriale oder staatsangehörigkeitsbezogene Differenzierung im territorialen Schutzbereich wäre damit insoweit obsolet. Noch weitergehende Deutungen leiteten eine Geltung des Fernmeldegeheimnisses daraus ab, dass spätestens bei der Auswertung der im Ausland erfassten Telekommunikation in der Bundesrepublik und deren anschließender Verarbeitung durch den Bundesnachrichtendienst der Schutzbereich eröffnet sei1506. Angesichts der isolierten Eingriffswirkung der einzelnen Datenverarbeitungsschritte1507 wäre dann auch Telekommunikation von Ausländern im Ausland, die mit Technik im Ausland erfasst wurde, spätestens ab der Verarbeitungsstufe vom Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses erfasst und damit de facto für den eigentlich entscheidenden Teil des Datenzyklus. Dabei geht diese weite Interpretation des Urteils freilich von der Prämisse aus, dass die Anknüpfungspunkte „Erfassung“ und „Auswertung“ der Telekommunikation auf deutschem Staatsgebiet1508 alternativ und nicht kumulativ zu verstehen sind1509. Das Vorliegen bereits eines Kriteriums würde dann die Grundrechtsbindung des deutschen Staates auslösen. Da eine letztendliche Auswertung und Nutzung der durch den Bundesnachrichtendienst erfassten Telekommunikationsverkehre und hieraus gebildeter Lageeinschätzungen letztendlich immer im Inland erfolgen wird, läuft diese Ansicht im Ergebnis auf eine Grundrechtsgeltung für Ausländer im Ausland in allen denkbaren Konstellationen hinaus. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im dritten Abhörurteil lässt sich auch nach mehrmaliger Lektüre in der Tat kaum anders verstehen, als von den Befürwortern einer extraterritorialen Grundrechtsgeltung des Fernmeldegeheimnisses auch für Ausländer im Ausland bei Erfassung vom Inland aus seinerzeit vorgetragen wurde, da andernfalls das vom Gericht eingeführte Kriterium des Gebietskontaktes durch die technisch-informationelle Beziehung zur leeren Formel ohne Aussagekraft geriete. Solange eine Abhöreinrichtung zur Erfassung 1505
Öffentlich zugängliche Zahlen hierzu sind freilich nicht ersichtlich. Extensive Auslegung des Urteils bei Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 47; ders., BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 163; dahingehend auch Jarass (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 7; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 6. 1507 Statt aller Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 159; ausführlich unter F. II. 1. 1508 BVerfGE 100, 313 (363). 1509 Ein alternatives Verhältnis wird abgelehnt von Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 219 f.; ebenso Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 35, der die Verarbeitung im Inland allenfalls als verstärkendes Kriterium für das Vorliegen der Grundrechtsgeltung von Art. 10 GG annehmen will; dahingehend auch Wölm, Schutz (Fn. 507), S. 71 f. 1506
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leitungsgebundener oder nicht-leitungsgebundener Telekommunikation auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik stationiert ist, besteht ein Gebietskontakt in datenspezifischer Weise. Die Befürchtung, dass durch dieses Verständnis eine „Fragmentierung des Grundrechtsschutzes“ bei der strategischen Fernmeldeaufklärung drohe, da die Anwendbarkeit von Art. 10 I GG von technischen Gegebenheiten abhängig gemacht werde, obwohl das Ziel immer die Überwachung von Ausländern im Ausland sei, geht fehl1510. Bei einer Stationierung der Überwachungseinrichtungen im Inland ergibt sich nach richtiger Lesart der Entscheidung für jeden Betroffenen, unabhängig von seinem Aufenthaltsort oder seiner Nationalität, der Grundrechtsschutz aus Art. 10 I GG1511. Nur wenn man davon ausginge, dass das Gericht implizit eine ergänzende Beschränkung auf deutsche Staatsbürger durch das Personalitätskriterium vornehmen wollte, könnte man wohl noch begründetermaßen zu einer anderen Ansicht gelangen1512. Dabei handelt es sich jedoch genauso um eine den Wortlaut der Entscheidung überschreitende Annahme, wie bei einer Bejahung des Grundrechtsschutzes für Ausländer im Ausland bei Überwachung vom Inland aus. Ebenso spekulativ bleibt die Annahme, dass schon die Auswertung in Deutschland einen ausreichenden Gebietskontakt begründet. Das Bundesverfassungsgericht formulierte 1999 hier sehr vorsichtig und ging im Ergebnis wohl von einem kumulativen Verhältnis von Erfassung und Auswertung aus, wenn es davon sprach, dass eine Auswertung der Telekommunikation „auch“ auf deutschem Boden stattfände1513. Eine jeden Restzweifel ausschließende Wertung lässt sich dem damaligen Urteil schlechterdings für keine der dargelegten Ansichten entnehmen1514. bb) Technologiespezifische Ansätze Die rasante technologische Entwicklung der paketvermittelten Telekommunikation wirkt sich auch auf die Bewertung der territorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses als einschlägiges Grundrecht aus. Angesichts des zufälligen routings der Telekommunikationsdaten über nationale oder internationale Übertragungswege und deren Unvorhersehbarkeit durch den Nutzer hinge der Schutz der Telekommunikation durch Art. 10 GG weitgehend vom Zufall ab, wenn man diesen territorial auf deutsches Staatsgebiet begrenzen wolle1515. Die „ubiquitäre Angreifbarkeit des Freiheitsrechts“ führe zu seiner „grundrechtlichen Verede1510
So aber Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 383 f. A. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 166. 1512 So aber a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 166; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 126. 1513 BVerfGE 100, 313 (363). 1514 Insoweit wie hier auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 166. 1515 Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1339; ders. (Fn. 1368), § 240 Rn. 89; HoffmannRiem, Freiheitsschutz (Fn. 1027), S. 55 f.; Schaller, Kommunikationsüberwachung (Fn. 422), S. 20. 1511
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lung“ 1516. Unerheblich sei deswegen auch der Stationierungsort der Überwachungstechnik, da andernfalls die datenerhebende Behörde ihre Grundrechtsbindung durch Verlagerung ihrer Überwachungsaktivität ins Ausland – bei Einwilligung des jeweiligen Staates – umgehen könne1517. Aus der „technischen Überlegenheit und Heimlichkeit der Überwachung“ resultiere gegenüber den Betroffenen eine „besondere Machtstellung“ 1518. Die Erweiterung des territorialen Schutzbereiches sei nur die logische Fortsetzung der Entwicklungsoffenheit des Fernmeldegeheimnisses, da auf die Bedrohung neuer Technologien auch mit einem angepassten Schutz, sowohl in sachlicher als auch räumlicher Sicht, reagiert werden müsse; der Schutzbereich sei an die räumlich erweiterten Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive anzupassen1519. Die ubiquitäre Zugriffsmöglichkeit auf Telekommunikation und der Wegfall gesichert vorbestimmter Übertragungsstrecken erfordern Antworten durch den Grundrechtsschutz. Diese müssen durchaus nicht nur auf Ebene des sachlichen Schutzbereiches durch Technologieoffenheit, sondern spiegelbildlich auch bei der geographischen Erstreckung des verfassungsrechtlichen Schutzes gegeben werden. Die technische Evolution bildet dabei sicherlich den Hintergrund des extensiven Schutzbedürfnisses durch Art. 10 I GG. Der reine Verweis – ohne zusätzliche argumentative Stützen im Verfassungstext oder dem Telos des Grundrechts – auf die technologische Entwicklung und die weiten Zugriffsmöglichkeiten auf Daten scheint indes zu pauschal um eine extraterritoriale Geltung zu begründen1520. cc) Wirkungsprinzip bei der Grundrechtsgeltung Im Feld der allgemeinen Ansätze zur Bewältigung des Problems der extraterritorialen Grundrechtsgeltung hatte das sogenannte Wirkungsprinzip, welches aufgrund von Art. 1 III GG von einer grundsätzlich territorial unbeschränkten Geltungsreichweite der Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Dimension ausgeht, weitreichende Verbreitung gefunden und kann als wohl vorherrschende Meinung gelten1521. Entsprechend seinem Namen sollen nach dem Wirkungsprinzip die 1516
Pointiert Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 89. So die Befürchtung von Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1339. 1518 Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 9, der jedenfalls bei einer Überwachung vom Inland aus einen grundrechtsrelevanten Eingriff deutscher Hoheitsgewalt bei der Überwachung von Ausland-Ausland-Telekommunikation erkennt. 1519 Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 226; M. Ogorek, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG (Fn. 1278), Art. 10 (Stand: 1.12.2019), Rn. 48; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 6; Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1339; dahingehend auch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 215 ff. 1520 Dahingehend auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 178 ff. 1521 Für das Wirkungsprinzip aus der Literatur etwa Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2222; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 195 ff.; Schiffbauer, Existenz (Fn. 1274), S. 105; grundsätzlich auch Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 8; M. Herde1517
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Grundrechte grundsätzlich überall dort gelten, wo sich deutsche Staatsgewalt auswirkt1522. Der Grundgedanke dieser Ansicht wird im frühen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Washingtoner Abkommen verortet, wo das Gericht seinerzeit aussprach, dass der deutsche Staat auch im Ausland an die Grundrechte gebunden sei, „soweit Wirkungen [. . .] [seiner] Betätigung im Ausland eintreten“ 1523. Nach diesem weiten Verständnis der Fundamentalnorm des Art. 1 III GG wäre der Bundesnachrichtendienst auch bei der Erfassung der Telekommunikation von Ausländern im Ausland an Art. 10 I GG gebunden, unabhängig auch davon, wo sich die Abhöreinrichtungen befinden1524. Bei einer Erfassung der jeweiligen Teilnehmer wirkt sich schließlich deutsche Staatsgewalt aus, wenn der Bundesnachrichtendienst die Erfassung selbst durchführt – wo die Erfassung geographisch erfolgt, kann nach dem Wirkungsprinzip für die verfassungsrechtliche Bewertung keine Rolle mehr spielen. Für das Wirkungsprinzip spricht zunächst der Wortlaut des Art. 1 III GG, der eine umfassende Grundrechtsbindung staatlicher Gewalt an die „nachfolgenden“ Grundrechte anordnet. Räumliche Beschränkungen formuliert die Norm nicht.
gen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Fn. 272), Art. 1 III (2021), Rn. 82; Ogorek, ebda., Art. 10 Rn. 47 f.; Sauer, Parameter (Fn. 1391), S. 716 f.; ohne Einschränkungen ferner Sax, Soldaten (Fn. 1391), S. 240 f.; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 226; H. D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG (Fn. 274), Art. 1 Rn. 44; Bormann, Informationsgewinnung (Fn. 92), S. 174 f.; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1074; Heidebach, NSA-Affäre (Fn. 1164), S. 596; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 4; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 560; Dreier (Fn. 1493), Art. 1 III Rn. 44; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 453; tendenziell auch P. Kunig, in: v. Münch/ders., GG I (Fn. 1206), Art. 1 III Rn. 53 ff.; dahingehend auch Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 632; ferner Kment, Verwaltungshandeln (Fn. 1440), S. 182 f.; Vitzthum, Grundrechtsgeltung (Fn. 1363), S. 1218; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 70 ff.; Baldus, Polizeirecht (Fn. 1420), S. 125 ff., 154; grundsätzlich zustimmend auch schon Schröder, Wirkkraft (Fn. 1407), S. 138, der freilich Modifizierungen mit Blick auf die Rechtsprechung des BVerfG einfordert; Qualifizierung der Meinung als vorherrschend auch durch Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 286 m. Fn. 113, unter Verweis auf Kronke, Wirkungskraft (Fn. 1401), S. 41; differenziert und mit eigener Akzentuierung des Art. 1 III GG ohne Rekurs auf die später zu prüfenden Auswirkungen staatlichen Handelns, jedenfalls aber im Ergebnis auch zustimmend Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 104 ff. 1522 Zum Begriff Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 64; Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 14; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 453; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 70 ff. 1523 BVerfGE 6, 290 (295); Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 14, sieht in der Entscheidung die Grundlage für das heute wirkmächtige „Wirkungsprinzip“ als maßgebliche Meinungsströmung in der Debatte um die extraterritoriale Grundrechtsgeltung; dem Ansatz des BVerfG folgt grundsätzlich auch Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 1364), S. 1230. 1524 Konkret zum Bundesnachrichtendienst und zur extraterritorialen Geltung von Art. 10 GG auch Schwander, Auslandsnachrichtendienste (Fn. 1399), S. 88; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 80; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 5; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 4; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 560; Müller-Terpitz, Kontrolle (Fn. 62), S. 302; Arndt, Grundrechtsschutz (Fn. 546), S. 461; Riegel, Quantensprung (Fn. 582), S. 178.
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Zudem offeriert diese Ansicht ein aufgrund seiner Einfachheit und Klarheit schon im ersten Zugriff charmantes System, welches keine grundrechtsfreien Räume staatlichen Handelns lässt und damit auf die erweiterten Handlungsmöglichkeiten der öffentlichen Gewalt auch jenseits der Staatsgrenzen sichere Antworten liefert1525. Dabei bleibt allerdings die Frage offen, welche Bedeutung der Auslegung der einzelnen Grundrechte mit Blick auf ihre räumliche Reichweite dann noch verbleibt. Zudem löst eine derart umfassende Grundrechtsbindung jenseits der Staatsgrenze bei Vielen „Unbehagen“ mit Blick auf eine potentiell allumfassende Grundrechtsbindung des deutschen Staates auch im Ausland und mögliche, hieraus resultierende Konflikte mit dem Völkerrecht aus1526 – eine Konfrontationslage, die das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung stets zu vermeiden suchte. Das Wirkungsprinzip lasse einen hinreichenden Zurechnungszusammenhang zur deutschen Staatsgewalt vermissen1527. Diese völkerrechtlichen Befürchtungen müssen zum Verständnis der Gegenansätze zum Wirkungsprinzip im Hinterkopf bleiben, da sie sich wie ein roter Faden durch die abweichenden Meinungen ziehen. dd) Territorialprinzip als abgeschwächte Demarkation zur Vermeidung völkerrechtlicher Konflikte und Beschneidung außenpolitischer Gestaltungsmacht Denklogisches Gegenstück zum ubiquitären Wirkungsprinzip wäre ein Ansatz strikt territorialer Demarkation, wonach die Grundrechte ausnahmslos nur innerhalb des deutschen Staatsgebietes gälten1528. Absolut wird dies heutzutage freilich nicht mehr vorgetragen1529. Dennoch verwiesen Vertreter eines abgeschwächten Territorialprinzips darauf, dass das Völkerrecht die Zuständigkeit des Staates im Regelfall auf das Inland begrenze und damit auch die Geltung von Recht auf das Territorium des jeweiligen Völkerrechtssubjektes1530. Nach Badura 1525 Zur Tendenz eines immer umfassenderen Grund- und Menschenrechtsschutzes, der keine Schutzlücken mehr lässt, Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 64; v. Arnauld, Auslandseinsatz (Fn. 1361), S. 70. 1526 Zu dieser Reaktion auf das Wirkungsprinzip mit hiesigem Zitat Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 15. 1527 So etwa exemplarisch Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 287; kritisch Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 118, der hierin zu Recht eine Frage des Grundrechtseingriffes, nicht aber der übergeordneten Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt sieht. 1528 Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 65, spricht von einer „idealtypische[n] Gegenthese“. 1529 Soweit der Befund bei Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 126 m.w. N. in Fn. 122; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 69, unter Verweis auf den maßgeblichen Beitrag von Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 560. 1530 Löffelmann, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 806), S. 35; Merten, Geltungsbereich (Fn. 1362), S. 331, konkret zum Fernmeldegeheimnis S. 345, das nach Merten einen territorialen Gebietskontakt voraussetzt; Badura, Territorialprinzip
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gilt grundsätzlich: „Räumlicher Geltungsbereich der Verfassung und damit auch der Grundrechte ist das Staatsgebiet Deutschlands“ 1531. Das deutsche Staatsgebiet sei in Art. 23 GG a. F.1532 bzw. seit dessen unbestreitbarem Außerkrafttreten in der Präambel ausdrücklich territorial umrissen1533, die Grundrechte gälten also grundsätzlich auch nur in diesem Territorium. Schon aus Sicht der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, welches einen introvertierten Charakter der deutschen Rechtsordnung zugrunde gelegt habe, erscheine es fernliegend, dass der Parlamentarische Rat mit dem Grundgesetz kommunikationsbezogene Grundrechtspositionen auf Ausländer in aller Welt habe erstrecken wollen1534. Aus der staatlichen Souveränität ergäben sich schließlich durchgehend völkerrechtliche Schranken bei grenzübergreifendem Wirken deutscher Staatsgewalt1535. Bei einer (zu extensiven) Geltung der Grundrechte außerhalb des Staatsgebietes drohe ein deutscher „Grundrechtsoktroi“, den es insbesondere angesichts der historischen Vergangenheit Deutschlands und der Achtung vor der völkerrechtlichen
(Fn. 1408), S. 403, 411, zur Fernmeldeaufklärung S. 405 ff.; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 1364), S. 1232 f. – nimmt ebenfalls eine regelmäßige Beschränkung der „Pflicht zur Beachtung der Grundrechte“ an, wenn Ausländer im Ausland von Maßnahmen deutscher Staatsgewalt betroffen sind; in aller Regel sei in diesen Fällen – aus Respekt vor der fremden Rechtsordnung – die Grundrechtsgeltung auf das deutsche Staatsgebiet territorial beschränkt. Ganz grundsätzlich mit diesem Ausgangspunkt stimmt Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 127 überein, der den Ansatz im Folgenden freilich mangels verfassungsrechtlicher Rechtfertigung zurückweist. 1531 Badura, Territorialprinzip (Fn. 1408), S. 405; anders nunmehr in einem aktuelleren Beitrag ders., Der räumliche Geltungsbereich der Grundrechte, in: Merten/Papier, HGR II (Fn. 1386), § 47 Rn. 4, 13, wonach nur noch ein „Bezug zur deutschen Staatsordnung und Rechtsgemeinschaft“, nicht aber „allein oder notwendig“ ein „territoriale[r] Bezug“ notwendig sei. 1532 Zum Ganzen zusammenfassend Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 207 ff.; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 68; für Art. 23 GG a. F. indes Merten, Geltungsbereich (Fn. 1362), S. 334; Oppermann, Ausstrahlungen (Fn. 1495), S. 526 f.; a. A. etwa Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 158; Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 101, der zu Recht die besondere historische Situation und die Ausgestaltung der Regelung des Art. 23 GG a. F. als „deutschlandrechtlich inspirierte Verlegenheitslösung“ betont. 1533 Für einen Verweis auf die Präambel als Geltungsbereich des Grundgesetzes Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 15; hiergegen Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 128; Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 203 ff.; Schwander, Auslandsnachrichtendienste (Fn. 1399), S. 80, die richtigerweise darauf hinweisen, dass sich aus der reinen Aufzählung der deutschen Bundesländer keine territoriale Beschränkung deutscher Grundrechte herleiten lasse. 1534 Mit der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes argumentieren etwa aus spezifisch nachrichtendienstlicher Warte Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 46; Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 15. 1535 Oppermann, Ausstrahlungen (Fn. 1495), S. 524, der in seinem Beitrag überhaupt nur Sachverhalte mit Grenzberührung zu Deutschland im Blick hat, konkret in umweltund planungsrechtlichen Konstellationen, von denen auch Ausländer jenseits der Grenze – etwa durch mögliche Emissionen – betroffen sein könnten.
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Souveränität fremder Staaten zu verhindern gelte1536. Es drohe ein „Souveränitätseingriff“, wenn die Geltung nationaler Normen auf das Territorium fremder Staaten erstreckt werde1537. Zudem wurde durch eine extensive Auslegung des Geltungsbereiches der Grundrechte eine Einschränkung politischer Gestaltungsmacht von Bundesregierung und Parlament in Bezug auf „ausländische Grenznachbarn“ befürchtet, was zumindest die Frage aufwerfe, ob nicht „das innere Verfassungsgleichgewicht zwischen berechtigten Individualinteressen und der um das Gemeinwohl willen erforderlichen Handlungsfähigkeit der Staatsorgane nach außen unzulässig gestört“ werde1538. Die auswärtigen Beziehungen des Staates seien (nur) durch das Völkerrecht und die „Selbstbehauptung“ 1539 der Staaten bestimmt und Grundrechte hätten hier nur in Fällen einer „Konkretisierung des Staatsangehörigkeitsverhältnisses“ – etwa bei diplomatischem Schutz für Deutsche – ihren Platz1540. Insgesamt dienen die beschränkt territorialen Ansätze dazu, eine Geltung der Grundrechte für Sachverhalte jenseits der deutschen Staatsgrenze – sei es als Handlungs- oder Erfolgsort – zum Ausnahmefall zu deklarieren, ihn also besonders begründungsbedürftig zu machen1541. Außerdem propagieren Vertreter dieser Strömung einen starken Gestaltungsvorbehalt der Exekutive im internationalen Handlungsrahmen untereinander souveräner Völkerrechtssubjekte, der nicht durch Grundrechte – die in die fremde Rechtsordnung einwirken könnten – eingeschränkt werden soll. Die Relativierungen im Sinne einer beschränkten territorialen Demarkation zusammen mit der postulierten Notwendigkeit erweiterter Begründungspflichten bei Erstreckung des Grundrechtsschutzes ins Ausland zeigen sich bei der Frage der extraterritorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses. So seien im Ergebnis Fernmeldeverkehre, die keinen Gebietskontakt zur Bundesrepublik aufwiesen, nicht vom Fernmeldegeheimnis umfasst bzw. die Überwachung sei kein „grundrechtlich erheblicher Eingriffstatbestand“ 1542. Ein Gebietskontakt begründet demnach zumindest dann eine Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt, wenn
1536 Prononciert zu einem drohenden „Grundrechtsoktroi“ durch die Auslandsgeltung der Grundrechte maßgeblich Merten, Geltungsbereich (Fn. 1362), S. 338; Oppermann, Ausstrahlungen (Fn. 1495), S. 531. 1537 So etwa mit hiesigem Zitat Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 381 f.; ferner auch Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 15; Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 79. 1538 So die Befürchtung bei Oppermann, Ausstrahlungen (Fn. 1495), S. 530 f.; dahingehend auch Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 119 ff. 1539 Zusammenfassung der Position durch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 65. 1540 K. Hailbronner, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, in: VVDStRL 56 (1997), S. 7 (16). 1541 So die zutreffende Analyse bei Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 66. 1542 Merten, Geltungsbereich (Fn. 1362), S. 345; Zitat bei Badura, Territorialprinzip (Fn. 1408), S. 411 f.; anders wiederum in neuerer Veröffentlichung ders. (Fn. 1531), § 47 Rn. 17, 33.
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der Handlungsort im Inland und nur der Erfolgsort im Ausland belegen ist. Die Demarkation ist also nicht absolut, die Begründung für die Auslandsgeltung findet sich – ganz wie beim Bundesverfassungsgericht – im Gebietskontakt1543. Befindet sich aber auch der Handlungsort im Ausland, sind die Ausländer im Ausland nach der beschränkt territorialen Ansicht nicht mehr vom territorialen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses abgesichert1544. Es bleiben insoweit Schutzlücken. Dies gilt auch, wenn man eine Grundrechtsgeltung im Ausland zur Sicherung außenpolitischer Gestaltungsmacht ablehnt. Hiergegen ist jedoch schon im Ansatz einzuwenden, dass die strategische Auslandstelekommunikation nicht die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik als solche determiniert oder politische Entscheidungen – die ebenfalls nicht in einem grundrechtsfreien Raum stattfinden1545 – eingeschränkt, sondern für diese erst, aber auch nur, die Informationsbasis bereitet. Eine mögliche Grundrechtsbindung der Auslandsaufklärung respektive des Bundesnachrichtendienstes bei der Überwachung von Ausländern im Ausland hat mithin allenfalls mittelbar mit den außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten zu tun. Diese werden hierdurch nicht beschränkt, wenn überhaupt wird die zur Entscheidungsfindung zur Verfügung stehende Datenlage – durch dann anzulegende Begrenzungen anhand des Verhältnismäßigkeitsmaßstabes – geschmälert. Einen unmittelbaren Auslandsbezug in Form von deutschen Amtswaltern und von diesen (mit-)betriebener Technik auf fremden Staatsgebiet kommt der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung lediglich dann zu, wenn diese tatsächlich vom Ausland aus betrieben wird1546. ee) Grundrechtsschutz durch Subordination unter staatliche Herrschaftsgewalt (1) Verfassungskollisionsrecht nach Isensee als gangbarer Mittelweg? Das bereits angesprochene System eines von Isensee postulierten Verfassungskollisionsrechtes ordnet sich – nach eigener Einschätzung – als Mittelweg zwischen Wirkungs- und Territorialprinzip ein; der eine Ansatz sei zu weit, der an1543 Strenger indes Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 389, die im Ergebnis eine Beschränkung des Schutzbereiches von Art. 10 GG, jedenfalls in seiner abwehrrechtlichen – und mithin für den Grundrechtsschutz entscheidenden – Dimension, auf das Territorium der Bundesrepublik vornehmen. 1544 Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 18 f.; so wohl auch weiterhin Badura (Fn. 1531), § 47 Rn. 17, da in diesem Falle keinerlei Gebietskontakt bestünde. 1545 Gegen eine pauschale Einschränkung von Grundrechten im Rahmen außenpolitischen Handelns des Staates bzw. aus Funktionalitätsgründen zwischenstaatlicher Kooperation Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 47 ff.; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 206 ff. 1546 Für die Anknüpfung an das Handeln von Amtswaltern für die Frage einer Normierbarkeit nachrichtendienstlicher Aufklärung im Kontext außenpolitisch determinierter Funktionsbereiche der Exekutive im Ansatz auch Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 468 f.; Nettesheim (Fn. 1407), § 241 Rn. 70.
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dere zu eng gefasst1547. Das Wirkungsprinzip sei ein Zirkelschluss, da kollisionsrechtlich zunächst ermittelt werden müsse, ob eine „Grundrechtsposition bei auslandsbezogenen Sachverhalten“ überhaupt vorliege1548. Für grundrechtlichen Schutz müsse nach deutschem Verfassungsverständnis stets ein Anknüpfungspunkt an die deutsche Staatsgewalt gegeben sein, bzw. ein genuine link nach völkerrechtlicher Lesart1549. Die Bundesrepublik könne schon aus faktischer, aber auch aus völkerrechtlicher Sicht keine „planetarische Grundrechtsverantwortung“ übernehmen – in rechtlicher Hinsicht begrenze die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes diese Expansionsbestrebungen; ein „Grundrechts-Imperialismus“ sei dem Grundgesetz fremd1550. Die Reichweite der Grundrechte müsse durch Auslegung aus der Verfassung selbst erschlossen werden, wobei die Eigenheiten jedes einzelnen Grundrechtes und deren Anwendbarkeit auf die unterschiedlichen Sachverhalte zu berücksichtigen seien1551. Da die Verfassung zu ihrer Geltungsreichweite aber schweige, müsse ein „Anknüpfungspunkt außerhalb der Grundrechte“ gefunden werden1552. Grundgedanke des Konzeptes Isensees ist daher, dass Grundrechtsschutz die „Subordination“ eines Individuums unter staatliche Herrschaftsmacht voraussetze1553. Grundrechte sind – prägnant gefasst – demnach das „Korrelat einer Statusbeziehung zum Staat“ 1554. Wer der deutschen Staatsgewalt im status passivus unterworfen sei, erhalte deswegen den Schutz der Grundrechte – diese „Subjektion“ bilde nach Jellinek „die Basis aller staatlichen Wirksamkeit“ 1555. Der Status als Grundrechtsträger ergäbe sich dabei entweder aus der Staatsangehörigkeit – also dem Personalitätsprinzip – oder dem Gebietskontakt respektive dem Territorialprinzip1556. Der Gebietskontakt bedinge dabei den Aufenthalt des Individuums auf deutschem Staatsgebiet oder die Belegenheit eines Gegenstandes – etwa eines Grundstückes – in der Bundesrepublik1557. 1547 Maßgeblich der wohl in der Debatte um die extraterritoriale Grundrechtsgeltung mit am meisten zitierte Beitrag von Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 82 ff.; zuvor schon grundlegend ders., Stellung (Fn. 1400), S. 60 ff. 1548 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 83. 1549 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 79. 1550 Ostentativ Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 79. 1551 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 80. 1552 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 83. 1553 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 78; dafür auch mit gleichartigem Konzept Quaritsch (Fn. 1381), § 120 Rn. 76; aus der neueren Literatur teilt diese Einschätzung auch C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., GG I (Fn. 1184), Art. 1 III Rn. 212; ebenso Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 46, der explizit von notwendiger „Subordination“ spricht. 1554 Prägnant Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 561, der den Ansatz konzise zusammenfasst. 1555 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 84. 1556 So resümiert von Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 84. 1557 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 85; insoweit gleichlautende Folgerung bei Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 1364), S. 1233 m. Fn. 261, der auch auf den frühen Beitrag von Isensee, Stellung (Fn. 1400), S. 62 abstellt.
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Der Handlungs- oder Erfolgsort staatlicher Gewalt ist mithin irrelevant1558. Deutsche Staatsbürger seien qua ihres Personalstatus unabhängig vom Aufenthaltsort geschützt1559. Für das Fernmeldegeheimnis ist die hieraus resultierende Konsequenz besonders interessant: Mangels Gebietskontaktes seien die Grundrechte auf im Ausland lebende Ausländer grundsätzlich unanwendbar, da sie nicht der deutschen Hoheitsgewalt unterworfen seien und mithin ein Anknüpfungspunkt fehle1560; im Ergebnis reduziere sich „die Auslandsgeltung der Grundrechte auf die Staatsangehörigkeit“ – Jedermann-Grundrechte würden zu Deutschengrundrechten1561. Eine Ausnahme gelte nur für „finales Staatshandeln über die Grenze hinweg“ oder jenseits des Staatsgebietes, da hier die Individuen faktisch deutscher Hoheitsgewalt unterworfen würden, der status negativus werde ihnen also gleichsam „aufgenötigt“ 1562. In diesem Fall der aufgedrängten „Subjektion“ soll der Grundrechtsschutz erst durch den Eingriff deutscher Staatsgewalt aktiviert werden1563. Die völkerrechtliche Zulässigkeit dieses extraterritorialen finalen Staatshandelns sei dabei unerheblich1564. Demnach wären im Ergebnis zunächst nur Deutsche und Ausländer, die sich im Inland aufhalten, sowie Deutsche im Ausland vom Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses aufgrund des Gebietskontaktes qua physischem Aufenthalt bzw. aufgrund des Personalstatuts erfasst. Die Belegenheit der Überwachungsanlagen auf deutschem Staatsgebiet kann nach dieser Ansicht hingegen keine Rolle spielen, da sie die Präsens der natürlichen Person im Inland nicht zu ersetzen vermag. Schutz durch das Fernmeldegeheimnis könnte Ausländern im Ausland nur dann zukommen, wenn man in der strategischen Telekommunikationserfassung ein finales Staatshandeln erblicken wollte, welches die Subjektion auslöst. Ob eine rein datenspezifische Verbindung in Form virtuellen Staatshandelns hierfür ausreichen würde, bleibt indes fraglich; die von 1558
So die Deutung von Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 70. Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 86. 1560 So auch die allgemeine Wertung des Konzepts durch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 79; Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 145; Bungert, Gleichbehandlung (Fn. 1400), S. 236, spricht davon, dass der Ausländer nach Isensee erst bei der Einreise in das Bundesgebiet „Untertan“ des Staates werde und mit der Herrschaft der Gesetze auch der Grundrechtsschutz einsetze. 1561 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 87; so auch die Schlussfolgerung von Quaritsch (Fn. 1381), § 120 Rn. 77. 1562 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 90, als Beispiele nennt Isensee den „Schuss über die Grenze“ oder die „Nacheile und Festnahme“ bereits außerhalb des Bundesgebietes; kritisch zur Begründung eines Subordinationsverhältnisses durch faktische Einwirkung Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 285, der auf Widersprüchlichkeiten in Einzelfallen hinweist. 1563 Zur Grundrechtsgeltung bei finalem Staatshandeln nach Isensees Verständnis auch Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 561; Bungert, Gleichbehandlung (Fn. 1400), S. 230, nutzt den Terminus „Subjektion“ für die finale Gewaltunterwerfung durch deutsche Staatsgewalt. 1564 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 90. 1559
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Isensee gebildeten Beispiele des Schusses über die Grenze oder der Nacheile stellen sich vielmehr ausschließlich als physische Einwirkungen dar1565. Zu Recht wurde jedoch hinterfragt, warum nicht bereits eine rein juristische Einwirkung – etwa in Form deutschen Steuerrechts – für den Subjektionsstatus ausreiche1566. Eine derartige Ausweitung des Modells Isensees bleibt aber Spekulation und findet in den Beiträgen des Autors keinen Halt, schließlich klammert dieser auch grenzüberschreitende Emissionen als rein faktische Beeinträchtigungen und militärische Aktionen – die nur dem Völkerrecht unterfielen – aus dem Sonderfall des finalen Staatshandelns aus1567. Die Fallkategorie bleibt damit insgesamt zu unklar, um sichere Aussagen in Bezug auf das Fernmeldegeheimnis gewinnen zu können und im Ergebnis auch inkonsequent, da denklogisch jedes staatliche Handeln ein Subjektionsverhältnis – freilich unterschiedlichen Gewichts – auslösen könnte. (2) Rein völkerrechtlich determinierte Zuständigkeitsabgrenzung Einen von Isensee inspirierten, zugleich aber noch mehr am Völkerrecht orientierten Ansatz verfolgt Heintzen1568. Ausgangspunkt sei Art. 1 III GG, wobei das Merkmal der staatlichen Gewalt ein „territorial und personal definiertes Grundverhältnis“ des Grundrechtsberechtigten voraussetze1569. Konkrete Konturen gäbe diesem „grundrechtlichen Statusverhältnis die völkerrechtliche Zuständigkeitslehre“, welche als Kriterium in Art. 1 III GG verankert sei1570. Mit diesem Ansatz sei es möglich, „Grundrechtskollisionen mittels eines normativen Kriteriums zu begrenzen“ 1571. Dementsprechend reiche die Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt extraterritorial soweit wie sie völkerrechtlich zuständig sei, was dann der Fall sei, wenn der Staat seine innere Souveränität ausdehnen dürfe1572. Dafür bedürfe es – ganz im Sinne der hergebrachten völkerrechtlichen Lehre – 1565 Zu diesem Problem in Bezug auf die EMRK auch Schwander, Auslandsnachrichtendienste (Fn. 1399), S. 87 mit Verweis auf Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 96 f. 1566 Offenbar rhetorische Frage bei Kronke, Wirkungskraft (Fn. 1401), S. 43; auf ihn verweist auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 73, der ebenfalls die Unklarheiten der Kategorie des finalen Eingriffes kritisiert. 1567 Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 89 f. m. Fn. 201; insoweit anders wohl Starck (Fn. 1553), Art. 1 III Rn. 212. 1568 Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 96 ff.; ihm folgt explizit Schorkopf, Überstaatlichkeit (Fn. 1179), S. 124 f. – obschon er konstatiert, dass sich dieses Modell gegen die h. M. nicht habe durchsetzen können. 1569 Schorkopf, Überstaatlichkeit (Fn. 1179), S. 124 f.; Zitat bei Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 97; nach Heintzen sei Art. 1 III GG die einschlägige Verfassungsnorm, was weitgehend Zustimmung fände, S. 99 f. 1570 Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 97; entschieden hiergegen Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 139 f. 1571 Schorkopf, Überstaatlichkeit (Fn. 1179), S. 125, über den Ansatz Heintzens, den er für die vorzugswürdigste Lösung hält. 1572 Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 97.
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eines genuine links1573. Dieser sei vor allem bei „physischer Präsenz auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik“ und bei deutschen Staatsbürgern gegeben1574. Der Ausländer im Ausland bleibt bei Heintzen schlicht ohne Grundrechtsschutz1575, da er nicht einmal finales Staatshandeln und hierdurch aufgedrängte Subjektion als grundrechtserheblichen Vorgang ansieht1576. In dieser, von Isensee noch anerkannten Fallgruppe, fehlt nach der Ansicht Heintzens der territoriale Anknüpfungspunkt. Zudem sei der Staat völkerrechtlich für diese Fälle nicht zuständig1577. Die deutsche Staatsgewalt sei nur überall dort an Grundrechte gebunden, wo sie völkerrechtlich zulässigerweise hinreiche; wenn der Staat hingegen seine Zuständigkeit überschreite, folgten die Grundrechte „der deutschen Staatsgewalt nicht nach“ 1578. Völkerrechtswidriges Handeln sorge demnach für die Unanwendbarkeit der Grundrechte, wenn etwa – so das Beispiel des Autors – deutsche Beamte des Bundesnachrichtendienstes im Ausland Spionage betrieben1579. Überdies sei die Bundesregierung bei auswärtigem Handeln „in keiner Weise“ grundrechtlich gebunden1580. Auf das Fernmeldegeheimnis angewendet, wäre hiernach die Telekommunikation von Ausländern im Ausland nicht vom Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses umfasst, ihnen fehlen schließlich der Gebietskontakt sowie das Personalstatut als möglicher Anknüpfungspunkt. Die Stationierung der Abhörtechnik innerhalb der Bundesrepublik vermag an diesem Befund nichts zu ändern. Wenn man den Gedanken der völkerrechtlichen Zuständigkeit als zentralen Maßstab extraterritorialer Grundrechtsgeltung stringent weiterverfolgt, müsste sich bei der Erfassung von Ausland-Ausland-Telekommunikation vom Ausland aus jedoch ein anderer Befund ergeben, jedenfalls dann, wenn die Erfassung mit Erlaubnis des ausländischen Staates erfolgt, was regelmäßig der Fall sein dürfte. Durch die Einwilligung eines anderen Staates würden die „internationalen Entfaltungsmöglichkeiten“ deutscher Staatsgewalt „punktuell [völkerrechtskonform] erweitert“ und damit „der Anwendungsbereich der Grundrechte“ 1581. Somit ergäbe sich in 1573 Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 129; Schorkopf, Überstaatlichkeit (Fn. 1179), S. 125, merkt indes an, dass dieses Kriterium wenig konkret sei, obwohl er die Ansicht ansonsten teilt. 1574 Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 132 ff. 1575 Wertung der Position Heintzens so auch bei Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 561; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 80. 1576 Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 101 f., der seine rhetorische Frage, ob ein Panzerschuss über die Grenze auf ein Haus eine Grundrechtsverletzung darstellt oder nicht, selbst ablehnend beantwortet. 1577 Zusammenfassung der Position durch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 76. 1578 Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 118. 1579 Explizit Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 143. 1580 Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 120. 1581 So explizit zur menschlichen Spionage auf fremdem Staatsgebiet mit Erlaubnis dieses Staates Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 143, der folgerichtig von einer Grundrechtsgeltung aufgrund völkerrechtlich konformen Staatshandelns ausgeht.
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der reinen Auslandskonstellation eine Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt, nicht aber bei einer Überwachung von deutschem Staatsgebiet aus. (3) Überhöhung verfassungspolitischer und völkerrechtlicher Prämissen Das gesamte Modell des Grundrechtsschutzes durch Subordination ist von dem Gedanken geprägt, dass Grundrechte eine Gegenleistung des Staates an seine Untertanen seien und diesen – und nur diesen – zustünden, da sie seiner Herrschaftsmacht auf seinem Territorium, durch die Staatsangehörigkeit oder durch aufgedrängte Subjektion, ausgesetzt sind1582. Dabei sind Grundrechte „keine honore Geste des Staates“ an seine Gewaltunterworfenen, sondern „verfassungsrechtliche Bedingungen legitimer Herrschaftsausübung“ 1583. Die Idee eines – maßgeblich verfassungspolitisch geprägten – Statusverhältnisses ist mit einer rein dogmatischen Auslegung der Verfassung – aus der sich ja auch nach Isensee die Reichweite der Grundrechtsgeltung selbst ergeben soll – nicht zu erreichen, es handelt sich vielmehr um eine „Ebenenverwechselung“ zwischen allgemeiner Staatslehre und Grundrechtsauslegung1584. Zudem geht die Ansicht vom tradierten Modell einer primär innerstaatlichen Grundrechtsgeltung als Kompensation der Gewaltunterwerfung des Einzelnen auf dem Staatsgebiet aus, die historisch gesehen unbestreitbarer Kern des Grundrechtsschutzes ist. Die heutigen Rahmenbedingungen staatlichen Handelns in einer globalisierten Welt lassen extraterritoriale Unternehmungen des Staates hingegen vom Ausnahme- zum Normalfall werden; hierauf kann die Lehre vom Verfassungskollisionsrecht im Sinne Isensees nicht flexibel genug reagieren1585. In diesem Sinne wurde ferner zu Recht kritisiert, dass das Modell die große Bandbreite möglicher Sachverhalte nicht erfassen könne und damit insgesamt zu starr sei, da es nur die Extreme des vollen oder keines Grundrechtschutzes kenne1586. Der noch restriktivere Ansatz von Heintzen hat zu Recht Widerspruch insbesondere dahingehend erfahren, dass er das Völkerrecht pauschal gegen die Grundrechte in Stellung bringe bzw. deren Geltung hiermit ausschließlich verbinde1587. Rein normhierarchisch könne dem 1582 In diese Richtung VG Köln, Urteil v. 27.5.2015, 3 K 5625/14, juris, DokumentNr. JURE150008938, Rn. 34; insbesondere Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 567 f.; maßgeblich auch Kronke, Wirkungskraft (Fn. 1401), S. 43. 1583 So pointiert zu Recht Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 568. 1584 So zu Recht Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 73, 216 f.; hierzu auch ausführlich Schiffbauer, Existenz (Fn. 1274), S. 99 ff.; zur mangelnden Verankerung des Statusverhältnisses im Grundgesetz ebenfalls Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 132 – Mangel an „normtextlicher Verankerung“; Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2222; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1074. 1585 Zu den veränderten Prämissen des Grundrechtsschutzes in der „internationalen Situation“ maßgeblich Kronke, Wirkungskraft (Fn. 1401), S. 42; ihm folgend etwa Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 147 f. 1586 Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 211. 1587 So pointiert Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 567.
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Völkerrecht kein allgemeiner Vorrang vor nationalem Recht, insbesondere vor dem Grundgesetz, zukommen1588. Vor allem sei nicht ersichtlich, weswegen gerade völkerrechtswidriges Handeln die Reichweite der Grundrechte beschränken solle1589. Die Völkerrechtswidrigkeit kann kein „Privilegierungsgrund“ sein, die deutsche Staatsgewalt von ihren innerstaatlichen, verfassungsrechtlichen Bindungen schlechterdings freizustellen1590. Wenn dem so wäre, könnte sich der Staat gerade durch völkerrechtswidriges Handeln im Ausland – etwa bei Bundeswehreinsätzen – seiner Grundrechtsbindung entziehen1591. Eine Flucht vor der Grundrechtsgeltung in die Völkerrechtswidrigkeit wäre eine mögliche Folge. Zudem zeigt gerade die konkrete Anwendung der Ansicht von Heintzen auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse seiner rein völkerrechtlich geprägten Zuständigkeitsabgrenzung. Bei einer Überwachung von Ausländern im Ausland vom Inland aus wäre der Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses nicht eröffnet, bei einer Überwachung vom Ausland aus – mit Einwilligung des Stationierungsstaates – hingegen schon, ohne diese wiederum nicht. Ein System inkonsequenten Schutzes entstünde, in dem der Staat allein durch die Ausgestaltung der Überwachungsumstände über die Grundrechtsgeltung disponieren könnte. Diese Bestimmungsmacht des Staates ist dem Grundgesetz jedoch fremd, es bindet staatliche Gewalt bei all ihren Handlungen und ermöglicht keine Fluchten. ff) Der Bundesnachrichtendienst als illegaler Akteur im Ausland? Stichwort Flucht: Einen gänzlich anders gelagerten, explizit auf die Situation des Bundesnachrichtendienstes zugeschnittenen – und deswegen besonders einschlägigen – Ansatz verfolgt Gärditz1592. Er hält zunächst, in Anlehnung an die Vertreter des Wirkungsprinzips, fest, dass Art. 1 III GG die Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland „prinzipiell“ an die Grundrechte binde1593. „Eine generelle Ausnahme für [. . .] extraterritoriales Handeln – in Sonderheit des Auslandsnachrichtendienstes – besteht also nicht“ 1594. Soweit deutsche Staatsgewalt als 1588 Hierzu eingehend Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 136 ff.; Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 567. 1589 Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 139 f.; kritisch insbesondere Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 567, „schlechterdings nicht erklärbar“; H. Krieger, Die Reichweite der Grundrechtsbindung bei nachrichtendienstlichem Handeln, in: Berliner Online-Beiträge zum Völker- und Verfassungsrecht, 2008, S. 5, abrufbar unter https://www.jura.fu-berlin. de/fachbereich/einrichtungen/oeffentliches-recht/lehrende/kriegerh/berliner_online_bei traege/Nr1-08_Krieger/index.html (26.8.2019); Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 88 ff. 1590 So auch zu Recht Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 139; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1075. 1591 Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 78; Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 470; diese Konsequenz zeigt auch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 90, auf. 1592 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 463 ff. 1593 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 472. 1594 Eindeutig Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 472.
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Hoheitsgewalt reiche, sei sie an die Grundrechte gebunden – insbesondere sei die vom Bundesnachrichtendienst vertretene „Weltraumtheorie“ abzulehnen1595. Hieraus ergebe sich aber ein rein abstrakter Befund, über die konkrete Reichweite der jeweiligen Grundrechte sei damit noch nicht entschieden1596. Auch Gärditz verlangt nämlich einen „Zurechnungsgrund“ zur deutschen Staatsgewalt, der typischerweise in der Territorial- und Personalhoheit zu finden sei1597. Es sei ein „Mindestmaß an territorialer Kontrolle“ notwendig, eine Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt entfalle dann, wenn diese nicht mehr als Hoheitsträger in Erscheinung trete und mithin auch keine Herrschaftsgewalt ausüben könne1598. Hieraus zieht der Autor sodann eine für den Bundesnachrichtendienst und seinen Auftrag zur Auslandsaufklärung weitreichende Konsequenz: Werde durch den deutschen Staat – respektive seine Organwalter – ein Geschehen im Ausland nur graduell beherrscht, dann manifestiere sich keine staatliche Hoheitsgewalt, sondern „die Ausübung kontralegaler Macht, die auch eine kriminelle Bande haben könnte“ 1599. Bei heimlichen nachrichtendienstlichen Operationen im Ausland könne der Bundesnachrichtendienst weder faktisch noch völkerrechtskonform Hoheitsgewalt ausüben, sein Handeln sei mangels möglichen Zwangscharakters kein „Ausdruck eines hoheitlichen Regelungsanspruches“ 1600. Agenten des Bundesnachrichtendienstes handelten demnach bei heimlichen Operationen im Ausland als Private unter vollem persönlichem Risiko, insbesondere mit Blick auf die Strafbarkeit ihrer Handlungen unter dem Recht des Zielstaates1601. Diese Grundsätze überträgt Gärditz im Ansatz auf die „extraterritoriale Telekommunikationsüberwachung“ 1602. Die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus sei, wenn sie heimlich Telekommunikationsinfrastruktur im Ausland anzapfe, „kein Grundrechtseingriff, weil insoweit nicht in Ausübung hoheitlicher Gewalt gehandelt würde“ 1603. Der Gedanke des – grundrechtsungebundenen, privat(rechtlich) – klandestin operierenden Spions in Feindesland, der selbst Informationen sammelt und als Führungsoffizier dabei etwa menschliche Quellen führt und abschöpft, wird so mit der technisch anspruchsvollen SIGINT1595 1596
Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 472. Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 473 unter Verweis auf BVerfGE 100, 313
(362). 1597
Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 472 f. Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 474. 1599 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 475; ihm folgt bei der Argumentation Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 15; auf das Handeln von Organwaltern für die deutsche Staatsgewalt rekurriert im Grundsatz – freilich mit anderem Ergebnis dahingehend, dass Organwalter des BND gerade eine notwendige Verbindung herstellten – auch Stettner (Fn. 1198), § 92 Rn. 26. 1600 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 475. 1601 So ausdrücklich Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 475. 1602 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 478. 1603 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 479. 1598
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Aufklärung paketvermittelter Telekommunikation in Glasfaserkabeln jedenfalls grundsätzlich gleichgesetzt – ein Vergleich, der mit der Umschreibung als „anzapfen“ von „Knotenpunkten im Ausland“ 1604 letztlich technisch unterkomplex bleibt und daher im Ergebnis nicht anschlussfähig erscheint. Der Bundesnachrichtendienst wird im Ausland häufig mit den zuständigen Behörden kooperieren (müssen), die ihm begrenzten Zugang zur Telekommunikationsinfrastruktur ermöglichen1605. Jedenfalls die Massendatenerfassung von Glasfaserkabeln dürfte technisch zu komplex sein, als dass sie durch vor Ort operierende Agenten durch reines „anzapfen“ von Leitungen zu realisieren wäre. Dies dürfte eher seltener – vor allem im Bereich konkreter Überwachungsmaßnahmen im Einzelfall – dem tatsächlichen Einsatzumfeld entsprechen. Bei einer strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung vom Inland aus sei bei der Überwachung von Telekommunikation von Ausländern im Ausland zwar der Gebietskontakt gegeben, ein Grundrechtseingriff läge jedoch nur vor, wenn darüber hinaus auch eine Individualisierung der einzelnen Personen stattfände1606. Dadurch wird jedoch eine Verlagerung der Frage der Eröffnung des territorialen Schutzbereiches auf die Eingriffsebene vorgenommen – auf die Notwendigkeit einer Individualisierung von Grundrechtsträgern als konstitutive Voraussetzung eines Eingriffes in das Fernmeldegeheimnis wird an gegebener Stelle noch zurückzukommen sein. Gärditz Modell eines im Ausland nicht hoheitlich, sondern privat agierenden Bundesnachrichtendienstes erinnert instinktiv an den Grundsatz „keine Flucht ins Privatrecht“, der das Verbot einer Umgehung grundrechtlicher Maßstäbe bei privatwirtschaftlichem Handeln der Verwaltung lehrbuchgerecht zusammenfasst1607. Genau diese Flucht ermöglicht die Ansicht jedoch – obschon der Autor richtigerweise selbst auf die weitgehende Anerkennung der Fiskalgeltung der Grundrechte im Inland hinweist – diesen Gedanken aber für im Ausland unanwendbar erklärt1608. Damit könnte der Staat auch nach dieser Ansicht über seine Grundrechtsbindung durch den Einsatz von Beamten im Ausland disponieren1609. Der 1604
So ausdrücklich Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 479. So jedenfalls die Beschreibung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung bei Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 3, § 7 BNDG Rn. 1. 1606 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 480. 1607 Zur weitgehend anerkannten Grundrechtsbindung bei fiskalischem Handeln der öffentlichen Hand statt vieler Herdegen (Fn. 1521), Art. 1 III Rn. 121 f.; Dreier (Fn. 1493), Art. 1 III Rn. 66 ff., jeweils m.w. N.; zur umfassenden Geltung der Grundrechte bei Handeln des Staates unabhängig von der gewählten Rechtsform BVerfGE 128, 226 (245); zum Gedanken der Flucht ins Privatrecht beim Ansatz von Gärditz auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 86; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 151, spricht von einer „Privatisierungstheorie“. 1608 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 475 f. m. Fn. 93 m.w. N. 1609 Zu dieser Eröffnung der Wahlmöglichkeit kritisch auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 86, der Gärditz vorhält, dieser schaffe einen „janusköpfigen Staat“, der sich entscheiden könne, ob er sich der Grundrechtsbindung im Ausland entledige; ebenfalls ablehnend Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 151. 1605
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Staat darf sich aber nicht durch Einschaltung von Privatpersonen – oder die Ausflaggung der Tätigkeiten hoheitlicher Organwalter als solcher – seiner Grundrechtsbindung entziehen1610. Es wurde ferner zu Recht darauf hingewiesen, dass der Bundesnachrichtendienst und seine Beamten auch im Ausland in die „demokratischen Legitimationszusammenhänge des Bundes eingebunden“ blieben und sich aller „Privilegien, Kontakte und Immunitäten eines staatlichen Nachrichtendienstes“ bedienen könnten, weswegen weiterhin Staatsgewalt im Sinne des Art. 1 III GG ausgeübt werde1611. Zudem erscheint die Auslegung des Merkmales der Ausübung öffentlicher Gewalt als Hoheitsgewalt, die ein Mindestmaß territorialer Kontrolle bedinge – die den Agenten im Ausland ja abgehen soll –, zu sehr an physischen Ausprägungen orientiert und zu wenig auf die heutigen Realitäten der virtuellen Eingriffsmöglichkeiten auf digitale Telekommunikation bezogen1612. Insgesamt ist diese Ansicht zwar innovativ in ihrem Ansatz, bereits die Ausübung deutscher Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 1 III GG bei extraterritorialem, heimlichen Handeln des Bundesnachrichtendienstes bei der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus zu verneinen und hierdurch die Streitfrage der Auslandsgeltung des Fernmeldegeheimnisses abzuschichten. Zu überzeugen vermag die „Privatisierung“ nachrichtendienstlicher Tätigkeit als eindeutig im staatlichen Auftrag stehend – die Agenten vor Ort handeln schließlich auf Weisung und nicht bei Gelegenheit zum persönlichen Vergnügen – trotzt mangelnden Zwangscharakters, der aufgrund des Trennungsprinzips mit Verfassungsrang auch im Inland dem Bundesnachrichtendienst unbestreitbar nicht zustünde, im Ergebnis nicht1613. Die Tatsache, dass das deutsche Sicherheitsverfassungsrecht den Nachrichtendiensten – zu Recht und mit Verfassungsrang – niemals exekutive Befugnisse verleiht, zeigt, dass eine Differenzierung zwischen In- und Ausland anhand dieses Kriteriums schon nicht tragfähig ist. Bei heimlichen Handlungen im Inland – wiederum ohne Zwangsbefugnisse – würde schließlich niemand ernsthaft bestreiten, dass der Bundesnachrichtendienst und seine Agenten hoheitlich handeln und in der Konsequenz selbstredend in Grundrechte Eingreifen. Derselbe Befund ergibt sich daher aber auch im Ausland. Der Bundesnachrichtendienst handelt mithin beim Einsatz von Agenten als Organwalter und bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus stets hoheitlich. g) Zäsur durch das Urteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Die mit der wohl größten Spannung erwartete Aussage des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ist 1610
Dahingehend auch Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 184 f. m. Fn. 177. So die berechtigte Kritik von Durner, Anmerkung (Fn. 2239), S. 446, an der Position von Gärditz. 1612 Zu Recht Brissa, Entwicklungen (Fn. 485), S. 771. 1613 Dahingehend auch Schiffbauer, Existenz (Fn. 1274), S. 99; Schwander, Auslandsnachrichtendienste (Fn. 1399), S. 82; ders., Wirkungen (Fn. 16), S. 86 f., 226. 1611
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sicherlich diejenige zur Reichweite der Bindung der deutschen Staatsgewalt und des Gesetzgebers an die Grundrechte des Grundgesetzes. Wie bereits überblicksartig dargelegt, hat der Erste Senat sich erstmals – anders als 1999 – nicht um eine Entscheidung herumwinden können und vermutlich auch gar nicht wollen. Im ersten Leitsatz sowie dem den Abschnitt einleitenden Obersatz hält das Bundesverfassungsgericht fest, dass Art. 10 I GG und 5 I 2 GG „auch gegenüber einer Telekommunikationsüberwachung von Ausländern im Ausland“ gelten1614. aa) Art. 1 III GG als verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung einer umfassenden Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt Dogmatisch verortet der Erste Senat – wie zahlreiche Stimmen im Schrifttum – die „umfassende Bindung“ deutscher Staatsgewalt in Art. 1 III GG1615. „Einschränkende Anforderungen, die die Grundrechtsbindung von einem territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder der Ausübung spezifischer Hoheitsbefugnisse“ abhängig machten, ließen sich „der Vorschrift nicht entnehmen“ 1616. Damit ist geklärt, dass jedenfalls für das Bundesverfassungsgericht Art. 1 III GG nicht nur „Ansatzpunkt“ für die Frage der Reichweite der Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt ist1617, sondern auch deren Lösung beinhaltet. Der Erste Senat spricht sich eindeutig dagegen aus, dass sich aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes eine territoriale Beschränkung ergäbe und deutet Art. 1 III GG vielmehr als eine Absage an die „nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherschafft“, die auch schon 1949 in die Überzeugung eingebettet gewesen sei, dass Deutschland einen Platz in der „internationalen Staatengemeinschaft“ finden müsse1618. Diese Einbindung komme schon in der Präambel und den Art. 24 und 25 GG zum Ausdruck1619. Zwar seien die technischen Fähigkeiten eines Auslandsnachrichtendienstes zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung damals selbstredend noch kein Thema gewesen, hieraus und aus der Genese der Verfassung ergäbe sich indes nicht, dass deren Geltung territorial beschränkt sein solle; im Gegenteil spräche viel dafür, dass die Grundrechte überall dort gelten sollten, wo deutsche Staatsgewalt handele und mithin Schutzbedürftigkeit entstehen könne, „unabhängig davon, an welchem Ort und gegenüber wem“ 1620. Damit schließt sich das Bundesverfassungsgericht in der Sache dem
1614 BVerfGE 154, 152 (215, Rn. 87) – die nachfolgenden Rn. dieses Abschnitts beziehen sich, sofern nicht anderweitig ausgewiesen, auf das vorgenannte Urteil des BVerfG. 1615 Rn. 88. 1616 Rn. 88. 1617 So noch BVerfGE 100, 313 (362). 1618 Rn. 89. 1619 Rn. 89. 1620 Rn. 89.
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Wirkungsprinzip an, dass deutsche Staatsgewalt, dort wo sie sich auswirkt, an die Grundrechte gebunden ist, ohne dies freilich ausdrücklich herauszustellen. Überlegungen zu territorialen Anknüpfungspunkten in Form der Belegenheit von Überwachungseinrichtungen des Bundesnachrichtendienstes oder der durch Überwachung gewonnenen Weiterverarbeitung und Nutzung von Daten auf deutschem Staatsgebiet, wie sie noch im dritten Abhörurteil angeklungen waren, greift der Erste Senat in der Folge gar nicht mehr auf. Der Idee einer auf bestimmte Konstellationen beschränkten Grundrechtsbindung, nämlich nur in Fällen, in denen der Staat dem Einzelnen „als mit dem Gewaltmonopol versehene Hoheitsmacht“ gegenübertritt, erteilt das Bundesverfassungsgericht ferner eine klare Absage und verneint mithin Bereichsausnahmen grundrechtsungebundenen staatlichen Handelns1621. Dies lasse sich insbesondere nicht daraus herleiten, dass Art. 1 III GG nicht auf die deutsche Staatsgewalt als solche verweise, sondern unterschiedliche staatliche Funktionen benenne1622. Dies sei vielmehr historisch mit der Grundrechtsnovelle der Wehrverfassung 19561623 zu erklären, welche eine Klarstellung dahingehend habe erreichen wollen, dass auch die Bundeswehr an die Grundrechte gebunden sei1624. Die Grundrechte bänden die staatliche Gewalt stattdessen umfassend, unabhängig von „Funktionen, Handlungsformen oder Gegenständen staatlicher Aufgabenwahrnehmung“ und nicht nur bei imperativen Maßnahmen1625. Überlegungen eines Grundrechtsschutzes nur aufgrund von Subordination unter staatliche Hoheitsgewalt gleichsam als Gegenleistung für die Gewaltunterworfenheit des Einzelnen lehnt das Bundesverfassungsgericht mithin zu Recht ab. Grundrechte gelten, wenn und weil der Staat überhaupt handelt, von der Handlungsform oder der Zugriffsdimension bzw. deren Auswirkungen ist ihre Geltung nicht abhängig. Zugleich erteilt der Erste Senat hier allgemein schon Überlegungen eine Absage, gewisse Bereiche staatlichen Handelns – wie die Tätigkeit der Nachrichtendienste im Ausland – aus der Grundrechtsbindung auszunehmen. Ganz grundlegend resümiert das Bundesverfassungsgericht, abschließend zu seiner Auslegung von Art. 1 III GG, noch, dass von der Grundrechtsbindung alle „Maßnahmen, Äußerungen und Handlungen hoheitlicher wie nicht hoheitlicher Art“ erfasst seien, ergo jedes Handeln staatlicher Organe oder Organisationen, „weil es in Wahrnehmung ihres dem Gemeinwohl verpflichteten Auftrags“ erfolge1626. 1621
Rn. 90. Rn. 90. 1623 BGBl. I S. 111. 1624 Rn. 90; zum Hintergrund der Einfügung der Wehrverfassung in das Grundgesetz und der Ersetzung des Terminus „Verwaltung“ durch „vollziehende Gewalt“ instruktiv auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 191; Herdegen (Fn. 1521), Art. 1 III Rn. 9; Dreier (Fn. 1493), Art. 1 III Rn. 6; Kunig (Fn. 1521), Art. 1 III Rn. 60. 1625 Rn. 91. 1626 Rn. 91. 1622
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bb) Internationale Einbindung durch das Grundgesetz und der Blick Richtung Straßburg Der erste Senat weitet sodann den Blick über die nationale Rechtsordnung hinaus und konstatiert, dass die Auslandsgeltung der Grundrechte zugleich der „Einbindung der Bundesrepublik in die internationale Staatengemeinschaft“ entspreche1627. Durch Art. 1 II GG bekenne sich das Grundgesetz zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als „universalistische Einbindung“ des Grundrechtsschutzes und differenziere teilweise zwischen Deutschen- und Menschenrechten1628; eine Begrenzung eben der Menschenrechte auf das Inland fände aber im Wortlaut der Verfassung, insbesondere der Präambel, und der Systematik der Abs. 2 und 3 des Art. 1 GG sowie in der ständigen Rechtsprechung, wonach die Grundrechte im Lichte der internationalen Menschenrechtsverträge auszulegen seien, keinen Halt1629. Der Senat betont darüber hinaus, dass die in Art. 1 II GG niedergelegten Grundsätze sogar einer Änderung des verfassungsändernden Gesetzgebers gemäß Art. 79 III GG entzogen seien1630. Ein territorial beschränktes Grundrechtsverständnis konterkariere die Verbindung von Grundund Menschenrechten, bliebe doch der rechtliche Schutz hinter der tatsächlichen staatlichen Handlungsreichweite – gerade solcher gegen Überwachungsmaßnahmen gemäß Art. 12 AEMR, Art. 17 I IPbpR – zurück und könnte in der Folge sogar unterlaufen werden1631. Einen solchen wolle das Grundgesetz in Verknüpfung mit den Gewährleistungen der Menschenrechte aber gerade sicherstellen1632. Mit seinem internationalen Ausblick geht der Erste Senat ausführlich auf die immer wieder vorgetragenen Bedenken ein, die deutschen Grundrechte müssten national beschränkt bleiben und erläutert, weswegen die Einbindung der Bundesrepublik in die weltweite Rechtsgemeinschaft nach dem Grundgesetz gerade das Gegenteil erfordere. Um dieses Ergebnis abzusichern, richtet der Senat den Blick nach Straßburg zum – neben dem Europäischen Gerichtshof, welcher jedoch durch Kompetenzrestriktionen des Unionsrechts beschränkt ist – zweiten wichtigen Menschenrechtsgericht. Der Gerichtshof habe in einer noch nicht rechtskräftigen – da an die Große Kammer verwiesenen – Entscheidung1633 die 1627
Rn. 93. Kritisch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), der hier einen „sehr deutsche[n] Blick auf einen fingierten Universalismus“ ausmacht. 1629 Rn. 94 f.; a. A. indes Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 202, der kein völkerrechtliches Gebot sieht, das Fernmeldegeheimnis auch für Ausländer im Ausland zu öffnen und mithin auch keine derartige Auslegung des Grundgesetzes vornimmt. 1630 Rn. 95; diese Hervorhebung durch den Ersten Senat unterstreicht auch Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2222. 1631 Rn. 96. 1632 Rn. 96. 1633 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a. – Big Brother Watch u. a.; ebenfalls bezieht sich der Erste Senat auf EGMR, Urteil vom 19.6.2018, No. 35252/08 – Centrum För Rättvisa, bei der die rein auslandsbezogene schwedische Überwachung 1628
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„Überwachungsmaßnahmen im Ausland“ an der Konvention gemessen und für konventionswidrig erachtet, wobei unter den Beschwerdeführern auch Ausländer mit Aufenthalt außerhalb des Konventionsstaats gewesen seien1634. An dieser Stelle muss noch offenbleiben, ob der Wertung des Bundesverfassungsgerichts insoweit gefolgt werden kann – hierüber ist an gegebener Stelle im Gesamtkontext der Europäischen Menschenrechtskonvention und deren territorialer Reichweite zu entscheiden1635. Durch die Verweise auf die Rechtsprechung des Gerichtshof, die sich in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts indes häufiger finden1636, will der Erste Senat zeigen, dass sich auch die internationalen Menschenrechtsverträge nicht gegen eine Internationalisierung ihres Anwendungsbereiches sperren – was noch zu hinterfragen ist – und das Grundgesetz und mithin das auslegende Gericht sich gleichsam in guter Gesellschaft befinden. Das Bundesverfassungsgericht füllt hierdurch „den Grundsatz der Völkerechtsfreundlichkeit [gleichsam] mit Leben“ und setzt seinerseits Impulse für eine Rechtsprechung im Einklang mit dem Europäischen Gerichtshof, wo die Meinung aus Karlsruhe – die ihrerseits Einfluss sichern soll – bestimmt mit großem Interesse registriert werden wird1637. Vorsorglich betont der Senat jedoch noch, dass eine gegenteilige Entscheidung des Großer Kammer des Gerichtshofs in den genannten Verfahren mit einem weitergehenden Schutz durch das Grundgesetz gemäß Art. 53 EMRK nicht unvereinbar sei1638. Mithin stehe die Europäische Menschenrechtskonvention einer Auslandsgeltung der deutschen Grundrechte „jedenfalls nicht entgegen“ 1639. Im internationalen Kontext kommt das Bundesverfassungsgericht nun auch erstmals und einzig auf seine bisherige Rechtsprechung zu Fällen mit mehr oder minder starker Auslandsberührung von Grundrechten zu sprechen. Das Bundesverfassungsgericht habe bisher lediglich die Abgrenzung zu fremden Staaten und Rechtsordnungen als einzig möglichen Grund für eine Beschränkung der Auslandsgeltung des Art. 10 GG erwogen und in der dritten Abhörentscheidung letztohne Infragestellung der Anwendbarkeit der Konvention durch den EGMR überprüft worden sei. 1634 Rn. 97 f. 1635 Dazu G. I. Kritisch im Ansatz hierzu aber auch schon Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827. 1636 Siehe exemplarisch zuletzt zum Streikverbot für beamtete Lehrer BVerfGE 148, 296 (350 ff., Rn. 126 ff.); vgl. dazu auch ausführlich B. Daiber, Der Einfluss der EGMRRechtsprechung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DÖV 2018, S. 957 ff., 961; zum Verhältnis von Grundgesetz und EMRK noch eingehend unter G. I. 1. 1637 Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 718, der weitergehend für eine generelle Auslegung des Grundgesetzes in seiner „internationalen Einbettung“ plädiert; Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 410, betont, dass der Verweis auf die EGMRRechtsprechung durch das BVerfG sicherlich kein Zufall sei. 1638 Rn. 99. 1639 Rn. 99.
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lich offengelassen1640. In der Sache widerlegt das Bundesverfassungsgericht die in der Literatur breit vorgetragenen völkerrechtlichen Bedenken gegen eine extraterritoriale Erstreckung deutscher Grundrechte1641. Die Grundrechte bänden ausschließlich die deutsche Staatsgewalt und begrenzten nur deren Handlungsspielräume; sie liefen damit parallel zu völkerrechtlichen Interventionsverbot und nicht etwa entgegen1642. Die Auslandsgeltung der Grundrechte sei weder ein „Oktroi“ deutschen Rechts noch „eine Verdrängung ausländischer Grundrechte“ 1643. Über die Völkerrechtskonformität sei damit nicht entschieden, erst recht seien ausländische Staaten nicht gehindert, sich gegen nachrichtendienstliche Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst zur Wehr zu setzen, weswegen völkerrechtliche Bedenken nicht aufkämen1644. Der Erste Senat verweist dann noch darauf, dass Regelungen zur strategischen Überwachung von ausländischer Telekommunikation international „nicht unüblich“ seien1645. Damit widerspricht der Senat dem wohl gewichtigsten Gegenargument gegen eine Auslandsgeltung der Grundrechte. Aus seiner Sicht hindert die – in der Entscheidung nicht explizit angesprochene – Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes nicht die extraterritoriale Erstreckung der Grundrechte auf Handlungen deutscher Staatsgewalt, da es zu einem Konflikt gar nicht erst kommt. Das völkerrechtliche Souveränitätsprinzip bleibt nach Ansicht des Senats unangetastet. cc) Konkret: Grundrechtsbindung des Bundesnachrichtendienstes als rechtsstaatliche Kompensation ubiquitärer Überwachungstechnologien Nach Darlegung dieser abstrakten Maßstäbe, die den Willen des Senats verdeutlichen, die Frage der Auslandsgeltung der Grundrechte jedenfalls allgemein für die Praxis ein für alle Mal zu entscheiden, wird nun noch die konkrete Tätigkeit des Bundesnachrichtendienstes im Bereich der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung beleuchtet. In ihrer Dimension als Abwehrrechte entfalteten Art. 10 I GG und Art. 5 I 2 GG „jedenfalls insoweit eine Grundrechtsbindung auch des Bundesnachrichtendienstes und des Gesetzgebers bei der Regelung seiner Befugnisse“ 1646. Noch deutlicher macht der Senat, dass für Nachrichtendienste aufgrund ihrer Eigenheiten oder der politischen Zielrichtung ihrer 1640 Rn. 100; eine solche einzige Ausnahme nimmt auch an Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2223. 1641 Rn. 101 ff. 1642 Rn. 101. 1643 Rn. 101. 1644 Rn. 103. 1645 Rn. 103, 160; der Senat verweist auf die USA und hier konkret auf die Regelung in Section 702 Foreign Intelligence Surveillance Act, das Vereinigte Königreich und Part 6 Chapter 1 Investigatory Powers Act 2016 und Frankreich mit Article L854-1 bis L854-9 Code de la sécurité intérieure. 1646 Rn. 105.
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Aufklärung kein Sonderrecht gilt, sondern diese, wie jede andere staatliche Institution, an die Grundrechte – nunmehr gesichert auch im Ausland – gebunden seien1647. Eine andere Ansicht wäre nach den vorherigen dogmatischen Ausführungen des Ersten Senats auch kaum vertretbar gewesen. Bemerkenswert ist indes, dass der Senat angesichts des „politischen Charakters“ der nachrichtendienstlichen Aufklärung gerade nicht auf mögliche Flexibilisierungen oder Rücknahmen der Grundrechtsbindung im Bereich der Außenpolitik eingeht, die das Bundesverfassungsgericht diesbezüglich in früheren Entscheidungen, wie bereits erwähnt, oder hinsichtlich militärischer Sachverhalte anerkannt hatte1648. Eine nachrichtendienstspezifische political question doctrine in Bezug auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung kann es unter dem Grundgesetz richtigerweise nicht geben1649, ebensowenig wie diesbezügliche außenpolitische grundrechtsbeschränkende Prärogativen der Bundesregierung. Über anderweitige Einschränkungen ist damit freilich noch nichts gesagt. Vielmehr müsse die Grundrechtssicherung mit den immer weiter voranschreitenden Entwicklungen der Überwachungstechnik, insbesondere im Bereich der Nachrichtendienste und deren Zugriffsmöglichkeiten auf ausländische Telekommunikation, Schritt halten können, um „sich hierdurch ergebenden Kräfteverschiebungen Rechnung tragen zu können“ 1650. Die Grundrechte dürften angesichts dessen Betroffene nicht schutzlos stellen und „hinter die Bedingungen der Internationalisierung zurückfallen“; anderenfalls drohe der Grundrechtsschutz gerade im grundrechtssensiblen Sicherheitsrecht leerzulaufen1651. Um die stetig steigende Dimension der ubiquitären Überwachungstechniken zu illustrieren, rekurriert der Erste Senat auf die Entscheidung von 1999 und die seitdem erheblich gesteigerten technischen Möglichkeiten, aber auch gestiegene auswärtige Bedrohungslagen, die wiederum eine intensive Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst zur Information politischer Entscheidungsträger erfordere; die Wichtigkeit werde nicht zuletzt in immer größeren Etats der Nachrichtendienste sichtbar1652. Mit diesen konkret auf den Bundesnachrichtendienst bezogenen Ausführungen gibt das Gericht denjenigen Stimmen in der Literatur recht, die 1647 Rn. 105 – „Eine Freistellung nachrichtendienstlicher Aufklärungsmaßnahmen von der Grundrechtsbindung wegen ihrer Auslandsgerichtetheit kennt das Grundgesetz ebensowenig wie wegen ihres politischen Charakters.“ 1648 Zu außenpolitisch-militärischen Entscheidungen der Bundesregierung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kurz der Überblick bei H. Lechner/ R. Zuck, in: dies., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 8. Aufl., 2019, Rn. 223. 1649 Zur political question doctrine allgemein und deren Unanwendbarkeit im deutschen Verfassungsrecht A. Voßkuhle, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. III, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 21 ff.; M. Nettesheim in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Fn. 272), Art. 59 (2020), Rn. 233. 1650 Rn. 105. 1651 Rn. 110. 1652 Rn. 107 f.
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schon vorher eine Anpassung des Grundrechtsschutzes an die tatsächlichen technologischen Fähigkeiten der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung gefordert hatten. Darüber hinaus stellt der Erste Senat sicher, dass die Grundrechte allgemein mit den zukünftigen – heute eventuell noch nicht absehbaren – internationalen Handlungen deutscher Staatsgewalt Schritt halten und nicht an der Grenze enden, welche für die Reichweite staatlichen Handelns nicht mehr maßgeblich ist. dd) Kraftvolles Plädoyer für eine grundsätzlich umfassende Bindung staatlicher Gewalt Im Gegensatz zu seiner bisherigen Rechtsprechung bezieht das Bundesverfassungsgericht eindeutig Stellung und klärt die Frage einer Auslandsgeltung der Grundrechte mit einem kraftvollen Plädoyer für eine umfassende Grundrechtsbindung staatlicher Gewalt im Ausland grundlegend1653. Das Urteil vom Mai 2020 markiert deshalb den wohl vorläufigen Schlusspunkt der mit großem Aufwand geführten Debatte über die Grundsatzfrage der Bindung deutscher Staatsgewalt bei Handeln im Ausland1654, wenngleich das Bundesverfassungsgericht nach dem ersten Leitsatz sowie dem den Abschnitt einleitenden Obersatz in concreto „nur“ entschieden hat, dass Art. 10 I GG und 5 I 2 GG „auch gegenüber einer Telekommunikationsüberwachung von Ausländern im Ausland“ gelten. Jedenfalls in Bezug auf den status negativus der Grundrechte dürfte die Entscheidung aber dem Grunde nach als generelle Klarstellung verstanden werden, dass die Grundrechte die deutsche Hoheitsgewalt überall dort binden, wo diese handelt. Dabei geht der Senat vielfach auf Argumente der Debatte im Schrifttum ein und widerspricht diesen sukzessive. Gerade diese Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Gegenargumenten trägt und manifestiert die Überzeugungskraft des Urteils. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts lesen sich stellenweise mehr als akademische Abhandlung denn als gerichtliche Entscheidung1655 – gerade die Auseinandersetzung mit der Literatur, insbesondere mit spezifisch nachrichtendienstrechtlichen Beiträgen, zeigt wie nachdrücklich das Gericht um eine Positionierung bemüht ist1656. Nach der Lektüre des Urteils erscheint es bei1653
So auch in einer ersten Einschätzung Schwander, Antwort (Fn. 967). Ebenso Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 412; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 724; Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2221, zieht bei der Betonung der Dimension des Urteils gar einen Vergleich zur berühmten Lüth-Entscheidung des BVerfG im 7. Entscheidungsband; Löffelmann, Anmerkung (Fn. 915), S. 515, spricht von einer Klärung „ohne Wenn und Aber“. 1655 Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2222 f., diagnostiziert in Bezug auf die Ausführungen des BVerfG zur extraterritorialen Grundrechtsbindung eine „geradezu schulmäßige Exegese“, die „umfänglich“ überzeuge. 1656 Schiffbauer, Würde (Fn. 937), spricht von einer „überdeutlichen Klarstellung aus Karlsruhe“, die anderweitigen Überlegungen „einen deutlichen und wohl auch endgültigen Riegel“ vorgeschoben habe. 1654
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nahe unwirklich, dass bis in die jüngste Vergangenheit so breit und entschieden über die Grundrechtsgeltung im Ausland – gerade auch für den Bundesnachrichtendienst – gestritten wurde1657. Über die Frage, wie die Grundrechte im Ausland jeweils wirken, ist damit freilich – auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts1658 – noch nicht entschieden. h) Stellungnahme: Art. 10 I GG als Sonderfall einer grundrechtsimmanenten extraterritorialen Reichweite Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verdient im Ergebnis und weiten Teilen ihrer Begründung Beifall. Dabei hat das Gericht, mutmaßlich geleitet vom Bestreben, eine grundlegende, verallgemeinerbare Entscheidung zu treffen, den dogmatischen Ansatz einer durch Art. 1 III GG vorgegebenen Auslandsgeltung der Grundrechte als Abwehrrechte gewählt und hierdurch auch Art. 10 I GG und Art. 5 I 2 GG für auf Telekommunikationsüberwachung von Ausländern im Ausland anwendbar gehalten. Bei der streitgegenständlichen Frage der Geltungsreichweite des Fernmeldegeheimnisses und mittelbar der Pressefreiheit – welche hier mittels Telekommunikation erst realisiert wird – hätte jedoch auch ein Blick auf die konkreten Grundrechte eine Antwort auf die territoriale Reichweite ermöglicht. Besonderer Beachtung bedarf die Überlegung, ob sich nicht aus Art. 10 I GG selbst bereits eine grundrechtsimmanente Lösung ergibt. Ungeachtet der dogmatischen Frage1659, ob man auch allgemein im konkreten Schutzbereich eines Grundrechts den korrekten Ansatzpunkt zur Lösung der Frage nach dessen extraterritorialer Geltung erblicken möchte1660 oder hierfür, wie das Bundesverfassungsgericht und weite Teile der Literatur, auf Art. 1 III GG abstellt1661, ergibt sich nämlich bereits aus dem Fernmeldegeheimnis selbst die Antwort. Hier sind der sachliche und territoriale Schutzbereich untrennbar miteinander ver1657 Dahingehend auch Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2224; Schiffbauer, Würde (Fn. 937). 1658 Rn. 104. 1659 Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 563, diagnostiziert richtigerweise, dass die Diskussion um die extraterritoriale Geltung der Grundrechte von vielfachen dogmatischen Streitigkeiten geprägt sei, bei denen über die Frage, „wie man ein Grundrecht richtig prüft“ (Hervorhebung im Original), Gemeinsamkeiten in der sachlich-materiellen Bewertung leicht aus dem Blickfeld gerieten. Dies gilt auch für die Frage des dogmatisch korrekten Ansatzpunktes (Art. 1 III GG oder jeweiliger Schutzbereich) einer Prüfung der extraterritorialen Geltung bzw. Auslegungsmöglichkeit des Grundrechts. 1660 So etwa Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 172 ff.; Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 44; Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 28 ff.; ders., Grenzen (Fn. 672), S. 1339, zu Art. 10 GG; Merten, Geltungsbereich (Fn. 1362), S. 340; maßgeblich bereits Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 73 ff. 1661 So das Bundesverfassungsgericht und die wohl weit überwiegende Meinung der Vertreter des Wirkungsprinzips, des Subordinationsprinzips, des Ansatzes rein völkerrechtlicher Begrenzung sowie der konkret auf den Bundesnachrichtendienst bezogenen Ansätze, siehe dazu die zuvor dargelegten Positionen unter F. I. 3. f) cc); ee); ff).
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zahnt1662. Bereits eine „klassische“ Auslegung der Norm mit rein nationalem Fokus reicht nämlich aus, um entscheidende Erkenntnisse über die extraterritoriale Reichweite des Fernmeldegeheimnisses zu gewinnen. aa) Extraterritoriale Geltung des Fernmeldegeheimnisses durch teleologische Auslegung Zu wenig berücksichtigt wurde in der breiten Debatte im Schrifttum und auch in der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsbindung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes bisher, dass die extraterritoriale Geltung von Art. 10 I GG, sowohl gegenüber Deutschen und Inländern als auch gegenüber Ausländern im Ausland, bereits in dessen rein formalem Anknüpfungspunkt des Vertraulichkeitsschutzes begründet liegt1663. Ginge man – unter Ausblendung der Debatte um die Auslandsgeltung der Grundrechte – von einer reinen Inlandsgeltung des Fernmeldegeheimnisses aus, dann ergäbe sich die extraterritoriale Geltung gleichwohl als Reflex des durch Art. 10 I GG gewährleisteten Schutzes der Telekommunikationsumstände. Wie bereits in Bezug auf den sachlichen Schutzbereich des Art. 10 I GG ausgeführt, schützt das Fernmeldegeheimnis nicht nur den Inhalt der Verbindung, sondern gerade auch deren Umstände, also wann und wie mit welchem Telekommunikationsmedium und von welchen Personen kommuniziert wurde. Unter diese Umstände fallen unter anderem auch die Teilnehmeridentitäten, die Rufnummern, Anschlusskennungen und die (dynamischen) IP-Adressen1664. Damit darf der Staat aber bereits schon nicht die Beteiligten ermitteln, um sodann die Staatsangehörigkeit oder den Aufenthaltsort von Teilnehmern mittels IP-Geolokalisation herauszufinden, da bereits die Kenntnisnahme dieser Parameter einen potentiellen Grundrechtseingriff begründet1665. Wenn nämlich Telekommunikationsverkehre technisch äußerlich untrennbar sind – wie bei der All-IP-Kommunikation der Fall – und somit eine Feststellung des Herkunftsortes der Verkehre eine Kenntnisnahme der Telekommunikationsumstände erfordert – hier maßgeblich der IP-Adresse –, dann muss der Staat zwangsläufig von diesen Umständen 1662 Allgemein zu der engen Verbindung von sachlichem und räumlichem Schutzbereich Becker (Fn. 1368), § 240 Rn. 113, der freilich auch dogmatisch am jeweiligen Grundrecht statt an Art. 1 III GG ansetzt. 1663 Hierzu – soweit ersichtlich – bisher nur Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 43; Gusy/ Hueck, Fernmeldegeheimnis (Fn. 561), S. 464 f.; tendenziell auch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 83; wohl ebenso Gröpl, Fernmeldegeheimnis (Fn. 773), S. 16 ff.; aus dem reinen Wortlaut von Art. 10 I GG lässt sich indes eine Auslandsgeltung nicht herleiten, er verhält sich hierzu schlicht nicht, so aber Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 226; tendenziell auch Stettner (Fn. 1198), § 92 Rn. 26; hiergegen nunmehr auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 175 f. 1664 Dazu oben schon Fn. 1208. 1665 So richtigerweise auch Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 43; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 83; Gusy/Hueck, Fernmeldegeheimnis (Fn. 561), S. 465.
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Kenntnis erlangen, um die gewünschte Differenzierung durchführen zu können1666. Das „Geheimnis“ wäre gelüftet. Die Bestimmung des Start- und Endpunktes eines Fernmeldeverkehrs oder der Nationalität der Teilnehmer ist dem Staat durch den formalen Schutz des Fernmeldegeheimnis daher schlicht verwehrt. Hier ergibt sich derselbe Befund wie beim Schutz der Internetkommunikation als Ganzes durch das Fernmeldegeheimnis aufgrund der Untrennbarkeit zwischen Individual- und Massenkommunikation innerhalb einer Glasfaserleitung ohne die Kenntnisnahme der Telekommunikationsumstände, etwa mittels Deep Packet Inspection1667. Mithin steht „der formale Schutzbereich des Art. 10 I GG [. . .] einer [initialen] Differenzierung in ausländische und inländische Ferngespräche entgegen“ 1668. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass Argument sei zirkulär, da es eine Geltung des Fernmeldegeheimnisses für Ausländer im Ausland voraussetze, die es gerade zu belegen suche1669. Wenn Ausländer im Ausland nicht geschützt seien, könne der Zugriff auf deren Telekommunikationsumstände auch keinen Grundrechtseingriff darstellen, weswegen die Geltung des Fernmeldegeheimnisses so nicht zu begründen sei1670. Der Einwand verkennt indes den Ansatz des formalen Anknüpfungspunktes des Vertraulichkeitsschutzes durch das Fernmeldegeheimnis. Denn selbst wenn man mit der bisherigen Staatspraxis, dem Bundesnachrichtendienst und Teilen der Literatur nur deutschen Staatsbürgern und internationalen Telekommunikationsbeziehungen im Sinne des § 5 I 1 G 10 Grundrechtsschutz gewähren wollte – wogegen sich mit dem Wirkungsprinzip und dem Bundesverfassungsgericht äußerst gewichtige, allgemeine Argumente mit dem dogmatischen Ausgangspunkt in Art. 1 III GG anführen lassen –, müsste dennoch bereits nach dem Telos von Art. 10 I GG jegliche Feststellung der Nationalität oder des Anfangs- und Endpunktes eines Telekommunikationsvorganges unterbleiben. Anders gewendet: „Selbst wenn Gespräche von einem Drittstaat in einen anderen [also AuslandAusland-Telekommunikation] nicht geschützt sein sollten, wäre es den Staatsorgangen verwehrt, alle oder einzelne Ferngespräche daraufhin zu prüfen, ob ein Gespräch allein zwischen Drittstaaten stattfindet. Demnach kann eine Differen1666
Instruktiv Gusy/Hueck, Fernmeldegeheimnis (Fn. 561), S. 465. Diesen Schluss zieht allgemein auch das BVerfG in Bezug auf die Vorratsdatenspeicherung, wobei es jedoch auf die Kenntnisnahme des Inhalts abstellt, BVerfGE 125, 260 (311). Dies kann jedoch keinen Unterschied zur Kenntnisnahme der Telekommunikationsumstände begründen, da diese schließlich ebenso vom sachlichen Schutzbereich des Art. 10 I GG erfasst sind. Zum Beleg verweist das BVerfG überdies ausdrücklich auf den Beitrag von Hermes, freilich noch in der Vorauflage. 1668 Prägnant Gusy/Hueck, Fernmeldegeheimnis (Fn. 561), S. 465. 1669 So aber Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 177, allerdings auf die Frage der Schutzintensität des Fernmeldegeheimnisses bezogen. Eine absolute Gleichstellung der Schutzintensität – dazu unter F. I. 3. j) – von Deutschen, Inländern und Ausländern ist hiermit indes noch nicht prädeterminiert. 1670 Siehe erneut Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 177. 1667
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zierung zwischen inländischen und ausländischen Gesprächen bzw. Fernsprechteilnehmern kein brauchbarer Anknüpfungspunkt für den Grundrechtsschutz aus Art. 10 I GG sein“ 1671. Dieser Befund lässt sich freilich genauso in die digitale Welt der Paketvermittlung des 21. Jahrhunderts übertragen. Nur bei dieser teleologischen Auslegung lässt sich der durch Art. 10 I GG unzweifelhaft gewährte Schutz für deutsche Staatsbürger und Inländer auch bei grenzüberschreitenden Telekommunikationsbeziehungen sichern, da nie ausgeschlossen werden kann, dass ihre Verkehre an den Bundesnachrichtendienst ausgeleitet bzw. von diesem erfasst und dort mittels Geolokalisationstechniken durchforstet werden. Dies verkennt die Kritik am grundrechtsimmanenten Schutz des Fernmeldegeheimnisses. Der Befund muss unabhängig vom Stationierungsstandort der Überwachungsanlagen gelten, da auch bei einer Überwachung vom Ausland aus nie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass zweifelsfrei geschützte Verkehre miterfasst werden1672. Die verbleibende (geringfügige) Restmöglichkeit muss aus rechtlicher Sicht ausreichen, da sich Grundrechtsschutz als wichtigster Individualrechtsschutz gegen staatliches Handeln nicht an prozentualen Fehlerwahrscheinlichkeiten ausrichten kann1673. Eine Abwägung, mit wie viel Prozent Wahrscheinlichkeit eine potentielle Grundrechtsverletzung denn eintreten könnte, wäre mit dem formalen Schutz der Vertraulichkeit des Fernmeldegeheimnisses und seinem hohen Rang in der Rechtsordnung unvereinbar. Der normative Befund deckt sich somit mit dem faktisch-technischen, wonach eine Trennung der Telekommunikationsverkehre nach Ursprungs- und Zielort oder sogar Nationalität der Teilnehmer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei heutigen technischen Gegebenheiten schlechterdings unmöglich ist. Zu unterstellen, die deutsche Behörde könne auch durch andere Quellen die Information über die Ausländereigenschaft erlangt haben, weswegen ein Zugriff auf die Telekommunikationsumstände nicht mehr notwendig sei1674,
1671 So das korrekte Resümee von Gusy/Hueck, Fernmeldegeheimnis (Fn. 561), S. 465. 1672 Bei der Überwachung der nicht-leitungsgebundenen Telekommunikation, beispielsweise in Afghanistan zur force protection, mag dies freilich wenig wahrscheinlich sein, ausnahmslos ausgeschlossen werden kann es indes nicht. Man denke nur an ausländische Kämpfer in Form von Doppelstaatlern oder sogenannte IS-Kämpfer mit deutscher Staatsangehörigkeit in den syrisch-irakischen Konfliktgebieten, deren Staatsangehörigkeit dem Bundesnachrichtendienst zum Zeitpunkt der Erfassung der Telekommunikation nicht bekannt ist. 1673 Zur Notwendigkeit der im Sicherheitsrecht noch ausstehenden, gleichwohl ganz entscheidenden Debatte zum grundrechtsverträglichen Umgang mit Fehlerwahrscheinlichkeiten durch automatisierte Auswertungs- und Analyseverfahren instruktiv Bäcker, Big Data (Fn. 630), S. 170 f. 1674 So Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 177 f., mit dem Beispiel eines ausländischen Gefährders, der per Individualüberwachung überwacht werde und dann ins Ausland ausreise, weswegen den Behörden seine ausländische Staatszugehörigkeit bereits bekannt sei.
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ist zwar nicht unrichtig, ändert aber am hiesigen Befund nichts. Es geht um die Aussonderungen von Datensätzen aus Massendatenströmen, weswegen derartiges Zusatzwissen – umgekehrt für Inländer und deutsche Staatsbürger und Unternehmen festgehalten in der G 10-Positivliste1675 – zwar eine Aussonderung ermöglicht, aber dennoch technisch in aller Regel und nach hiesigem Verständnis des tatsächlichen Ablaufes ein Durchlaufen der Filterkaskade nötig macht. Mit der hiesigen Auslegung des Art. 10 I GG sind auch ohnehin höchst fragliche Überlegungen obsolet, das Fernmeldegeheimnis im Ausland, entgegen des ausdrücklichen Wortlauts von Art. 10 I GG, von einem Jedermann- in ein Deutschengrundrecht umzudeuten1676. Etwas anderes gilt nur bei der gezielten Steuerung von ausgewählten, ausländischen Funktionsträgern, da nach hier vertretener Ansicht bereits der personelle Schutzbereich nicht eröffnet ist und Fragen territorialer Geltungsreichweite mithin schon unbeachtlich sind. Abgesehen von dieser speziellen Ausnahmekonstellation ist die extraterritoriale Geltung des Fernmeldegeheimnisses für Ausländer im Ausland im Ergebnis ein grundrechtsimmanenter Reflex auf Schutzbereichsebene, resultierend aus dem formalen Vertraulichkeitsschutz der Telekommunikationsumstände. Dieser Befund gilt zudem unabhängig vom Stationierungsort der Überwachungstechnik. Für die Presseund Berufsfreiheit gilt im Ergebnis dasselbe, da sie bei der Überwachung von Telekommunikation untrennbar mit dem Fernmeldegeheimnis verbunden sind. Journalistische Inhalte oder Kontakte zu Informanten oder Mandanten werden für staatliche Stellen schließlich erst durch den Zugriff auf die Telekommunikation und deren Umstände als vermittelndes Medium verfügbar gemacht. Freilich ist damit noch nicht über die mögliche Rechtfertigung der Überwachung entschieden, es steht aber fest, dass auch die Erfassung rein ausländischer Telekommunikationsverkehre grundsätzlich einen Eingriff in den eröffneten Schutzbereich des Art. 10 I GG darstellen kann, da bei teleologischer Auslegung der Norm schon keine Differenzierung hinsichtlich des Anfangs- und Endpunktes eines Fernmeldeverkehrs durch staatliche Stellen erfolgen darf. Dies gilt freilich unter der entscheidenden Prämisse, dass bereits im technischen Schritt der Geolokalisation von Datenverkehren durch den Bundesnachrichtendienst ein Grundrechtseingriff zu sehen ist1677. Dabei handelt es sich jedoch um eine Frage der 1675
Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 192. So aber die bisherige Rechtsauffassung des BND: BT-Drs. 18/12850, S. 750 ff.; ferner wie oben bereits illustriert Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 87; Quaritsch (Fn. 1381), § 120 Rn. 77; Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 138 ff.; hiergegen mit anderer Schwerpunktsetzung auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 212 ff. 1677 Von einem Grundrechtseingriff durch die Bestimmung des Ausgangs- und Endpunktes von Telekommunikation gehen Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 43 und Gusy/ Hueck, Fernmeldegeheimnis (Fn. 561), S. 464 f., ohne weitere Differenzierungen schlicht aus. In Bezug auf die strategische und die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung bedarf es diesbezüglich indes einer detaillierten Prüfung unter Berücksichtigung technisch-faktischer Gegebenheiten. Siehe hierzu ausführlich unter F. II. 1. 1676
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Eingriffsqualität der Überwachungsmaßnahmen, nicht aber des räumlichen Schutzbereiches des Art. 10 I GG. Damit besteht neben der Ansicht der herrschenden Literaturmeinung und dem Bundesverfassungsgericht ein weiterer spezifisch im Fernmeldegeheimnis begründeter Ansatz der extraterritorialen Reichweite des Grundrechts. Es handelt sich freilich um ein bereichsspezifisches Argument und nicht um eine allgemein Festlegung, wie die vorgenannten Ansätze. bb) Keine völkerrechtliche Grenze extraterritorialer Geltung des Fernmeldegeheimnisses Mit der hier vertretenen Auslegung des Art. 10 I GG ist die Frage einer extraterritorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses dahingehend beantwortet, dass dieses grundsätzlich unabhängig von Nationalität, Aufenthaltsort der Kommunikationsteilnehmer und Belegenheit der Überwachungseinrichtungen für alle Menschen gilt. Offen geblieben ist bisher noch, wie die zahlreichen Einwände eines drohenden Konfliktes mit dem Völkerrecht zu bewerten sind und ob dem Bundesverfassungsgericht bei seiner Wertung insoweit zu folgen ist. Fest steht, dass nach bisher ständiger Ansicht des Gerichts die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes die Staatsorgane verpflichtet, Völkerrechtsverstöße möglichst zu vermeiden und damit einer möglichen Haftung der Bundesrepublik im Außenverhältnis vorzubeugen1678. Die Völkerrechtsfreundlichkeit gebiete zudem in ihrer Funktion als Auslegungshilfe für die Grundrechte und das einfache Recht, die nationalen Normen so auszulegen, dass ein Konflikt der Bundesrepublik mit völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht entstehe1679. Dabei gelte der Vorrang des Völkerrechts indes nicht absolut und erfordere keine „schematische Parallelisierung“, sondern eine weitmöglichste Übernahme völkerrechtlicher Wertungen in die nationale Rechtsordnung unter Beachtung methodisch vertretbarer Auslegungsgrundsätze1680. Das Bundesverfassungsgericht betonte schon in der dritten Abhörentscheidung, dass der Schutz des Fernmeldegeheimnisses durch Art. 10 I GG mit seinem Schutzzweck einer freien und unbefangenen Kommunikation in Einklang mit völkerrechtlichen Bestimmungen, namentlich Art. 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 8 EMRK, stehe1681. Mit der Wahl eben dieses Vergleichsmaßstabes stellte das Gericht heraus, dass die Übereinstimmung des nationalen Fernmeldegeheimnisses mit den tendenziell gleichlaufenden völkerrechtlichen Übereinkünften die Modifikation der grundrechtlichen Standards „über1678 BVerfGE 141, 1 (27, Rn. 65) – Treaty override unter Verweis auf BVerfGE 128, 326 (368 f.); 112, 1 (25); 111, 307 (316, 318, 328); 109, 38 (49 f.); 109, 13 (23 f.); 59, 63 (89); 58, 1 (34); siehe für die Literatur nur Herdegen (Fn. 1440), Art. 25 Rn. 7. 1679 BVerfGE 141, 1 (29, Rn. 71); 128, 326 (367 f.); 120, 180 (200 f.). 1680 BVerfGE 141, 1 (30, Rn. 72). 1681 BVerfGE 100, 313 (363); Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 297.
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flüssig machen oder zumindest stark einschränken kann“ 1682. Wie bereits dargelegt, kann das Bundesverfassungsgericht in seiner neuesten Entscheidung keinen Konflikt mit dem Völkerrecht bei einer extraterritorialen Geltung des Fernmeldegeheimnisses erkennen und beantwortet mithin die Frage, die es 1999 noch partiell offenließ. Jedenfalls in der Erstreckung der abwehrrechtlichen Dimension des Art. 10 I GG auf ausländische Telekommunikation liegt gerade keine Erweiterung deutscher Staatsgewalt jenseits nationaler Grenzen, sondern vielmehr die Rücknahme dieser in Form der Begrenzung der Befugnisse zur Überwachung1683 – die Erweiterung des status negativus ist mithin die völkerrechtsfreundlichste Variante extraterritorialer Normsetzung. Durch die Auslandsgeltung des Art. 10 I GG wird nicht in die Souveränität fremder Staaten eingegriffen, diese wird durch den Schutz seiner Staatsbürger vielmehr gestärkt. Die Friedensspionage des Bundesnachrichtendienstes ist völkerrechtlich zwar nicht verboten – sonst entstünde ein gravierender Rechtskonflikt –, sie ist aber wohl kaum erwünscht1684. Zudem hat Bäcker richtigerweise angemerkt, dass erstaunlicherweise der extraterritorialen Grundrechtsgeltung der Vorwurf eines Grundrechtsimperialismus gemacht wird, der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung als heimlichem, nachrichtendienstlichen und Zugriff auf fremdstaatliche Telekommunikation, mit Ziel des Erkenntnisvorsprungs für die Bundesregierung in internationalen Belangen, hingegen nicht1685. Wenn überhaupt dringt die Spionage mittels strategischer Aufklärung in den Souveränitätsbereich einer fremdem Staats- und Rechtsordnung ein, nicht aber die normative Beschränkung selbiger durch deutsche Grundrechte. Das Argument der völkerrechtlich notwendigen Begrenzung und Modifikation extraterritorialer Grundrechtsnormsetzung verfängt mithin bei Abwehrrechten bereits pauschal nicht; ebenso wenig bei Art. 10 I GG und der strategischen Erfassung von internationaler und Ausland-Ausland-Telekommunikation. Mit dem
1682 So Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 297; dahingehend auch Krieger, Grundrechtsbindung (Fn. 1589), S. 7. 1683 Für die Unbeachtlichkeit völkerrechtlicher Begrenzungen der grenzüberschreitenden Normsetzung beim status negativus der Grundrechte ebenfalls auch schon vor der Entscheidung des BVerfG Dippel, Grundrechtsschutz (Fn. 1411), S. 44; Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 133 ff.; grundsätzlich auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 211 f.; ferner Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2223; Schiffbauer, Existenz (Fn. 1274), S. 106; Schwander, Auslandsnachrichtendienste (Fn. 1399), S. 81; ders., Wirkungen (Fn. 16), S. 162 f.; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 81; Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1339; Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 21 f.; Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 565; Kment, Verwaltungshandeln (Fn. 1440), S. 719 m. Fn. 216; Krieger, Grundrechtsbindung (Fn. 1589), S. 5, 10; v. Arnauld, Auslandseinsatz (Fn. 1361), S. 73 f.; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 109 f.; vgl. auch grundsätzlich Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 472 f. 1684 Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 21; zur völkerrechtlichen Bewertung schon unter F. I. 2. b) cc). 1685 Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 5.
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Bundesverfassungsgericht und Teilen der Literatur, welche das Gericht wiederum teilweise selbst zitiert1686, sind die völkerrechtlichen Bedenken daher zurückzuweisen. Nur am Rande sei zudem angemerkt, dass die Argumentation der Begrenzung der Grundrechtsgeltung im status positivus – wo zugegebenermaßen in der Sache grundsätzlich hierfür Bedarf bestehen kann – zur Vermeidung eines „Grundrechtsimperialismus“ mit dem Bild eines hungernden Inders vor der deutschen Botschaft in Delhi1687 eine nach heutigen politischen Maßstäben zumindest bedenkliche Assoziation hervorruft. Ein solches Framing kann leicht selbst dem Vorwurf ausgesetzt sein, überwunden geglaubtes Überlegenheitsdenken vergangener Jahrhunderte zu insinuieren. i) Ergebnis: Globales Freiheitsrecht durch formalen Geheimnisschutz Die zu Beginn dieses Abschnitts aufgeworfene Frage, ob Art. 10 I GG territorialen Begrenzungen unterliege oder grundsätzlich ein globales subjektives Freiheitsrecht darstellt, lässt sich nach der hier vertretenen Auffassung klar im Sinne der letztgenannten Alternative beantworten. Das Bundesverfassungsgericht bezieht in seiner Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung klar Position und bestätigt die Bindung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung an das Fernmeldegeheimnis und die Pressefreiheit. Die verschiedenen Literaturmeinungen präsentieren weitgehend allgemeine Lösungsmodelle und beziehen sich nur in Teilen auf spezifische Fragen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung. Für die grundrechtsfreundliche Wirkungstheorie sprechen grundsätzlich die besten Argumente, wenn man eine generelle Antwort auf die Frage der extraterritorialen Geltung sucht. Die restriktiveren Ansätze überbetonen teils die territoriale Demarkation, die völkerrechtlichen Abgrenzungen oder versuchen, verfassungspolitische Konstrukte zu etablieren, die dem Text des Grundgesetzes durch Auslegung nicht mehr zu entnehmen sind. Richtigerweise ergibt sich – ungeachtet des dogmatischen Streits um den korrekten Ansatzpunkt bei der Ermittlung extraterritorialer Grundrechtsgeltung – der Charakter des Fernmeldegeheimnisses als globales Freiheitsrecht bereits aus seinem formalen Geheimnisschutz, der jegliche Bestimmung der Nationalität oder des Aufenthaltsortes der Telekommunikationsteilnehmer als geschützte Umstände des Fernmeldeverkehrs untersagt. Die extraterritoriale Geltung des Fernmeldegeheimnisses ist somit ein grundrechtsimmanenter Reflex, der aus der Ununterscheidbarkeit des Herkunftsortes von Telekommunikation und ihren Teilnehmern ohne die durch Art. 10 I GG verbotene Kenntnisnahme der Telekommunikationsumstände resultiert. Nur so kann ein umfassender Schutz von durch 1686 BVerfGE 154, 152 (223, Rn. 103) mit dem Verweis auf Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 561; Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1339; Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 472 f. 1687 Quaritsch (Fn. 1381), § 120 Rn. 76; Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 87.
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Art. 10 I GG zweifelsfrei umfasster rein nationaler, internationaler und unter Beteiligung deutscher Staatsbürger geführter Telekommunikation erreicht werden. Dieses Verständnis wirft das Folgeproblem einer präzisen Bestimmung des Eingriffscharakters der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung auf. Die hier vertretene Auslegung von Art. 10 I GG gerät auch nicht in Konflikt mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes oder der Souveränität fremder Staaten und ihrer Rechtsordnungen. Der Einwand eines „Grundrechtsimperialismus“ verfängt beim status negativus des Fernmeldegeheimnisses schon von vornherein nicht, da dieser keine Erweiterung, sondern vielmehr eine völkerrechtsfreundliche Rücknahme deutscher Staatsgewalt darstellt. Damit steht im Ergebnis fest, dass das Fernmeldegeheimnis sowohl deutsche Staatsbürger als auch ausländische Staatsbürger im In- und Ausland grundsätzlich schützt, wobei der Belegenheitsort der Überwachungseinrichtung unbeachtlich ist. j) Unmodifizierte Übertragung des Grundrechtsverhältnisses auf Ausländer im Ausland? Das „Ob“ der Geltung ist beantwortet, es bleibt indes die Frage, „Wie“ das Fernmeldegeheimnis bei der Erfassung von Telekommunikation von Ausländern im Ausland gilt. Ist Art. 10 I GG also unverändert, gleichsam eins zu eins, auf Fälle der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung von Ausländern im Ausland – vom Inland oder vom Ausland aus – zu übertragen? Die Debatte um grenzüberschreitende Sachverhalte und die folgende Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt im Ausland – sofern man eine solche überhaupt anerkennen wollte – war (und ist) vom Grundtenor geprägt, dass das Schutzniveau im Vergleich zu rein innerstaatlichen Vorgängen schon zwangsläufig generell reduziert sein müsse1688; freilich mit zahlreichen Abstufungen der dann jeweils anzunehmenden Intensität im Einzelnen. So sind denn auch allgemeine und spezifisch auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung bezogene Modifikationstendenzen hinsichtlich des grundrechtlichen Schutzumfanges breit vorgetragen worden; ebenso haben sie entschiedenen Widerspruch erfahren1689. Einer Redu1688 So die treffende Bestandsaufnahme bei Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1074; dahingehend auch Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 952 m. Fn. 3; Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 293: „Dass in kollisionsrechtlichen Lagen die grundrechtlichen Anforderungen zu modifizieren sind, ist im Ergebnis weitgehend unbestritten“; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 105. 1689 Allgemein für eine Begrenzung streiten neben den bisher dargetanen Meinungen etwa Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 293 ff.; Hofmann, Grundrechte (Fn. 1400), S. 69, 233 ff.; Elbing, Anwendbarkeit (Fn. 1377), S. 168 ff.; Merten, Geltungsbereich (Fn. 1362), S. 336; kritisch gegenüber einer allgemeinen, pauschalen Modifikation bzw. Reduktion des Umfangs der Grundrechtsgeltung insbesondere Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 105 ff., 145 f., die die Positionen nachzeichnet; ebenfalls ablehnend Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1074; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 454 f.; Baldus, Polizeirecht (Fn. 1420), S. 125 ff.; so auch bereits Schröder, Wirkkraft
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zierung auf einen rein objektiv-rechtlichen Gehalt des Fernmeldegeheimnisses bei extraterritorialen Sachverhalten als vorgelagerte Grundrechtsvoraussetzung1690 oder einer Umwandlung von Jedermann- in Deutschengrundrechte auf Schutzbereichsebene1691 konnte hier indes schon im Ansatz nicht gefolgt werden. Abzulehnen sind – schon aufgrund der technischen Hintergründe – ferner Überlegungen, die Spionage des Bundesnachrichtendienstes im Ausland nicht als Ausübung hoheitlicher Gewalt einzustufen, da insoweit die Agenten wie private Kriminelle kontralegal handelten und ihnen ebenso keine imperative Durchsetzungsfähigkeit im Ausland zukomme1692. Nach der hiesigen Auslegung des Art. 10 I GG als extraterritorial geltendes Recht qua untersagter Differenzierung anhand der Telekommunikationsumstände braucht weiteren schutzbereichsbezogenen Modifikationsbestrebungen, wie der Idee einer Reduktion der Grundrechte im Ausland auf menschenrechtliche 1693 oder „wesentliche grundrechtliche und rechtsstaat(Fn. 1407), S. 144 ff. In Bezug auf die Aufklärungstätigkeit des Bundesnachrichtendienstes zumindest bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung für eine Modifikation des grundrechtlichen Schutzniveaus des Fernmeldegeheimnisses etwa Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 226 ff.; Gärditz, Gesetzentwürfe (Fn. 804), S. 6 ff.; H. A. Wolff, Moderne Sicherheitsgesetze – Verfassungsrechtliche Bewertung, in: H.-J. Papier/ U. Münch/G. Kellermann (Hrsg.), Freiheit und Sicherheit, 2016, S. 63 (74 ff.); Krieger, Grundrechtsbindung (Fn. 1589), S. 8 ff.; dagegen zum Beispiel Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1076 f.; allenfalls für moderate Anpassungen, namentlich etwa in Bezug auf verfahrensrechtliche Sicherungen in Form von Benachrichtigungspflichten Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 10; Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1338 f.; für punktuelle, funktional begründete Anpassungen auch Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 8 ff.; ders. Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 561; Huber, Rasterfahndung (Fn. 29), S. 2575 ff.; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 3 ff., 13, die ansonsten für einen weitgehenden Gleichlauf der verfassungsrechtlichen Anforderungen an das G 10 und das BNDG streiten. Für den Versuch eines Gesamtüberblicks über die zahllosen Positionen und Ansätze zur Modifikation der Grundrechte siehe ferner insbesondere auch die Darstellung bei Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 199 ff. zum verfassungs- und völkerrechtlichen Mindeststandard, S. 245 ff. zur rein verfassungsrechtlichen Maßstabsdiskussion mit zahlreichen weiteren Nachweisen; genereller Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 200 ff.; ebenso Sax, Soldaten (Fn. 1391), S. 243 ff. allerdings mit dem Fokus auf militärische Auslandssachverhalte; ferner zuvor schon allgemeiner monographisch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 105 ff. 1690 Dahingehend aber Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 15. 1691 So aber bisher der BND, BT-Drs. 18/12850, S. 750 ff.; ferner Isensee (Fn. 1363), § 115 Rn. 87; Quaritsch (Fn. 1381), § 120 Rn. 77; Heintzen, Beziehungen (Fn. 1400), S. 138 ff. 1692 So aber die Argumentation bei Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 475 ff. Streng genommen wäre dieser Einwand, zumindest in Bezug auf die mangelnde Durchsetzungskraft mit hoheitlichen Mitteln, dogmatisch erst auf Eingriffsebene zu verorten; im Sinne einer komprimierten Darstellung wurde die Position von Gärditz bereits auf Schutzbereichsebene aufgegriffen. Hier lässt sich der Gedanke, dass schon gar keine Hoheitsgewalt ausgeübt werde und mithin keine Grundrechtsbindung im Sinne des Art. 1 III GG bestünde, im Lichte der gesamten Debatte darlegen. Zur Einordnung als Modifikation auf Eingriffsebene etwa Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 225 f. 1693 So in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung aber etwa Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 53 f., der diesen Weg vorschlägt, um dem Vorwurf des Grund-
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liche“ 1694 Garantien, nicht mehr nachgegangen werden. Derartig eingehende Beschränkungen sind mit der umfassenden, grundrechtsimmanenten Geltung des Fernmeldegeheimnisses als subjektives Abwehrrecht schon im Ansatz unvereinbar, da sie die Feststellung eines Auslandssachverhalts erst vorrausetzen, und auch völkerrechtlich nicht erforderlich. Gleichfalls erscheint es jedoch unterkomplex, den nationalen grundrechtlichen Schutzrahmen immer pauschal ohne – wie intensiv auch immer geartete – situative Modifikationsmöglichkeiten auf extraterritoriale Sachverhalte zu übertragen. Das Bundesverfassungsgericht nimmt ebenfalls keine absolute Gleichstellung des Grundrechtsschutzes im In- und Ausland an, sondern hält ausdrücklich fest, dass sich „die aus den Grundrechten konkret folgenden Schutzwirkungen danach unterscheiden können, unter welchen Umständen sie zur Anwendung kommen“ 1695. Dies gelte, analog den verschiedenen „Wirkungsdimensionen“ der Grundrechte im Inland, auch für deren Wirkung bei Auslandssachverhalten1696. Der Erste Senat betont – obschon er hierüber schon im Ansatz eigentlich nicht entscheiden wollte –, dass bei der Frage der Wirkungsintensität der Grundrechte zwischen dem status negativus und positivus unterschieden werden müsse, ebenso für „verfassungsrechtliche Wertentscheidungen oder als Grundlage von Schutzpflichten“ 1697. Dem ist dem Grunde nach zuzustimmen. Auch das hiesige Verständnis des Art. 10 I GG steht einer Differenzierung der Schutzintensität nicht entgegen1698, da die Kenntnisnahme der Telekommunikationsumstände nur das „Ob“ des Schutzes durch das Fernmeldegeheimnis betrifft aber nicht das „Wie“. Art. 10 I GG gilt deshalb grundsätzlich auch für Ausländer im Ausland, da eine Unterscheidung des Ziel- und Endpunktes der Telekommunikation oder gar der Staatsangehörigkeit der Teilnehmer ohne Eingriff in die Telekommunikationsumstände nicht möglich ist. Ist jedoch erst durch die Filterkaskade eine Differenzierung vorgenommen worden, können bei der Schutzintensität der dann bereits geolokalisierten und zugeordneten Daten durchaus Differenzierungen vorgesehen werden. rechtsimperialismus der deutschen Grundrechte zu entgehen. Ein völkerrechtlicher Konflikt ergibt sich bei der Anerkennung einer extraterritorialen Geltung des Fernmeldegeheimnisses aber – wie aufgezeigt – schon von vornherein nicht. 1694 Vorschlag zur Bestimmung der Schutzintensität bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung von Wolff, Sicherheitsgesetze (Fn. 1689), S. 76. 1695 BVerfGE 154, 152 (224, Rn. 104); BVerfG-K, Beschluss vom 18.11.2020, 2 BvR 477/17, Rn. 31; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 718, sieht den Ersten Senat insoweit im Einklang mit „dem ganz herrschenden Schrifttum“. 1696 BVerfGE 154, 152 (224, Rn. 104); BVerfG-K, Beschluss vom 18.11.2020, 2 BvR 477/17, Rn. 31. 1697 BVerfGE 154, 152 (224, Rn. 104); BVerfG-K, Beschluss vom 18.11.2020, 2 BvR 477/17, Rn. 31. 1698 Ein solches Verständnis legt jedoch zugrunde Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 177 f., der die hiesige Ansicht gleichsam als „ganz oder gar nicht“-Ansatz qualifiziert.
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Hieraus folgt jedoch für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung noch nichts Konkretes. Die Erkenntnis ist zudem keinesfalls neu, schließlich hatte das Bundesverfassungsgericht schon 1999 mit Rekurs auf seine Rechtsprechung Modifikationsmöglichkeiten im Einzelnen hervorgehoben1699. Exakt auf dieselben Fundstellen verweist nunmehr erneut der Erste Senat, als er Grundrechte, die auf „Konkretisierungen des Gesetzgebers“ angewiesen seien, unter den Vorbehalt einer Anpassung an Auslandssachverhalte stellt1700. Grundsätzlich offen zeigt sich der Senat in Einzelfällen auch für Modifikationen auf Ebene des sachlichen und persönlichen Schutzbereichs, wo „Gewährleistungen im Inland und im Ausland in unterschiedlichem Umfang Geltung beanspruchen“ könnten1701. Dabei sind bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung – jedenfalls nach Ansicht des Senats – einerseits Deutsche und Inländer und andererseits Ausländer im Ausland zu unterscheiden1702. Auch eine Differenzierung des Schutzniveaus aufgrund der Staatsangehörigkeit hält das Bundesverfassungsgericht, jedenfalls als Reaktion auf die potentiell unterschiedliche Eingriffsintensität des Handelns deutscher Staatsgewalt im In- und Ausland, explizit für möglich1703. Dabei ist jedoch mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung in der dritten Abhörentscheidung und im Spanier-Beschluss sowie die ausführliche – möglicherweise – vorzunehmender Differenzierung auf Rechtfertigungsebene im BNDGUrteil1704 davon auszugehen, dass Modifikationen allenfalls punktuell und bezogen auf das einzelne Grundrecht vorgenommen werden können1705. Hierbei ist zudem der konkreten Kontext der Grundrechtsbeschränkung durch spezifische Maßnahmen staatlicher Institutionen in den Blick zunehmen. Dies gilt bei der Frage nach dem Umfang des grundrechtlichen Schutzes noch mehr als bei der Debatte um dessen generelle Anwendbarkeit, da hier Abstufungen gezielt getroffen werden müssen. Modifikationen können sinnvollerweise immer nur an einer konkreten grenzüberschreitenden oder reinen Auslandssituation ansetzen, bei der auch die tatsächliche Gefährdungslage für ein Grundrecht durch den staatlichen Eingriff 1699 BVerfGE 100, 313 (363) unter Verweis auf BVerfGE 92, 26 (41 f.) – Zweitregister; BVerfGE 31, 58 (72 ff.) – Spanier. 1700 BVerfGE 154, 152 (224, Rn. 104). 1701 BVerfGE 154, 152 (224, Rn. 104). 1702 Instruktiv Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827. 1703 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172, 257, Rn. 186); Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 720. 1704 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172, 254, Rn. 177, 254 f., Rn. 179 f., 257, Rn. 186, 282 ff., Rn. 254 ff., 285 ff., Rn. 262 ff.). 1705 Für eine jeweils am spezifischen Grundrecht zu diskutierende Modifikation des grundrechtlichen Schutzniveaus grundsätzlich auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 173; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1074; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 6; Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 302; so schon im Lichte des Spanier-Beschlusses Schröder, Wirkkraft (Fn. 1407), S. 141; vgl. auch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 78.
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zu werten ist. Hinzukommt, dass grundrechtliche Konfliktlagen – auch jenseits extraterritorialer Einflüsse – schlechterdings immer anhand eines Einzelfalles aufgelöst werden müssen1706. „One-size-fits-all-Lösungen“ 1707 können sicherlich keine konkreten Sachverhalte hinreichend abbilden und sind jedenfalls für die hier konkret in Rede stehende Bestimmung verfassungsrechtlicher Anforderungen an die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung nicht zielführend. Auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum BNDG bleiben daher viele Fragen offen: Welche materiell-rechtlichen Mindeststandards beispielsweise im Lichte von Art. 13 GG – sofern überhaupt – gelten, wenn die Bundeswehr in Afghanistan ein Haus durchsucht, bleibt auch nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts äußerst vage1708. Rein abstrakte Überlegungen oder gar Großformeln können im Ergebnis allenfalls als Richtschnur und Leitlinien dienen, sie ermöglichen jedoch nicht die Auflösung konkreter Problemfelder. Eine Modifikation ist für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung auf Eingriffsebene, bei der Frage der Zurechenbarkeit staatlichen Handelns1709, insbesondere aber auf Schrankenebene, denkbar. Gerade die Schrankendogmatik bietet aufgrund der Flexibilität und Offenheit der einzelnen Parameter – maßgeblich dem Gesetzesvorbehalt, dem Bestimmtheitsgrundsatz und der Verhältnismäßigkeitsprüfung – den notwendigen Raum für Einzelfalllösungen1710 und ermöglicht die Berücksichtigung der besonderen Situation der Überwachung von Ausländern im Ausland durch den Bundesnachrichtendienst. So schließt denn auch das Bundesverfassungsgericht seine allgemeinen Ausführungen zur Dimension der Grundrechtsgeltung bei ausländischem Staatshandeln mit der Feststellung ab, dass Modifikationen des Schutzniveaus „erst Recht [. . .] [bei] der Einbindung staatlichen Handelns in ein ausländisches Umfeld bei der Bestimmung von Anforderungen an die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen – insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeit – Rechnung zu tragen“ sei1711. 1706 Instruktiv zu Recht Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 258 m.w. N.; dahingehend auch Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1076. 1707 Ostentativ Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 258, zur allgemeinen Herabsetzung des grundrechtlichen Schutzniveaus bei zwischenstaatlichen Kooperationen auf eine „Kernbereichskonstruktion“, die durch die Rechtsprechung und herrschende Lehre erfolge (Hervorhebung nur hier). 1708 Beispiel und selbige Wertung bei Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 952. 1709 Zur Verortung der Zurechnung von extraterritorialem Handeln zur deutschen Staatsgewalt nunmehr auch instruktiv Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 118 f., der richtigerweise betont, dass im Falle einer fehlenden Zurechenbarkeit hoheitlichen Handelns ein Grundrechtseingriff entfalle, nicht aber die extraterritoriale Grundrechtsbindung an sich; ausführlich zu Zurechnungsparametern auch Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 171 ff. 1710 Zur Flexibilität der Parameter auf Schrankenebene instruktiv auch Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 577. 1711 BVerfGE 154, 152 (224, Rn. 104).
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An gegebener Stelle wird deshalb auf etwaige Grundrechtsmodifikationen zurückzukommen sein.
II. Eingriffscharakter der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung Die strategische und die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung können als nachrichtendienstliche Vorfeldbefugnisse in das Fernmeldegeheimnis und in der Folge auch in die Presse- und Berufsfreiheit, sofern Telekommunikation in diesen Kontexten erhoben und ausgewertet wird, eingreifen. Dieser schlichte Befund erscheint prima facie als Selbstverständlichkeit, die keiner besonderen Vertiefung bedarf. Wann genau die Eingriffsschwelle bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung erreicht wird, ist aber in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts letztlich immer unklar geblieben1712; selbiges gilt für die Literatur. Deswegen ist eine detaillierte Aufarbeitung der Eingriffsdogmatik – die auch teils landläufig Bekanntes zur Gesamteinordnung widerspiegeln muss – notwendig, wobei die spezifischen Charakteristika der technischen Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst normativ eingeordnet werden müssen. Die präzise Bestimmung, welche Datenerfassung und Verarbeitung konkret einen Grundrechtseingriff darstellt, entscheidet – neben dem schon rein dogmatisch begründeten Interesse an Massendatenerfassungen als Grundrechtsphänomen – bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung zudem über ihre Streubreite und mithin über einen wichtigen materiell-verfassungsrechtlichen Parameter. Das Bundesverfassungsgericht erkennt – neben klassisch imperativ-finalen1713 – auch in heimlichen Informationserhebungs- und Verwendungsmaßnahmen, aus denen, zumindest im ersten Anschein, „für den Einzelnen kein präzise bestimmbarer Nachteil oder keine relevante Gefahr“ 1714 entstehen, Grundrechtseingriffe und misst ihnen teils „erhebliches Gewicht“ bei1715. Damit sind zwei 1712 So richtigerweise die komprimierte Bestandsaufnahme in Bezug auf die Rechtsprechung des BVerfG von Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 172. 1713 Statt vieler zum klassischen Grundrechtseingriffsbegriff im ersten Zugriff Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 282), Rn. 325; ebenso Bumke/Voßkuhle, Casebook (Fn. 554), Rn. 71 ff.; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 128; jeweils unter Verweis auf BVerfGE 105, 279 (300); hierzu auch sogleich unter F. II. 1. 1714 So dezidiert kritisch zu der Position des BVerfG, einen Informationseingriff als hergebrachten Grundrechtseingriff zu qualifizieren, F. Schoch, Die Ambivalenz von Freiheit und Sicherheit, in: H.-H. Gander/W. Perron/R. Poscher u. a. (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012, S. 63 (66); zu dieser Aussage von Schoch und ihrer Einordnung in die Bestimmung eines allgemeinen Informationseingriffes im Sicherheitsrecht instruktiv die hier zum Vorbild genommene Einleitung zum Informationseingriff in der Monographie von Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 223. 1715 Stellvertretend etwa BVerfGE 150, 244 (283, Rn. 96); allgemeiner jeweils in Bezug auf verschiedene Sicherheitsgesetze mit Ermächtigungsgrundlagen zum Informationseingriff BVerfGE 141, 220 (264 ff., Rn. 90 ff.); 125, 260 (316); 115, 320 (347 f.).
II. Eingriffscharakter der Auslandstelekommunikationsüberwachung
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Ebenen der Eingriffsdimension des sicherheitsrechtlichen Grundrechtseingriffes angesprochen: Zunächst ist der Eingriffsbegriff als solcher in Bezug auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung zu konkretisieren, also festzustellen, in welchen technischen Fallgestaltungen konkret ein Eingriff vorliegt (1.). Sodann ist der Frage der Eingriffsintensität nachzugehen, die dogmatisch strenggenommen einen auf die Eingriffsebene vorgezogenen Teil der Rechtfertigungsanforderungen in Gestalt der Angemessenheitsprüfung darstellt (2.). Aufgrund des reziproken Verhältnisses von Eingriffsintensität und der Formulierung von Anforderungen an verfassungskonforme Einschreitschwellen erscheint die komprimierte Betrachtung vorzugswürdig1716. Es ist mithin zwischen der Existenz eines Informationseingriffes1717 in das Fernmeldegeheimnis und der Dimension dieser Freiheitsbeeinträchtigung zu differenzieren1718. 1. Eingriffsbegriff und Abgrenzungsfragen bei technisch induzierten Eingriffen Nach dem hergebrachten, herkömmlich als „klassisch“ bezeichneten Eingriffsbegriff, bedarf es für das Vorliegen eines Grundrechtseingriffes bekanntermaßen eines rechtsförmigen Vorganges, der unmittelbar und final durch ein vom Staat verfügtes, mit Befehl und Zwang durchsetzbares, Ge- oder Verbot, also imperativ, zu einer Verkürzung von grundrechtlichen Freiheiten führt1719. Man mag hierunter bereits die „naturgemäß heimliche“ Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses subsumieren, welches seit Anbeginn als einschränkbar ausgestaltet war, und somit die Entwicklung hin zum modernen1720 oder erweiterten1721 Eingriffsbegriff nicht als zwingend notwendigen Schritt für die dogmatische Erfas-
1716 Zur inhaltlichen Verbindung des Eingriffes als solchem (das „Ob“) und dessen Gewicht (das „Wie“) etwa J. Zanger, Freiheit von Furcht. Zur grundrechtsdogmatischen Bedeutung von Einschüchterungseffekten, 2017, S. 171; ebenso der wie hier gelagerte Aufbau bei Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 223; vgl. in diese Richtung auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), Kapitel 3 und 4. 1717 Zum Begriff in der Rechtsprechung BVerfGE 120, 378 (403 f.); 65, 1 (40, 52); aus der Literatur Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 225 f. m.w. N.; ferner insbesondere Möstl, Garantie (Fn. 100), S. 219 ff. 1718 Siehe zu diesem Zusammenhang auch die kompakte Darstellung bei Schluckebier, Sicherheitsgewährleistungen (Fn. 148), S. 9 ff., der die im Folgenden ausführlich darzulegenden Zusammenhänge zwischen der Bestimmung, wann überhaupt eine Eingriffswirkung vorliegt und wie schwer diese wirkt, kurz zusammenfasst. 1719 Definition nach BVerfGE 105, 279 (300); ebenso erneut Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 282), Rn. 325 f.; ausführlich zum klassischen Eingriffsbegriff etwa F.-J. Peine, Der Grundrechtseingriff, in: Merten/Papier, HGR III (Fn. 1317), § 57 Rn. 19 ff.; M. Sachs/K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/ 2, 1994, § 78 II. 1., S. 82 ff. 1720 So die Terminologie bei Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 282), Rn. 328 ff. 1721 Für diese Terminologie hingegen Peine (Fn. 1719), § 57 Rn. 31.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
sung der Eingriffsqualität von Telekommunikationsüberwachung sehen1722. Jedenfalls vom modernen bzw. erweiterten Eingriffsbegriff, wonach jede staatliche Maßnahme, die dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht1723, ist die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung erfasst. Ein Eingriff in das hier in Rede stehende Fernmeldegeheimnis liegt konkret vor, wenn sich staatliche Stellen ohne Zustimmung der Kommunikationsteilnehmer Kenntnis von dem Inhalt oder den Umständen – sprich den Metadaten – des Kommunikationsvorganges verschaffen, diesen aufzeichnen oder von diesen Informationen Gebrauch machen1724. Das Fernmeldegeheimnis schützt indes, wie bereits festgestellt, weitergehend und funktionsbezogen vor jedem staatlichen Schritt im „Lebenszyklus“ 1725 der Telekommunikationsdaten1726. Das Bundesverfassungsgericht begreift das Fernmeldegeheimnis schließlich als spezielle Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, dessen Eigenheiten weitgehend auf Art. 10 I GG übertragbar sind1727. Daher stellt jede Erhebung1728, Speicherung1729, Verwendung1730, Weitergabe bzw. Übermittlung1731 1722 So Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 14, der bereits im klassischen Eingriffsbegriff die Beschränkung des Fernmeldegeheimnisses abgebildet sieht. 1723 Statt aller zum modernen Eingriffsbegriff Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 282), Rn. 329; die Zurechnungsdimension zu staatlichem Handeln betonen dabei Bumke/Voßkuhle, Casebook (Fn. 554), Rn. 73 ff. 1724 So im ersten Zugriff Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 154; Jarass (Fn. 1184) Art. 10 Rn. 11; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 53. 1725 Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 20, unter Verweis auf den datenschutzrechtlichen Oberbegriff der „Verarbeitung“ und der hieran anschließenden weiten Definition von Art. 3 Nr. 2 DSRL-JI („jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung“), die freilich im Bereich der Nachrichtendienste keine direkte Anwendung findet. 1726 Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 154. 1727 BVerfGE 125, 260 (310), grundlegend 100, 313 (358 ff.); Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 54. 1728 BVerfGE 154, 152 (229, Rn. 114); 125, 260 (310); 110, 33 (52 f.); 100, 313 (366); 85, 368 (398) für das Telekommunikationsgeheimnis; übergeordnet für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung BVerfGE 120, 378 (398); 118, 168 (184 f.); 115, 320 (343); grundlegend freilich das Volkszählungsurteil BVerfGE 65, 1 (43). 1729 BVerfGE 125, 260 (310); 110, 33 (53); 100, 313 (366); 85, 386 (398). 1730 BVerfGE 156, 11 (39 ff., Rn. 72 ff.); 154, 152 (230 f., Rn. 118); 150, 244 (265 f., Rn. 42); 130, 151 (184); 125, 260 (310); 110, 33 (53); 100, 313 (366); 85, 386 (398). 1731 BVerfGE 154, 152 (231, Rn. 119, 266 ff., Rn. 212 ff.); für die Übermittlung von Nachrichtendiensten an Sicherheitsbehörden BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123); ferner BVerfGE 141, 220 (334, Rn. 305); 125, 260 (310); maßgeblich entwickelt im Urteil zur strategischen Fernmeldeaufklärung BVerfGE 100, 313 (367); hierzu auch Zöller,
II. Eingriffscharakter der Auslandstelekommunikationsüberwachung
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oder Zweckänderung1732 von Informationen oder Umständen eines Telekommunikationsvorganges jeweils einen separaten, und damit auch einzeln rechtfertigungsbedürftigen, Eingriff in Art. 10 I GG dar1733. Im Sinne einer Eingriffskette ist damit jede Folgeverwendung von Daten, die aus einem Eingriff in das Fernmeldegeheimnis erlangt worden sind, als weiterer Eingriff an diesem zu messen1734. Hierbei handelt es sich um mittlerweile gefestigte Erkenntnisse, was nicht zuletzt durch die Vielzahl von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes deutlich wird, die sich weitgehend – als Ausweis der Konsistenz und Kohärenz höchstrichterlicher Rechtsprechung – in chronologischer Reihenfolge selbst zitieren1735. a) Verlagerung des Eingriffes durch hoheitliche Indienstnahme Privater Das Bundesverfassungsgericht hat die Eingriffsdogmatik an den durch die Privatisierung des Telekommunikationsmarktes geprägten Wandel, weg von direktem staatlichem Zugriff auf Leitungen, hin zur Statuierung von Speicher- und Übermittlungspflichten bei den privaten Telekommunikationsdienstleistern, angepasst1736. Demnach ist bereits die (Vorratsdaten-)Speicherung von Telekommunikationsdaten oder deren Übermittlung durch private Telekommunikationsdienstleister an staatliche Stellen ein Grundrechtseingriff, den sich der Staat zurechnen Rechtsrahmen (Fn. 240), S. 188; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 131; ausführlich Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 214 ff., 258 ff. 1732 Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Zweckänderungen im Sicherheitsrecht BVerfGE 141, 220 (326 ff., Rn. 284 ff.); 133, 277 (372, Rn. 225); 125, 260 (312 f.); 110, 33 (68 f.); 109, 279 (375); für einen Eingriff in Art. 10 I GG etwa BVerfGE 100, 313 (360); grundlegend zu Zweckänderungen erneut das Volkszählungsurteil BVerfGE 65, 1 (51, 62). 1733 BVerfGE 154, 152 (266, Rn. 212); 150, 244 (265 f., Rn. 42); 141, 220 (334, Rn. 305); 130, 151 (184); 125, 260 (310); 115, 320 (400 f.); 100, 313 (366 f.); für die Literatur Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 56; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 226, ebenfalls mit umfassenden Nachweisen aus der Rechtsprechung. 1734 BVerfGE 125, 260 (309 f., 313); 100, 313 (359, 366 f.); zum Begriff der „Eingriffskette“ prägnant BVerwGE 161, 76 (82, Rn. 24), unter Verweis auf die vorgenannten Entscheidungen des BVerfG. 1735 Zur „Reihenbildung“ als Charakteristikum höchstrichterlicher Rechtsprechung und Beleg der Konsistenz, J. Staben, Der Abschreckungseffekt auf die Grundrechtsausübung, 2016, S. 20 f.; kritisch zu dieser „Methode verfassungsrechtlichen Argumentierens“ im Kontext des Beschlusses zur Antiterrordatei II – aber wohl verallgemeinerbar –, die „Autorität durch Tradition“ vermittle Löffelmann, Anmerkung (Fn. 125), S. 34. 1736 Zu diesem Wandel mit Blick auf die Verpflichtungs- und Beschränkungsanordnungen und gegenüber der DE-CIX GmbH und den nachrichtendienstlichen Zugriffsmöglichkeiten auf Telekommunikation BVerwGE 162, 179 (187 ff., Rn. 28 f.); vgl. allgemein zur Privatisierung des Telekommunikationssektors die Übersicht bei W. Kopf/ M. Vidal, Perspektiven der TK-Regulierung, in: MMR 2018, S. 22 ff.; zu den Auswirkungen auf das G 10 im Rahmen der Novelle von 1997 vgl. L. Gramlich, Die Zweite Novelle des G 10-Gesetzes, in: NJW 1997, S. 1400 ff.; zur mit der Privatisierung einhergehenden Verschiebung hin zu staatlichen Schutzpflichten für durch Private vermittelte Fernmeldeverkehre Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 94.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
lassen muss, sofern die Privaten lediglich auf hoheitliche Anordnung hin als „Hilfspersonen“ agieren, ohne dass ihnen insoweit ein eigener Handlungsspielraum verbleibt und die Verpflichtung allein der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dient1737. Bei Vorliegen dieser Prämisse wird man alle Handlungen von Privaten, die den Schutzbereich unmittelbar verkürzen, dann als Eingriff werten können, wenn sie bei der gedanklichen Vornahme durch staatliche Stellen ebenso einen Eingriff darstellen würden1738. Bei der strategischen Fernmeldeaufklärung ergeht bei der Erfassung leitungsgebundener Verkehre im Inland an die Telekommunikationsdienstleister zunächst die Verpflichtungsanordnung zur Ausleitung – präziser zur Spiegelung oder Absplittung – einer vollständigen Kopie eines angeordneten Datenstromes und deren Bereitstellung an einem Übergabepunkt1739; im Rahmen der Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung gilt das Gesagte entsprechend, wie § 8 I 3 BNDG verdeutlicht1740. Der Bundesnachrichtendienst erhebt in beiden Fällen der leitungsgebundenen Telekommunikation die Fernmeldeverkehre nicht unmittelbar selbst mittels eigener technischer Anlagen, sondern bekommt die Daten aufgrund der, mit Verwaltungsaktcharakter versehenen1741 Verpflichtungsanordnung von den Telekommunikationsdienstleistern ausgeleitet. Den Verpflichteten verbleibt durch den Erlass der Verpflichtungsanordnung kein eigener Handlungsspielraum, da die Anordnung den Tenor der zugrundeliegenden Beschränkungsanordnung enthält, die zu überwachenden Übertragungswege vorgibt und bis ins Detail in Tabellenform die jeweils zu spiegelnden „Ports“ sowie die Ausleitungsmethode ausweist1742. Die Daten sind gemäß § 2 Ia G 10, § 8 I 3 BNDG jeweils in Verbindung mit § 110 I Nr. 1 TKG a. F. (§ 170 I, II TKG n. F.), § 27 II TKÜV am Übergabepunkt für den Bundesnachrichtendienst bereitzustellen. Die Nichtbefolgung der Verpflichtungsanordnung ist überdies gemäß § 149 I Nr. 22 TKG a. F. (§ 228 II Nr. 42 TKG n. F.) bußgeldbewehrt1743. Die Anordnung dient zudem ersichtlich öffentlichen Aufgaben, da sie die leitungsgebundenen Fernmeldeverkehre zu Zwecken nachrichtendienstlicher Auslandsaufklärung für den Bundesnachrichten1737 BVerfGE 125, 260 (310 f.) zur Vorratsdatenspeicherung; 107, 209 (313 f.) zur Übermittlung von Kommunikationsdaten; zur Rechtsprechung auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 228. 1738 So die konsequente Folgerung von Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 228 Fn. 34. 1739 BVerwGE 162, 179 (194, Rn. 40); dazu ausführlich schon unter C. III. 2. f) sowie E. II. 1740 § 2 Ia G 10 und § 8 I 3 BNDG sind wortgleich und verweisen beide auf die Verpflichtungen nach § 110 TKG a. F. und § 27 TKÜV, hierzu Dietrich (Fn. 771), § 8 BNDG Rn. 6. 1741 Dietrich (Fn. 771), § 8 BNDG Rn. 3. 1742 BVerwGE 162, 179 (180 f., Rn. 4 f., 189 ff., Rn. 31 ff.). 1743 Es kann gemäß § 149 II 1 Nr. 1 TKG a. F. eine Geldbuße bis zu fünfhunderttausend Euro verhängt werden, hierzu A. Dierlamm/M. Cordes, in: Scheurle/Mayen, TKGKommentar (Fn. 343), § 149 TKG Rn. 57.
II. Eingriffscharakter der Auslandstelekommunikationsüberwachung
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dienst durch die Anordnung der Spiegelung bzw. Absplittung von Datenströmen überhaupt erst verfügbar macht. Für den verpflichteten Telekommunikationsdienstleister bedeutet die Indienstnahme hingegen einen technisch-organisatorischen Mehraufwand. Zudem kann das Bekanntwerden der Verpflichtungen für die Unternehmen sogar geschäftsschädigend sein, wenn sich aufgrund der Überwachungsmaßnahmen Kunden wegen mangelnder Vertraulichkeit ihrer Kommunikation bei Nutzung der Dienste der Verpflichteten von diesen abwenden – ein irgendwie geartetes Eigeninteresse der Privaten an der Überwachung ist daher mitnichten gegeben1744. Demnach liegen die Voraussetzungen für eine Zurechnung der Ausleitung der Datenströme durch die Telekommunikationsdienstleister vor1745. In Anlehnung an die Kriterien, die das Bundesverfassungsgerichts zur Zurechnung staatlicher Informationseingriffe durch die Indienstnahme Privater bei der Vorratsdatenspeicherung aufgestellt hat, erscheint es konsequent, bereits den ersten tatsächlich stattfindenden Zugriff auf die dem Fernmeldegeheimnis unterfallende Telekommunikation durch die Spiegelung bzw. Absplittung bei den privaten Telekommunikationsanbietern als grundsätzlich zurechenbaren Eingriff zu werten. Dass dieser durch Private und nicht durch den Staat selbst erfolgt, ist dann irrelevant. Das Bundesverwaltungsgericht hat diesen Zurechnungszusammenhang indes nicht thematisiert, sondern auf den Zeitpunkt des erstmaligen Zugriffes auf den ausgeleiteten Datenstrom durch den Bundesnachrichtendienst selbst als ersten Grundrechtseingriff abgestellt1746. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung 1999 auf die Erfassung nicht-leitungsgebundener Kommunikation mittels eigener Empfangsanlagen des Bundesnachrichtendienstes bezogen und somit zur Einschaltung Privater keine Aussage getroffen1747. Nunmehr stellt der Erste Senat die Erfassung von Satellitendaten durch den Bundesnachrichtendienst selbst mit 1744 Siehe nur die Klage der DE-CIX GmbH gegen den Bundesnachrichtendienst zur Unterbindung der Überwachung, BVerwGE 162, 179, wobei freilich ein Kundenverlust durch die Überwachung des Bundesnachrichtendienstes nicht explizit vorgetragen wird. 1745 A. A. Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 237 f., der gegen die Zurechnung der Indienstnahme Privater die mangelnde Konkretisierung der zu spiegelnden Daten anführt, da diese erst noch durch den Separator reduziert werden müsse. Dies berücksichtigt indes nicht hinreichend, dass durch die Verpflichtungsanordnung selbst bereits eine erhebliche Vorauswahl bezüglich der auszuleitenden Verkehre bis ins Detail erfolgt ist. Das Argument verfängt deswegen im Fall der strategischen, aber auch bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, nicht. Die Anordnung zur Datenausleitung kann deshalb bereits grundsätzlich einen Grundrechtseingriff darstellen. 1746 BVerwGE 161, 76 (83, Rn. 26); siehe allerdings BVerwGE 149, 359 (365, Rn. 24), wonach die Telekommunikationsdaten erfasst wären, wenn der verpflichtete Telekommunikationsbetreiber „den Datenstrom in Gestalt einer Verdoppelung dem Bundesnachrichtendienst zuleitet“ (Hervorhebung nur hier). 1747 BVerfGE 100, 313 (337, 377, 379 ff.); eine Erfassung von leitungsgebundener Kommunikation war schließlich gemäß des damals entscheidungserheblichen § 3 I 3 G 10 a. F. nur im Sonderfall der Gefahr eines bewaffneten Angriffes auf die Bundesrepublik erlaubt. Selektoren mit dieser Zielrichtung wurden beim Verfahren vor dem BVerfG jedoch gar nicht gesteuert, BVerfGE 100, 313 (324).
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
der Ausleitung von leitungsgebundener Telekommunikation aufgrund einer Anordnung nach § 8 BNDG gleich, ohne weitergehende Differenzierungen zu treffen1748. Dies überzeugt zwar im Ergebnis, nicht jedoch in der konkreten Begründung, da die Rolle der privaten Telekommunikationsdienstleister, die die Datenströme erst an den Bundesnachrichtendienst ausleiten, nicht in hinreichendem Maße als Grundrechtseingriff gewürdigt wird. Die hiesige Herangehensweise minutiöser Ausleuchtung einzelner Eingriffsschritte mag auf den ersten Blick kleinlich wirken, sie ist jedoch die Grundlage für wichtige Wertungen im Folgenden, die sodann auch unterschiedliche Ergebnisse bedingen können. Sowohl bei der Ausleitung von Daten als auch bei der Erhebung durch den Bundesnachrichtendienst selbst kann indes an dieser Stelle noch nicht über die Zurechnung des Eingriffes im Hinblick auf den gesamten gespiegelten bzw. mittels Empfangsanlagen erfassten Datenstrom abschließend entschieden werden, da weitere Besonderheiten technisch induzierter Informationseingriffe1749 berücksichtigt werden müssen. b) Massendatenabgleich als Herausforderung an die Eingriffsdogmatik Die strategische und die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung stellen sich als rein technische Eingriffe dar, bei denen zunächst vollautomatisiert die ausgeleitete bzw. erfasste Datenmasse durch den Separator und DAFIS gefiltert wird, um sie in die jeweiligen Stränge (G 10 oder Routineaufklärung) einzuteilen und rein nationale und deutsche Telekommunikationsverkehre auszusondern (aa)). Erst danach erfolgt – sofern nicht Metadaten pauschal gespeichert werden – ein Abgleich mit den Selektoren (bb)). Zur Bewertung der Eingriffsqualität ist zunächst die Entwicklung der bisherigen Position des Bundesverfassungsgerichts darzulegen, um sodann eine Übertragung vornehmen zu können (cc)). Die Position in der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung führt nunmehr zurück zum Ursprung der Debatte (dd)) und lässt dadurch alte Unsicherheiten bestehen (ee)). aa) Geolokalisation ohne Eingriffswirkung? In der durch technische Gegebenheiten determinierten Fallgestaltung hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung 1999 bezüglich der Eingriffsqualität der Erfassung von Telekommunikation erste Differenzierungen ausgearbeitet. Zunächst führt der Senat aus, dass auch die vor der Kenntnisnahme durch Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes – als wohl unbestreitbarem Eingriff in Art. 10 I GG – vorgenommenen Arbeitsschritte in ihrem durch den Überwachungszweck bestimmten Zusammenhang betrachtet werden müssten1750. Der Eingriff sei „daher schon die Erfas1748 1749 1750
BVerfGE 154, 152 (229, Rn. 114). Zum Begriff Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 131 ff. BVerfGE 100, 313 (366).
II. Eingriffscharakter der Auslandstelekommunikationsüberwachung
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sung [durch den Bundesnachrichtendienst] selbst, insofern sie die Kommunikation für den Bundesnachrichtendienst verfügbar macht und die Basis des nachfolgenden Abgleichs mit den Suchbegriffen bildet“ 1751. Dem entspricht der hier vertretene Befund der Zurechnung des Eingriffes bei der Indienstnahme privater Telekommunikationsdienstleister im Fall der leitungsgebundenen Kommunikation. Nach dieser Aussage könnte zunächst davon ausgegangen werden, dass sich weitere Differenzierungen erübrigen und die Erfassung selbst stets den Grundrechtseingriff in das Fernmeldegeheimnis darstellt. Aus diesem weiten und intuitiven Eingriffsverständnis will der Senat jedoch solche Fernmeldevorgänge ausscheiden, die „zwischen deutschen Anschlüssen ungezielt und allein technikbedingt zunächst miterfasst, aber unmittelbar nach der Signalaufbereitung technisch wieder spurenlos ausgesondert werden“ 1752. Die nicht legal überwachbare rein nationale Telekommunikation, die zufällig miterfasst, aber sofort wieder gelöscht wird, soll mithin keinen Grundrechtseingriff darstellen. Über den Einzelfall hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in weiteren Entscheidungen bis in die jüngste Vergangenheit bekräftigt, dass die Eingriffsqualität fehle, wenn die Daten unmittelbar nach der Erfassung technisch anonym und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, spurenlos und ohne Erkenntnisinteresse für die Behörden ausgesondert würden1753. Für diesen Fall eines bloßen „Durchflusses“ von Telekommunikationsdaten scheide die Eingriffsqualität aus1754. An dieser Auffassung hält der Erste Senat auch im Urteil zum BNDG in einer äquivalenten Konstellation fest. In Bezug auf die Telekommunikation deutscher Staatsbürger und solcher von Inländern, die gemäß § 6 IV BNDG nicht erfasst werden dürfe, mangele es anfänglich grundsätzlich an einem Eingriff, da die Daten allein technisch bedingt miterfasst würden und nach der Signalaufbereitung spurenlos wieder aussortiert würden1755. Neben dieser Beschränkung des Eingriffsbegriffs sind weitere richterrechtliche Restriktionstendenzen zu berücksichtigen. bb) Irrelevanz der Differenzierung zwischen „Treffern“ und „Nichttreffern“ – Relativierung einer verfehlten Eingriffsdogmatik Der automatische Abgleich der nach der Filterkaskade noch vorhandenen Telekommunikation mit den Selektoren kann zu zweierlei Ergebnissen führen: Ent1751 BVerfGE 100, 313 (366); ebenso unter Verweis auf die Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung BVerfGE 120, 378 (398); 115, 320 (343); BVerwGE 157, 8 (10 f., Rn. 13); 149, 359 (365, Rn. 23). 1752 BVerfGE 100, 313 (366) (Hervorhebungen nur hier); selbige Schlussfolgerung in BVerwGE 161, 76 (83 f., Rn. 25); 157, 8 (12, Rn. 15). 1753 BVerfGE 150, 244 (266, Rn. 43); unter Verweis auf BVerfGE 115, 320 (343); 100, 313 (366). 1754 So die Beschreibung bei P. Breyer, Kfz-Massenabgleich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: NVwZ 2008, S. 824 (825). 1755 BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 116 f.).
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
hält der Telekommunikationsverkehr einen inhaltlichen oder formalen Selektor, liegt ein „Trefferfall“ vor, und der Verkehr wird zur weiteren Kenntnisnahme und nachrichtendienstlichen Bearbeitung an Beamte des Bundesnachrichtendienstes weitergegeben. Für die echten Trefferfälle besteht Einigkeit hinsichtlich des Eingriffscharakters, da die erhobenen Telekommunikationsdaten Gegenstand weiterer staatlicher Maßnahmen sein können1756. Führt der Abgleich indes zu einem sogenannten Nichttreffer, wird der Telekommunikationsverkehr verworfen und in Echtzeit vernichtet1757. Diese Konstellation war zwischenzeitlich lebhaft umstritten, bis das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung änderte; in Bezug auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung schweigt der Erste Senat in seiner neuesten Entscheidung hierzu überraschenderweise weitestgehend. (1) Datenabgleich als „Akt der Auswahl“ und bisherige Nichttrefferfälle-Rechtsprechung Noch in seiner Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung 1999 hatte der Senat dem Abgleich mit den Selektoren als „Akt der Auswahl“ Eingriffsqualität beigemessen1758. Dies gelte unabhängig davon, ob der Abgleich rein maschinell vor sich gehe oder durch Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes erfolge1759. Je nach Lesart könnte man den Fall des Nichttreffers ebenfalls als „Akt der Auswahl“ ansehen, wobei zweifelhaft bleibt, ob hiervon auch ein Abgleich mit Suchbegriffen in Echtzeit erfasst wäre, da der Senat von einem nachfolgenden Abgleich spricht1760. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ist – wie erwähnt – bei der Zuleitung an den Bundesnachrichtendienst1761 bzw. bei dessen Zugriff der Datenstrom im rechtlichen Sinne erfasst1762, was grundsätzlich mit einem Eingriff in Art. 10 I GG einhergeht. In diesen Fällen 1756 Stellvertretend BVerfGE 120, 378 (399 f.); für die Literatur monographisch F. Schmidt, Polizeiliche Videoüberwachung durch den Einsatz von Bodycams, 2018, S. 155; W. Ziebarth, Automatisierte Erfassung und Verarbeitung von Kfz-Kennzeichen zu Fahndungszwecken, in: CR 2015, S. 687 (688), für die Kennzeichenerfassung. 1757 BT-Drs. 18/12850, S. 748. 1758 BVerfGE 100, 313 (366); Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 25. 1759 BVerfGE 100, 313 (366); siehe hierzu auch die Zustimmung bei Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 156 f., der dies als verallgemeinerungsfähige Aussage ansieht. 1760 Zu den beiden Deutungsvarianten instruktiv Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 156 f. m. Fn. 139; für ein weites Verständnis unter Einbeziehung der Nichttrefferfälle etwa Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 25; die Erkenntnisse in BT-Drs. 18/ 12850, S. 748, zeigen einen Echtzeitabgleich der Daten, zumindest bei leitungsgebundener Telekommunikation. 1761 BVerwGE 149, 359 (365 f., Rn. 24, 368, Rn. 32). 1762 BVerwGE 161, 76 (83, Rn. 26); die Entscheidungen sind trotz ihrer kurzen zeitlichen Abfolge nicht immer exakt übereinstimmend in der rechtlichen Bewertung, wann denn genau der Ersteingriff in Art. 10 I GG erfolgt.
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würden „mithin [. . .] Telekommunikationsverkehre nicht erst anhand der Suchbegriffe erfasst“, sondern dienten der Durchsuchung desjenigen Datenstromes auf Treffer, der nach der Separator- und DAFIS-Filterung – welche als Aussonderung deutscher Verkehre noch keinen Eingriff darstellten – vorhanden sei1763. Diese Aussage spricht zunächst dafür, auf eine Differenzierung hinsichtlich der Eingriffsqualität von Treffern und Nichttreffern von vorherein zu verzichten und das Augenmerk vielmehr auf die Vorstufe in Form der Aussonderung rein deutscher bzw. inländischer Telekommunikationsverkehre mittels Separator und DAFIS-Filter zu legen. Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in seinen Judikaten zur präventivpolizeilichen Rasterfahndung und maßgeblich zur Kfz-Kennzeichenerfassung I indes weitere Differenzierungen bei automatisierten Massendatenabgleichen vorgenommen1764. Das Bundesverwaltungsgericht hat auf diese Entscheidungen denn auch hingewiesen, aber eine durch den Senat wohl nachdrücklich favorisierte Übertragung restriktiverer Tendenzen der Eingriffsbestimmung – die anhand des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung entwickelt wurden – auf die strategische Fernmeldeaufklärung und damit auf Art. 10 I GG, angesichts der Bindungswirkung des dritten Abhörurteils des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 31 I BVerfGG im Ergebnis abgelehnt1765. Das nachrichtendienstrechtliche Schrifttum thematisiert die Auswirkungen der späteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf die strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung jedoch gleichfalls intensiv und geht bisher mithin nicht von einer bereits geklärten Rechtslage aus1766. Vertreter des Bundesnachrichtendienstes vertraten bei den Befragungen im NSAUntersuchungsausschuss teilweise (noch) die Auffassung, dass erst in der Weiterleitung der mittels der Selektoren erfassten Daten zur weiteren Bearbeitung durch menschliche Auswerter eine Erfassung im rechtlichen Sinne und mithin ein Grundrechtseingriff zu sehen sei1767. Das Bundesverfassungsgericht bekräftigte in seinem Rasterfahndungsbeschluss unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung, dass auch wenn die Erfassung eines größeren Datenbestandes letztendlich nur Mittel zum Zweck für eine weitere Verkleinerung des Datenbe1763
BVerwGE 149, 359 (365 f., Rn. 24) – Hervorhebung nur hier. BVerfGE 120, 378; 115, 320. 1765 BVerwGE 157, 8 (10 f., Rn. 13), erstaunlicherweise eigentlich in Anschluss an BVerwGE 149, 359; gegen eine Übertragung der Rechtsprechung auf Art. 10 GG aus der Literatur Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 47 ff. 1766 Zur Diskussion Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 268 f.; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 9; Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 25; Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 47 ff.; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 173; Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 394; Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 480. 1767 BT-Drs. 18/12850, S. 748. 1764
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standes sei, bereits in der Ersterfassung ein Eingriff liegen könne, wenn hiermit die Basis für den Abgleich mit den Suchbegriffen gebildet werde1768. Maßgeblich sei jedoch, ob „sich bei einer Gesamtbetrachtung mit Blick auf den durch den Überwachungs- und Verwendungszweck bestimmten Zusammenhang das behördliche Interesse an den Daten bereits derart verdichtet hat, dass ein Betroffensein in einer einen Grundrechtseingriff auslösenden Qualität zu bejahen ist“ 1769. Der Senat ließ im Ergebnis offen, ob diese von ihm eingeforderte Verdichtung in Fällen des Nichttreffers bei einer Rasterfahndung anzunehmen ist1770. Die Formel wurde dann in der Entscheidung zur Kennzeichenerfassung I wiederholt1771 und entfaltete ihre eigentliche, eingriffsbegrenzende Wirkung. Nach Ansicht des Ersten Senats kam es „zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung [. . .] daher in den Fällen der elektronischen Kennzeichenerfassung dann nicht, wenn der Abgleich mit dem Fahndungsbestand unverzüglich vorgenommen wird und negativ ausfällt (sogenannter Nichttrefferfall) sowie zusätzlich rechtlich und technisch gesichert ist, dass die Daten anonym bleiben und sofort spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden“ 1772. Anscheinend war nach damaliger Ansicht eine nötige hinreichende Verdichtung des behördlichen Interesses bei Kennzeichen-Nichttreffern nicht gegeben – obschon das Gericht zur Ablehnung des Eingriffes ganz konkret gar nicht auf diese Formel abstellte, sondern eher, und insofern nicht konsequent, die Anlehnung an die rein technische Aussonderung im Sinne der Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung suchte1773. Aufgrund dieser Entscheidungen war die Eingriffsqualität von Nichttreffern beim Abgleich mit den Selektoren im Rahmen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung im Schrifttum bisher äußerst umstritten1774. Vertreter des Bundesnachrichtendienstes im NSA-Untersuchungsausschuss gingen diesbezüglich davon aus, dass jedenfalls nur solche Telekommunikationsverkehre, die nach einem Abgleich mit den Selektoren noch vorhanden seien, einen Grundrechtseingriff darstellen könnten1775. 1768
BVerfGE 115, 320 (343); hierzu Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 26. BVerfGE 115, 320 (343); wiederholt in BVerfGE 150, 244 (266, Rn. 43); 120, 378 (398). 1770 BVerfGE 115, 320 (343 f.). 1771 BVerfGE 120, 378 (398). 1772 BVerfGE 120, 378 (399). 1773 Eine starke Nähe zur Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung konstatiert auch Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 233. 1774 Konkret für einen Eingriff beim bloßen Abgleich mit den Selektoren Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 268 f.; Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 25; wohl auch Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 47 ff.; gegen die Eingriffsqualität bei Nichttreffern Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 9; entschieden Löffelmann, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 806), S. 39 f.; ders. (Fn. 501), § 4 Rn. 173; Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 394; Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 480. 1775 A. F., Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 117. 1769
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Die Linie des Bundesverfassungsgerichtes, Nichttrefferfälle aus dem Eingriffsbegriff auszusondern, hat allgemeinen Widerspruch erregt1776. Kritisiert wurde zu Recht zum einen, dass durch das Wertungskriterium, ob eine hinreichende Verdichtung des behördlichen Interesses zur Eingriffsqualifikation vorliegt, aus dogmatischer Sicht die Abwägung in die Prüfung des Eingriffes verlagert wird1777. Das Ergebnis des Datenabgleiches in Form des Treffers oder Nichttreffers würde ex post über dessen Eingriffsqualität entscheiden1778. Damit würde die Bestimmung eines Eingriffes durch Abwägung beliebig und dessen Schwere zur Prüfung der eigentlichen Existenz. Dies widerspricht der tradierten Prüfungsreihenfolge: Entweder es liegt ein Eingriff vor oder nicht. Die Beurteilung der Eingriffsintensität erfolgt erst als anschließender Schritt. Zum anderen wurde richtigerweise auf Wertungswidersprüche in der Rechtsprechung hingewiesen. Das verdichtete behördliche Interesse an der Information bestehe gerade bei der Kennzeichenerfassung im Zeitpunkt der Erhebung, da noch gar nicht absehbar sei, ob ein Treffer- oder Nichttrefferfall vorliege1779. Zudem werden bei der Kennzeichenerfassung die Daten nicht zufällig und allein technikbedingt miterfasst, sondern sind das Ziel der Maßnahme. Die Daten sollen hierdurch für den Staat erst verfügbar gemacht werden, um sie dann mit den Datenbanken abzugleichen1780. Vor allem aber berge die Rechtsprechung zum Nichttreffer die Gefahr, die Risiken durch die technische Entwicklung beim Einsatz intelligenter Technik zur Auswertung von Massendaten nicht mehr hinreichend beherrschbar zu machen1781. Das maßgebliche Abstellen auf den „Mensch als Risikofaktor“ und dessen Kenntnisnahme von Daten als eigentliche Eingriffsstufe verhindere eine an den Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung orientierte Eingriffs1776 Kritisch Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 83 f.; Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 40 ff.; Ziebarth, Erfassung (Fn. 1756), S. 688 ff.; Breyer, Kfz-Massenabgleich (Fn. 1754), S. 825 ff.; A. Roßnagel, Verfassungsrechtliche Grenzen polizeilicher KfzKennzeichenerfassung, in: NJW 2008, S. 2547 (2548); schon vor der Entscheidung des BVerfG M. Soria, Grenzen vorbeugender Kriminalitätsbekämpfung im Polizeirecht: Die automatisierte Kfz-Kennzeichenerfassung, in: DÖV 2007, S. 779 (783); C. Arzt, Voraussetzungen und Grenzen der automatisierten Kennzeichenerfassung, in: DÖV 2005, S. 56 (57 ff.), die jeweils einen Eingriff bei der Erfassung aller Kennzeichen sehen, unabhängig von Treffer- und Nichttrefferfällen; die bisherige Auffassung des BVerfG teilen indes etwa D. Annussek, Automatisierte Kraftfahrzeugkennzeichenüberprüfung in den Ländern, 2018, S. 94, 102 ff., 110, der zugleich eine Zusammenfassung der vorgebrachten Meinungen bietet; Kipker, Freiheit (Fn. 69), S. 29 ff.; Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 240; A. Guckelberger, Zukunftsfähigkeit landesrechtlicher Kennzeichenabgleichsnormen, in: NVwZ 2009, S. 352 (356). 1777 Breyer, Kfz-Massenabgleich (Fn. 1754), S. 824. 1778 Instruktiv Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 154. 1779 Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 154. 1780 Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 156; Breyer, Kfz-Massenabgleich (Fn. 1754), S. 825. 1781 Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 43, diagnostiziert einen „signifikant unterkomplexe[n]“ Ansatz des Bundesverfassungsgerichts mit Blick auf die technische Entwicklung jedenfalls noch unter der Entscheidung zur Kennzeichenerfassung I.
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dogmatik1782. Deshalb sei jede technische Erhebung von Daten als Grundrechtseingriff zu werten, sofern hiermit das Risiko einer „Ent- und Neukontextualisierung“ der Daten verbunden sei1783. Der technische Fortschritt lässt den Grundrechtseingriff nicht entfallen, sondern vergrößert vielmehr seinen Anwendungsbereich. Insgesamt sprechen die besseren Gründe gegen die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – der Streit löst sich aber zwischenzeitlich weitgehend auf, da das Gericht diesbezüglich selbst korrigierend eingegriffen hat. (2) Beschluss zur Kennzeichenerfassung II – Rücknahme der Nichttreffer-Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss zur Kennzeichenerfassung II seine verfehlte Dogmatik bei technisch induzierten Eingriffen in Teilen zurückgenommen, freilich ohne sich explizit mit den vorgebrachten Gegenargumenten auseinanderzusetzen1784. Der erste Senat hält daran fest, dass „grundsätzlich zunächst in der Erfassung“ ein Eingriff liege, da sie die Daten für die Behörden verfügbar mache und die Basis für den nachfolgenden Abgleich bilde1785. Weiterhin bleibt das Gericht bei seiner Meinung, dass bereits in der Datenerhebung als solcher ein Eingriff liegen könne, wenn die Erfassung des größeren Datenbestandes nur „Mittel zum Zweck für eine weiterer Verkleinerung der Treffermenge“ bilde1786. Ebenso hält der Senat aber an der bereits zitierten Einschränkung des Eingriffsbegriffes fest, wonach eine ungezielte, rein technikbedingte Miterfassung mit unmittelbar anschließender anonymer, spurenloser Löschung ohne verbleibendes Erkenntnisinteresse für die Behörden keinen Grundrechtseingriff darstelle1787. Das Bundesverfassungsgericht wiederholt ferner das hiermit verbundene, vage Kriterium der spezifischen Verdichtung des behördlichen Interesses an den Daten zur Bestimmung der Eingriffsqualität, welches in diesen Fällen einer technikbedingten Miterfassung von Daten weiterhin „maßstäblich“ sein soll1788.
1782 Zitat mit entsprechender Stoßrichtung bei Kipker, Freiheit (Fn. 69), S. 31; hiergegen überzeugend Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 40 ff.; zur Überbetonung der menschlichen Kenntnisnahme in der Rechtsprechung des BVerfG vor der Entscheidung zur Kennzeichenerfassung II ders., Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 152 f. 1783 Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 43; ausführlicher ders., Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 154 ff. 1784 BVerfGE 150, 244. 1785 BVerfGE 150, 244 (266, Rn. 43). 1786 BVerfGE 150, 244 (266, Rn. 43). 1787 BVerfGE 150, 244 (266, Rn. 43), unter ausdrücklichem Verweis auf BVerfGE 115, 320 (343); 100, 313 (366); differenziert, aber kritisch dazu R. Schnieders, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 18.12.2018 – 1 BvR 142/15, in: NVwZ 2019, S. 396 (397). 1788 BVerfGE 150, 244 (266, Rn. 43, Zitat bei 267, Rn. 48).
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Sodann erklärt der Senat jedoch unter expliziter Aufgabe seiner vorherigen Rechtsprechung, dass in der Erfassung der Kfz-Kennzeichen und dem folgenden Abgleich mit den Datenbeständen unabhängig vom Vorliegen eines Trefferfalles zwei jeweils eigene, unmittelbar aufeinander bezogene Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung lägen1789. Unter den „Bedingungen der modernen Informationstechnik, die den Abgleich von Kennziffern oder persönlichen Merkmalen in kürzester Zeit erlauben“, sei bei Kontrollvorgängen wie der Kennzeichenerfassung die nötige Verdichtung des behördlichen Interesses gegeben1790. Fast als Antwort auf die in der Literatur geäußerte Kritik gesteht das Gericht ein, dass die Kennzeichenerfassung gerade nicht ungezielt und allein technikbedingt erfolge, sondern die Einbeziehung auch von Daten derjenigen Personen, bei denen der Abgleich letztlich zu Nichttreffern führe, notwendiger und gewollter Teil der Kontrollmaßnahme sei1791. Es komme bei der Betrachtung des notwendigen behördlichen Interesses auf die ex-ante-Perspektive der Behörde an, die alle an der Kontrollstelle vorbeifahrenden Fahrzeuge erfassen wolle, weil es ihr gerade um die Kontrolle selbst gehe1792. Auf die automatisierte Auswertung soll es hingegen nicht mehr ankommen, vielmehr verweist das Bundesverfassungsgericht auf die hierdurch erst ermöglichte erhebliche Erweiterung polizeilicher Kontrollmöglichkeiten1793. Der Kern der Entscheidung besteht im Hinblick auf die Bewältigung der Eingriffsfrage darin, dass der erste Senat ausdrücklich die fehlenden Konsequenzen des Datenabgleiches in Fällen des Nichttreffers nunmehr als irrelevant einstuft, da die Betroffenen einer staatlichen Maßnahme unterworfen würden, „mit der sich ihnen gegenüber ein spezifisches Fahndungsinteresse zur Geltung bringt“ 1794. Diese Maßnahme, die die Weiterfahrt unter den Vorbehalt des Nichttreffers stelle, sei demnach „nicht erst hinsichtlich ihrer Folgen, sondern als sol1789 BVerfGE 150, 244 (266 ff., Rn. 45 ff.); dem Senat zustimmend Schnieders, Anmerkung (Fn. 1787), S. 397; ebenfalls befürworten den Beschluss M. Löffelmann, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. vom 18.12.2018 – 1 BvR 142/15 und 1 BvR 2795/09, in: GSZ 2019, S. 77 (78 ff.): „Grundrechtsdogmatisch erscheint die Kehrtwende [. . .] durchweg schlüssig“; T. Petri, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. vom 18.12.2018 – 1 BvR 142/ 15, in: ZD 2019, S. 221 (221 ff.); Rusteberg, Entscheidung (Fn. 200); kritisch hingegen M. Möstl, Die Beschlüsse des BVerfG zur Kfz-Kennzeichenkontrolle, in: GSZ 2019, S. 101 (102 ff.); Rechtsprechungsänderung ebenfalls abgelehnt von Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 173. 1790 BVerfGE 150, 244 (267, Rn. 49); F. Roggan, Verfassungsrechtliche Grenzen von automatisierten Kfz-Kennzeichenkontrollen, in: NVwZ 2019, S. 344 (345), spricht anschaulich davon, dass sich der Staat das nur augenblickliche „,elektronische Wissen‘ eines informationstechnischen Fahndungssystems als – wenn auch nur kurz vorhandenes – eigenes Wissen zurechnen lassen“ müsse. 1791 BVerfGE 150, 244 (267 f., Rn. 50). 1792 BVerfGE 150, 244 (267 f., Rn. 50). 1793 BVerfGE 150, 244 (267 f., Rn. 50). 1794 BVerfGE 150, 244 (268 f., Rn. 51).
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che freiheitsbeeinträchtigend“ 1795. Damit unterstreicht die Senatsmehrheit den entscheidenden Punkt1796. Nicht das wie auch immer geartete Ergebnis, sondern die Vornahme des Abgleiches selbst ist ein weiterer Grundrechtseingriff. Argumentativ untermauert wird das Ergebnis durch das Bundesverfassungsgericht, indem es auf die tradierte wie umstrittene Argumentationsfigur eines möglichen Einschüchterungseffektes durch staatliche Überwachungsmaßnahmen rekurriert1797: Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehöre, „dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden, hinsichtlich ihrer Rechtschaffenheit Rechenschaft ablegen zu müssen und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein“ 1798. Der permanent mögliche Abgleich mit irgendwie gearteten Fahndungslisten oder sonstigen Datensätzen sei hiermit unvereinbar1799. cc) Bewertung und Teilübertragung der Rechtsprechung zur Kennzeichenerfassung II Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts überzeugt nunmehr in Bezug auf die Nichttrefferfälle bei der Kennzeichenerfassung weitgehend, da es die Besonderheiten des Massendatenabgleichs und seiner Zielrichtung würdigt und zugleich die Gesamtdimension der verdeckten technischen Überwachungsmaßnahme in den Blick nimmt, die den Einzelnen vielerorts bei Benutzung des öffentlichen Straßennetzes – ohne Entzugsmöglichkeit – treffen kann1800. Die überzeugenden Gegenargumente der Literatur wurden dabei weitestgehend aufgegriffen und finden sich in der Entscheidung zumindest implizit wieder. Bei der 1795
BVerfGE 150, 244 (268 f., Rn. 51). Dies betont auch Rusteberg, Entscheidung (Fn. 200), zur Bedeutung für die Zulässigkeit von Klagen und Beschwerden gegen automatisierte Datenerfassungssysteme Roggan, Grenzen (Fn. 1790), S. 345 f. 1797 In der jüngeren Rechtsprechung zu den Einschüchterungseffekten bei Maßnahmen mit großer Streubreite etwa BVerfGE 125, 260 (320); 100, 313 (381); zur Rechtsfigur des Einschüchterungseffektes in der Rechtsprechung des BVerfG und der Kritik hieran siehe vor allem die grundlegenden Arbeiten von Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 53 ff., 78 ff., 134 ff. et passim; Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 14 ff., 24, 69 ff. et passim. 1798 BVerfGE 150, 244 (268 f., Rn. 51); unter Verweis auf BVerfGE 125, 260 (335); 122, 342 (370 f.); 120, 378 (402); 115, 320 (254 f.); 107, 299 (328); hier zeigt sich erneut das Bestreben des Senats durch die Reihenbildung von vorangegangenen Entscheidungen, die Konsistenz der Rechtsprechung zu untermauern; kritisch zu dieser „stark überzeichneten und geradezu irreal[en]“ Ausführung Möstl, Kfz-Kennzeichenkontrollen (Fn. 1789), S. 102. Möstl sieht in der Entscheidung zudem einen Stil des BVerfG, das mit „Pathos und Emphase“ formuliere und hiermit auf bestimmte Zielgruppen in Medien und Gesellschaft im öffentlichen Meinungskampf ziele (S. 109 f.). 1799 BVerfGE 150, 244 (268 f., Rn. 51). 1800 A. A. Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 173, der durch die Entscheidung eine Bagatellisierung des Eingriffsbegriffes in der durch automatische Datenerhebungen gekennzeichneten Gesellschaft sieht. 1796
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Neubewertung der Eingriffsqualität von Nichttreffern handelt es sich in der Tat um einen „überfälligen Paradigmenwechsel“ 1801. Der Senat setzt, über den Einzelfall hinaus, nunmehr Tendenzen eines Data-Mining oder eines Predictive Policing im Vorfeld konkreter Gefahrenlagen Grenzen, bewertet die Möglichkeiten moderner Datenverarbeitung sowie deren grundrechtliche Gefahrenlagen technikadäquat und nimmt sie damit letztlich, jedenfalls auf Eingriffsebene, in die rechtliche Verantwortung1802. Das Gericht wird zudem bei seiner jetzigen Entscheidung schließlich schon weitere, künftige Einsatzfelder des Massendatenabgleiches, wie etwa den Modellversuch für intelligente Videoüberwachung am Berliner Bahnhof Südkreuz1803 oder mögliche automatisierte Kontrollen von Dieselfahrverboten in Innenstädten1804 und deren juristische Bewältigung, vor Augen gehabt haben1805. Offen bleibt nach auch nach mehrmaliger Lektüre der Entscheidung jedoch, für welche Fälle der Senat die Rückausnahme einer ungezielten, allein technikbedingten Miterfassung von Daten mit anschließender anonymer, spurenloser Löschung und Aussonderung ohne Erkenntnisinteresse der Behörden weiterhin offenhält1806. Das vage Kriterium der Verdichtung des behördlichen Interesses an 1801
Pointiert Petri, Anmerkung (Fn. 1789), S. 221. Dazu Löffelmann, Anmerkung (Fn. 1789), S. 78; ebenso Schnieders, Anmerkung (Fn. 1787), S. 397; vgl. allgemein zum predictive policing I. Härtel, Digitalisierung im Lichte des Verfassungsrechts – Algorithmen, Predictive Policing, autonomes Fahren, in: LKV 2019, S. 49 (54 ff.); T. Rademacher, Predictive Policing im deutschen Polizeirecht, in: AöR 142 (2017), S. 366 ff.; vertieft zu Data-Mining nunmehr BVerfGE 156, 11 (39 ff., Rn. 72 ff.). 1803 Siehe zum Test am Berliner Bahnhof Südkreuz nur A. Gruber, Umstrittene Gesichtserkennung soll ausgeweitet werden, abrufbar unter http://www.spiegel.de/netz welt/netzpolitik/berlin-gesichtserkennung-am-suedkreuz-ueberwachung-soll-ausgeweitetwerden-a-1232878.html (15.3.2019); kritisches Resümee vom Chaos Computer Club, abrufbar unter https://www.ccc.de/de/updates/2018/debakel-am-suedkreuz (15.3.2019); zu den Anforderungen an eine – noch zu schaffende – Ermächtigungsgrundlage Roggan, Grenzen (Fn. 1790), S. 346; vgl. grundlegend zur sogenannten intelligenten Videoüberwachung aus dem Schrifttum monographisch M. Desoi, Intelligente Videoüberwachung, 2018; S. Bretthauer, Intelligente Videoüberwachung, 2017; C. Held, Intelligente Videoüberwachung, 2014. 1804 Vgl. zu zonalen Fahrverboten nur BVerwG NVwZ 2018, 883 (883 ff.); M. Will, Das Frankfurt-Urteil des VG Wiesbaden und die Verhältnismäßigkeit zonaler Verkehrsverbote, in: NVwZ 2019, S. 263 ff.; kritisch zur Überwachung von Dieselfahrverboten mittels automatischer Kennzeichenkontrollen nach den Beschlüssen das BVerfG zur Kennzeichenerfassung II M. Wiemers, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 18.12.2018 – 1 BvR 2795/09, 1 BvR 3187/10, in: NVwZ 2019, S. 405 (405); ebenso Roggan, Grenzen (Fn. 1790), S. 349; zweifelnd auch Möstl, Kfz-Kennzeichenüberwachung (Fn. 1789), S. 106, der ein Ungleichgewicht zur vom BVerfG restriktiv gehandhabten Schleierfahndung mittels Kennzeichenerfassung sieht. 1805 So auch Rusteberg, Entscheidung (Fn. 200); C. Rath, Gefühl der Verunsicherung, taz vom. 6.2.2019, S. 7, abrufbar unter https://www.taz.de/!5567528&SuchRah men=Print/ (10.2.2019). 1806 BVerfGE 150, 244 (266 f., Rn. 43, 48). 1802
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den Daten im Falle einer Reduktion eines größeren Datenbestandes zur Bewertung der Eingriffsqualität bleibt demgemäß auch erhalten1807. Das Merkmal lässt einen breiten Interpretationsspielraum und vermeidet schon aufgrund der nötigen Wertung im jeweiligen Einzelfall verallgemeinerbare, finale Festlegungen. Dies wird offenkundig, wenn man sich die Rechtsprechungsänderung des Bundesverfassungsgerichts vor Augen führt: In der Vorgängerentscheidung erkannte das Gericht bei Nichttreffern noch kein verdichtetes behördliches Interesses, nunmehr soll ein solches gegeben sein. Die tatsächlichen Bedingungen der KfzKennzeichenerfassung haben sich zwischenzeitlich jedoch nicht geändert. Das Gericht hält sich somit für die Zukunft Wertungsmöglichkeiten offen, wann bei technisch induzierten Eingriffen durch die Verkleinerung von Datenbeständen ein Grundrechtseingriff im Rechtssinne schlussendlich vorliegt. Im Ergebnis lässt auch die Entscheidung zur Kennzeichenerfassung II hierdurch weiterhin Unsicherheiten bestehen, anstatt einen allgemeinverbindlichen Informationseingriffsbegriff für alle denkbaren Fallgestaltungen zu etablieren. Dies zeigt sich, wie sogleich darzulegen sein wird, auch in der jüngsten Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. (1) Selektorenabgleich auf „Datenautobahnen“ als Grundrechtseingriff Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Erfassung von KfzKennzeichen lassen sich – insoweit ungeachtet grundsätzlicher Bedenken gegen einzelne Parameter der Rechtsprechung – jedenfalls in Bezug auf die Selektorensteuerung und damit auf die Frage der Eingriffsqualität von Nichttreffern bei der strategischen- und der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes übertragen1808; bei letzterer freilich nur soweit Suchbegriffe überhaupt eingesetzt werden, also bei Inhaltsdaten1809. Die internationale und die Ausland-Ausland-Telekommunikation werden – wie die Kfz-Kennzeichen – nicht 1807 Kritisch zu diesem Maßstab auch Löffelmann, Anmerkung (Fn. 1789), S. 78; T. Schwabenbauer, in: Matthias Bäcker/Erhard Denninger/Kurt Graulich (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, Kap. G. Rn. 33 bemängelte ebenfalls die Unklarheit der Kriterien in der Rechtsprechung des BVerfG, die in allen relevanten Entscheidungen von strategischer Fernmeldeaufklärung über Rasterfahndung und Kennzeichenerfassung nicht abschließend ausgeräumt werden konnten; in der Neuauflage ähnlich ders. (Fn. 700), G. Rn. 49. 1808 Zu einer Übertragung der Rechtsprechung auf die Filterung von Telekommunikationsdatenströmen bisher aus der Literatur nur allgemein Löffelmann, Anmerkung (Fn. 1789), S. 78; anders als hier und auch unter Berücksichtigung der Entscheidung zur Kennzeichenerfassung II eine Übertragbarkeit auf die Filterung durch Selektoren nach wie vor ablehnend Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 173. 1809 Die Tatsache, dass bei der Kennzeichenerfassung das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen ist und hier Art. 10 I GG, kann wegen der weitgehenden Übereinstimmung, der in einem Spezialitätsverhältnis stehenden Grundrechte, keinen Unterschied machen; im Ergebnis so auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 157 m. Fn. 140.
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zufällig und rein technikbedingt miterfasst, sondern sind gerade Ziel der Aufklärungsmaßnahme, um sie mit den Selektoren abzugleichen1810. Wie bei der Kennzeichenerfassung ist auch bei der Fernmeldeaufklärung die Erhebung derjenigen Kommunikation, die nach dem Selektorenabgleich ausgesondert wird, notwendiger und gewollter Teil der Maßnahme. Aus der richtigerweise anzuwendenden ex-ante-Perspektive hat sich das Interesse des Bundesnachrichtendienstes an allen Telekommunikationsverkehren, zumindest nach der Filterkaskade, bereits derart verdichtet, dass von einem Eingriff auch in Nichttrefferfällen auszugehen ist, da der Abgleich mit den Selektoren die Intention der Maßnahme ist. Insoweit kann sogar das Kriterium der Verdichtung des behördlichen Interesses – trotz ansonsten bestehender Bedenken – angewendet werden, da hier auf die initiale Intention der staatlichen Datenerfassung abgestellt wird und mithin keine ex post-Wertung (mehr) erfolgt. Bei der strategischen Fernmeldeaufklärung wird der erfassten internationalen Telekommunikation ferner, wie bei der Kennzeichenerfassung, ein spezifisches Fahndungsinteresse entgegengebracht, wenn sie für den Bundesnachrichtendienst mit Selektoren abgeglichen wird. Nicht nur beim Befahren von Autobahnen und Fernstraßen in der analogen Realität, sondern auch bei der Nutzung der Datenautobahnen der digitalen Welt überwacht der investigative Staat die „vorbeiziehenden“ Telekommunikationsverkehre mit (nachrichtendienstlichem) Aufklärungsinteresse. Nichts Anderes gilt in den Fällen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Das spezifische Fahndungsinteresse ist im Fall der AuslandAusland-Telekommunikation sogar noch höher, bildet sie doch den Kern des nachrichtendienstlichen Interesses bei der Auslandsaufklärung. Der Grundrechtseingriff durch den Selektorenabgleich ist ferner mit Blick auf den ergänzend heranzuziehenden Einschüchterungseffekt ebenso mit der Kennzeichenerfassung vergleichbar, wollte man diese Argumentationsfigur bemühen. Zumindest im Rahmen der G 10-Aufklärung sieht sich der Bürger bei internationalen Telekommunikationsverbindungen mit einem permanent möglichen, heimlichen Abgleich seiner Telekommunikation mit nachrichtendienstlichen „Fahndungslisten“ in Form der in § 5 I G 10 definierten abstrakten Gefahrbereiche konfrontiert, ohne sich dagegen wehren zu können. Dabei soll das Fernmeldegeheimnis doch gerade davor schützen, dass Telekommunikation aus Sorge vor staatlicher Kenntnisnahme unterbleibt oder anders verläuft, wenn die Gefahr besteht, dass sich staatliche Stellen in diese Kommunikation einschalten und Kenntnis über Inhalt- und Umstände gewinnen könnten1811. Ein Gefühl der permanenten Überwachung der ei1810 Jedenfalls in Bezug auf die Daten von Ausländern im Ausland nunmehr auch BVerfGE 154, 152 (229, Rn. 115); dahingehend auch bereits BVerwGE 157, 8 (15, Rn. 24). 1811 BVerfGE 130, 151 (179); 107, 299 (313); 100, 313 (359); zur staatstheoretischen Perspektive der Bedeutung des Fernmeldegeheimnisses auch noch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 195 f.
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genen Telekommunikation kann bei der heimlichen Fernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst drohen. Fraglicher erscheint das Argument des Einschüchterungseffektes auf den ersten Blick bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Wie sollen Menschen überall auf der Welt davon eingeschüchtert werden können, dass der deutsche Staat Telekommunikation strategisch für nachrichtendienstliche Zwecke überwacht, was die weit überwiegende Mehrheit potentiell Betroffener kaum wissen wird? Die globale Debatte über die nachrichtendienstliche Überwachung durch anglo-amerikanische Dienste, die Edward Snowden enthüllte, zeigt jedenfalls, dass die Bedrohung des Fernmeldegeheimnisses durch Nachrichtendienste weltweit durchaus sehr präsent ist. Bei Ausländern im Ausland könnte man zudem die Gefahr einer Beeinträchtigung der inneren Freiheit der Kommunikation sogar erheblich höher ansetzen, da der Bundesnachrichtendienst mit seinem Auftrag zur Auslandsaufklärung und der Überwachung der rein ausländischen Datenverkehre gerade vorrangig auf diese zielt1812. Darüber hinaus ist bei heimlichen Maßnahmen nicht von Bedeutung, dass der Einzelne konkretes Wissen über eine Überwachungsmaßnahme hat1813. Der Einschüchterungseffekt entsteht vielmehr aus dem Bewusstsein, jederzeit von einer entsprechenden Maßnahme betroffen sein zu können1814. (2) Exkurs: Grundrechtseingriff durch Einschüchterungseffekte? – Zum Wert einer juristischen Argumentationsfigur Inwieweit man überhaupt Einschüchterungseffekte zur Begründung eines Grundrechtseingriffes annehmen will, wirft jedoch die weitergehende Frage nach der grundlegenden Akzeptanz dieser Rechtsfigur auf. Eine pauschale Behauptung ihrer Existenz und einhergehender, möglicher Auswirkungen auf die Grundrechtsausübung wird der Bedeutung der Argumentationsfigur nicht gerecht.
1812 So zum Einschüchterungseffekt bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, gerade auch bei Ausländern im Ausland unter Berücksichtigung der Snowden-Affäre, Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 8; a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 245 f., der am Einschüchterungseffekt des Grundrechtseingriffes, welcher bei Ausländern im Ausland aufgrund der quantitativ erfassbaren Menge geringer sei, eine Abstufung der Schutzintensität des Fernmeldegeheimnisses festmachen will. 1813 Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 85 f.; R. Maaske, Nochmals: Die Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen, in: NVwZ 2001, S. 1248 (1249); dies verkennt Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 245 f. 1814 Instruktiv Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 86; ebenso der grundlegende Beitrag von M. Oermann/J. Staben, Mittelbare Grundrechtseingriffe durch Abschreckung?, in: Der Staat 52 (2013), S. 630 (644); a. A. H. Dreier, in: ders., GG I (Fn. 551), Art. 2 I Rn. 87 m.w. N., der im Gegenteil davon ausgeht, dass die Unkenntnis über eine Maßnahme der Informationserhebung gegen das Entstehen von Einschüchterungseffekten spricht; dahingehend auch Schoch, Ambivalenz (Fn. 1714), S. 65.
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Das Bundesverfassungsgericht nutzt seit langem – erstmals wohl im berühmten Lüth-Urteil1815 – in einer Vielzahl von Entscheidungen das Argument eines Einschüchterungs- oder Abschreckungseffektes, ohne dabei bisher eine einheitliche Terminologie zu verwenden1816. Eine gefestigte Definition existiert, im Gegensatz zur US-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung mit den dort wohlbekannten „chilling effect“, derzeit noch nicht1817. Dennoch gehört die Argumentation mit Einschüchterungseffekten inzwischen zum „,Standardrepertoire‘“ des Bundesverfassungsgerichts1818. Am prominentesten reüssiert der Einschüchterungseffekt in der Rechtsprechung des Gerichts in Judikaten zu Meinungsäußerungen sowie in Fällen staatlicher Informationsgewinnung und heimlicher Überwachung1819. Für die hier interessierenden Fälle staatlicher Informationserhebung führte das Gericht im grundlegenden Volkszählungsurteil 1983 die Idee einer durch die Informationsherrschaft des Staates begründeten Einschüchterungsmöglichkeit im Zeitalter moderner – seither exorbitant erweiterter – Datenverarbeitung anschaulich aus: „Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen Vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wäre eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann bei welcher Gelegenheit über sie weiß“ 1820. Mit diesem, aus heutiger Sicht sehr weitsichtigen Gedanken, verknüpfte das Gericht die hieraus resultierende Möglichkeit, dass der Einzelne aufgrund des Informationsvorsprungs des Staates von abweichenden, grundrechtlich geschützten Verhaltensweisen Abstand nehmen könne, was wiederum das Gemeinwohl insgesamt beeinträchtige, da es auf die Selbstbestim1815 BVerfGE 7, 198; so die Analyse bei Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 15 ff., der die historische Entwicklung des Argumentes mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung anschaulich nachzeichnet; ebenso Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 140; siehe ferner C. Rath, Karlsruhe und der Einschüchterungseffekt – Praxis und Nutzen einer Argumentationsfigur, in: KJ Beiheft 1/2009, S. 65 (66). 1816 Zur terminologischen Vielfalt Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 54 f., ebenfalls mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 1817 Zur Entwicklung der „chilling effects“ in der US-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung ausführlich Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 42 ff.; hierzu auch Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 13 m. Fn. 88; zur mangelnden Definition im deutschen Recht mit einer Annäherung hieran S. Assion, Überwachung und Chilling Effects, in: Telemedicus, Überwachung (Fn. 1096), S. 31 (32 ff.). 1818 So Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 249. 1819 Dazu I. Augsberg, Der grundrechtliche Schutz individueller Empfindungen im Sicherheitsrecht, in: GSZ 2018, S. 169 (172 ff.); Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 57 ff.; Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 19 ff. 1820 BVerfGE 65, 1 (43).
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mung und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger angewiesen sei1821. Ausgehend von diesem Grundgedanken hat das Bundesverfassungsgericht in der Folge ausdrücklich, oder zumindest der Sache nach in Entscheidungen zur inneren und äußeren Sicherheit, mit der Sorge vor Einschüchterungseffekten und einem drohenden Gefühl des Überwachtwerdens durch staatliche Informationserhebungen argumentiert1822. Konkret zur strategischen Fernmeldeaufklärung postulierte das Bundesverfassungsgericht, dass die „Befürchtung einer Überwachung mit der Gefahr der Aufzeichnung, späteren Auswertung, etwaigen Übermittlung und weiteren Verwendung durch andere Behörden [. . .] schon im Vorfeld zu einer Befangenheit in der Kommunikation, zu Kommunikationsstörungen und zu Verhaltensanpassungen, hier insbesondere zur Vermeidung bestimmter Gesprächsinhalte oder Termini, führen“ könne, was nicht nur die individuellen Grundrechtsträger, sondern die Kommunikation in der Gesellschaft insgesamt betreffen könne, weswegen dem Fernmeldegeheimnis ein Gemeinwohlbezug zuerkannt sei1823. Der Einschüchterungseffekt kulminiert in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung, wo das Gericht ein „Gefühl des ständigen Überwachtwerdens“ befürchtet1824. Die Figur des Abschreckungseffektes verzahnt mithin die subjektiv-individualabwehrrechtliche Dimension der Grundrechte mit der Funktion einer von ihnen ausgehenden objektiven Werteordnung unter dem Grundgesetz1825. An dieser Stelle sei noch einmal auf die Ausführungen zum sachlich-objektiven Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses verwiesen, wo diese Argumentation bereits wirkmächtig ist. 1821
BVerfGE 65, 1 (43). So die Zusammenfassung von Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 63; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 141; aus der Rechtsprechung ausgehend vom Volkszählungsurteil BVerfGE 109, 279 (354) – großer Lauschangriff; 100, 313 (358 f., 381) – strategische Fernmeldeaufklärung; 113, 348 (365) – Telekommunikationsüberwachung; 115, 166 (188) – Telekommunikationsverbindungsdaten; 120, 274 (323) – Online-Durchsuchung; 120, 378 (402, 430) – Kennzeichenerfassung I; 122, 342 (368 f.) – Bayerisches Versammlungsgesetz (einstweilige Anordnung); 125, 260 (320, 332 ff.) – Vorratsdatenspeicherung; 133, 277 (348, Rn. 161 ) – Antiterrordatei; BVerfGE 150, 244 (268 f., Rn. 51) – Kennzeichenerfassung II. 1823 BVerfGE 100, 313 (381). In seiner aktuellen Entscheidung zur Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung geht das Bundesverfassungsgericht überraschenderweise auf den Einschüchterungseffekt nicht ein, lässt aber auch nicht erkennen, dass es an der bisherigen Rechtsprechung hierzu nicht festhalten wolle. Die Entscheidung verhält sich vielmehr hierzu überhaupt nicht. 1824 BVerfGE 125, 260 (335). 1825 Zu Grundrechten als „objektive Werteordnung“ grundlegend schon im Lüth-Urteil BVerfGE 7, 198 (205); zur überindividuellen Dimension des Einschüchterungseffektes Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 129 ff.; Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 40 f.; Assion, Überwachung (Fn. 1817), S. 59; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 195 f., 256 f.: „objektiv-rechtlichen Begründungsstrang“ – Hervorhebungen im Original; dahingehend auch Rath, Einschüchterungseffekt (Fn. 1815), S. 70; kritisch zur „Abstrahierung“ „verfassungsrechtlich nicht relevanter Befindlichkeiten“ Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 256. 1822
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In der verfassungsgerichtlichen Prüfung finden Einschüchterungseffekte auf allen drei Ebenen des tradierten Grundrechtsschemas Anwendung. Das Bundesverfassungsgericht nutzt die Argumentationsfigur auf Schutzbereichsebene, wenn es auf den dargestellten überindividuellen Zweck des Grundrechts im Verfassungsgefüge verweist1826. Auf Eingriffsebene thematisiert das Gericht Einschüchterungseffekte zur Begründung des Grundrechtseingriffes bisher nur vereinzelt, etwa bei der Durchsuchung von Redaktionsräumen und der hiermit einhergehenden Störung der Redaktionstätigkeit und möglichen Einschüchterungseffekten1827, sowie bei der offenen Videoüberwachung öffentlicher Plätze und der hiermit assoziierten, allerdings bewusst intendierten, Verhaltenssteuerung1828. Dabei stellt das Bundesverfassungsgericht indes nicht ausschließlich auf den Einschüchterungseffekt ab, sondern verweist vielmehr auf die Einschüchterungsmöglichkeit durch die staatliche Maßnahme – eine Eingriffsbegründung gerade durch den Einschüchterungseffekt stand bisher aus1829. Nunmehr rekurriert der erste Senat im Urteil zur Kennzeichenerfassung II maßgeblich auf den Einschüchterungseffekt durch den Kennzeichenabgleich, um die Freiheitsbeeinträchtigung der Maßnahme und ihre Auswirkungen auf die Freiheitlichkeit des Gemeinwesens zu begründen1830. Ob es indes ausschließlich auf den Einschüchterungseffekt ankommt, oder ob dieser „nur“ argumentativ verstärkend wirkt, bleibt letztlich weiterhin offen – und ist im Ergebnis auch nicht entscheidend –, da der Senat die Maßnahme überdies zu Recht bereits als an sich und nicht erst hinsichtlich ihrer Folgen als freiheitsbeeinträchtigend kennzeichnet1831. Abschließend nutzt das Bundesverfassungsgericht auch auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Argumentationsfigur, wenn es die Eingriffsintensität insbe1826 Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 66 ff.; prägnant Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 23 f.; stellvertretend für die Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung erneut BVerfGE 65, 1 (43); zum Fernmeldegeheimnis BVerfGE 100, 313 (358 f.). 1827 BVerfG, NJW 2005, 965 (965). 1828 BVerfG-K, NVwZ 2007, 688 (690); zum Ganzen erneut die Übersicht bei Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 73 f.; ebenso Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 24. 1829 Zutreffend Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 74, 143 ff., Fazit bei S. 169 ff., freilich noch ohne Berücksichtigung der Entscheidung zur Kennzeichenerfassung II, dafür mit zahlreichen Nachweisen aus der fachgerichtlichen Rechtsprechung und dem Schrifttum sowie Maßgaben zur Konturierung eines Eingriffes durch Einschüchterungseffekte. 1830 BVerfGE 150, 244 (268 f., Rn. 51). 1831 BVerfGE 150, 244 (268 f., Rn. 51); wie hier auch Rusteberg, Entscheidung (Fn. 200), der davon spricht, die Senatsmehrheit sei „tatsächlich in die Offensive gegangen“, indem sie gar nicht auf mögliche Abschreckungseffekte abstelle, sondern die Kennzeichenerfassung bereits als an sich freiheitsbeschränkend einstufe; zur weitgehend offenen Frage der grundrechtsdogmatischen Einordnung von Einschüchterungseffekten als genuine Eingriffsbegründung und der eher komplementären Wirkung des Argumentes Assion, Überwachung (Fn. 1817), S. 59; für einen direkten Grundrechtseingriff durch mittelbar-faktische Abschreckungseffekte bei „Online-Ermittlungen“ in sozialen Netzwerken mit detaillierten Voraussetzungen hierfür instruktiv Oermann/Staben, Grundrechtseingriffe (Fn. 1814), S. 640 ff., 655.
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sondere von heimlichen Maßnahmen mit großer Streubreite vermisst1832. Das Gericht argumentiert mithin in einer Vielzahl von Konstellationen variabel mit Einschüchterungseffekten und stützt sich dabei auf komplexe gesellschaftliche Wirkungszusammenhänge, die weniger durch rechtliche, als durch soziologische und psychologische Grundannahmen gekennzeichnet sind1833. Bei diesen „außerrechtlichen Vorannahmen“ bleibt das Bundesverfassungsgericht gleichwohl häufig sprachlich zurückhaltend, formuliert im Konjunktiv und weist lediglich auf die Einschüchterungsmöglichkeit durch staatliche Maßnahmen hin1834. Das Bundesverwaltungsgericht hat kürzlich bereits bezüglich einer einschüchternden bzw. abschreckenden staatlichen Maßnahme ausdrücklich einen faktischen Grundrechtseingriff angenommen1835. Streitgegenständlich war der Überflug eines durch im Versammlungsvorfeld bereits von Art. 8 I GG geschützten Camps zur Unterbringung von Versammlungsteilnehmern in geringer Höhe durch ein Tornado-Kampfflugzeug der Bundeswehr zur Luftbildaufklärung1836. In seiner Begründung bezieht sich der Senat auf die aus Sicht eines „durchschnittlichen Betroffenen“ im Hinblick auf die geringe Höhe des Überfluges – 114 Meter –, die „extreme Lärmentfaltung“, den „angsteinflößenden Anblick“ und „die Überraschungswirkung im Kontext bevorstehender Demonstrationen gegen den G8Gipfel einschüchternde Wirkung“ 1837. Der Einschüchterungseffekt begründet damit jedenfalls in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu einem versammlungsrechtlichen Sachverhalt mit seinen Besonderheiten des Einzelfalles in der Gesamtwürdigung bereits an sich einen Grundrechtseingriff 1838. (a) Einschüchterungseffekte als vermeintlich nicht validierter Gefühlsschutz für irrationale Ängste Die Rechtsfigur des Einschüchterungseffektes und damit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist vielfacher Kritik ausgesetzt, die an dieser 1832 BVerfGE 125, 260 (335); 120, 378 (402, 430); 120, 274 (323); 115, 320 (354 f.); 113, 348 (382 f.); 109, 279 (354); 107, 299 (320, 328); 100, 313 (381); zum Ganzen mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung siehe ferner Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 75. 1833 Zutreffendes Fazit von Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 27. 1834 Siehe erneut die präzise Analyse von Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 28. 1835 BVerwGE 160, 169 (181 ff., Rn. 30 ff.); dazu auch H. Ruschemeier, Der additive Grundrechtseingriff, 2019, S. 43 f. 1836 BVerwGE 160, 169 (179 ff., Rn. 23 ff.). 1837 BVerwGE 160, 169 (182, Rn. 31) – Hervorhebung nur hier. 1838 BVerwGE 160, 169 (186 ff., Rn. 37 ff.) nimmt eine detaillierte Wertung der Umstände des Einzelfalles vor, wie etwa den Geräuschpegel, den Anblick schwersten militärischen Fluggerätes und dessen Erscheinen aus heiterem Himmel; Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 170 f., geht davon aus, dass die Begründung eines Grundrechtseingriffes allein aufgrund von Einschüchterungseffekten ohnehin auf wenige Sachverhaltskonstellationen begrenzt sei.
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Stelle nur im Überblick ausgebreitet werden kann, um die Anwendbarkeit der Argumentation auf die strategische und die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung zu bewerten1839. Moniert wird zunächst, das Bundesverfassungsgericht nutze Einschüchterungseffekte als einen „verfassungsrechtliche[n] Joker“, den es nach Belieben einsetzen könne, mal um für ein Problem „quasi atmosphärisch“ zu sensibilisieren, mal mit echtem argumentativen Gewicht, ohne eine stringente, dogmatische Ausrichtung zu Grunde zu legen1840. Dadurch degeneriere der Abschreckungseffekt zum Allzweckargument, das beliebig Positionen stützen oder widerlegen könne1841. Zudem schütze das Bundesverfassungsgericht mit dem Verweis auf Einschüchterungseffekte subjektive Gefühle, was eine „Prämie auf irrationale Angst“ 1842 bedeute, und gewähre Grundrechtsschutz für „Feiglinge und Bangebüxen“ 1843, also für Hypersensible und irrationale Ängste1844. Es wird sogar postuliert, das Gericht honoriere „verschwörungstheoretische Argumente mit verfassungsrechtlichen Schlussfolgerungen“ und male ein „Schreckensszenario einer total verängstigten Bevölkerung, die wehrlos der plan- und anlasslosen Kontrollwut einer ungehindert agierenden Verwaltung“ ausgesetzt sei, was insgesamt ein zu großes Misstrauen des Gerichts gegenüber dem Sicherheitsapparat offenbare und im Ergebnis das Versagen der gesamten übrigen Rechtsordnung, namentlich Exekutive und Justiz, bei der Risikobestimmung voraussetze1845. Die Bedrohung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung durch terro-
1839 Guter Überblick der Kritik bei Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 78 ff., 134 ff.; Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 69 ff.; Bäcker, Kriminalpräventionsrecht (Fn. 101), S. 270 f. m. Fn. 286. 1840 Pointiert Rath, Einschüchterungseffekt (Fn. 1815), S. 70; ihm folgend Bäcker, Kriminalpräventionsrecht (Fn. 101), S. 271; dahingehend auch Assion, Überwachung (Fn. 1817), S. 48. 1841 Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 70. 1842 Fundamentalkritik bei H. P. Bull, Meilensteine auf dem Weg zum Rechtsstaat, in: M. H. W. Möllers/R. C. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch öffentliche Sicherheit 2008/ 2009, 2009, S. 317 (329); ihm folgend Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 254 f. 1843 Rhetorisch zugespitzte Frage von B. Pieroth, Aussprache und Schlussworte, in: VVDStRL 70 (2011), S. 90 (90). 1844 Zusammenfassend Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 134; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 142 f.; gegen den „Gefühlsschutz“ erneut kritisch H. P. Bull, Grundsatzentscheidungen zum Datenschutzrecht im Bereich der inneren Sicherheit, in: M. H. W. Möllers/R. C. van Ooyen (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 627 (660 f.); kritisch zur Ausrichtung der Bestimmung der Eingriffsintensität, konkret der Rasterfahndung, an „Befürchtungen“ auch H.-H. Trute, Grenzen des präventionsorientierten Polizeirechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DV 42 (2009), S. 85 (100 f.). 1845 Erneut die Fundamentalkritik von Bull, Meilensteine (Fn. 1842), S. 326 f., der zudem das Menschenbild, das Einschüchterungseffekten zu Grunde läge, als „geradezu lächerlich irreal“ diskreditiert. Die mit Verve vorgetragenen Meinungen von Bull lassen in ihrer – bisweilen befremdenden – Vehemenz teils die Sachlichkeit bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerfG vermissen und gerieren sich partiell vielmehr als rechtspolitischer Appell, so richtigerweise die Anti-
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ristische Gewalttaten lasse das Gericht hingegen gänzlich unberücksichtigt1846. Wenn aber dieses Unsicherheitsgefühl – zu Recht – nicht zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen herangezogen werden könne, dann gelte im Umkehrschluss, dass auch ein reines Bedrohungsgefühl einer Freiheitsbeeinträchtigung nicht für einen Grundrechtseingriff ausreichen könne; ansonsten sei dies mit der „Gleichrangigkeit von Freiheit und Sicherheit unter dem Grundgesetz unvereinbar“ 1847. Bei allen Annahmen des Einschüchterungseffektes lasse das Bundesverfassungsgericht ferner jegliche empirische Grundlage vermissen, weswegen die Annahmen sich schlicht auf eine „alltagstheoretische Intuition“ der Richter1848, nicht aber auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützten1849. Zudem müsse der Einschüchterungseffekt gerade bei Nachrichtendiensten ohne Zwangsbefugnisse besonders hinterfragt werden, da zweifelhaft sei, ob insbesondere die für das tägliche Kommunikationsverhalten folgenlose Sammlung von Metadaten – welche der Bundesnachrichtendienst bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung vor allem ins Visier nimmt1850 – in einer durch „Datenfreizügigkeit geprägten Gesellschaft“ geeignet sei, eine tatsächliche Verhaltensänderung zu provozieren bzw. welche Nutzergruppen hiervon qualifiziert betroffen wären1851. Bei letzterem Vorhalt wird die mangelnde Empirie des Einschüchterungsargukritik bei Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 134 m. Fn. 334 und Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 142 f. 1846 So Unterreitmeier, Folgewirkungen (Fn. 182), S. 228 m. Fn. 24; näher zur gesellschaftlichen Wahrnehmung von Terrorismus und den Folgen des „Terrorkampfes“ für objektive und subjektive Freiheitsausübung und Einschränkungen dieser Wittreck, Kosten (Fn. 112), S. 137 ff. m.w. N.; Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 405, argumentiert, dass etwa an gefährlichen Orten oder bei gefahrgeneigten Tätigkeiten das „Fehlen staatlicher Überwachung“ ebenfalls einen „chilling effect“ haben könne (Hervorhebung im Original). 1847 So die Argumentation bei Möstl, Kfz-Kennzeichenerfassung (Fn. 1789), S. 102, in Bezug auf den Beschluss des BVerfG zur Kennzeichenerfassung II und die Argumentation mit Einschüchterungseffekten. 1848 Prononciert Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 14. 1849 Fehlende empirische Belege für das Bestehen eines Einschüchterungseffektes monieren Unterreitmeier, Überwachung (Fn. 83), S. 5; konkret zu nachrichtendienstlicher Überwachung ders., Folgewirkungen (Fn. 182), S. 227 ff.; Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 14; Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 32 f., 70; Dreier (Fn. 1814), Art. 2 I Rn. 87, „Kryptosoziologie oder Küchensoziologie“; Schoch, Ambivalenz (Fn. 1714), S. 65; M. Nettesheim, Grundrechtsschutz der Privatheit, in: VVDStRL 70 (2011), S. 7 (28); Rath, Einschüchterungseffekt (Fn. 1815), S. 70. 1850 BT-Drs. 18/12850, S. 728. 1851 Kritische Nachfrage in Bezug auf den nachrichtendienstlichen Einschüchterungseffekt bei der Vorratsdatenspeicherung, bei der das BVerfG eine Privilegierung der Nachrichtendienste explizit abgelehnt hatte, durch Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 14, mit gleicher Stoßrichtung für einen realistischeren „Datenschutz in einer digitalisierten Welt“ auf S. 22; dahingehend auch Lindner/Unterreitmeier, „Karlsruher Republik“ (Fn. 196), S. 95 f., die eine Verhaltensanpassung durch nachrichtendienstliche Überwachungsmaßnahmen verneinen und in der Nutzung des Internets gleichsam einen Preis an Datenschutzeinbußen sehen.
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mentes mit der Funktion der Nachrichtendienste als reine Informationsdienstleister in der Sicherheitsarchitektur, sowie einer vermeintlich allgemeinen Datenschutzüberbetonung, in Zeiten freiwilliger Aufgabe der Privatheit bei der Nutzung omnipräsenter privater Datenunternehmen US-amerikanischer Provenienz, gleichsam verzahnt und zur Begründung herabgesetzter materiellrechtlicher Eingriffsschwellen – wohl auch bei höchstinvasiven Informationseingriffen wie der Vorratsdatenspeicherung – in Stellung gebracht. (b) Antikritik: Einschüchterungseffekte als überindividueller Freiheitsschutz Die breite, unterschiedliche Ansätze verfolgende Kritik an der Rechtsfigur eines Einschüchterungseffektes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts präsentiert zwar weitgehend nachvollziehbare Gegenargumente, die aber letztendlich nicht überzeugen können. Einschüchterungseffekte werden in der Rechtsprechung nicht beliebig eingesetzt, sondern konzentrieren sich, wie dargelegt, weitestgehend auf Entscheidungen zu inkriminierten Meinungsäußerungen und staatlicher Überwachung, weswegen bereits insoweit eine Ausuferung der Argumentation nicht feststellbar ist. Soweit das Bundesverfassungsgericht in anderen Bereichen einen Einschüchterungseffekt (noch) nicht thematisiert, wo aber eine Befassung hiermit naheläge, wie zum Beispiel beim Verfassungsschutzbericht nach § 16 BVerfSchG1852, ist dies nicht Ausweis einer willkürlichen Nutzung eines argumentativen „Jokers“, sondern vielmehr die Folge einer noch nicht hinreichend konsolidierten Dogmatik der Einschüchterungseffekte1853. Noch vorhandene Ungenauigkeiten bei der Anwendung diskreditieren das Argument jedoch nicht per se. Vorschläge zur Handhabbarkeit und Bestrebungen einer Systematisierung der Rechtsfigur in der juristischen Argumentation sind mittlerweile an anderer Stelle in der Literatur unterbreitet worden1854. Die weitere Ausformung der Einschüchterungseffekte als (verfassungs-)rechtliches Argument ist damit dem rechtswissenschaftlichen Diskurs überantwortet. Ebenso verfängt die Kritik an einem vermeintlich breitem Schutz von individuellen Überempfindlichkeiten und irrationaler Hypersensibilität Einzelner nicht. Zunächst ist den Kritikern zuzugeben, dass eine unter keinen Umständen objektiv nachvollziehbare, diffuse Angst nicht unter den Schutz der Rechtsordnung fallen kann und mithin
1852 So das Beispiel einer inkonsequenten Nutzung des Einschüchterungseffektes bei Rath, Einschüchterungseffekt (Fn. 1815), S. 78 f., mit weiteren Fällen (Ausschluss von Extremisten aus dem öffentlichen Dienst; religiöse Symbole bzw. Kopftücher von Lehrerinnen an Schulen) in denen zugegebenermaßen eine Auseinandersetzung mit dem Effekt seitens des BVerfG angezeigt gewesen wäre. 1853 Zutreffende Antikritik von Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 79 ff. 1854 Maßgeblich in den Dissertationen von Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 89 ff.; Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 75 ff.
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bei Einschüchterungseffekten keine Berücksichtigung finden darf 1855. Es muss somit eine gewisse, begründbare Erheblichkeit der möglichen Grundrechtsbeeinträchtigung erreicht werden, um Einschüchterungseffekte als Argument in Stellung bringen zu können1856. Zur Maßstabsbildung kann, wie in der juristischen Argumentation vielfach geläufig, auf einen objektiven bzw. verständigen Dritten abgestellt werden1857. Jenseits dieser zu fordernden Schwelle steht bei der Argumentation mit Einschüchterungseffekten ohnehin gerade nicht die Angst Einzelner im Fokus, sondern die gesamtgesellschaftliche Dimension einer möglicherweise grundrechtshemmenden Tätigkeit des Staates, in den hier interessierenden Konstellationen namentlich durch die heimliche Telekommunikationsüberwachung1858. Mit der Argumentationsfigur der Einschüchterungseffekte sichert das Bundesverfassungsgerichts richtigerweise die Grundrechtswirkung – etwa die Vertraulichkeit der Fernkommunikation und das Freibleiben dieser von staatlichen Eingriffen – für die „durch das Grundgesetz verfasste Gemeinschaft schlechthin“ und löst sich damit von subjektiven Empfindungen wie Furcht vor staatlichen Eingriffen1859. Wenn jedoch insinuiert wird, das Bundesverfassungsgericht lasse ein (zu) großes Misstrauen gegenüber dem Sicherheitsapparat und auch der Justiz erkennen1860, muss dem mit Schwabenbauer entgegengehalten werden, dass ein Einschüchterungseffekt im Rechtsstaat „nicht allein deshalb normativ irrelevant [ist], weil er idealiter nicht entstehen dürfte“ 1861. Nur weil im Rechtsstaat kein Grund zur Sorge bestehen soll, bedeutet dies jedoch nicht, dass kein objektiv nachvollziehbarer Einschüchterungseffekt entstehen kann1862. Letztlich ist das gesamte Grundgesetz ein Ausdruck von Furcht vor einem übermächtigen und freiheitsbeschränkenden Staat, das durch seine Abwehrrechte den Einzelnen vor Bedrohungen seiner Freiheit durch jenen Staat schützt, welcher als Rechtsstaat eigentlich keinen Grund zur Besorgnis bieten sollte1863. 1855 So auch BVerwGE 160, 169 (184, Rn. 33); dies gestehen freilich auch die Befürworter des Abschreckungsargumentes unumwunden ein, Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 79 ff.; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 147; J. Gerhards, (Grund-) Recht auf Verschlüsselung?, 2010, S. 159 m. Fn. 586. 1856 Zur Erheblichkeitsschwelle bereits bei rein mittelbar-faktischen Eingriffen durch Einschüchterungseffekte Oermann/Staben, Grundrechtseingriffe (Fn. 1814), S. 644 ff. 1857 Diesen Ansatz verfolgt auch BVerwGE 160, 169 (184, Rn. 33). 1858 A. A. Thiel, Gefahrenabwehr (Fn. 69), S. 256, der die Herstellung einer „Verfassungsrelevanz“ durch „Abstrahierung oder Kollektivierung“ von Einschüchterungseffekten ablehnt, bzw. eine solche nur anerkennen will, wenn ein überwiegender Teil der Bevölkerung solche Einschüchterungseffekte zu beklagen hätte. Damit wird jedoch vielmehr die Frage der empirischen Erhellung der Einschüchterungseffekte aufgeworfen. 1859 Prägnant Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 41; siehe auch Fn. 1825. 1860 So Bull, Meilensteine (Fn. 1842), S. 326 f. 1861 Zutreffend Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 147 – Hervorhebung im Original. 1862 Dahingehend auch Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 138 ff. 1863 So die pointierte Wertung bei Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 140, unter Verweis auf Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 144.
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Das wohl stärkste Gegenargument betrifft die vermeintlich fehlende empirische Untermauerung der Einschüchterungseffekte. Dagegen wird bereits im Ansatz eingewandt, dass es angesichts der objektiven Gefährdungslage, die der Einschüchterungseffekt beschreibt, unerheblich sei, wie viele Personen durch staatliche Überwachung ihr Verhalten anpassten1864. Mit Blick auf die überindividuelle Ausrichtung des Einschüchterungseffektes ist dies zwar richtig, es entkräftet jedoch nicht das Argument der Gegner, es gäbe überhaupt keine Belege seitens der Rechtsprechung für deren Existenz1865. Zunächst ist hierzu festzuhalten, dass die Aussparung expliziter Verweise auf Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Forschung in Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes nicht zwangsläufig bedeutet, dass das Gericht diese nicht in den Entscheidungsprozess, etwa in die Voten der Berichterstatter, hat einfließen lassen – eine genaue Aussage hierzu ist nicht möglich, über die Gründe lässt sich allenfalls spekulieren1866. Damit ist bereits angesprochen, dass es durchaus Forschungsbestrebungen und allgemeine Erkenntnisse in anderen wissenschaftlichen Disziplinen im Bereich von Verhaltensanpassungen durch Einschüchterungseffekte gibt, die vorsichtige Belege für deren Existenz bieten1867. Vor diesem Hin1864
Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 150. Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 1849. 1866 So Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 32 f. m. Fn. 158, ebenfalls zu möglichen Beweggründen (mangelnde Vertrautheit mit anderen Forschungsdisziplinen; Unsicherheit über die Übertragbarkeit empirischer Befunde bzw. über deren Validität; Einschüchterungseffekte als „Nebenschauplätze“ in der verfassungsrechtlichen Prüfung, die ohnehin nicht weiter belegt werden müssen etc.) der nicht vorhandenen Verweise in der Rechtsprechung auf die Forschungsbestrebungen in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. 1867 Eine gute Übersicht über die Ansätze und Erkenntnisse der (Sozial-)Psychologie und der Sozialwissenschaft bieten Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 97 ff.; Staben, Abschreckungseffekte (Fn. 1735), S. 121 ff.; Assion, Überwachung (Fn. 1817), S. 36; Oermann/Staben, Grundrechtseingriffe (Fn. 1814), S. 644 ff. m. Fn. 62, 76, jeweils mit umfangreichen Nachweisen; zu Verhaltensanpassungen von Journalisten aufgrund von Überwachung in den USA durch die NSA und weiteren psychologischen Forschungsergebnissen auch Greenwald, Überwachung (Fn. 2), S. 262 ff.; ein allgemeines gesellschaftliches Misstrauen gegen überbordende Sicherheitsgesetze sieht Schneider, Gebot (Fn. 69), S. 159 ff. Die Existenz von empirischen Belegen gestehen auch Gegner der Argumentation mit Einschüchterungseffekten vorsichtig ein, siehe Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 13 m. Fn. 90. In der Sozialpsychologie ist die Verhaltensanpassung an eine vermutete soziale Norm bei Überwachung und Beobachtung als „Theorie der objektiven Selbstaufmerksamkeit“ bekannt. Das Wissen, aber auch bereits die Vermutung, von Anderen beobachtet zur werden, führt zu einer verstärkten Selbstreflexion der Diskrepanz des eigenen Verhaltens zum Standard, die sodann eine Anpassung bewirken kann, unabhängig von befürchteten Nachteilen, hierzu Zanger, ebda., S. 97 ff.; zum Ganzen mit Darlegung des Versuchsaufbaus und Nachweisen aus der sozialpsychologischen Forschung A. Geiger, Verfassungsfragen zur polizeilichen Anwendung der Video-Überwachungstechnologie bei der Straftatbekämpfung, 1994, S. 55 f.; ausführlich zum Hintergrund und der Genese der Theorie aus der psychologischen Fachliteratur K. Jonas/W. Stroebe/M. Hewstone, Sozialpsychologie, 6. Aufl. 2014, S. 183 ff. 1865
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tergrund lässt sich nicht pauschal behaupten, es gäbe keine messbaren Belege für Einschüchterungseffekte. Breite Untersuchungen explizit zur Rechtswirkungsforschung mit dem Fokus auf Einschüchterungseffekte existieren in Deutschland – soweit ersichtlich – indes noch nicht; mit Blick auf eine breite Akzeptanz der Verfassungsrechtsprechung wären insoweit juristisch-interdisziplinäre Forschungsanstrengungen wünschenswert1868. Hier zeigt sich, parallel zur juristisch-dogmatischen Erfassung von Einschüchterungseffekten, eine noch bestehende Forschungslücke. Für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ist maßgeblich die Datenlage über die Wirkung von Einschüchterungseffekten bei der (Online-) Überwachung von Telekommunikation und hierdurch hervorgerufene Verhaltensanpassungen von Interesse. Bei heimlicher Überwachung können sogenannte panoptische Effekte entstehen, wenn die Überwachung für den Überwachten, wie insbesondere bei nachrichtendienstlicher Auslandsaufklärung, nicht feststellbar ist, er aber mit einer potentiell dauerhaften Beobachtung rechnen kann bzw. muss1869. Diese Unsicherheit kann Verhaltensanpassungen bei der Telekommunikation und der Nutzung des Internets allgemein hervorrufen, wie in repräsentativen Umfragen, namentlich nach den Veröffentlichungen der NSA-Abhöraktionen, gezeigt werden konnte1870. Freilich lassen sich auch gegenteilige demosko1868 Bestandsaufnahme mit wissenschaftspolitischer Aufforderung bei Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 121, 123 f.; allgemein für eine Stärkung empirischer Argumente in der Rechtswissenschaft instruktiv N. Petersen, Braucht die Rechtswissenschaft eine empirische Wende?, in: Der Staat 49 (2010), S. 435 (435 ff.); kritisch hierzu mit Blick auf die Überbetonung von „potentiell demokratieaversen Effekte[n] einer Verlagerung auf Sachverständige“, Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 14 m. Fn. 100. 1869 Zum Phänomen der panoptischen Effekte Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 96 f.; Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 157; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 150; zum philosophischen Hintergrund und zur Übertragbarkeit des Modells auf Telekommunikationsüberwachung instruktiv M. Rieger, Konstituierung staatlicher Telekommunikationsüberwachung, 2016, S. 48 ff.; einen Vergleich der Überwachung von George Orwells 1984 und der Überwachung durch die NSA unter Bezug auf panoptische Effekte bietet Greenwald, Überwachung (Fn. 2), S. 257 ff.; vgl. grundlegend zum Panoptismus als Modell der Machtwirkung von Überwachung M. Foucault, Überwachung und Strafen, 1975, der das von Jeremy Bentham entwickelte Konzept eines Gefängnisses, bei dem alle Räume und damit die Gefangenen jederzeit von einem zentralen Raum in der Mitte des kreisförmigen Baus aus beobachtet werden können, ohne das die Gefangenen das ob und wann der Überwachung wahrnehmen können, generell auf Situationen heimlicher Überwachung übertrug. Ausführlich zum Gefängnisbau und seinen Auswirkungen ebenjene Schrift von J. Bentham, Panopticon: or, the inspection-house (1791), Letter II, Letter V (zitiert nach Eighteens Century Collections Online, S. 4 ff., 23 ff., abrufbar unter http://find.galegroup.com/ecco/infomark.do?& source=gale&prodId=ECCO&userGroupName=muenster&tabID=T001&docId=CW332 5793329&type=multipage&contentSet=ECCOArticles&version=1.0&docLevel=FASCI MILE [19.3.2019]). 1870 Nach einer Studie des SINUS-Institutes gaben 18 Prozent der Befragten an, ihre Internetnutzung habe sich durch die Veröffentlichungen der Fernmeldeaufklärung sei-
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pische Ergebnisse finden bzw. hinsichtlich ihrer Aussage anders gewichten, was überraschenderweise von Gegnern der Einschüchterungseffekte, die eine empirische Grundlage gerade bestreiten, angeführt wird1871. Dabei wird aber maßgeblich darauf abgestellt, dass sich die Mehrheit der Befragten durch nachrichtendienstliche Überwachung nicht bedroht fühlt bzw. ihr Verhalten bei der Nutzung von Telekommunikation und Internet nicht verändert. Im Umkehrschluss gibt es aber eine – bereits rein zahlenmäßig nicht zu unterschätzende Minderheit – die sich nach den Umfragen sehr wohl durch heimliche staatliche Überwachung beeinflusst fühlt. Für diese Minderheit wirkt sich der Abschreckungseffekt jedoch gerade aus; die Schutzbedürftigkeit kann nicht von der Anzahl der potentiell Betroffenen anhängig gemacht werden, insbesondere nicht mit dem hier vertretenen überindividuellen Ansatz der Einschüchterungseffekte. Das Abstellen auf eine vermeintlich von nachrichtendienstlicher Überwachung nicht zu erschütternde Bevölkerungsmehrheit kann die Argumentation mit Einschüchterungseffekten deswegen jedenfalls nicht generell delegitimieren. Insgesamt können für Teile der Bevölkerung Einschüchterungseffekte entstehen und zumindest demoskopisch gezeigt werden, wobei freilich methodische Unsicherheiten nicht auszuschließen sind und validere sozialpsychologische Untersuchungen des Überwa-
tens der NSA sehr bzw. etwas geändert. 39 Prozent erklärten, ihr Sicherheitsgefühl im Internet habe sich sehr bzw. etwas verschlechtert, Ergebnisse abrufbar unter https:// www.sinus-institut.de/fileadmin/user_data/sinus-institut/Bilder/downloadcenter/201307-03_Ergebnisse_DIVSI_PRISM-Blitzumfrage.pdf (19.3.2019); dazu auch Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 158. Ebenso erklärten 21 Prozent der Teilnehmer im ARD-Deutschlandtrend 2014, sie seien bei der Kommunikation per Telefon oder E-Mail vorsichtiger geworden, dieselbe Anzahl der Teilnehmer sorgte sich zudem um eine persönliche Betroffenheit von Telekommunikationsüberwachung durch Nachrichtendienste, abrufbar unter https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-114.pdf (19.3.2019), S. 12 f.; im ARD-Deutschlandtrend 2015 (S. 2, 7) machten sich 27 Prozent der Befragten allgemeine Sorgen, persönlich von Überwachung von Telekommunikation oder im Internet betroffen zu sein, abrufbar unter https://www.infratest-dimap.de/fileadmin/ user_upload/dt1505_bericht.pdf (19.3.2019). 1871 Prononciert Unterreitmeier, Folgewirkungen (Fn. 182), S. 228 m. Fn. 21, 22, 26, der Studien anführt, wonach die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht persönlich von nachrichtendienstlichen Überwachungsmaßnahmen betroffen sehe. Im Gegenteil würden die Nachrichtendienste von der breiten Mehrheit der Bevölkerung (78 Prozent) als Schutz der eigenen Sicherheit gegen Bedrohungen des Terrorismus wahrgenommen, S. 229 m. Fn. 44. Für den Bundesnachrichtendienst lässt sich Letzteres jedenfalls nicht zweifelsfrei behaupten. In einer erstmals das Vertrauen konkret in den Bundesnachrichtendienst ermittelnden Umfrage 2016 durch Infratest-Dimap im Auftrag des SWR gaben 46 Prozent an, dem Bundesnachrichtendienst „weniger“ zu vertrauen, 22 Prozent hatten „gar kein“ Vertrauen in den Auslandsnachrichtendienst – nur 4 Prozent hatten „sehr großes“, 22 Prozent „großes“ Vertrauen in die Behörde, abrufbar unter https://netzpoli tik.org/2016/ansehen-des-bnd-in-der-bevoelkerung-weiter-gesunken/ (19.3.2019). 2020 hatten 49 Prozent „wenig/gar kein“ Vertrauen in den BND 38 Prozent der Befragten „sehr großes/großes“ Vertrauen, siehe Umfragen von Infratest-Dimap unter https:// www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/verfassungs schutz-geheimdienst-im-zwielicht/ (1.5.2022).
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chungsdrucks durch Fernmeldeaufklärung in Deutschland noch ausstehen1872. Es lassen sich aber – wie dargelegt – bereits in der sozialpsychologischen Forschung und in demoskopischen Erhebungen empirische Belege für Einschüchterungseffekte finden. Diese können somit nicht pauschal als reine Alltagsintuition ohne Grundlage abgetan werden, wenngleich eine Vertiefung der Forschung und deren Rezeption in Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes desiderabel ist. (c) Plädoyer für eine Argumentation mit Einschüchterungseffekten Einschüchterungseffekte haben insgesamt ihre Berechtigung als juristisches Argument. Sie machen die überindividuelle Bedrohungslage von Freiheitsbeeinträchtigungen argumentativ handhabbar und ermöglichen auf allen drei Ebenen der tradierten Grundrechtsprüfung eine normative Bewertung (nicht nur) von Überwachungstechnologien. Somit lässt sich das Vorliegen eines Grundrechtseingriffes bei der strategischen und der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auch auf Einschüchterungseffekte stützen, wenngleich dies nicht ausschließlich nötig ist. Ebenso kann die Argumentationsfigur bei der Schutzbereichsbestimmung und bei der Bestimmung der Eingriffsintensität ein wichtiges Abgrenzungskriterium sein. Bei Letzterer wird auf Einschüchterungseffekte noch zurückzukommen sein. dd) Alles auf Anfang: Das Urteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung In seinem Urteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung geht der Erste Senat nunmehr auf all’ dies überraschenderweise nicht ein, sondern bezieht sich vielmehr auf seine Aussage im dritten Abhörurteil, dass in der Erfassung der Telekommunikation der im Ausland lebenden Beschwerdeführer ein Grundrechtseingriff liege1873. Die Erfassung mache die Daten dem Bundesnachrichtendienst gezielt zugängig, damit dieser sie auswerten könne, sei es zur inhaltlichen Erfassung mittels Selektoren, sei es durch die bevorratende Speicherung von Metadaten nach § 6 VI BNDG oder im Rahmen einer Kooperation mit Partnerdiensten, § 14 I BNDG1874. Eine Differenzierung zwischen Treffern und Nichttreffern sowie eine Einordnung in seine bisherige Rechtsprechung hierzu nimmt das Bundesverfassungsgericht nicht vor. Die dahinterliegenden Gedanken klingen
1872 Methodische Unsicherheiten sieht Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 14; allgemein zu Interpretationsrisiken hinsichtlich der Validität bei der Auswertung empirischer Forschung Petersen, Wende (Fn. 1868), S. 447 ff.; zu den Forschungslücken konkret bei der Überwachung von (Online-)Telekommunikation Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 158 f. 1873 BVerfGE 154, 152 (229, Rn. 115) – „Es handelt sich bei einer solchen Erfassung personenbezogener Daten im verfassungsrechtlichen Sinne um eine Datenerhebung.“ 1874 BVerfGE 154, 152 (229, Rn. 115).
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nur in der Aussage an, dass die später wieder ausgesonderten Daten nicht nur „ungewollt miterfasst, sondern bewusst erhoben [würden], um auf relevante Erkenntnisse hin ausgewertet und gegebenenfalls genutzt zu werden“ 1875. Damit knüpft das Bundesverfassungsgericht zunächst implizit an seine Aussage im dritten Abhörurteil an, dass der Datenabgleich als „Akt der Auswahl“ Eingriffsqualität besitze1876. Die Betonung, dass auch später ausgesonderte Daten nicht ungewollt miterfasst, sondern bewusst erhoben würden, lässt jedoch gleichfalls die Überlegungen aus der langen Reihe von Rechtsprechung zu Treffer- und Nichttrefferfällen anklingen. Warum diese vorangegangene Rechtsprechung im Urteil des Ersten Senats zum BNDG nunmehr keine Erwähnung findet, ist insbesondere angesichts der zahlreichen Unklarheiten in der Debatte um die Eingriffsqualität der einzelnen Datenverarbeitungsschritte bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, die sich im Schrifttum breit wiederspiegelt, nicht wirklich nachvollziehbar. Dies gilt insbesondere angesichts der zuvor detaillierten Auseinandersetzung des Senats mit der Literatur bezüglich der territorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses. Eine Erklärung könnte darin liegen, dass das Bundesverfassungsgericht Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis insoweit anders wertet als solche in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, zu dem die trefferbezogene Rechtsprechung ergangen ist. Bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung reicht demnach schon die Erfassung, die die Daten für staatliche Stellen erst verfügbar macht, aus, wohingegen bei Abgleichen von personenbezogenen Daten bei Rasterfahndung und Kennzeichenerfassung – die Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellen – die Grundrechtsberührung aufwändiger begründet werden muss. Somit hat das Bundesverwaltungsgericht das Bundesverfassungsgericht wohl richtigerweise dahingehend verstanden, dass dieses ein weites Eingriffsverständnis, jedenfalls in Bezug auf Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis bei Beschaffung oder Verfügbarmachung eines Massendatenstroms durch Dritte, vertritt1877. Nach hiesiger Ansicht ist die Eingriffsqualität der durch Selektoren ausgefilterten (Inhalts-)Daten dogmatisch überzeugender mit den Argumenten aus der Entscheidung zur Kennzeichenerfassung II zu erklären1878; im Ergebnis ist dem Bundesverfassungsgericht freilich auch in seinem neuen Urteil zuzustimmen. Gleiches gilt selbstredend für die Feststellung eines Eingriffs durch die weitere Auswertung der Daten mittels Analyse von Vorratsdaten und der händischen Sichtung durch Beamte des Bundesnachrichtendienstes sowie die Übermittlung an weitere
1875 BVerfGE 154, 152 (229, Rn. 115) unter vergleichendem Bezug auf BVerfGE 100, 313 (366). 1876 So eben schon BVerfGE 100, 313 (366). 1877 So die im Nachhinein präzise Auslegung des dritten Abhörurteils durch BVerwGE 157, 8 (10 f., Rn. 13). 1878 Zum wechselseitigen Begründungserfordernis eines Eingriffs in Art. 10 I GG und Art. 2 I i.V. m. Art. 1 I GG auch Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 16 m. Fn. 78.
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Empfänger1879; zumindest diese Datenverarbeitungen dürften unstreitig Grundrechtseingriffe darstellen. ee) Ungelöste Vorstufe: Separator und DAFIS-Filter als eigene Grundrechtseingriffe – Stellungnahme Nach alledem offengeblieben ist jedoch noch die dogmatische Einordnung der „Vorstufe“ des Selektorenabgleiches in Form der Ausfilterung rein deutscher und inländischer Telekommunikationsverkehre durch den Separator, die damit einhergehende Aufteilung der Telekommunikationsdaten in einen G 10- und einen Routinestrang sowie die anschließende DAFIS-Filterung. Die Erkenntnisse über die technische Trennung der Telekommunikationsverkehre und die Versuche zur Ausfilterung rein inländischer Telekommunikation in Zeiten der Paketvermittlung müssen in eine neue Bewertung eingestellt werden, was aber in der Literatur bisher – soweit ersichtlich – nur sehr begrenzt der Fall ist1880. Dies überrascht, da die grundrechtsdogmatische Einordnung der Filterkaskade entscheidenden Einfluss auf die Anzahl der potentiell betroffenen Grundrechtsträger und mithin auf die Streubreite der Maßnahme hat1881. Das Bundesverfassungsgericht hält indes – wie bereits angesprochen – weiterhin grundsätzlich an seiner Aussage fest, dass rein nationale Telekommunikationsverkehre „lediglich ungezielt und allein technisch bedingt miterfasst“ und unmittelbar nach der Signalaufbereitung vollautomatisch spurenlos gelöscht würden1882. Seine weite Auslegung, dass schon in der Erfassung der Telekommunikationsdaten ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis liege, verfolgt das Gericht mithin nicht konsequent, sondern lässt weiterhin eine Lücke in der Eingriffsdogmatik bei Massendatenerfassungen von durch Art. 10 I GG geschützter Telekommunikation. Hierdurch geht Differenzierungspotential verloren. 1879
BVerfGE 154, 152 (230 f., Rn. 118 f.). Gegen einen Grundrechtseingriff durch die „bloße Filterung nach formalen Parametern (z. B. Indizien für einen Inlandsbezug)“ plädiert Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 172; Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 238, geht – freilich vor den Entscheidungen des BVerfG zur Kennzeichenerfassung II und zur AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung – von einer Übertragbarkeit der Kategorie des Nichttreffers auf die „Vorabfilterung“ der Daten aus, mit der Folge, dass diese noch keinen Grundrechtseingriff darstellten; Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 47 ff., nimmt hingegen schon vor der jüngsten Entscheidung des BVerfG einen Grundrechtseingriff durch das „Kategorisieren“ der Telekommunikationsdaten an – freilich nur soweit, wie er eine Geltung des Fernmeldegeheimnisses in territorialer Hinsicht überhaupt anerkennt. Wo der räumliche Schutzbereich des Art. 10 GG seiner Meinung nach nicht eröffnet ist, kann folgerichtig auch kein Grundrechtseingriff vorliegen. 1881 Durch die Änderung der Rechtsprechung zur Kennzeichenerfassung II hat sich auch die Streubreite der Maßnahme und in der Konsequenz ihre Eingriffsintensität erheblich intensiviert, siehe hierzu auch den Befund von Rusteberg, Entscheidung (Fn. 200); ferner Möstl, Kfz-Kennzeichenerfassung (Fn. 1789), S. 103. 1882 BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 116); diese hergebrachte Haltung des Senats unterstreicht Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829. 1880
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Das behördliche Interesse – hier begegnet das problematische Merkmal aus der ständigen Rechtsprechung zu Massendatenerhebungen erneut – habe sich bei diesen Daten nämlich noch nicht derart verdichtet, „dass ein Betroffensein in einer einen Grundrechtseingriff auslösenden Qualität anzunehmen“ sei1883. Der Erste Senat muss sodann aber doch die technisch-faktischen Gegebenheiten berücksichtigen, dass eine lückenlose Aussonderung rein nationaler und derjenigen zwischen deutschen Staatsbürgern und Inländern (im Ausland-Ausland-Strang) schlechterdings nicht immer möglich ist; diese Daten würden erst bei einer händischen Sichtung identifiziert1884. Dem faktischen Befund ist nach hiesiger Bewertung der technischen Hintergründe der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung selbstredend zuzustimmen. Die rechtliche Schlussfolgerung, die der Erste Senat hieraus indes zieht, vermag jedoch nicht zu überzeugen1885. Aufgrund der technischen Gegebenheiten sei in Bezug auf Personen, deren Daten trotz der Filterkaskade aus Separator und DAFIS-Filter fälschlicherweise weiterverarbeitet würden, die also nicht „nach der Signalaufbereitung technisch wieder spurenlos ausgesondert“ und in der Folge durch die Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes zur Kenntnis genommen würden, doch von einem Grundrechtseingriff auszugehen1886. Nur in diesen Ausnahmefällen soll es sich um einen Grundrechtseingriff handeln, beim Funktionieren der Filter hingegen nicht1887. Bei einer Aussonderung durch die Filterkaskade soll mithin das behördliche Interesse nicht hinreichend für einen Grundrechtseingriff verdichtet sein, bei der faktischen Kenntnisnahme durch Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes handelt es sich damit gleichsam um einen Eingriff als Reflex auf die ausnahmsweise defizitären Filtersysteme. Bei dieser Sichtweise wird der Grundrechtseingriff allerdings erneut vom Ergebnis – hier der technischen Akkuratesse der Filterkaskade – her bewertet und nicht ex-ante festgestellt. Damit fällt die Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung diesbezüglich hinter die richtige Korrektur durch den Beschluss zur Kennzeichenerfassung II zurück. Der Grund liegt freilich in der fortgesetzten Nutzung des durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung nie aufgegebenen, dogmatisch untauglichen Kriteriums des verdichteten behördlichen Interesses begründet. Selbst wenn man aber dieses Kriterium, im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung, zur Anwendung bringen wollte, ließe sich eine Interessensverdichtung
1883 BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 116) unter vergleichendem Verweis auf BVerfGE 150, 244 (266, Rn. 43); 115, 320 (343); 100, 313 (366); auf die Entscheidung zur Kennzeichenerfassung I verweist der Senat nota bene nicht mehr. 1884 BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 117); dies setze auch § 6 I, IV BNDG jedenfalls implizit voraus, was auch der Umsetzung in der Praxis entspreche. 1885 A. A. wohl Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829. 1886 BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 117), allerdings ohne konkreten Bezug zu den technischen Filterschritten. 1887 So ausdrücklich BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 117).
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auch in Bezug auf die rein technisch bedingt miterfassten und sofort wieder rückstandslos aussortierten Daten rein inländischer bzw. deutscher Telekommunikation annehmen. Die Vorfilterung mittels Separator und DAFIS-Filter ist, anders als der Selektorenabgleich oder die Auswertung von Metadaten, zugegebenermaßen nicht das Ziel der Überwachungsmaßnahme, sondern ein aufgrund der derzeitigen einfachgesetzlichen Rechtslage notwendiger Zwischenschritt; er dient damit „lediglich“ der Einhaltung normativer Vorgaben. Zugleich hat der Bundesnachrichtendienst aber durchaus ein erhebliches Interesse auch bereits an diesen Daten auf der ersten Verarbeitungsstufe, da er ohne die Filterkaskade die derzeitigen gesetzlichen Vorgaben des G 10 und BNDG schon nicht einhalten könnte und die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung damit jedenfalls de lege lata unmöglich würde. Es handelt sich gleichsam um ein negatives behördliches Interesse an den Telekommunikationsdaten, welches insoweit spezifisch verdichtet ist. Zudem würde der Dienst – praktisch äußerst relevant – von der Menge der Daten ohne die Filter und deren Reduktionsfunktion schlicht überrollt. Damit könnte durchaus von einem spezifisch verdichteten behördlichen Interesse gesprochen werden. Freilich ist dieses Verständnis nicht zwingend, die Gegenposition lässt sich ebenso gut vertreten. Die mangelnde Praktikabilität des Kriteriums des verdichteten behördlichen Interesses wird hier indes überdeutlich1888, da es als variables Abwägungskriterium keine rechtssichere Bestimmung eines Informationseingriffs bei der Verkleinerung von Datensätzen ermöglicht. Es ist deshalb abzulehnen. Einen Ausweg bietet nur die Rückbesinnung auf einen grundsätzlicheren Ansatz: Klarheit und mithin Rechtssicherheit lässt sich nur dadurch erreichen, dass jede staatliche Datenerhebung als rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff verstanden wird, wenn die Daten mit Informationen gleich welcher Art abgeglichen oder sonst – wie auch immer – verarbeitet werden1889. Schwabenbauer hat überzeugend allgemein dargelegt, dass ein entscheidendes Kriterium hierfür sein muss, ob die Daten überhaupt einer staatlich veranlassten „Ent- und Neukontextualisierung“ unterzogen werden1890. Der korrekte Zeitpunkt, um zu bestimmen, ob ein Grundrechtseingriff vorliegt, „kann [somit] nur derjenige der Erhebung des Datums [selbst] sein“ 1891. Im Lichte dieser Überlegungen und der technisch leistungsfähigen Möglichkeiten des vollautomatisierten Datenabgleiches mit einer Vielzahl von vorhandenen oder aus dem Datenpool noch zu gewinnenden Informationen sollte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gänzlich zur Leitlinie des Volkszählungsurteils zurückkehren, wonach es kein belangloses 1888
Pointiert hierzu Löffelmann, Anmerkung (Fn. 1789), S. 78. So auch Roggan, Grenzen (Fn. 1790), S. 345; Löffelmann, Anmerkung (Fn. 1789), S. 78; Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 43, 49. 1890 Zu diesem richtigerweise anzulegenden Maßstab erneut instruktiv Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 43. 1891 Pointiert Roggan, Grenzen (Fn. 1790), S. 345. 1889
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Datum mehr geben kann1892. Dem entspricht recht eigentlich auch der richtige, initiale Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, bereits die Erfassung von Telekommunikationsdaten als Eingriff in Art. 10 I GG zu begreifen1893; dieser muss nur konsequent und ohne Ausnahmen auf alle erfassten Daten ausgeweitete werden. Auf das „Kategorisieren“ 1894 der erfassten Fernmeldeverkehre mittels Filterkaskade angewendet zeigt sich, dass durch die Geolokalisation per IP-Adresse mittels Separator und die anschließende DAFIS-Filterung sehr wohl eine Neukontextualisierung der Daten vorgenommen wird. Die Daten werden einer geographischen Herkunftsregion zugeordnet und dabei bereits eindeutig in die verschiedenen Kontexte rein nationale Telekommunikation, deutsche, internationale und Ausland-Ausland-Telekommunikationsverkehre eingeteilt und separiert. Hierdurch gewinnt der Bundesnachrichtendienst bereits Erkenntnisse über die Zusammensetzung des überwachten Datenstromes. Dies stellt eine klare Neukontextualisierung der Daten dar, weswegen die Geolokalisation ein Grundrechtseingriff durch Erfassung der Telekommunikationsumstände, in Form der tieferen Schichten eines IP-Paketes, ist. Die hierauf folgende DAFIS-Filterung vertieft die Neukontextualisierung der Daten, indem Telekommunikationsmerkmale, wie Telefonnummern und E-Mail-Adressen, auf rein deutsche bzw. inländische Merkmale untersucht werden und der Datenstrang danach sogar mit bekannten, unstreitig grundrechtsgeschützten Teilnehmern auf der G 10-Positivliste abgeglichen wird. Zweifelhaft erscheint eine Neukontextualisierung hingegen zunächst in den Fällen, in denen zur Datenreduktion Spam oder „Müll“ 1895, also ganze Datenblöcke bzw. IP-Ranges ohne Unterteilung in Einzelverkehre, sofort im Separator gleichsam verdampfen. In der Praxis handelt es sich hierbei wohl vor allem um Daten volumenintensiver Streaming-Dienste, wie etwa Netflix, oder um Online-Gaming-Daten1896. Hier stellt sich freilich bereits die Frage, ob diese Daten überhaupt vom sachlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses erfasst sind, was teilweise abzulehnen sein dürfte. Allerdings stellen sich dann weitergehende diffizile Einzelfragen, da im Online-Gaming auch Chatkonversation 1892 BVerfGE 65, 1 (45); entschieden a. A. Lindner/Unterreitmeier, „Karlsruher Republik“ (Fn. 196), S. 95, die den dogmatischen Ausgangspunkt des Volkzählungsurteils heute als zu einer „anachronistischen Fiktion“ verkommen sehen. Dem ist entgegenzuhalten, dass gerade durch die Komplexität von staatlichen Datenerhebungsmaßnahmen – wie hier bei der gestaffelten strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung – eine Rückbesinnung auf Grundlegendes zur Schärfung des rechtlichen Zugriffes und mithin zur Lösung beitragen kann. 1893 BVerfGE 154, 152 (229, Rn. 115). 1894 Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 47 ff. 1895 So die Praxisbeschreibung eines BND Vertreters im NSA-UA, siehe Stenographisches Protokoll I der 33. Sitzung des NSA-UA, S. 72. 1896 Dahingehende Darstellung durch Vertreter des BND in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17.
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verbreitet ist, bei der die Spieler miteinander kommunizieren, um beispielsweise Vorgehensweise und Taktiken zu koordinieren. Um die Anwendungen aber überhaupt zu identifizieren, muss auf die IP-Ranges und mithin auf die Umstände der Telekommunikation – eine solche unterstellt – zugegriffen werden. Dies sowie die gesamte Geolokalisation und die DAFIS-Filterung stellen zudem bereits Verarbeitungen im datenschutzrechtlichen Sinne durch Zugriffe auf die durch Art. 10 I GG geschützten näheren Telekommunikationsumstände dar und begründen dementsprechend Grundrechtseingriffe. Dasselbe gilt für eine gegebenenfalls vorgelagerte Streckenauswahl zur Bestimmung von auftragsrelevanten Datenströmen durch den Bundesnachrichtendienst – hier wird querschnittsmäßig der Inhalt des Datenstroms analysiert. In all diesen Fällen wird das Fernmeldegeheimnis bezüglich der näheren Umstände der Telekommunikation oder sogar des Inhalts schließlich bereits gelüftet. Dieses spezifisch für Art. 10 I GG einschlägige Argument tritt zum allgemeineren, nicht weniger wichtigen, Kriterium der „Ent- und Neukontextualisierung“ 1897 hinzu. Für eine weite Auslegung des Grundrechtseingriffes auf jede Datenerhebung streitet ferner nachdrücklich das nach hiesiger Auffassung tragfähige Einschüchterungsargument: Ein „Gefühl des ständigen Überwachtwerdens“ 1898 kann schließlich bei jeder möglichen Datenerhebung auftreten und ist nicht dadurch limitiert, dass auf gewissen vorgelagerten Datenverarbeitungsstufen – die den Telekommunikationsteilnehmern überdies in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle nicht einmal bekannt sein dürften – eine nur kurzzeitige, ausschließlich technische Auswertung stattfindet und die Daten anschließend spurenlos und ohne weitere Auswertungsmöglichkeiten gelöscht werden1899. Es ist inkonsequent, einerseits bei Nichttrefferfällen – zu Recht – mit einem möglichen Abschreckungseffekt auf die Grundrechtsausübung zu argumentieren und andererseits bei rein technikbedingten Vorstufen einer Filterung einen solchen nicht anzuerkennen bzw. bei der rechtlichen Wertung unberücksichtigt zu lassen. Dann ist den Kritikern das Wort geredet, die – zu Unrecht – ohnehin bei Einschüchterungseffekten von einem beliebig einsetzbaren Argument ausgehen. Der Abschreckungseffekt entsteht aber dadurch, dass überhaupt Daten staatlicherseits erhoben und verwendet werden. Allein die Tatsache, dass der Bundesnachrichtendienst die eigene Telekommunikation – auch im Inland – erfassen könnte, kann, unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der technischen Filterung – deren potentielle Fehler noch nicht mitberücksichtigt –, zu einem Gefühl des Überwachtwerdens führen, mit der Folge, dass der freie Meinungsaustausch mittels Telekommunikation unterbleibt 1897
Erneut der Terminus von Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 43. BVerfGE 125, 260 (335). 1899 So auch in Bezug auf die Ausnahmekategorie einer rein technisch bedingten Miterfassung im Lichte des Urteils zur Kennzeichenerfassung II Schnieders, Anmerkung (Fn. 1787), S. 397; ausdrücklich hinsichtlich des „Kategorisierens“ der G 10-Telekommunikation Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 49 f. 1898
II. Eingriffscharakter der Auslandstelekommunikationsüberwachung
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oder verändert wird1900. Die Heimlichkeit der Filterprozesse und die Unkenntnis über die tatsächlichen technischen Möglichkeiten des Bundesnachrichtendienstes bei der Datenauswertung können zudem verstärkend wirken1901. Wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht die Argumentationsfigur des Einschüchterungseffektes richtigerweise anerkennt, muss der Gedanke auch auf den gesamten Datenerhebungsvorgang mit all seinen Stufen erstreckt werden. Eine Berücksichtigung des objektiven Grundrechtsgehaltes von Art. 10 I GG und des Einschüchterungseffektes durch staatliche Datenerhebungen lässt sich allerdings dogmatisch schlüssig nur dann begründen, wenn auch ein „echter“ Grundrechtseingriff festgestellt wird1902. Im Ergebnis stellt damit bereits jede Ausleitung eines Datenstranges durch private Anbieter aufgrund einer Anordnung des Bundesnachrichtendienst oder die Erfassung von nicht-leitungsgebundener Telekommunikation mittels eigener Anlagen einen rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff dar. Ausnahmen hiervon, durch Abschichtung von einzelnen Datenverarbeitungsschritten, lassen sich weder allgemein grundrechtsdogmatisch noch konkret mit Bezug auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung begründen. Sowohl die Filterkaskade mittels Separator und DAFIS-Filter als auch der anschließende Abgleich mit den Selektoren stellen jeweils weitere, eigene Folgeeingriffe dar. c) Individualisierbarkeit von Grundrechtsträgern als konstitutive Eingriffsvoraussetzung? Alle vorgenannten Überlegungen wären zumindest im Ansatz dem Vorwurf mangelnder Relevanz ausgesetzt, wenn es bei der strategischen und der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung aufgrund des strategischen Ansatzes um reine Sachaufklärung ohne jegliche Möglichkeit der Herstellung von Personenbezug ginge. In diesem Sinne wird der Eingriffsqualität von Nichttreffern bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung grundlegend entgegengehalten, dass erst das Auswerten individualisierter Telekommunikationsverkehre zu einem Grundrechtseingriff führe, da diese Personenbeziehbarkeit konstitutive Voraussetzung für einen Eingriff in Art. 10 I GG sei1903. Bei dieser Auslegung 1900
So auch BVerfGE 100, 313 (359), gerade zur strategischen Fernmeldeaufklä-
rung. 1901 Zur Heimlichkeit als eingriffsintensivierender Faktor ausführlich noch unter F. II. 2. a) cc). 1902 So überzeugend ausgeführt durch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 158. 1903 Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 173; explizit zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Inland aus ders., Rechtsbindung (Fn. 377), S. 480, unter Verweis auf Durner (Fn. 544), Art. 10 (Rn. 122, 185) (noch zur 57. Ergänzungslieferung 2010), der sich auf die strategische Fernmeldeaufklärung unter dem G 10 und die Voraussetzungen eines Eingriffes in Art. 10 GG allgemein bezieht. Weiterhin für eine Individualisierbarkeit als Voraussetzung eines Grundrechtseingriffes in Art. 10 I GG
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wird aus dogmatischer Sicht ein umfassender Gleichklang des Fernmeldegeheimnisses mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung angestrebt1904. Eine Individualisierung sei zudem bei der strategischen Fernmeldeaufklärung dem Grunde nach schon gar nicht vorgesehen, da sie keinen individuellen Ermittlungsansatz verfolge, sondern auf Lageaufklärung abziele1905. Dieser Gedanke wird auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung übertragen, sofern denn überhaupt ein hoheitlicher, grundrechtsrelevanter Eingriff in der Maßnahme erblickt wird1906. Personenbezogene Daten sind gemäß der Legaldefinition in Art. 4 Nr. 1 DSGVO Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare Person beziehen1907. Identifizierbar ist eine Person, wenn sie direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser
auch in der aktuellen Ergänzungslieferung ders. (Fn. 544), Art. 10 Rn. 155 f., 240 f., wobei allerdings eine „Beweislastumkehr“ für derart potente Behörden wie den BND gefordert wird, wodurch diesem die Darlegungs- und Beweislast dafür auferlegt werden solle, dass kein Eingriff in Art. 10 I GG zu befürchten sei. 1904 So der generelle Ansatz von Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 77 wohl auch noch in der aktuellen Ergänzungslieferung. 1905 Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 240; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 23; a. A. Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 159 f., der zwar grundsätzlich damit übereinstimmt, Fälle, in denen keinesfalls eine Individualisierung stattfinden könne, nicht als Eingriff zu werten. Diese Voraussetzung fehle indes bei der strategischen Fernmeldeaufklärung, da eine Individualisierung immerhin grundsätzlich möglich sei. 1906 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 480, nimmt einen Eingriff jedoch zumindest bei der Überwachung von Ausländern im Ausland vom Inland aus an, wenn diese tatsächlich individualisierbar würden. Hierauf ziele die Maßnahme aber schon nicht. Bei der Überwachung vom Ausland aus fehlt nach Gärditz bekanntlich der hoheitliche Charakter der Maßnahme (Stichwort: Der BND als Privater), weswegen kein Grundrechtseingriff vorliege. 1907 Die DSG-VO ist freilich im bereichsspezifischen, nicht europarechtlich determinierten Datenschutz des G 10 und BNDG unanwendbar (hierzu bereits B. III. 1. b)) sowie noch unter G. II. Dennoch wird man die prägende Definition des personenbezogenen Datums allgemein anwenden können. Hierfür spricht auch die weitgehende sprachliche Anpassung des BNDG an die datenschutzrechtlichen Termini der DSG-VO, siehe dazu BT-Drs. 18/11325, S. 124 ff. Das neue BDSG als nationalstaatliches, datenschutzrechtliches Regelungsregime nutzt in § 46 Nr. 1 BDSG dieselbe Definition. Insoweit ist das BDSG schließlich auch im Bereich des BNDG anwendbar, § 32a Nr. 2 BNDG; allgemein zum übergeordneten Charakter der europarechtlichen Definition und deren Übernahme durch den nationalen Gesetzgeber M. Karg, in: S. Simitis/G. Hornung/I. Spiecker gen. Döhmann (Hrsg.), Datenschutzrecht, 2019, Art. 4 Nr. 1 DSGVO Rn. 1 ff.; S. Schwichtenberg, in: J. Kühling/B. Buchner (Hrsg.), Datenschutzgrundverordnung/ BDSG, 3. Aufl. 2020, § 46 BDSG Rn. 1 f.
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natürlichen Person sind, identifiziert werden kann, Art. 4 Nr. 1 DSG-VO1908. Dabei sind alle Mittel zu berücksichtigen, die der Verantwortliche für die Datenverarbeitung, also der Bundesnachrichtendienst, nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlich nutzen wird, um die natürliche Person hinter den Daten zu identifizieren1909. Nach Erwägungsgrund 26 der DSG-VO sollen bei der Feststellung, ob Mittel nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlich zur Identifizierung der natürlichen Person genutzt werden, alle objektiven Faktoren, wie die Kosten der Identifizierung und der dafür erforderliche Zeitaufwand, herangezogen werden. Dabei müssen auch die sich stetig fortentwickelnden technischen Möglichkeiten mitbedacht werden, die gerade bei großen Datenmengen durch entsprechende Algorithmen Rückschlüsse auf einzelne Personen ermöglichen können bzw. in absehbarer Zukunft können werden1910. Die Herstellung eines Personenbezuges wird dabei nur außer Verhältnis zum Aufwand stehen, wenn dieser den Informationswert so wesentlich übertrifft, dass vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass niemand diesen Versuch einer Individualisierung unternehmen wird1911. Seit jeher hochumstritten ist die für das gesamte Datenschutzrecht elementare Frage, ob zu den Mitteln der Identifizierung auch diejenigen von Dritten zählen, es also bei der Herstellung des Personenbezuges alleinig auf den Verantwortlichen ankommt (relativer Personenbezug), oder ob das Wissen eines beliebigen Dritten hierfür ausreichend ist (absoluter Personenbezug)1912. Jedenfalls sind die Kenntnisse und die Möglichkeiten eines Dritten dann zu berücksichtigen, wenn Daten an diesen übermittelt werden oder – wie der Europäische Gerichtshof kürzlich in Bezug auf dynamische IP-Adressen festhielt – wenn der Verantwortliche über „rechtliche Mittel“ verfügt, sich die Daten des Dritten zugänglich
1908 Hierzu statt aller M. Klar/J. Kühling, in: ders./Buchner, ebda., Art. 4 Nr. 1 DSGVO Rn. 19 ff.; siehe ebenfalls § 46 Nr. 1 BDSG; zur Frage, ob und inwieweit der Begriff des personenbezogenen Datums angesichts von Big Data angepasst werden muss instruktiv Hoffmann-Riem, Rahmenbedingungen (Fn. 632), S. 55 f. 1909 S. Schulz, in: P. Gola/D. Heckmann (Hrsg.), Bundesdatenschutzgesetz-Kommentar, 13. Aufl. 2019, § 46 BDSG Rn. 14; Kühling/Klar (Fn. 1908), Art. 4 Nr. 1 DS-GVO Rn. 20. 1910 Dies betont zu Recht A. Klabunde, in: E. Ehmann/M. Selmayr (Hrsg.), Datenschutz-Grundverordnung, 2. Aufl. 2018, Art. 4 DS-GVO Rn. 17. 1911 H. Schild, in: Brink/Wolff, BeckOK Datenschutzrecht (Fn. 321), Art. 4 DS-GVO (Stand: 1.11.2020), Rn. 18. 1912 Für einen eher relativen Personenbezug etwa Kühling/Klar (Fn. 1908), Art. 4 Nr. 1 DS-GVO Rn. 25 ff.; P. Gola, in: ders. (Hrsg.), Datenschutz-Grundverordnung, 2. Aufl. 2018, Art. 4 DSG-VO Rn. 17 ff.; einen absoluten Ansatz favorisiert dagegen Klabunde (Fn. 1910), Art. 4 DS-GVO Rn. 17; vgl. ausführlich zum grundlegenden Streitstand mit den zahlreichen Ansätzen M. Bergt, Die Bestimmbarkeit als Grundproblem des Datenschutzrechts – Überblick über den Theorienstreit und Lösungsvorschlag, in: ZD 2015, S. 365 (365 ff.). Die Behandlung dieser Frage böte Raum für eine eigene Untersuchung und würde an dieser Stelle den Umfang der Arbeit übersteigen.
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zu machen1913. Das Gegenstück zu personenbezogenen Daten bilden solche, die keinerlei Personenbezug besitzen, sogenannte Sachdaten1914. aa) Unbeachtlichkeit des Personenbezuges für den Ersteingriff Das Bundesverfassungsgericht hat grundlegend für die strategische Fernmeldeaufklärung festgehalten, dass es unerheblich sei, wenn die „erfassten Daten nicht sofort bestimmten Personen zugeordnet werden können“ 1915. Ein solcher Personenbezug könne ohne Schwierigkeiten später hergestellt werden1916. Bereits 1999 bestand demnach nach Überzeugung des Gerichts wegen der Aussagen in der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit einer zumindest nachträglichen Individualisierbarkeit im Bereich des G 10, wo die Daten mindestens eines Kommunikationsteilnehmers bekanntlich einen Deutschlandbezug aufwiesen1917. Bei der Übertragung moderner, digitalisierter Telekommunikation werden heute indes noch wesentlich mehr Verkehrs- bzw. Metadaten übertragen und miterfasst, welche mittels leistungsfähigerer Datenanalysesysteme die Möglichkeiten der Herstellung eines Personenbezuges weiter steigern1918. Nunmehr geht das Bundesverfassungsgericht auf die Notwendigkeit der Herstellung eines Personenbezuges nur noch am Rande ein, indem es die Erfassung von „personenbezogenen Daten“ als Datenerhebung „im verfassungsrechtlichen Sinne“ einordnet1919. Die Befürworter einer Individualisierung als notwendige Voraussetzung eines Grundrechtseingriffes berücksichtigen dabei jedoch nicht hinreichend, dass es aufgrund des formalen Anknüpfungspunktes des Geheimnisschutzes durch Art. 10 I GG auf einen Personenbezug beim Ersteingriff durch die Erfassung richtigerweise nicht ankommen kann1920. Dieser Eingriff findet durch die Erfas1913 EuGH, Urteil vom 19.10.2016 – C-582/14, Rn. 47 ff. – Breyer; ebenso im Anschluss BGH NJW 2017, 2416 (2418, Rn. 26); Kühling/Klar (Fn. 1908), Art. 4 Nr. 1 DS-GVO Rn. 28. 1914 Zu der Terminologie des Bundesnachrichtendienstes bezüglich der Einstufung einiger Metadaten als Sachdaten siehe BT-Drs. 18/12850, S. 722; detailliert zur Abgrenzung zwischen sach- und personenbezogenen Daten Kühling/Klar (Fn. 1908), Art. 4 Nr. 1 DS-GVO Rn. 12 ff. 1915 BVerfGE 100, 313 (366). 1916 BVerfGE 100, 313 (366, 381); Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 360 f. 1917 BVerfGE 100, 313 (366, 381). 1918 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151, 244, Rn. 153); so auch die Analyse von Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 123; siehe hierzu auch P. Schaar in seiner Zeugenaussage vor dem NSA-Untersuchungsausschuss, BT-Drs. 18/12850, S. 1557. 1919 BVerfGE 154, 152 (229, Rn. 115). 1920 Zum Verzicht auf einen Personenbezug bei Art. 10 GG jedenfalls beim ersten Informationseingriff wie hier Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 44; Stettner (Fn. 1198), § 92 Rn. 45; dahingehend auch Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 41; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 129 – „Doch auch ohne [. . .] Personenbezug sind die Daten jedenfalls vom Schutzbereich des Art. 10 GG erfasst, der sich auf mittels Fernmeldetechnik ausgetauschte Kommunikationsdaten bezieht.“
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sung der geschützten Telekommunikationsverkehre an sich statt und wird nicht erst mittels eines durch Inhalt oder Umstände herstellbaren Personenbezugs realisiert. Zwar schützt Art. 10 I GG „nicht vorrangig“ den materiellen Geheimnisschutz, sondern dient dem „Schutz der individuellen Telekommunikationsteilnehmer“ als spezielle Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts1921. Das Fernmeldegeheimnis ist aber nicht auf die kommunikative Privatheit als solche beschränkt1922. Andernfalls würde die Schutzbedürftigkeit der Telekommunikation – das Geheimnis – nicht an der Übermittlung per Medium unter Einbeziehung Dritter festgemacht, sondern ex post an der Auswertbarkeit der übertragenen Informationen, was aber bereits den Geheimnisbruch durch technische oder menschliche Kenntnisnahme voraussetzt1923. Eine Individualisierung bzw. eine Einschätzung der Individualisierbarkeit kann nämlich nur dann stattfinden, wenn staatliche Stellen den Inhalt oder die Umstände der Telekommunikation bereits zur Kenntnis genommen haben1924. Dies widerspricht aber dem Grundgedanken des Fernmeldegeheimnisses. Gegen eine Individualisierungsmöglichkeit von Telekommunikationsteilnehmern als konstitutives Merkmal eines Grundrechtseingriffes in Art. 10 I GG spricht anschaulich ferner, dass etwa leere E-Mails ebenfalls vom Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses erfasst sind1925. Dem gleichen formellen Geheimnisschutzgedanken folgt auch die im Rahmen des Schutzbereiches dargelegte Einbeziehung ganzer Glasfaserleitungen in den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses sowie die hier vertretene grundrechtsimmanente extraterritoriale Geltung des Art. 10 I GG. Der Personenbezug ist also für das Fernmeldegeheimnis – anders als bei dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung – jedenfalls für den Ersteingriff durch die Erfassung der Telekommunikation, unbeachtlich1926. Insoweit müssen die spezielleren Voraussetzungen des Art. 10 I GG dem allgemeineren Gedanken des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, welches nur personenbezogene Daten schützt, vorgehen.
1921
BVerfGE 154, 152 (208 f., Rn. 70). Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 129; in der Sache auch Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 41; insoweit vorsichtig auch Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 56, der jedenfalls keine „persönlichkeitsrelevanten Kommunikationsinhalte“ voraussetzen will, ansonsten aber an der Individualisierbarkeit als Kriterium festhält. 1923 Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 44 m. Fn. 2; prägnant dazu auch Stettner (Fn. 1198), § 92 Rn. 45; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 41. 1924 Pointiert erneut Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 44: „Der Grund für die Formalisierung des Schutzes liegt in der Tatsache, dass eine Differenzierung zwischen materiell vertraulichen und sonstigen Mitteilungen nur durch Kenntnisnahme von deren Inhalt möglich wäre. Eine solche Prüfung würde den Geheimnisschutz nicht ermöglichen, sondern aufheben.“ 1925 Beispiel zur Verdeutlichung bei Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 44 m. Fn. 2. 1926 A. A. Weiterhin Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 155, 240; Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 173; ders., Rechtsbindung (Fn. 377), S. 480. 1922
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bb) Relevanz für Folgeeingriffe sowie Eingriffsintensität Die Frage eines später herstellbaren Personenbezuges – wie ihn das Bundesverfassungsgericht annimmt1927 – wird indes bei den Folgeeingriffen, etwa der Auswertung und Übermittlung, relevant, da hier die Auswertung des spezifischen Sach- und Informationsgehalts an eine Individualisierbarkeit gekoppelt ist1928. Freilich entfällt der Ersteingriff aber nicht rückwirkend in Fällen, in denen der Bundesnachrichtendienst zwar Sachinformationen aus einer Meldung gewinnen kann, diese aber keinem Absender oder Empfänger mehr zuzuordnen ist. Ebenso steigt bei der Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, naturgemäß die Eingriffsintensität, da durch die erweiterten Nutzungsmöglichkeiten der Eingriff in das Fernmeldegeheimnis vertieft wird1929. (1) Auskunftsrechte bei der strategischen Fernmeldeaufklärung Zumindest bei Daten mit Deutschlandbezug stehen dem Bundesnachrichtendienst mit seinen Befugnissen zur Bestands- und Verkehrsdatenauskunft nach §§ 3 ff. BNDG rechtliche Möglichkeiten zur Verfügung, weitergehende Auskünfte über Datensätze bei den Telekommunikationsanbietern einzuholen1930. Damit besteht für ihn im Inland nach datenschutzrechtlichen Maßstäben die hinreichende Möglichkeit, einen Personenbezug unter Einbindung des Wissens Dritter, im Sinne der referierten Rechtsprechung des Europäischen- und des Bundesgerichtshofes1931, herzustellen. Zum Zeitpunkt des Eingriffes wird sich der Personenbezug bei der strategischen Fernmeldeaufklärung also regelmäßig herstellen lassen, bzw. im Anschluss herstellen lassen können. Eine konkrete Aussage dazu, in welchen Fällen eine Individualisierung in jedem Fall ausge-
1927 BVerfGE 100, 313 (366, 381); dahingehend auch BVerfGE 154, 152 (227 f., Rn. 111, 229, Rn. 115, 231, Rn. 119). 1928 In diese Richtung gleichfalls Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 241. 1929 Statt aller mit Nachweisen aus der Rechtsprechung Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 121. Zur Eingriffsintensität ausführlich im Folgenden unter F. II. 2. 1930 Zur Individualisierungsmöglichkeit hierdurch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 71; zumindest in Bezug auf Telefonnummern Zustimmung auch bei Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 90; Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 177, beschreibt die aus seiner Sicht noch gesteigerten Deanonymisierungsmöglichkeiten bei einer hypothetischen strategischen Inlandsaufklärung durch das BfV. Relevante Erkenntnisse ließen sich dann bei „typisierender Betrachtung“ häufiger in ein „deanonymisiertes Erkenntnisraster“ einflechten. Warum die hieraus resultierende Steigerung – deren tatsächliche Auswirkung unterstellt – indes nur gegeben sein soll, wenn es sich um rein inländische Telekommunikation handelt, nicht jedoch bei „,Auslandsdaten‘“, erschließt sich nicht recht. Jedenfalls bei internationaler Telekommunikation i. S. d. § 5 I G 10 müsste dieser Befund doch auch in Bezug auf die in Deutschland befindliche Person gelten. 1931 EuGH, Urteil vom 19.10.2016 – C-582/14 – Breyer, Rn. 47 ff.; BGH NJW 2017, 2416 (2418, Rn. 26).
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schlossen ist, lässt sich hier nicht treffen. Hierzu wäre eine rechtstatsächliche Untersuchung, unter Berücksichtigung der Geheimhaltung, notwendig. (2) Metadatenauswertung durch full take und nachrichtendienstliche Kooperation Bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung stellt sich die Situation schon im Bereich der Erfassungsbreite der Telekommunikation anders dar, was Auswirkungen auf die Individualisierbarkeit der erhobenen Fernmeldeverkehre hat. Der Bundesnachrichtendienst erhebt schließlich gemäß § 6 II BNDG lediglich Inhaltsdaten anhand von Suchbegriffen. Bei den Metadaten, die eine Personalisierung von Telekommunikation anhand formaler Kennungen weithin ermöglichen können, verfolgt er hingegen einen „full take“-Ansatz1932 und erhebt diese zur weitergehende Analyse und de facto auf Vorrat mit einer regelmäßigen Speicherdauer von sechs Monaten gemäß § 6 II 1, VI 1 BNDG1933. Die Metadaten eines erfassten Datenstranges stehen mithin in Gänze zur Auswertung zur Verfügung und können dadurch systematisch verarbeitet werden, was weitgehende Verknüpfungen innerhalb des Datensatzes erlaubt1934. Hierin liegt die eigentliche Aufklärungsstärke des metadatenzentrierten Ansatzes des Bundesnachrichtendienstes. Deswegen erscheint es naheliegend, dass der Bundesnachrichtendienst schon mit eigenen Mitteln in der Lage sein dürfte, auch Ausland-Ausland-Telekommunikation zu individualisieren, obwohl ihm hier die Abfragemöglichkeiten bei privaten ausländischen Telekommunikationsdienstleistern im Regelfall verwehrt sein werden1935. Der Gesetzgeber geht schließlich selbst davon aus, dass die nach § 6 VI 1 BNDG gespeicherten Verkehrsdaten, zum Beispiel nach einem Terroranschlag, „auf mögliche Verkehre der von den Tätern genutzten, bislang unbekannten Anschlusskennungen, geprüft werden“: „Auf diese Weise könnten das Umfeld der Täter oder auch weitere Täter schnell identifiziert werden, um möglicherweise sogar Folgeanschläge rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern. Zudem können in den Bereichen organisierte Kriminalität und Terrorismus auch Aufenthaltsorte oder Reisetätigkeiten Hinweise auf auftragsrelevante Aktivitäten [sic] geben“ 1936. 1932 Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 164. Dabei ist als Ziel des full take freilich nicht die globale Telekommunikation als solche gemeint, sondern diejenige, derer der BND habhaft wird. Bei dieser sammelt er alle Metadaten mit Ausland-AuslandBezug auf Vorrat. 1933 Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 921 f.; H. A. Wolff, Schriftliche Stellungnahme zur Vorbereitung der mündlichen Anhörung am 26.09.2016, AS-Drs. 18(4)653 F, S. 8; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 15. 1934 BVerfGE 154, 152 (187, Rn. 22, 244, Rn. 153); zur Analyse der Verkehrsdaten Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 28; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 201; in Bezug auf die Fähigkeit zur Herstellung von Personenbezug allgemein Hoffmann-Riem, Rahmenbedingungen (Fn. 632), S. 55 f. 1935 A. A. Graulich, Fernmeldeaufklärung (Fn. 663), S. 90 f. 1936 BT-Drs. 18/9041, S. 24; so auch Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 922.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
In diesem Kontext ist anschaulich auch von einer „Kaltstartfähigkeit“ des Bundesnachrichtendienstes die Rede, die durch ebenjene Analyse von auf Vorrat gespeicherten Metadaten ermöglicht werde1937. Den skizzierten Fahndungserfolg kann der Dienst jedoch logischerweise nur dann erzielen, wenn er großflächig Personenbezüge bei den gespeicherten Verkehrsdaten herstellen kann. Ferner ist bei den weitgehend genutzten formalen Selektoren zum Teil bekannt, welche Personen mit diesen assoziiert sind1938. Zudem kann die internationale, nachrichtendienstliche Kooperation nicht unberücksichtigt bleiben. Der Bundesnachrichtendienst darf Daten aus der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung im Einzelfall an ausländische Partnerdienste übermitteln, im Falle einer Kooperation sogar automatisiert1939. Hierdurch kann er Telekommunikationsdaten an solche Nachrichtendienste weiterleiten, die ihrerseits einen Personenbezug herstellen und den Bundesnachrichtendienst hiervon im Austausch unterrichten können. Außerdem wird der Bundesnachrichtendienst in Fällen von erheblichem nachrichtendienstlichem Interesse bei Partnerdiensten wohl anfragen, ob diese bei relevanten Datensätzen einen Personenbezug herstellen können1940, um im Gegenzug seinerseits in einschlägigen Fällen mit eigenem Wissen dienen zu können. Schließlich funktioniert nachrichtendienstliche Zusammenarbeit nach dem Prinzip do ut des1941. Nur wer dem Partner Informationen bereitstellt, wird auch selber mit Erkenntnissen versorgt1942. Somit ist es nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlich, dass der Bundesnachrichtendienst Daten zur Individualisierung an Dritte übermittelt bzw. derartige Anfragen stellt und eine Individualisierung mithin nicht völlig ausgeschlossen ist1943. Eine Deanonymisierung ist mithin nicht mit unverhältnismäßig hohen Hürden versehen. Dabei ist auch zu beachten, dass ausländischen Nachrichtendiensten, allen voran der National Security Agency in den USA, noch wesentlich weiter entwickelte technische Mittel zur Herstellung eines Personenbezuges zur Verfügung stehen 1937
Prägnant Dietrich, (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 28. BVerfGE 154, 152 (187 f., Rn. 23); zur gezielten Steuerung von Selektoren diesbezüglich auch noch vertiefend unter F. III. 4. d) cc) (2) (c). 1939 Zu den beiden Übermittlungsvarianten zusammenfassend noch einmal Gusy (Fn. 229), § 24 BNDG Rn. 5 ff.; Dietrich (Fn. 771), § 15 BNDG Rn. 1 ff. 1940 Dahingehend Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 129; hiervon geht auch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 72 f. aus; in die Richtung wohl auch BTDrs. 18/12850, S. 1571 ff., wobei entscheidende Passagen teils geschwärzt sind. Die grundsätzliche Aussage lässt sich dem Abschnitt nach Ansicht des Verfassers dennoch entnehmen. 1941 Zum Prinzip do ut des bei der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit siehe auch BVerfGE 154, 152 (247, Rn. 160); Gusy (Fn. 229), § 24 BNDG Rn. 5; ausführlich zur aus Sicht des BfV „kaum zu überschätzenden“ Bedeutung der internationalen nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit bereits Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 527 ff. 1942 BVerfGE 154, 152 (247, Rn. 160); hierzu erneut vertieft Droste, Handbuch (Fn. 40), S. 528. 1943 So auch Schaar, BT-Drs. 18/12850, S. 1573. 1938
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dürften, alleine schon aufgrund der im Vergleich zum Bundesnachrichtendienst wesentlich größeren Speicherkapazität für Metadaten, aus denen dann entsprechend vertiefte Rückschlüsse gezogen werden können1944; hinzutritt der Zugriff auf international agierende Internetfirmen mit Sitz in den Vereinigten Staaten. Bei der Einbeziehung des Wissens Dritter stehen dem Bundesnachrichtendienst demnach zwar keine unmittelbaren „rechtlichen Mittel“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Verfügung1945; er kann aber jedenfalls Daten an Dritte zur Herstellung eines Personenbezuges übermitteln und im Rahmen der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit um entsprechende Informationen von Partnerdiensten ersuchen. Lediglich in Fällen, in denen der Bundesnachrichtendienst mit eigenen Mitteln keinerlei Personenbezug herstellen kann und der Rückgriff auf das Wissen Dritter erfolglos bleibt oder aufgrund gegenläufiger nachrichtendienstlicher Interessen nicht gewährt wird, kann ein Folgeeingriff an der fehlenden Individualisierbarkeit scheitern. In welchen Konstellationen dies eintritt, ist öffentlich freilich unbekannt. d) Datenerhebungen in der Verantwortlichkeit deutscher Staatsorgane Das Bundesverfassungsgericht hat, neben der im status negativus des Fernmeldegeheimnisses unnötigen Abstimmung mit dem Völkerrecht, eine Berücksichtigung der Reichweite der Verantwortlichkeit deutscher Staatsorgane bei extraterritorialem Handeln als möglichen Begrenzungsfaktor eines Grundrechtsschutzes im Ausland angemahnt1946. Die verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit deutscher Staatsorgane und mithin auch der Schutzbereich der Grundrechte ende grundsätzlich dort, wo „ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einer fremden Macht nach ihrem, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Willen gestaltet wird“ 1947. Deshalb erscheint es klärungsbedürftig, ob insoweit eine Einschränkung der extraterritorialen Reichweite des Fernmeldegeheimnisses auf Eingriffsebene vorzunehmen ist. Sollte der Bundesnachrichtendienst für Datenerhebungen nicht oder nur eingeschränkt verantwortlich sein, ließe sich eine Begrenzung der Auslandswirkung von Art. 10 GG gegebenenfalls auf Eingriffsebene annehmen1948. 1944
Erneut Schaar, BT-Drs. 18/12850, S. 1573. Siehe hierzu schon Fn. 1913. 1946 BVerfGE 100, 313 (362 f.); unter Verweis auf BVerfGE 92, 26 (97); 66, 39 (57 ff.). Nunmehr verhält sich der Erste Senat in der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung hierzu nicht mehr. 1947 BVerfG NVwZ 2018, 1224 (1124 f., Rn. 29) mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung; für eine Bemessung des Umfangs der Kontrolle durch deutsche staatliche Stellen als Indikator für die Geltung der Grundrechte im Ausland sowie deren Intensität aus der Literatur etwa Herdegen (Fn. 1521), Art. 1 III Rn. 86 ff.; Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 52; Thym, Rechtsmaßstäbe (Fn. 1391), S. 629. 1948 Ausführlich zu allgemeinen, vom Einzelgrundrecht abstrahierten Überlegungen einer gegebenenfalls nicht vorhandenen oder reduzierten Zurechnung in zwischenstaat1945
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
Eine mangelnde normative Zurechnung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung vom Inland aus ist von vornherein nicht ersichtlich, da der Bundesnachrichtendienst die volle faktisch-technische Kontrolle über die Überwachungsmaßnahmen ausübt und aufgrund seines eigenen Erkenntnisinteresses gemäß seinem Auftrag zur Auslandsaufklärung tätig wird1949. Hier findet keine Kooperation in einer Art und Weise statt, die zur Unterbrechung der Verantwortlichkeit des Bundesnachrichtendienstes führen könnte. Dies gilt auch dann, wenn von ausländischen Nachrichtendiensten Selektoren bereitgestellt werden, die vom Bundesnachrichtendienst in eigene Systeme eingespeist werden1950. Eine Unterbrechung der Zurechnung zu deutschem Staatshandeln liegt nicht vor, denn es obliegt dem Bundesnachrichtendienst, die Selektoren zu steuern und dafür Sorge zu tragen, dass eine Erfassung von Telekommunikation ausschließlich im Einklang mit deutschem Recht erfolgt. Dasselbe gilt für die Ausleitung von selektierten oder unselektierten Metadaten an Partnerdienste. Nichts Anderes gilt aber auch bei einer Überwachung von Ausland-AuslandTelekommunikation vom Ausland aus, da der Bundesnachrichtendienst entweder mittels eigener mobiler Anlagen Telekommunikation erfasst – weswegen er hierüber die volle Kontrolle ausübt1951 – oder mit lokalen Behörden zur Überwachung kooperiert. Denkbar sind zum Beispiel eine technische Kooperation oder das Bereitstellen von Selektoren, die dann durch den ausländischen Partner gesteuert werden. Auch in diesen Fällen ist die Überwachung dem Bundesnachrichtendienst aber zurechenbar, da jeder unterstützende Beitrag einen hinreichenden Zusammenhang herstellt1952. Insgesamt ist nicht ersichtlich, weswegen eine Unterbrechung der Zurechnung zur deutschen Staatsgewalt gegeben sein könnte, solange der Bundesnachrichtendienst hierfür einen Beitrag leistet oder um Hilfe bei Partnerdiensten ersucht, da der deutsche Staat in all diesen Fällen den Grundstein bzw. den initialen Impuls für einen Grundrechtseingriff setzt1953. Die ausländischen Nachrichtendienste werden kaum Fernmeldeaufklärung für den Bundeslichen Kooperationen Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 155 ff., 340 ff., der dann folgerichtig bei einer geteilten Verantwortlichkeit in Fällen einer Kooperation keine Herabsetzung der Eingriffsintensität erblicken will. 1949 So auch konkret in Bezug auf die Telekommunikationsüberwachung Herdegen (Fn. 1521), Art. 1 III Rn. 88; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 9; Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 243 ff.; Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 21. 1950 Zu dieser Praxis statt vieler Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 171. 1951 Insoweit auch Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 21, der allerdings von einer Überwachung des BND im Ausland aufgrund eines Ersuchens ausländischer staatlicher Stellen ausgeht. 1952 Dahingehend auch Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 244 f. unter Bezug auf Heidebach, NSA-Affäre (Fn. 1164), S. 597. 1953 Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 183 betont zu Recht, dass eine Beherrschbarkeit immer dann gegeben ist, wenn die „Gefahr der Grundrechtsbeeinträchtigung“ durch „die deutsche Staatsgewalt wirksam vollständig verhindert werden kann“; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1078 ff.
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nachrichtendienst auf eigene Faust betreiben, ohne von diesem gebeten worden zu sein. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit einer etwaigen Unterbrechung der Verantwortlichkeit deutschen Staatshandelns bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung nicht konkret unter Eingriffsgesichtspunkten befasst1954, sondern – wie dargelegt – allgemein einen Völkerrechtskonflikt verneint1955. Ein Dazwischentreten der Handlungen eines anderen Staates hat der Erste Senat indes nicht thematisiert, sodass auch unter Berücksichtigung des verfassungsgerichtlichen Kriteriums der Beherrschbarkeit des Handelns durch den deutschen Staat1956 keine Unterbrechung der Verantwortung für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung angenommen werden kann. Es handelt sich in jeder Konstellation der Überwachung, sei sie im In- oder Ausland verortet, um einen Grundrechtseingriff durch den Bundesnachrichtendienst als deutsche staatliche Stelle. Ein Ausschluss des Grundrechtsschutzes aufgrund einer eingeschränkten Reichweite der Verantwortung deutscher Staatsgewalt auf Eingriffsebene ist mithin nicht zu konstatieren. e) Fazit Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung stellt als technisch-induzierter Grundrechtseingriff einen Datenauswahl, -reduktions und -abgleichs Prozess dar. Dabei sind sowohl die initiale Erfassung selbst, die folgende Filterkaskade mittels Separator und DAFIS-Filter und der Abgleich mit den Selektoren – sofern vorgesehen – sowie jede weitere Speicherung, Verwendung, Auswertung, Übermittlung und Zweckänderung jeweils eigene (Folge-)Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis. Mithin jede stellt „Ent- und Neukontextualisierung“ 1957 von einmal erfassten Daten durch den Abgleich mit weiteren Informationen oder jede sonstige Verarbeitung, gleich welcher Art, seitens staatlicher Stellen einen rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff dar. Der insoweit noch einschränkenden Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kann deshalb nicht gefolgt werden. Bei der Indienstnahme von privaten Telekommunikationsdienstleistern im Rahmen der Aufklärung leitungsgebundener Fernmeldeverkehre stellt bereits die Ausleitung aufgrund der Verpflichtungsanordnung einen ersten, dem Staat zurechenbaren, Grundrechtseingriff dar. Entgegen anders lautender 1954 Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 117 ff. kritisiert die dogmatische Verortung der Prüfung des Wirkungskriteriums des BVerfG, die richtigerweise auf Eingriffsebene erfolgen müsse. 1955 BVerfGE 154, 152 (222, Rn. 100). 1956 Kritisch zum Kriterium der Beherrschbarkeit des Handelns in einer zwischenstaatlichen Kooperation mit validen Argumenten ausführlich Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 180 ff. Die korrekte dogmatische Bestimmung des Grundrechtseingriffes in diesen Kooperationsverhältnissen kann vorliegend jedoch offenbleiben, da der Konflikt zur Rechtsprechung des BVerfG jedenfalls nach hiesiger Auffassung schon nicht entsteht. 1957 Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 43.
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Stimmen ist eine Individualisierbarkeit der Telekommunikationsteilnehmer aufgrund des formalen Anknüpfungspunktes des Geheimnisschutzes durch Art. 10 I GG für den Ersteingriff in Form der Erfassung des Fernmeldeverkehrs unbeachtlich. Insoweit unterscheidet sich das Fernmeldegeheimnis vom allgemeineren Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Relevanz erlangt die Möglichkeit zur Herstellung eines Personenbezuges jedoch hinsichtlich der Folgeeingriffe in das Fernmeldegeheimnis und bezüglich der Eingriffsintensität. Im Rahmen der strategischen Fernmeldeaufklärung stehen dem Bundesnachrichtendienst mit seinen Auskunftsbefugnissen gegenüber privaten Kommunikationsdienstleistern rechtliche Mittel zur Verfügung, um mittels des Wissens Dritter einen Personenbezug von erfassten Verkehrsdaten und hierdurch auch Inhaltsdaten herstellen zu können. Bei Ausland-Ausland-Telekommunikation wird der Bundesnachrichtendienst aus den für sechs Monate auf Vorrat gespeicherten Metadaten bereits Rückschlüsse auf konkrete Personen ziehen können; darüber hinaus sind die Übermittlungsbefugnisse und die internationale nachrichtendienstliche Kooperation bei der Möglichkeit der Herstellung eines Personenbezuges zu berücksichtigen, die eine weitgehende Individualisierbarkeit der Fernmeldeverkehre auch bei Ausland-Ausland-Telekommunikation nahelegen. 2. Eingriffsintensität der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung Die Bestimmung der Eingriffsintensität ist im hergebrachten Konzept der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Ermächtigungsgrundlagen zu Informationseingriffen zentral für die Bestimmung der Verhältnismäßigkeit von Eingriffsschwellen, der Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot und der jeweiligen Ausgestaltung flankierender verfahrensrechtlicher Sicherungen zum Grundrechtsschutz1958. Nur wenn feststeht, wie tief eine sicherheitsrechtliche Maßnahme in die Grundrechte des Einzelnen und deren objektiv-rechtlichen Wertegehalt einzugreifen vermag, können die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine mögliche Rechtfertigung des staatlichen Handelns ausgelotet und formuliert werden. Die Gliederung der sicherheitsrechtlichen Aufklärungsbefugnisse anhand ihrer 1958 Aus der Rechtsprechung instruktiv die Ausführungen in BVerfGE 141, 220 (268 ff., Rn. 103 ff.); aus der Literatur Schluckebier, Sicherheitsgewährleistung (Fn. 148), S. 10; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 232 f., mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung; zum Zusammenhang zwischen der Eingriffsintensität und der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen konkret in Bezug auf Nachrichtendienste Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 28; Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 171; ferner etwa Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 165; Gusy, Informationseingriff (Fn. 118), S. 397 ff.; Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 350 f.; zu den Auswirkungen auf den Prüfungsumfang bei Überprüfung von fachgerichtlichen Entscheidungen im Rahmen der Kontrolle einer Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, der mit steigender Eingriffsintensität dichter wird, Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 174 f. m.w. N.
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Eingriffsintensität ermöglicht die Abstufung normativer Einschreitschwellen, wobei die Anforderungen hieran mit der Eingriffsintensität grundsätzlich – vorbehaltlich nachrichtendienstexklusiver Spezifika – zunehmend ansteigen1959. Im Rahmen der eigentlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung müssen die „Überwachungs- und Ermittlungsbefugnisse mit Blick auf die Eingriffsintensität [dann vor allem] angemessen ausgestaltet sein“ 1960. a) Parameter der Eingriffsintensität und Praxistest – zugleich Post-Snowden-Erkenntnisse II Das Bundesverfassungsgericht hat bisher keine feste, nach Intensität gestaffelte Terminologie für Informationseingriffe im Sicherheitsrecht etabliert1961. So ist etwa vom „erhebliche[n] Gewicht“ 1962 eines Eingriffs oder – bezüglich der strategischen Fernmeldeaufklärung schon 19991963 – von einem „schwerwiegenden“ Eingriff 1964 die Rede. Ferner erkennt das Gericht in manchen sicherheitsrechtlichen Maßnahmen darüber hinaus eine gesteigerte Intensität, welche terminologisch als „besonders schwere“ 1965, „besonders schwerwiegende“ 1966, „sehr schwerwiegende“ 1967 Eingriffe oder als solche von „besonders schwerem Eingriffsgewicht“ 1968 ausgeflaggt werden1969. In wirkungsbezogener Hinsicht spricht 1959
Instruktiv statt vieler Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 145. BVerfGE 141, 220 (267, Rn. 98); allgemein zum Zusammenhang von Eingriffsintensität und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz exemplarisch Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 172 ff. 1961 Siehe zum Folgenden vor allem den Befund von Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 234 ff., der die unterschiedlichen, vom BVerfG genutzten Begriffe, anhand der jeweiligen Entscheidungen abbildet. 1962 BVerfGE 115, 320 (347). 1963 Zur Eingriffsintensität im dritten Abhörurteil schon unter C. III. 1. c). 1964 BVerfGE 100, 313 (376); ähnlich BVerfGE 113, 348 (382). 1965 BVerfGE 125, 260 (318); hier spricht das BVerfG sogar weitergehend von einem „Eingriff [durch die Vorratsdatenspeicherung] mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“. Bei dieser Wertung lässt sich die besonders gesteigerte, in der Sicherheitsverfassung fast einzigartige Eingriffsintensität der Maßnahme ausnahmsweise direkt und unschwer schon anhand der sprachlichen Umschreibung erkennen. 1966 BVerfGE 109, 279 (353). 1967 BVerfGE 141, 220 (290, Rn. 160), in Bezug auf langfristig angelegte Wort- und Bildaufzeichnungen und verdeckte Ermittler bzw. Vertrauenspersonen. 1968 BVerfGE 154, 152 (241, Rn. 146, 244, Rn. 154). 1969 Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 234 f. betont, dass hieraus schwerlich eine generelle Steigerung der Eingriffsqualität bei der Ausflaggung von Eingriffen als „besonders“ schwer abzuleiten sei und mithin eine Einzelfallbetrachtung bei jeder sicherheitsrechtlichen Ermittlungsmaßnahme vorzunehmen sei. Eine Einzelfallprüfung bei jedem sicherheitsrechtlichen Instrument ist sicherlich angezeigt, indes wird man in der Betonung eines Eingriffes als „besonders“ schwer durchaus eine inhaltliche Festlegung des BVerfG sehen dürfen, die auch angesichts der jeweils in Rede stehenden Befugnisse in der Sache naheliegend ist. 1960
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das Gericht zudem – ohne die Nutzung betonender Adverbien – von Eingriffen, die tief in die Privatsphäre von Grundrechtsträgern eindringen1970. Aus dogmatischer Sicht wäre eine gefestigte Terminologie, bereichsspezifisch etwa auf das Sicherheitsrecht zugeschnitten, freilich wünschenswert, da hierdurch eine eindeutige Einordnung verschiedener staatlicher Maßnahmen erreicht werden könnte. Dafür böte sich die feste Klassifizierung als „besonders schwerer Eingriff“ an, die das Gericht freilich auch in neueren Entscheidungen wählt1971. Damit muss die Spitze der Intensitätspyramide bei Grundrechtseingriffen dann aber auch terminologisch erreicht sein. Zur materiellen Maßstabsbildung ließen sich eine Vielzahl von Einzelentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts anführen, in denen verschiedenste Kriterien zur Bestimmung der Eingriffsintensität von (nachrichtendienstlichen) Überwachungsmaßnahmen erwähnt werden1972. Das Gericht hat in seiner Entscheidung zur Kennzeichenerfassung I selbst zusammengefasst, welche Parameter maßgeblich zur Bestimmung der Eingriffsintensität – unter Betonung des reziproken Verhältnisses zur normativen Eingriffsschwelle – durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu Grunde gelegt werden: „Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage richten sich nach dem Gewicht des Eingriffs, das insbesondere von der Art der erfassten Informationen, dem Anlass und den Umständen ihrer Erhebung, dem betroffenen Personenkreis und der Art der möglichen Verwertung der Daten beeinflusst wird“ 1973. Diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts wurden im Schrifttum als Grundlage genutzt, um die hier hervorgehobenen fünf Kriterien weiter auszudifferenzieren1974. Die vorgenannten Literaturansätze sind aufgrund ihrer Verankerung in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung weitgehend anschlussfähig – sie werden hier, neben der höchstrichterlichen Rechtsprechung, genutzt, um abstrakte Maßstäbe für die Eingriffsschwere zu bestimmen und diese anschließend 1970
BVerfGE 141, 220 (269, Rn. 105). BVerfGE 154, 152 (241, Rn. 146, 244, Rn. 154); 141, 220 (294, Rn. 180). 1972 Instruktiv hierzu die ausführliche Auflistung bei Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 31; Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 5, jeweils mit äußerst umfangreichen Nachweisen aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Die Vielzahl der aufgeführten Parameter, welche sich freilich teilweise überschneiden, macht eine Anwendung im Einzelfall indes kaum mehr handhabbar. 1973 BVerfGE 120, 378 (401 f.) – Hervorhebungen nur hier; auf diese Ausführungen des BVerfG verweist ebenfalls Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 236. 1974 Maßgeblich dazu Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 236 ff., der aufgrund der Ausführungen zur Kennzeichenerfassung I eine Aufteilung der Kriterien in „qualitative“, „kausale“, „modale“, „quantitative“ und „finale“ Gesichtspunkte vornimmt; ähnlich Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 119 ff., der in sechs Kriterien unterteilt, die dem Modell des BVerfG und Tannebergers indes sehr ähnlich sind; siehe ferner auch die Auflistung von Intensitätsparametern bei Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 246 ff. Diesen Ansätzen und der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird in Gliederung und Struktur vorliegend gefolgt. 1971
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auf die Praxis der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung zu übertragen. aa) Art und Aussagekraft von Inhalts- und Metadaten im digitalen Zeitalter Bei der Art der erfassten Information wirkt eine Personenbeziehbarkeit eingriffserschwerend1975, ebenso wie die Erfassung von Daten mit hoher Sensibilität, etwa von Standortdaten einzelner Telekommunikationsteilnehmer 1976. In Bezug auf die Art der erhobenen Daten wurde bereits dargelegt, dass eine Personenbeziehbarkeit für den Ersteingriff in das Fernmeldegeheimnis durch die Erfassung zwar irrelevant, für Folgeeingriffe aber durchaus wichtig ist. Ferner ist der technische Fortschritt und die hiermit einhergehende ausgedehnte Reichweite von Überwachungsmaßnahmen, deren erleichterte Umsetzung und die Verknüpfbarkeit von Datensätzen, die bis zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen reichen können, in die Bewertung der Eingriffsintensität einzustellen1977. Dem lässt sich nicht pauschal entgegenhalten, dass es sich hierbei um „Negativszenarien“ mit „unklare[m] inhaltliche[n] Sinn“ handele, welche das Bundesverfassungsgericht als „unbestimmte“, „emotiv-appellierende [. . .] Schlagworte“ vortrage, womit den Kritikern der durch das Gericht ausgebildeten Sicherheitsverfassung reichlich Argumentationsmaterial geliefert werde1978. Das Gericht schärft hiermit richtigerweise den Blick für die realen Bedrohungsszenarien durch moderne Datenverarbeitungsmöglichkeiten für grundrechtlich verbürgte Freiheiten und verweist darauf, dass die Aussagekraft von Datenmassen – die in einer früher nicht vorstellbaren Dimension verfügbar gemacht werden – bei technischer Auswertung anders bewertet werden muss als bei einer rein manuellen bzw. menschlichen Kenntnisnahme1979. Schon früh hat das Bundesverfassungsge-
1975 Hierzu etwa BVerfGE 156, 11 (48 f., Rn. 96); 120, 378 (402); 115, 320 (347); 109, 279 (353); konkret zur weitgehend fehlenden Anonymität der Telekommunikationsteilnehmer bei der strategischen Fernmeldeaufklärung schon unter den technischen Bedingungen von 1999 BVerfGE100, 313 (381); die Möglichkeit der Herstellung eines Personenbezugs bei der strategischen Fernmeldeaufklärung fasst unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung zusammen Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 120. Siehe zur Herstellung des Personenbezuges auch schon unter F. II. 1. c). 1976 BVerfGE 156, 11 (48 f., Rn. 96); 113, 348 (365); weitere Faktoren bei Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 240. 1977 BVerfGE 156, 11 (39 f., Rn. 73 f.) zu Data-Mining; BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151); 141, 220 (267, Rn. 99); 125, 260 (319); aus der Literatur Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 123 f.; Gusy, Informationseingriff (Fn. 118), S. 409. 1978 So aber Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 243, der freilich eine finale Festlegung, ob das Gericht mit dieser Vorgehensweise gut beraten sei, vermeidet. 1979 BVerfGE 156, 11 (39 f., Rn. 73 f., 53 ff., Rn. 109 ff.); 154, 152 (243, Rn. 151); Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 217, spricht davon, dass das BVerfG zur Bestimmung der Eingriffsintensität richtigerweise grundsätzlich ein „worst-caseSzenario“ (Hervorhebungen im Original) zugrunde lege, da es davon ausgehen müsse,
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richt sich neuen Herausforderungen der Digitalisierung im Sicherheitsrecht gestellt und versucht, diese in juristische Parameter zu übersetzen. Bei der präventivpolizeilichen Rasterfahndung sah das Gericht das technische Potential einer automatisierten, computergestützten Verarbeitung als etwas an, was eine hergebrachte Ermittlungsmethode qualitativ ändere und mit einer „bislang unbekannten Durchschlagskraft versehe“ 1980. Intensiv widmete sich das Bundesverfassungsgericht der Dimension der Aussagekraft von Daten dann in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung, wo es die Möglichkeit der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen durch die bei den Telekommunikationsanbietern gespeicherten und für den Staat abrufbaren Verkehrsdaten hervorhob1981. Dass beispielsweise bei der Vorratsdatenspeicherung Persönlichkeitsprofile softwaregestützt aus den Datensätzen generiert werden könnten, erscheint heutzutage weithin als Selbstverständlichkeit und nicht als abwegiges Extremszenario, welches zur atmosphärisch-dramatisierenden Untermalung in die Bewertung der Eingriffsintensität mit eingestellt wird. Auf die Überlegungen aus dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung verweist der Erste Senat in der Entscheidung zum BNDG nunmehr erneut und vertieft diese im Angesicht der ubiquitären Verbreitung von Telekommunikationsdaten1982. Die Überwachung dringe aufgrund dessen tief in den Alltag ein und erfasse „auch höchst private und spontane Kommunikationsvorgänge einschließlich des Austausches von Bildern und Dokumenten“ 1983. Es gibt mithin kaum einen Bereich der beruflichen und privaten Interaktion mehr, der ohne elektronische Kommunikation und der hierdurch entstehenden Datenspur auskommt1984. Zudem sei die Überwachung des „Nutzerverhaltens im World Wide Web und der hierbei zum Ausdruck kommenden Interessen, Wünsche und Vorlieben“ technisch möglich geworden und zu besorgen1985. Diese Beschreibung der mit breiten Zugriffmöglichkeiten einhergehenden Bedrohungslage für die kommunikative Privatheit und die hohe Eingriffsintensität beim Zugriff auf Telekommunikation beschreibt das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung äußerst anschaulich und auch in der Sache überzeugend. Allein das „Googlen“ eines im Rahmen der Recherche für diese Studie nachrichtendienstlich relevanten Begrif-
dass einmal bestehende Befugnisse auch extensiv genutzt würden; instruktiv zu den technischen Möglichkeiten der Datenauswertung auch ders. (Fn. 700), G. Rn. 72. 1980 Instruktiv zur technischen Dimension aus der Warte des Jahres 2006 BVerfGE 115, 320 (356 f.), was aus heutiger Sicht wie eine Binsenweisheit wirkt. Dies ist bemerkenswert, da die Entscheidung „nur“ 14 Jahre alt ist. Der technische Fortschritt lässt einstige Aussagen bisweilen beinahe historisch anmuten. 1981 BVerfGE 125, 260 (319). 1982 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151, 244, Rn. 153). 1983 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151). 1984 Siehe anschaulich auch Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 5. 1985 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151).
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fes – etwa XKeyscore1986 – kann die Aufmerksamkeit eines Dienstes auf sich ziehen1987. Wer die Möglichkeit der Bildung von Persönlichkeitsprofilen schon deshalb verneint, weil sich die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung nie auf alle Telekommunikationsverkehre einer Person beziehen könne – wie etwa eine umfassende Individualmaßnahme1988 – unterschätzt die Potenz der metadatenbasierten Erfassung und verkennt zugleich, dass die Möglichkeit staatlicher Stellen Einschüchterungseffekte haben kann1989. Dies gilt insbesondere in Ansehung von Data-Mining-Technologien und Anwendungen, die „mehrstufige Analysen“ ermöglichen und „neue Verdachtsmomente“ erzeugen können1990. Allenfalls ließe sich die Kritik an vermeintlichen Negativszenarien aus Karlsruhe als Auftrag begreifen, empirisch die Reichweite der technologischen Verknüpfungsmöglichkeiten innerhalb erhobener Datensätze durch die Sicherheitsbehörden zu beleuchten. Damit einher geht die Notwendigkeit einer flächendeckenden Einbindung von technischem Sachverstand in die (verfassungs-) gerichtliche Bewertung von modernen Überwachungstechnologien und Sicherheitsgesetzen1991; nur so kann die Eingriffsintensität hinsichtlich der Art der erfassten Informationen und ihrer Auswertungsmöglichkeiten aktuell und perspektivisch sicher bestimmt werden. (1) Ebenenanalyse jenseits der rechtswissenschaftlichen Diskussion Wenig Beachtung hat in der juristischen Literatur bisher die Frage gefunden, wie der Bundesnachrichtendienst mit den erfassten Telekommunikationsdaten konkret verfährt, welche Rückschlüsse hieraus gewonnen werden können und wie tief diese in Persönlichkeitsrechte eindringen1992. Auch das Bundesverfassungsgericht verhält sich hierzu – angesichts der notwendigen Geheimhaltung 1986
Dazu sogleich unter F. II. 2. a) aa) (2). So jedenfalls anschaulich, wenngleich freilich nicht verifizierbar E. Snowden, Permanent Record, 2019, S. 407. 1988 So aber in Bezug auf die strategische Fernmeldeaufklärung Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 313. 1989 Dazu sogleich im Rahmen der Streubreite der Überwachung. 1990 Anschaulich in Bezug auf § 6a ATDG 156, 11 (40, Rn. 73). 1991 Das BVerfG bindet freilich jetzt schon Sachverständige in die Verfahren zur Beurteilung sicherheitsrechtlicher Instrumente mit ein, beispielweise in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. und 15. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17 sowie bei der Entscheidung zur strategischen Fernmeldeaufklärung BVerfGE 100, 313 (354, 376 f.). Der hiesige Appell versteht sich vielmehr als Aufruf zur Stärkung einer auf technischem Fachwissen beruhenden Sachverhaltsausermittlung. 1992 Ansatzweise zu der Aussagekraft von Metadaten im Rahmen der strategischen Fernmeldeaufklärung Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 176; Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 36 f.; allgemein ferner ders., Big Data (Fn. 630), S. 167 ff.; die Dateianalyse klingt auch an bei Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 120. 1987
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kaum vorwerfbar – in der BNDG-Entscheidung nur sehr allgemein1993. Eine Einschätzung der Auswertbarkeit und Aussagekraft der Daten ist aber hochgradig relevant für die Bestimmung der Eingriffsintensität der strategischen als auch Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Mit Blick auf die vielen Ungewissheiten durch die strenge Geheimhaltung ist der Versuch einer – zwangsweise aus Laienperspektive vorzunehmenden – Veranschaulichung anhand von Beispielen und denkbaren Szenarien ein reiner Ausblick. Datenanalysemöglichkeiten von Massendaten sind bereits im Rahmen des sachlichen Schutzbereiches und der Möglichkeit des Bundesnachrichtendienstes zur Herstellung von Personenbezug bei Auslandstelekommunikation skizziert worden; hier sollen Einzelaspekte noch vertieft werden. Dazu wird auf Entscheidungen der Fachgerichte und auf publik gewordene Dokumente Bezug genommen, deren Authentizität freilich nicht verifizierbar ist; sie geben jedoch einen allgemeinen Eindruck in heutige nachrichtendienstliche Fähigkeiten. Grundsätzlich ist sowohl im Rahmen der strategischen Fernmeldeaufklärung bei der sogenannten elektronischen Relevanzprüfung nach § 6 III G 10 als auch bei der Ausland-Ausland-Aufklärung durch die Metadatenbevorratung nach § 6 II, VI BNDG eine Metadatenanalyse möglich, wobei hier selbstredend erhebliche Abstufungen in der Intensität, Breite und Speicherdauer bestehen1994. Die elektronische Relevanzprüfung im G 10 ist vielmehr mit der Eignungsprüfung des § 12 BNDG vergleichbar. Das Potenzial der Metadatenanalyse zeigt indes ein Beispiel aus der Praxis gerade der strategischen Fernmeldeaufklärung, den das Bundesverwaltungsgericht zu beurteilen hatte1995. Sobald die Daten aus der strategischen Fernmeldeaufklärung für die Aufklärungszwecke des § 5 I 3 G 10 oder zur Übermittlung nicht mehr benötigt werden, sind sie gemäß der datenschutzrechtlichen Sicherung in § 6 I 1 bis 3 G 10 unverzüglich protokolliert zu löschen. Damit wird eigentlich eine strenge Zweckbindung der Daten festgeschrieben1996, die im Ergebnis die Aussagekraft des Datensatzes und mithin die Intensität des Grundrechtseingriffes limitiert. So soll die Bevorratung jedenfalls von aus der strategischen Fernmeldeaufklärung erlangten Rohdaten beim Bundesnachrichtendienst – im Rahmen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung liegen die Dinge freilich anders – verhindert werden1997. Der Bundesnachrichtendienst ist seiner Löschverpflichtung indes bis in die jüngste Vergangenheit nicht vollumfänglich
1993
BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151, 244, Rn. 153). Zur sog. elektronischen Relevanzprüfung nach § 6 III G 10 ausführlich Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 161 ff.; siehe auch BT-Drs. 16/509, S. 9, auf die Löffelmann ebenfalls Bezug nimmt. 1995 BVerwGE 161, 76. 1996 Zur Zweckbindung des § 6 I G 10 siehe nur die Kommentierung von Roggan (Fn. 510), § 6 G 10, Rn. 4. 1997 Zur intendierten Einschränkung der Datenbevorratung beim BND Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 16. 1994
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nachgekommen. So speicherte er – wenn auch bei Verbindungen mit Deutschlandbezug seines Erachtens nach anonymisiert – Telefonie-Metadaten internationaler, leitungsvermittelter Verbindungen in der Datei VERAS1998, um hieraus nachrichtendienstliche Rückschlüsse auf Personen und Kommunikationsverbindungen von und nach Deutschland zu ziehen1999. Dabei wurden, neben den Telefonnummern bzw. IMSI- und IMEI-Nummern im Bereich Mobilfunk, auch die Startzeitpunkte, die Dauer von Verbindungen und der Standort von Mobiltelefonen eingespeist, was die Herstellung eines Kontextbezuges erheblich erweiterte und eine Individualisierungsmöglichkeit von Telekommunikationsteilnehmern steigerte2000. Mit Hilfe dieser Daten könnten, nach richtiger Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, Profile erstellt werden2001, etwa mit wem eine Person in den letzten Wochen telefonische Kontakte unterhalten hat2002. Diese Erkenntnisse können dann mit den Standortdaten der Telekommunikationsteilnehmer verbunden werden. Im Ergebnis ergäbe sich ein präzises Bild, was im Mobilfunkbereich zugleich ein exaktes Bewegungsprofil der Telekommunikationsteilnehmer ermögliche2003. Zudem könnten bestimmte Personen gezielt in der Datei fokussiert werden2004. Der Senat hat diese gesamte Praxis für rechtswidrig erachtet, da die Nutzung in VERAS im Ergebnis eine zweckwidrige Verwendung der erlangten Daten sei, für die der Bundesnachrichtendienst keine Ermächtigungsgrundlage anführen könne, weder im G 10 noch im BNDG; bei letzterem jedenfalls nicht in Bezug auf deutsche Staatsbürger2005. Das Gericht sieht sogar die Gefahr, dass der 1998 Die Abkürzung steht für „Verkehrs-Analyse-System“; zu dieser Datenbank mit interessanten Einsichten in die Datennutzung durch den Bundesnachrichtendienst investigativ schon früh K. Biermann, Was macht der BND mit seinen Daten?, abrufbar unter https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014-10/bnd-internetueberwachung-datenbankenveras-inbe/komplettansicht (22.8.2018). 1999 BVerwGE 161, 76 (85, Rn. 26 ff.). Die Frage, ob die Anonymisierung einen Grundrechtseingriff verhindere, verneinte das BVerwG mit Verweis auf die Eingriffsrechtsprechung des BVerfG im dritten Abhörurteil, die weit gezogen sei. Deshalb könne nur eine vollständige Löschung der Daten den status quo ante wiederherstellen (Rn. 27). 2000 So jedenfalls die Feststellung des Senats in BVerwGE 161, 76 (83, Rn. 26). 2001 BVerwGE 161, 76 (83, Rn. 26), unter Verweis auf BVerfGE 125, 260 (318 ff.). 2002 Beispiel in Stenographisches Protokoll I der 16. Sitzung des NSA-UA, S. 24. 2003 Zu diesem Ergebnis kommt Voßhoff, Beratung (Fn. 1174), Teil 1 B. II. 1. b., die auf ein eingestuftes „Anwendungshandbuch“ des BND zur Datei VERAS verweist. 2004 Dazu erneut Voßhoff, Beratung (Fn. 1174), Teil 1 B. II. 1. b. 2005 Das BVerwG hat der Klage eines deutschen Rechtsanwalts gegen die Speicherung seiner Telefonie-Metadaten in VERAS in Form eines öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruches stattgegeben, BVerwGE 161, 76 (81, Rn. 22 ff.). Da der Kläger unbestreitbar dem Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses unterfiel, musste das Gericht sich mit der Frage des Grundrechtsschutzes von ausländischen Telekommunikationsverkehren nicht befassen. Kritische Aufnahme des Urteils, insbesondere wegen einer erfolgten Anonymisierung der Metadaten und des damit entfallenen Grundrechtseingriffes durch K. F. Gärditz, Vorbeugende Unterlassungsklage betreffend die Speicherung und Nutzung von Telekommunikationsmetadaten durch den Bundesnachrichtendienst –
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Bundesnachrichtendienst unter Umgehung seiner gesetzlichen Beschränkungen Daten für VERAS durch den Austausch mit Partnerdiensten erlangen könnte, um so fehlende Metadatenzugänge aus eigener Erfassung zu kompensieren, was das Gericht jedoch ebenfalls – wiederum in Bezug auf deutsche Staatsbürger – aufgrund von § 14 II BNDG für unzulässig erklärt2006. Die Auswertung der Daten aus allen Quellen sei insgesamt nicht an die inhaltlichen Erkenntnisinteressen des § 5 I 3 G 10 gebunden, sondern der Bundesnachrichtendienst nutze sie hiervon unabhängig mit separaten nachrichtendienstlichen Zielen in der Datei VERAS2007. Konkret diene VERAS dazu, neue Personen von nachrichtendienstlichem Interesse zu identifizieren und Informationsflüsse zwischen Deutschland und dem Ausland für den Bundesnachrichtendienst nachvollziehbar zu machen2008. Neben der korrekten Entscheidung des Senats im konkreten Einzelfall offenbaren die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts ein ganz grundlegendes Problem: Die Verknüpfung von Telekommunikationsdaten ermöglicht qualitativ wesentlich tiefer- und weitergehende Rückschlüsse als der reine Abgleich mit den Selektoren. Es lassen sich weitreichende Netzwerke von Kommunikation identifizieren. Hierbei werden auch die Daten von Kontaktpersonen verarbeitet, die mit einer nachrichtendienstlich relevanten Person bzw. deren Telekommunikationsvorgängen in Verbindung stehen2009. Das Bundesverfassungsgericht spricht dies in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung jedenfalls im Grundsatz an, indem in der „gesamthaften Bevorratung“ von Metadaten, die nunmehr gemäß § 6 VI BNDG erlaubt sei, die Möglichkeit zur Erlangung tiefgehender „Einblicke in das Kommunikations- und Bewegungsverhalten von Perso-
Anmerkung, in: GSZ 2018, S. 79 (80 f.); W. Durner, Anmerkung zu BVerwG, Urt. v. 13.12.2017 – 6 A 6.16 – Nutzung von Telekommunikations-Metadaten durch den Bundesnachrichtendienst, in: DVBl. 2018, S. 443 (445), sieht den Schwerpunkt der Senatsentscheidung in der Bewertung der Anonymisierung als eigenständigen Eingriff, der insoweit eine Ermächtigungsgrundlage benötige; dem Senat insgesamt zustimmend hingegen B. Huber, Speicherung und Nutzung von Telekommunikations-Metadaten durch den BND – Anmerkung, in: NVwZ 2018, S. 735 (736); zur Frage, ob bei so großen Datensätzen ein Personenbezug mittels Anonymisierung überhaupt noch sicher beseitigt werden kann, Hoffmann-Riem, Rahmenbedingungen (Fn. 632), S. 56, der plausible Zweifel hieran anmeldet. 2006 BVerwGE 161, 76 (87, Rn. 33). 2007 BVerwGE 161, 76 (85 f., Rn. 30); auch der Metadatenabgleich, den § 6 III G 10 für die strategische Fernmeldeaufklärung grundsätzlich erlaubt, bildet keine Rechtsgrundlage für VERAS, dazu richtigerweise Huber (Fn. 511), § 6 G 10 Rn. 9. Das BVerwG hatte sich mit dieser Vorschrift als mögliche Ermächtigungsgrundlage nicht befasst. 2008 BVerwGE 161, 76 (85, Rn. 30); so beschreibt auch Voßhoff, Beratung (Fn. 1174), Teil 1 B. II. 1. b., das Ziel der von ihr VERAS 6 (möglicherweise ein Nachfolgemodell) genannten Datei. 2009 Voßhoff, Beratung (Fn. 1174), Teil 1 B. II. 1. b. bb.
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nen“ als eingriffsintensivierenden Faktor erblickt, der das Gewicht der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung „nochmals erheblich“ steigere2010. Hierdurch könnten schließlich Erkenntnisse generiert werden, die über die rein inhaltliche Auswertung von „individuellen Telekommunikationsverkehren unter Umständen weit hinausgehen“ 2011. Detaillierte Einblicke in die Fähigkeiten des Bundesnachrichtendienstes gibt das Bundesverfassungsgericht leider nicht. Allgemein verweist der Erste Senat nur darauf, dass heute – anders als noch zur Zeit der Vorgängerentscheidung 1999 – „Programme zur Spracherkennung, zur Übersetzung oder zur Bilderkennung“ schon der Allgemeinheit zur Verfügung ständen2012. Man möchte hinzufügen: Was wird dann erst dem Bundesnachrichtendienst an informationstechnische Fähigkeiten zur Verfügung stehen?! Besonders tiefenwirksam wird eine Datei wie VERAS durch eine Ebenenanalyse, bei der der Bundesnachrichtendienst, nach Aussagen im NSA-Untersuchungsausschuss, zum damaligen Zeitpunkt bis auf die fünfte Ebene Telekommunikationsdaten in VERAS speichern und damit nicht nur den nachrichtendienstlich relevanten Erstkontakt, sondern auch dessen Kontaktpersonen sowie deren Kontaktpersonen usw. bestimmen könne2013. Somit kann ein exponentiell wachsendes Netzwerk betroffener Telekommunikationsteilnehmer entstehen2014. Nach einem Bericht der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit bestanden in VERAS sogar überhaupt keine Begrenzungen hinsichtlich der Ebenen2015. Nach einem soziologischen Theoriemodell reichen sechs Kontaktebenen bereits aus, um eine Verbindung zu jeder Person weltweit herzustellen2016. In Bezug auf den Auslandsaufklärungsauftrag des Bundesnachrichtendienstes wurde im NSA-Untersuchungsausschuss als plastisches Beispiel der Erfassungstiefe und Aussagekraft von Metadatenpools die Türkei mit ihren ungefähr 60 Millionen Einwohnern genannt, von denen bei einer potentiellen Erfassung und Speicherung von Telekommunikation bis auf die fünfte Ebene nur sehr wenige nicht von der Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst betrof-
2010
BVerfGE 154, 152 (244, Rn. 153). BVerfGE 154, 152 (244, Rn. 153) unter Verweis auf BVerfGE 125, 260 (319) sowie EuGH, Urteil vom 8.4.2014 – C-293/12 u. a., Rn. 48, 56 – Digital Rights Ireland u. a. 2012 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151). 2013 H. F., Stenographisches Protokoll I der 16. Sitzung des NSA-UA, S. 71 ff.; siehe auch den Bericht bei https://netzpolitik.org/2018/bitte-nicht-durchleuchten-bnd-stopptillegale-speicherung-von-metadaten-in-datei-veras/ (15.1.2020). 2014 Siehe dazu exemplarisch die graphische Aufbereitung von drei Kontaktebenen (im Jargon der NSA „hops“ genannt) unter https://www.theguardian.com/world/inter active/2013/oct/28/nsa-files-decoded-hops (15.1.2020). 2015 Nach Voßhoff, Beratung (Fn. 1174), Teil 1 B. II. 1.bb), beinhalte VERAS 6 keine Zuordnungsbegrenzungen. 2016 Zu diesem sog. Kleine-Welt-Phänomen in Bezug auf die VERAS-Datei Biermann, Daten (Fn. 1998). 2011
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fen sein würden2017. Anhand dieses – freilich theoretischen – Beispiels wird die enorme Aussagekraft der Metadaten bei einer Ebenenanalyse deutlich. Diese Dimension steht in keinem Verhältnis zur reinen Treffergenerierung, die beim Abgleich von einzelnen Telekommunikationsvorgängen mit Selektoren zu erzielen ist – hier ist die Eindringtiefe in die Privatsphäre jedenfalls insoweit noch relativ begrenzt2018. Bis auf welche Ebene der Bundesnachrichtendienst zurzeit tatsächlich Analysen vornimmt, ist nicht bekannt; nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wurde die Verarbeitung von Daten deutscher Staatsbürger bzw. von G 10-Daten in der Datei VERAS mittlerweile eingestellt2019. Nach hier vertretener Ansicht macht dies freilich nur begrenzt einen Unterschied, schließlich ist der Geltungsbereich des Fernmeldegeheimnisses richtigerweise nicht auf diese beschränkt. Ebenso ist unklar, wie der Bundesnachrichtendienst Dateien wie VERAS konkret auswertet – dass dies rein manuell geschieht, ist angesichts der Datenmengen sehr unwahrscheinlich2020. Es existierten zudem wohl weitere Datenbanken beim Bundesnachrichtendienst2021. Insgesamt steigert die derzeit normativ unbegrenzte Möglichkeit zur Ebenenanalyse die Aussagekraft insbesondere der Metadaten bei der strategischen – sofern sie insoweit noch bzw. künftig eingesetzt wird – und der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung beträchtlich. Allemal veranschaulicht die Ebenenanalyse in Datenbanken die Potenz der Auswertung von Telekommunikationsmetadaten.
2017 Beispiel des Abgeordneten von Notz in Stenographisches Protokoll I der 16. Sitzung des NSA-UA, S. 73. 2018 Insoweit ist Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 176, zuzustimmen, der eine Begrenzung der Eindringtiefe annimmt, diese aber höher bewertet. 2019 Siehe hierzu den Bericht unter Bezugnahme auf eine Pressemitteilung des BND, abrufbar unter https://netzpolitik.org/2018/bitte-nicht-durchleuchten-bnd-stoppt-illegalespeicherung-von-metadaten-in-datei-veras/ (15.1.2020). 2020 Der Bericht der seinerzeitigen BfDI Voßhoff, Beratung (Fn. 1174), Teil 1 A. II. 1. b), spricht von Sammlungen von personenbezogenen Daten, die in den Dateien automatisiert nach bestimmten Merkmalen ausgewertet werden könnten. 2021 Zwar darf der Bundesnachrichtendienst VERAS nach dem Urteil des BVerwG im G 10-Bereich nunmehr nicht mehr nutzen, es existieren jedoch weitere Datenbanken, die vom Urteil jedenfalls nicht ausdrücklich erfasst sind. Zum Zeitpunkt des Untersuchungsausschusses betrieb der BND auch noch eine Datenbank mit Inhaltsdaten, die „Inhaltliche Bearbeitung“ (INBE), in der Inhaltsdaten deutscher Staatsbürger erfasst wurden, so die Aussage von H. F., Stenographisches Protokoll I der 16. Sitzung des NSA-UA, S. 16; BT-Drs. 18/12850, S. 1551, nennt noch weitere Datenbanken, jedoch ohne Differenzierung zwischen strategischer und Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; Voßhoff, Beratung (Fn. 1174), Teil 1 A. II., nennt weitere Dateien des BND, die indes ohne die datenschutzrechtlich erforderliche Dateianordnung betrieben worden seien; siehe zu möglichen weiteren Dateisystemen auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 193, der diese im Bereich der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung verortet.
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(2) XKeyscore-Nutzung im Rahmen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Intensiv befasste sich der NSA-Untersuchungsausschuss auch mit der Überlassung von Spionagesoftware von US-Seite an die deutschen Dienste2022. Am prominentesten – wahrscheinlich aber nur eine unter vielen – ist hier die Softwareanwendung XKeyscore zu nennen. Vergleichbar mit der Ebenenanalyse hat diese technische Offensive samt der Software im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, soweit ersichtlich, keinen rechten Widerhall gefunden. In der Presse hingegen wurde intensiv hierüber berichtet2023. Die durch die National Security Agency entwickelte Software wurde dabei als eine mit Google vergleichbare Suchmaschine kategorisiert, die mit zahlreichen Servern in einem internationalen Netzwerk weitreichendste Informationen privater Telekommunikation und Internetnutzung für Analysten abrufbar mache. Teilweise wurde gar kolportiert, XKeyscore ermögliche theoretisch eine Totalüberwachung des gesamten Internets, eine Limitierung sei letztlich nur durch die Speicherkapazitäten gegeben2024. Der tatsächliche Einsatz beim Bundesnachrichtendienst blieb trotz intensiver Aufarbeitung im NSA-Untersuchungsausschuss schemenhaft2025. Nach allgemeiner Aussage der Bundesregierung ist XKeyscore ein „Erfassungs- und Analysewerkzeug zur Dekodierung [. . .] von modernen Übertragungsverfahren im Internet“ 2026. Im Untersuchungsausschuss wurde einerseits seitens der Vertreter des Bundesnachrichtendienstes dargelegt, XKeyscore sei genutzt worden, um paketvermittelte Kommunikation lesbar zu machen sowie mittels dieses Analyseinstrumentes Streckenauswahl zu betreiben, und dies ausschließlich bei satellitengestützten Ausland-Ausland-Verkehren2027. Die Opposition im Ausschuss verweist andererseits auf eine Stellungnahme der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, die XKeyscore als Erfassungssystem qualifiziert, 2022 Siehe die ausführlichen Schilderungen in BT-Drs. 18/12850, S. 593 ff. Das Bundesverfassungsgericht geht hierauf im BNDG-Urteil nicht ein. 2023 Vgl. etwa K. Biermann, Diese Spähsoftware findet jedes Passwort, abrufbar unter https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2015-08/bfv-verfassungsschutz-was-kann-xkeyscore (15.1.2020); K. Lischka/C. Stöcker, Die Infrastruktur der totalen Überwachung, abrufbar unter https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/xkeyscore-wie-die-nsaueberwachung-funktioniert-a-914187.html (15.1.2020); eine ausführliche Darstellung von XKeyscore in der wahrscheinlich seinerzeit durch die NSA genutzten Konfiguration findet sich unter Bezugnahme auf Präsentationsfolien, die von Edward Snowden veröffentlicht wurden, unter https://theintercept.com/2015/07/01/nsas-google-worlds-pri vate-communications/ (15.1.2020). 2024 So jedenfalls die Annahme von M. Kremp, All das können XKeyscore, Tempora und Prism, abrufbar unter https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/internetueber wachung-so-maechtig-sind-xkeyscore-tempora-und-prism-a-914300.html (15.1.2020). 2025 Dagegen widmet der Ausschuss dem Einsatz von XKeyscore beim BfV ein ganzes Kapitel in seinem Abschlussbericht, BT-Drs. 18/12850, S. 605 ff. 2026 BT-Drs. 17/14560, S. 22. 2027 BT-Drs. 18/12850, S. 599 ff.
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mit dem der gesamte Internetverkehr weltweit nach Inhalts- und Metadaten durchsucht werden könne2028. XKeyscore speichere „die getroffenen IP-Verkehre (E-Mails, Chats, Inhalte öffentlicher sozialer Netzwerke und Medien sowie nicht öffentlicher, d. h. für den allgemeinen Nutzer nicht sichtbarer, Nachrichten in Webforen etc.) und damit alle in diesen IP-Verkehren auftauchenden Personen (Absender, Empfänger, Forenteilnehmer, Teilnehmer der sozialen Netzwerke etc.)“ und mache diese für den Anwender unter Zuordnung der Teilnehmer auswertbar2029. Die beiden Darstellung könnten kaum weiter voneinander entfernt sein – einerseits das Analyseinstrument zu Streckenauswahl, andererseits das gleichsam Orwell’sch anmutende Überwachungsallheilmittel 2030. Welche Darstellung den tatsächlichen Fähigkeiten eher gerecht wird, kann hier mangels validierbarer Angaben nicht beurteilt werden. Für die juristische Einschätzung der Aussagekraft der Daten lässt sich gleichwohl ein übergeordneter Gedanke festhalten: Die Analyseprogramme und Softwareanwendungen, die bei der Datenauswertung zum Einsatz kommen, entscheiden letztendlich über die Dimension, mit der in Persönlichkeitsrechte vorgedrungen wird. Zwischen simpler Streckenauswahlsoftware und einer full take-Anwendung, die alles Denkbare für den jeweiligen nachrichtendienstlichen Auswerter aufbereitet, liegen Welten. Analog zur Ebenenanalyse ist dies jedoch gänzlich ungeregelt. Ungeachtet der hier nicht möglichen tatsächlichen Feststellung liegt in Softwareanwendungen jedenfalls die weitreichendste Möglichkeit zur Eingriffsintensitätssteigerung in Bezug auf die Aussagekraft von Daten2031. (3) Befund für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung Das Bundesverfassungsgericht hat die heutigen Dimensionen der Aussagekraft von Telekommunikationsdaten, Bildern sowie Dokumenten und deren Verfügbarkeit für die nachrichtendienstliche Fernmeldeaufklärung durch eine allumfassende Digitalisierung der gesamten Gesellschaft, die letztlich die gesamte „Zivilgesellschaft“ durchdringe, als erheblichen Faktor für die Eingriffsintensität gewertet und dabei eindeutig eine qualitative Steigerung zur 1999 entschiedenen Sachlage ausgemacht2032. Die Einordnung ist uneingeschränkt anschlussfähig, wenngleich sie allgemein bleibt und nicht auf konkrete Spezifika der Datenaus2028 BT-Drs. 18/12850, S. 1589 ff., unter Bezugnahme auf Voßhoff, Beratung (Fn. 1174), Teil 1 F. III. 2029 So zur Nachrichtengewinnung mittels XKeyscore erneut Voßhoff, Beratung (Fn. 1174), Teil 1 F. III. 2030 Unklar ist ferner, ob und in welchem Umfang der Bundesnachrichtendienst das System weiterhin einsetzt. 2031 Ausdrücklich zu einer „gesteigerten Belastungswirkung“ durch den Einsatz von Data-Mining-Anwendungen BVerfGE 156, 11 (53 ff., Rn. 109 ff.); siehe auch Golla, Algorithmen ((Fn. 125), S. 670 f. 2032 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151, 244, Rn. 153).
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wertung und der hiermit einhergehenden Aussagekraft eingeht. Somit könnte dem Bundesverfassungsgericht – zu Unrecht – erneut der Vorwurf gemacht werden, es dramatisiere. Das Gegenteil ist der Fall. Die hier exemplarisch herausgegriffenen Fähigkeiten zur (wohl algorithmusbasierten) Ebenenanalyse in Metadatensätzen und die Nutzung hochspezialisierter Auswertungssoftware unterfüttern den Befund des Ersten Senats und die hiesige Einschätzung mit – zugegebenermaßen stichpunktartigen – Beispielen aus der jüngeren nachrichtendienstlichen Praxis. Insgesamt ist die Eingriffsintensität durch die Art und Aussagekraft der erhobenen Daten sehr hoch. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass bei der strategischen Fernmeldeaufklärung im G 10 eine bevorratende Metadatenerfassung (derzeit noch) nicht vorgesehen ist2033. Das Bundesverfassungsgericht formuliert indes allgemeiner und sieht insoweit einen Unterschied zur „früheren Rechtslage“ 2034. Recht eigentlich gab es eine solche jedoch nicht, sondern nur eine abweichende Regelung im G 10-Regime, die jedoch mit der Inland-AuslandÜberwachung einen anderen Sachverhalt normiert als das BNDG. bb) Anlasslosigkeit der Überwachung bei korrespondierender hoher Streubreite Bezüglich des Grundes der Informationserhebung ist besonders bedeutsam, ob der Betroffene einen „zurechenbaren Anlass“ für die Datenerhebung geschaffen hat, „oder ob sie anlasslos erfolgt und damit praktisch jeden treffen kann“ 2035. Maßnahmen, die auf Verdachtslosigkeit beruhen, sind in der Regel durch eine hohe „Streubreite“ gekennzeichnet, es wird also eine Vielzahl von Personen erfasst, die durch ihr Verhalten den Eingriff nicht veranlasst haben und in keiner „Beziehung zu einem konkreten Fehlverhalten stehen“ 2036. Derartige Maßnahmen mit hoher Streubreite wiesen „grundsätzlich eine hohe Eingriffsintensität auf“, da der Einzelne durch einen Grundrechtseingriff umso intensiver betroffen sei, je weniger er hierzu selbst einen Anlass gegeben habe2037. Die Überwa2033 Eine solche Rechtsgrundlage zur Verarbeitung von unkenntlich gemachten (sog. verhashten Verkehrsdaten) und „unverhashten“ Metadaten findet sich künftig in § 6 IV, V G 10 n. F., vgl. BT-Drs. 19/26103, S. 121 f. 2034 BVerfGE 154, 152 (244, Rn. 153). 2035 BVerfGE 120, 378 (402), mit Verweis auf BVerfGE 115, 320 (354); 113, 348 (383); 113, 29 (53); 109, 279 (353); 107, 299 (320 f.); 100, 313 (376, 392); dazu auch Löffelmann (Fn. 129), § 3 Rn. 5 m. Fn. 39; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 243 f. 2036 BVerfGE 115, 320 (354); ferner Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 394 ff.; Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 132 f.; a. A. Sondervotum Haas BVerfGE 115, 320 (373 f.); zur Diskussion in der Literatur zur sogenannten horizontalen Eingriffsaddition, bei der viele Grundrechtsträger durch eine einzelne staatliche Maßnahme betroffen werden, A. Brade, Die horizontale Eingriffsaddition, in: DÖV 2019, S. 852 (853 f.). 2037 BVerfGE 156, 11 (48 f., Rn. 96); 155, 119 (178 f., Rn. 129); 115, 320 (354 f.) mit hiesigem Zitat, unter Verweis auf BVerfGE 113, 348 (383); 113, 29 (53); 109, 279 (353); 107, 299 (320 f.); 100, 313 (376, 392).
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chungsmaßnahme sei mithin durch ein „besonders ungünstiges Verhältnis von falsch positiven zu zutreffend positiven Überwachungsergebnissen“ gekennzeichnet2038. Hinsichtlich des betroffenen Personenkreises sei für die Bestimmung der Eingriffsschwere ferner die „Gesamtzahl der erfassten Personen“ zu berücksichtigen2039. Zudem kommt bei der Zumessung der Eingriffsschwere an dieser Stelle erneut die Argumentationsfigur der Einschüchterungseffekte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Tragen: Grundrechtseingriffe mit großer Streubreite können nach ständiger Rechtsprechung zu Abschreckungseffekten auf die Grundrechtsausübung führen, da die Unbefangenheit des Verhaltens Einzelner gefährdet wird und hierdurch ein Gefühl des Überwachtwerdens entstehen kann2040. Wenn man – wie hier – die Argumentationsfigur der Einschüchterungseffekte richtigerweise insgesamt als tragfähig ansieht, resultiert gerade aus den Einschüchterungseffekten mit ihrer potentiell gesamtgesellschaftlichen Wirkungsbreite das eingriffsintensivierende Element. Es wurde bereits im Allgemeinen herausgearbeitet, dass sich nur mit Hilfe der Einschüchterungseffekte die hemmende Wirkung auf das freiheitliche Gemeinwesen als Ganzes überhaupt normativ-wertend erfassen und der besonders tiefgehende Eingriff in den objektiv-rechtlichen Status des jeweiligen Grundrechts durch mögliche Abschreckungswirkungen beim Freiheitsgebrauch deutlich kennzeichnen lässt2041. Diese überindividuelle Dimension des Grundrechtsschutzes verkennt, wer davon ausgeht, dass ein Grundrechtseingriff mit einer großen Anzahl von Betroffenen gerade nicht besonders intensiv sei, da von einem Grundrechtseingriff stets nur der Einzelne berührt sei2042. Nicht mehr nachvollziehbar ist, weswegen eine Maßnahme mit großer Streubreite sogar grundrechtsschonender für den Einzelnen sein sollte. Die Annahme, der Betroffene gehe gleichsam in der Masse der potentiellen Trefferfälle unter und mithin sei seine Anonymität „de facto“ gewährleistet2043, unterschätzt die technischen Möglichkeiten einer nachträglichen De-
2038 So Bäcker, Kriminalpräventionsrecht (Fn. 101), S. 273, der diese Erkenntnis auch auf imperative Maßnahmen der Polizei überträgt. 2039 BVerfGE 115, 320 (357); 100, 313 (376); zur überindividuellen Dimension dieses Merkmals Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 251. 2040 BVerfGE 150, 244 (283 f., Rn. 98); 125, 260 (318, 335); 120, 378 (402, 430); 120, 274 (323); 115, 320 (354 f.); 113, 348 (382 f.); 109, 279 (354); 107, 299 (328); 100, 313 (381); zum Ganzen mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung Brade, Eingriffsaddition (Fn. 2036), S. 854 f.; Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 75, 176; Staben, Abschreckungseffekt (Fn. 1735), S. 25 m. Fn. 126; ebenfalls so schon Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 351 m. Fn. 48. 2041 Zur Beeinträchtigung der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte bei Einschüchterungseffekten und dem reziproken Verhältnis zu deren Intensität auch instruktiv erneut Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 179, 181. 2042 So aber Sondervotum Haas BVerfGE 115, 320 (373). 2043 So in Bezug auf die präventiv-polizeiliche Rasterfahndung aber ausdrücklich das Sondervotum Haas BVerfGE 115, 320 (373 f.).
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anonymisierung und Datenauswertung dramatisch2044. Der Einzelne wird hier vielmehr erst in Bezug zu einem Referenzdatensatz und mithin zu anderen Personen gesetzt, was weitreichende Rückschlüsse über das Kommunikationsverhaltung und letztlich auf die soziale Interaktion allgemein erlaubt. Schon per definitionem erfolgt die Telekommunikationsdatenerhebung bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung anlasslos. Das Bundesverfassungsgericht – obschon es freilich konkret über die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nach dem BNDG zu befinden hatte – formuliert recht allgemein, dass die „strategische Telekommunikationsüberwachung“ durch eine „außerordentliche Streubreite“ geprägt sei2045. Sie werde „anlasslos gegenüber jeder Person erlaubt“ und sei „allein durch bestimmte Zwecksetzungen final angeleitet“ 2046. Die Überwachung verzichte auf „objektive Eingriffsschwellen“ und werde „weder in Bezug auf begrenzende Situationen noch auf die von der Überwachung betroffenen Personen“ rechtlich eingehegt2047. Dieser allgemeine Befund entspricht auch weitgehend der einfachgesetzlichen Rechtslage. Bei der strategischen Fernmeldeaufklärung werden nach § 5 I G 10 zwar tatsächliche Anhaltspunkte als Tatbestandsvoraussetzung gefordert; im Endeffekt wird aber eine diffuse Bedrohungslage genügen, weswegen dem Element der tatsächlichen Anhaltspunkte – wenn überhaupt – kaum eine limitierende Funktion zukommt2048. Das Gesetz grenzt letztendlich tatbestandlich nur das Ziel der Überwachung final ein, indem es die Gefahrbereiche vorgibt, deren Erhellung die strategische Fernmeldeaufklärung dienen muss2049. Deswegen ist der Bilanz Tannebergers, dass die strategische Fernmeldeaufklärung sich gerade dadurch auszeichne, „dass sie ohne Ansehung der konkreten Umstände Gefahrenlagen [überhaupt erst] ermitteln soll“, zuzustimmen2050. Diese weit in das Vorfeld reichende Befugnis unter Verzicht auf namhafte Eingriffsschwellen ist für die strategische Fernmeldeaufklärung schlicht konstituierend. Noch weniger normativ eingegrenzt ist die Aus2044 Diesem Verständnis von staatlicher Kenntnisnahme liegt zudem wohl die hier schon nicht geteilte Prämisse zu Grunde, ein Grundrechtseingriff setze eine menschliche Kenntnisnahme von Daten voraus. 2045 So die Einschätzung in BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 150), was man durchaus als qualitative Wertung sehen können wird. Es handelt sich mithin um die denkbar größte Streubreite einer sicherheitsrechtlichen Eingriffsbefugnis. 2046 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 150). 2047 Prononcierte Festlegung in Bezug auf die letztlich voraussetzungslose strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung in BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 150). 2048 Zutreffend Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 10; ders., Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 557; von einer stärkeren Restriktionswirkung geht aus Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 175; ebenfalls eine Beschränkung nehmen an Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 33; Roggan (Fn. 510), § 1 G 10 Rn. 4 f. 2049 Deutlich und kritisch erneut Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 143. 2050 Prononciert Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 383 f. (Hervorhebung im Original), freilich allgemein auf die Aussagen in BVerfGE 100, 313 bezogen und nicht direkt auf die Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 I G 10.
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land-Ausland-Fernmeldeaufklärung, die die strategische Erfassung von Telekommunikationsdaten schon dann erlaubt, wenn diese für die Aufgabenerfüllung des Dienstes im Sinne des § 6 I BNDG erforderlich ist; dies wird man bereits dann annehmen müssen, wenn die erlangten Informationen in irgendeiner Art und Weise bei der Arbeit des Dienstes weiter verwendet werden und wahrscheinlich einem Aufklärungszweck der Nummern eins bis drei der Vorschrift dienen2051. Hier besteht keine normative Einhegung mehr, geschweige denn ein klar spezifizierbarer Anlass für die Datenerhebung. Die tatsächliche Dimension der strategischen Fernmeldeaufklärung der internationalen Telekommunikation im Sinne des § 5 I G 10 unterscheidet sich indes von der der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nach dem BNDG, weswegen insoweit eine Binnendifferenzierung vorzunehmen ist. (1) Parlamentarische Berichte: Sehr hohe Streubreite der strategischen Fernmeldeaufklärung Die strategische Fernmeldeaufklärung ist durch eine sehr hohe Streubreite gekennzeichnet2052. Die Aussage des Bundesnachrichtendienstes im dritten Abhörurteil von 1999, dass vorwiegend der über Fernmeldesatelliten geleitete „Telexund Telefaxverkehr“ erfasst würde, Telefongespräche hingegen nur in „sehr geringem“ Maße und Funkkommunikation sowie E-Mails gar nicht2053, malt ein unter den heutigen technischen Bedingungen antiquiertes Bild. Dies stellt auch das Bundesverfassungsgericht nunmehr fest. Im Jahr 1999 sei die „strategische Überwachung der Inland-Ausland-Telekommunikation“ in „tatsächlicher Hinsicht eng begrenzt gewesen“ und habe lediglich „spezifische Telekommunikationsmittel“ betroffen2054. Heute würden indes „quantitativ unvergleichbar größere Datenströme erfasst“ 2055. Aufgrund der expliziten Bezugnahme auf die dritte Abhörentscheidung wird man die Aussagen des Ersten Senats auch auf die heutige Situation der strategischen Fernmeldeaufklärung übertragen können. Dies stützen auch die verfügbaren Zahlen: Tatsächliche Angaben, wonach 1999 täglich ca. 15.000 Telekommunikationsverkehre in die Erfassungsgeräte des Dienstes gelangten, von denen 14.000 als nicht dem G 10 unterfallend eingeordnet wur-
2051
Siehe zu dieser sehr weiten Auslegung nur Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG
Rn. 17. 2052 A. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 316, der von der Filterkaskade darauf schließt, dass die Streubreite gering sei. Selbst wenn man hierin – entgegen der hiesigen Ansicht – keinen Grundrechtseingriff erblicken wollte, kann die Streubreite einer anlasslosen Steuerung von Selektoren an Datenaustauschpunkten und bei der Satellitentelekommunikation kaum als „überaus gering“ ausgeflaggt werden. 2053 BVerfGE 100, 313 (379 f.). 2054 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151). 2055 BVerfGE 154, 152 (243, Rn. 151).
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den2056, erscheinen allein angesichts der Zugriffsmöglichkeiten auf den DE-CIX im Bereich der leitungsgebundenen Telekommunikation wie aus einer anderen Epoche. Bereits zur Zeit der Neufassung des G 10 im Jahr 2001 waren die Erfassungsanlagen des Bundesnachrichtendienstes dahingehend ausgelegt, täglich ca. 100.000 Telekommunikationsverkehre in die Wortdatenbank – zum anschließenden Abgleich mit den Selektoren – leiten zu können, bei einem täglich geschätzten Gesamtvolumen der Kommunikationsverbindungen von und nach Deutschland von ca. 50 Millionen Verkehren und mehreren Milliarden Verbindungen weltweit2057. Von diesen 100.000 Verkehren waren 750 von und nach Deutschland geführt (der restliche, weit überwiegende Teil musste demnach der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung zufallen) und 40 enthielten gesteuerte Selektoren, die von Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes einer rechtlichen und nachrichtendienstlichen Überprüfung unterzogen wurden2058. Am Ende wurden hiervon ca. drei Telekommunikationsverkehre täglich einer weiteren nachrichtendienstlichen Auswertung zugeführt2059. Im Berichtszeitraum 2010 wurden mittlerweile allein im Gefahrbereich „internationaler Terrorismus“ im Sinne des § 5 I 3 Nr. 2 G 10 anhand von 1.944 bzw. 1.808 Selektoren schon insgesamt 10.213.329 Telekommunikationsverkehre erfasst, wovon 10.208.525 auf E-Mails entfielen2060. Zwar betont der zugehörige Bericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums, dass von der gesamten Telekommunikation ein Großteil Spam-EMails seien, die aufgrund ihres hohen Anteils am E-Mail-Verkehr schlicht miterfasst würden, woraus dann die hohe Zahl an Selektortreffern resultiere2061. Für die Einschätzung der Streubreite der strategischen Fernmeldeaufklärung ist dies indes unerheblich, da auch die Spam-E-Mails dem formalen sachlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses unterfallen und erst ein grundrechtsrelevanter Eingriff auf die Anwendungsschicht des Datenpaketes den Inhalt eröffnen kann. Der Grundrechtseingriff hat dann bereits stattgefunden. Die genannten Zahlen zeigen ferner die sich stetig steigernde Dimension der strategischen Aufklärung, wobei die Treffer durchaus erheblichen Schwankungen unterliegen2062. 2056 BVerfGE 100, 313 (379 f.). Von den übrigen seien 700 G 10-relevant, 70 enthielten Suchbegriffe und würden von Mitarbeitern bearbeitet und 20 seien davon nachrichtendienstlich relevant und würden einer weiteren Auswertung zugeführt. 2057 Angaben im Gesetzentwurf zum G 10 von 2001, BT-Drs. 14/5655, S. 18. 2058 Erneut BT-Drs. 14/5655, S. 18. 2059 BT-Drs. 14/5655, S. 18. Der Gesetzentwurf enthält keine Angaben darüber, um was für Telekommunikationsverkehre es sich im Einzelnen handelt und ob dabei Inhalts- oder Metadaten ausgefiltert werden. 2060 BT-Drs. 17/8639, S. 6. 2061 BT-Drs. 17/8639, S. 6. 2062 Dazu erneut BT-Drs. 17/8639, S. 6, wonach im Jahr 2009 im Gefahrbereich „internationaler Terrorismus“ „nur“ 1.807.580 Verkehre mittels der Selektoren erfasst wurden. 2014 wurden im Gefahrbereich „internationaler Terrorismus“ insgesamt 14.604 Telekommunikationsverkehre erfasst, von denen 63 nachrichtendienstlich relevant waren, BT-Drs. 18/11227, S. 8.
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Im Berichtszeitraum 2017 wurden nach dem Bericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß § 14 I 2 G 10 die vier Gefahrbereiche internationaler Terrorismus, Proliferation und konventionelle Rüstung, illegale Schleusung und Cyber mittels SIGINT aufgeklärt2063. Dabei qualifizierten sich nach der Filterung mittels Suchbegriffen und der Prüfung der Geeignetheit zur Aufklärung des jeweiligen Gefahrbereiches – also nach einer maschinellen und menschlichen Selektion, ergo Grundrechtseingriffen – insgesamt 121 Telekommunikationsverkehre als „nachrichtendienstlich relevant“, 119 im Bereich internationaler Terrorismus, einer im Feld Proliferation und konventionelle Rüstung sowie einer im Bereich Cyber2064. Die Anzahl der dabei insgesamt erfassten, als auch der durch die Selektoren zunächst ausgesonderten und nach menschlicher Begutachtung verworfenen Telekommunikationsverkehre ist für den Berichtszeitraum 2017 – soweit ersichtlich – nicht mehr veröffentlicht. Diese Tatsache erschwert die Einschätzung des Umfanges der strategischen Fernmeldeaufklärung mittlerweile erheblich. In den Vorjahren wurden, wie aufgezeigt, zumindest noch die mittels Selektoren aussortierten Verkehre publiziert2065 bzw. sogar die Gesamtzahl der erfassten Verbindungen2066. Angesichts des rasanten technischen Fortschritts durch die Digitalisierung kann davon ausgegangen werden, dass der Bundesnachrichtendienst seine Erfassungs- und Auswertungskapazitäten stets weiterentwickelt und effizienter gestaltet2067. Es überrascht nicht, dass „Autoren aus dem Umfeld der Dienste“ 2068 davon sprechen, dass der Bundesnachrichtendienst, jedenfalls bei der strategischen Fernmeldeaufklärung, eher eine hoch präzise Harpune anstatt eines Schleppnetzes zum Datenfang nutze2069. Nach hier vertretener Ansicht liegt aber bereits in der Erfassung und der Filterkaskade ein Grundrechtseingriff.
2063
BT-Drs. 19/10459, S. 8. BT-Drs. 19/10459, S. 8; im Gefahrenfeld „internationaler Terrorismus“ wurden im ersten Halbjahr 2017 7.347 und im zweiten Halbjahr 6.482 Suchbegriffe, im Bereich „Proliferation und konventionelle Rüstung“ in der ersten Jahreshälfte 178 und in der zweiten Jahreshälfte 171 Suchbegriffe, im Bereich „illegale Schleusung“ in der ersten Jahreshälfte keine und in der zweiten Jahreshälfte 16 Suchbegriffe und im Gefahrenbereich „Cyber“ im ersten Halbjahr 2017 120 Suchbegriffe und im zweiten Halbjahr 122 Suchbegriffe gesteuert. 2065 Vgl. BT-Drs. 18/11227; 18/7423; 18/3709. 2066 BT-Drs. 17/8639, S. 6 f. 2067 Diese Einschätzung teilt Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 66. 2068 Ostentative Beschreibung von Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 18, der gleichwohl den Punkt trifft, dass Beiträge zum Nachrichtendienstrecht nicht selten von Wissenschaftlern mit Bezug zu den Nachrichtendiensten oder Praktikern aus diesem Bereich stammen. 2069 So das Bild von Dietrich (Fn. 48), Part 5 Ch. 1 Rn. 88; dahingehend auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 294 f., der jedoch nur die erfassten Verkehre als solche, also die Trefferfälle, heranzieht. Dies entspricht nicht dem hiesigen Eingriffsverständnis und führt naturgemäß zu einer anderen Einschätzung der Streubreite und Dimension der strategischen Fernmeldeaufklärung. 2064
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Auch hieraus resultiert eine weitere erhebliche Steigerung der Streubreite der Maßnahme2070. Schon 1999 ging das Bundesverfassungsgericht insoweit von einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff aus2071, erkannte aber insbesondere in der damaligen gesetzlichen Ausgestaltung normative Beschränkungen der Streubreite der strategischen Fernmeldeaufklärung, die nach der heutigen Rechtslage indes nicht mehr existieren2072. Die Beschränkung der Überwachung auf „internationale“ Telekommunikationsbeziehungen, die eine Erfassung rein nationaler Telekommunikation verhindern soll, lässt sich nach den Ergebnissen der hiesigen Untersuchung technisch durch die Filtersystem nicht immer hinreichend sicher umsetzen. Zudem stellt ebenjener Filterprozess nach hiesiger Auffassung selbst einen Grundrechtseingriff dar, weswegen er kein Begrenzungskriterium für die Streubreite sein kann. Eine normative Einschränkung auf den nicht-leitungsgebundenen Telekommunikationsverkehr, wie sie noch das G 10 a. F. zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt 1999 enthielt, sieht die Vorschrift in ihrer heutigen Fassung nicht mehr vor2073. Damit ist ein entscheidendes Begrenzungskriterium entfallen und ein breiter Zugriff auf jedwede Telekommunikationsbeziehung möglich, unabhängig von ihrer technischen Übertragungsweise. Das Restriktionsmerkmal in § 5 I G 10, dass Telekommunikationsbeziehungen nur überwacht werden dürfen, wenn eine „gebündelte Übertragung“ erfolgt, vermag kaum die Breite der Überwachung einzuhegen2074. Eine ungebündelte, einzelne Übertragung erfolgt nur noch auf der „letzten Meile“ im Kabelbereich zum jeweiligen Teilnehmeranschluss und im Mobilfunkbereich lediglich zwischen der Funkzelle und dem Endgerät2075. Aufgrund des Wegfalls des Kriteriums des nicht-leitungsgebundenen Telekommunikationsverkehrs hat der Gesetzgeber eine Überwachungshöchstgrenze für die strategische Fernmeldeaufklärung vorgesehen, um deren Streubreite zu begrenzen2076. Als Höchstmaß darf der zu überwachende Anteil eines Übertragungsweges gemäß § 10 IV 4 G 10 maximal 20 Prozent betragen. Die Obergrenze bewahre den strategischen Charakter der Fernmeldeaufklärung des Bun2070
A. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 316. BVerfGE 100, 313 (376 ff.); ausführlich hierzu schon unter C. III. 1. c). 2072 Zum Ganzen instruktiv Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 29 ff., dessen Analyse hier gefolgt wird; von einer gesteigerten Eingriffsintensität im Vergleich zu 1999 geht auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 120 aus. 2073 Eine nicht unerhebliche Änderung zur Rechtslage unter § 3 G 10 a. F. durch den Wegfall der Beschränkung auf nicht-leitungsgebundene Telekommunikationsbeziehungen sieht auch Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 25. 2074 Maßgeblich hierzu Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 10; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 63. 2075 Erneut Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 10. 2076 So die Begründung zum G 10 (2001) in BT-Drs. 14/5655, S. 18; ferner Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 292; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 145. 2071
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desnachrichtendienstes unter dem G 10 und trage dafür Sorge, dass, mit Blick auf den Grundrechtsschutz, von vornherein nur ein verhältnismäßig geringer Teil der nachrichtendienstlich relevanten Telekommunikation erfasst werden könne2077. Der Gesetzgeber beeilt sich sodann auch bereits in der Gesetzesbegründung diese faktische Beschränkung des Umfanges der Fernmeldeaufklärung zu unterstreichen: „Keineswegs“ dürfe die Regelung dahingehend verstanden werden, dass der Bundesnachrichtendienst dadurch 20 Prozent der gesamten internationalen Telekommunikation im Sinne des § 5 I G 10 erfassen dürfe2078. Vielmehr gebe die Obergrenze an, „welcher Anteil der mit einem bestimmten Zielgebiet anfallenden Menge von Telekommunikationen“ überwacht werden dürfe2079. Diese Aussage stimmt jedoch nicht mit dem Wortlaut des § 10 IV 3, 4 G 10 überein, wonach ausschließlich die Übertragungskapazität des jeweiligen Übertragungsweges entscheidend ist2080. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Obergrenze des § 10 IV 4 G 10 für die praktische Anwendung durch den Bundesnachrichtendienst dahingehend ausgelegt, dass der Dienst aus allen angeordneten Übertragungswegen stets gleichzeitig nur so viel überwachen darf, dass die ausgeführten Überwachungsmaßnahmen nicht mehr als 20 Prozent der Kapazität aller angeordneten Übertragungswege ausmachen2081. Dadurch sei der Bundesnachrichtendienst gezwungen, jeweils eine Auswahl aus den angeordneten Übertragungswegen zu treffen2082. Bäcker weist jedoch zutreffend darauf hin, dass der Bundesnachrichtendienst durch die Aufnahme möglichst vieler Übertragungswege in die Anordnung eine möglichst hohe Gesamtkapazität erzielen könnte, nach der sich dann die Überwachungsobergrenze bestimmen würde2083. Zudem ergeht für jeden Gefahrenbereich der Nummern eins bis acht des § 5 I G 10 eine separate Beschränkungsanordnung mit eigener Überwachungsobergrenze; eine Addition der maximal zu überwachenden Übertragungskapazitäten aller nach § 5 I G 10 stattfindenden Beschränkungsmaßnahmen ist weder im Gesetz noch nach der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichtes vorgesehen2084. Zudem muss dem Bundesnachrichtendienst die tatsächliche Kapazität der zu überwachenden Über2077
Siehe die Erläuterungen zu § 10 IV G 10 in BT-Drs. 14/5655, S. 23. BT-Drs. 14/5655, S. 24; dazu auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 65. 2079 BT-Drs. 14/5655, S. 18. 2080 Dazu maßgeblich die Ausführungen von Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 12 f.; ders., Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 558; auf ihn verweist Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 222; hierzu auch Leisterer, Internetsicherheit (Fn. 57), S. 125; a. A. A. F., Stenographisches Protokoll I der 41. Sitzung des NSA-UA, S. 104; Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 292 f. 2081 BVerwGE 149, 359 (367, Rn. 29). 2082 So die Folgerung in BVerwGE 149, 359 (367, Rn. 29). 2083 Ausführlich zur Legaldefinition Lünenbürger/Stamm (Fn. 514), § 3 Rn. 63 ff.; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 558. 2084 Dahingehend erneut die Schlussfolgerung von Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 558. 2078
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tragungswege stets bekannt sein, um hiervon die überwachbaren 20 Prozent messbar bestimmen zu können2085. Deswegen hängt die Wirksamkeit der Obergrenze des § 10 IV 4 G 10 in Teilen von der Anwendung und Auslegung seitens des Bundesnachrichtendienstes ab. Eine in jeder Hinsicht eindeutige, normative Einhegung zur Streubreitenbegrenzung bietet sie indes nicht2086. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der Bundesnachrichtendienst in der Praxis kapazitätsmäßig nur einen deutlich geringeren Anteil überwacht bzw. überwachen kann, da das rechtliche Defizit trotzdem bestehen bleibt2087. Allenfalls ist eine partielle Streubreitenbegrenzung und mithin Eingriffsmilderung mit dieser Tatsache verbunden2088. Zusammenfassend erweist sich die Streubreite der strategischen Fernmeldeaufklärung in der Gesamtschau als sehr hoch, was im Hinblick auf die Eingriffsintensität schwer ins Gewicht fällt. (2) Lichtschein ins Dunkle: Außerordentlich hohe Streubreite der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Im Gegensatz zum Bereich des G 10 ist es bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ungleich schwerer, an belastbare Zahlen zu gelangen, die zumindest einen ungefähren Überblick über den tatsächlichen Umfang und damit der Streubreite erlauben. Weder die Bundesregierung noch das Parlamentarische Kontrollgremium machen aus Geheimhaltungsgründen Angaben über das Ausmaß und die Ausgestaltung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Vor ihrer Normierung war das wenig verwunderlich – hätte man doch wohl allzu offen auf dieses nachrichtendienstliche Mittel des Bundesnachrichtendienstes öffentlich hingewiesen –, aber auch in der BNDG-Novelle finden sich keine Berichtspflichten analog § 14 I 2 G 10. Für die Öffentlichkeit als demokratische Kontrollinstanz lassen sich allenfalls aus den bereits dargelegten Zahlen des Parlamentarischen Kontrollgremiums zum G 10 und aus Gerichtsentscheidungen grobe Rückschlüsse ziehen. Schon im dritten Abhörurteil wurde deutlich, dass die Ausland-AuslandKommunikation den Löwenanteil der elektronischen Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes ausmacht2089. Neue tatsächliche Erkenntnisse, die erstmals einen genaueren Blick auf die Dimension der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung zulassen, konnten in der mündlichen Verhandlung über die Ver2085
Hierzu auch Leisterer, Internetsicherheit (Fn. 57), S. 126. A. A. wohl Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 293, der von einer Notwendigkeit der Prioritätensetzung durch den BND ausgeht und § 10 IV 4 G 10 in Bezug auf eine Überwachungsgesamtmenge liest. Selbst dann bleibt aber die Auslegung dem BND überantwortet und ergibt sich nicht hinreichend normenklar aus der Vorschrift selbst. 2087 So schon BVerfGE 100, 313 (380); BVerwGE 149, 359 (367, Rn. 29); in diese Richtung aber Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 185, in Bezug auf potentielle strategische Fernmeldebeschränkungen durch das BfV. 2088 Siehe BVerfGE 154, 152 (241 f., Rn. 148). 2089 BVerfGE 100, 313 (379 f.). 2086
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fassungsbeschwerde gegen die Regelungen gewonnen werden2090 sowie nunmehr in den Ausführungen zur Sachlage in der schriftlichen Urteilsbegründung. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes Kahl trug in Karlsruhe vor, dass fast 50 Prozent des Meldeaufkommens – also die nachrichtendienstlich relevanten Informationen, die der Dienst an politische Entscheidungsträger und sonstige Empfänger übermittelt – aus der technischen Aufklärung stammten; die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung habe hieran einen Anteil von ungefähr 36 Prozent2091. Täglich würden bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung 270.000 Inhaltsdaten erfasst, von denen rund 260 nachrichtendienstlich relevant seien2092. Diese Datenreduktion erfolge – sehr zum berechtigten Erstaunen einiger Richter in der mündlichen Verhandlung – manuell, d. h. durch geschulte Beamte des Bundesnachrichtendienstes2093. Bei den erfassten Inhaltsdaten handelt es sich Trefferfälle, die per Selektor ausgefiltert wurden. Hiervon stammten rund 60 Prozent aus der inländischen Erfassung, die restlichen 40 Prozent entfielen auf Auslandserfassungen2094. Bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung wird zudem eine erheblich höhere Zahl von Suchbegriffen gesteuert als im G 10-Bereich: Insgesamt ist die Anzahl der aktiven Selektoren – die wohlgemerkt nur Inhaltsdaten erfassen – nach den Verlautbarungen des Bundesnachrichtendienstes wohl sechsstellig, wobei bis zu 250 Anpassungen der Suchbegriffe täglich durchgeführt werden, um stets nachrichtendienstlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen2095. Damit kann sehr schnell auf sich verändernde Lagen reagiert werden, was jedoch gleichzeitig mit einer Steigerung der Streubreite einhergeht. Bekannt ist ferner, dass ungefähr 90 Prozent der Selektoren formelle sind; mittels dieser filtert der Bundesnachrichtendienst aus den initial erfassten Datenströmen Telekommuni-
2090 Mündliche Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17. 2091 BVerfGE 154, 152 (178 f., Rn. 5); siehe dazu auch das stichpunktartige Protokoll der mündlichen Verhandlung unter https://netzpolitik.org/2020/bundesverfassungsge richt-verhandelt-ueber-das-bnd-gesetz/ (15.1.2020). 2092 Zahlen in BVerfGE 154, 152 (186, Rn. 20, 188, Rn. 24); in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17 war noch von 154.000 Inhaltsdaten die Rede; ebenso im Protokoll unter https://netzpolitik.org/2020/bundesverfassungsge richt-verhandelt-ueber-das-bnd-gesetz/ (15.1.2020) 2093 Mündliche Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17; so auch das Protokoll unter https://netzpolitik.org/2020/bundesverfassungsgericht-verhandelt-ueberdas-bnd-gesetz/ (15.1.2020). 2094 BVerfGE 154, 152 (188, Rn. 24); hinzukommt eine „niedrige fünfstellige Zahl“ an Telekommunikationsverkehren, die dem Bundesnachrichtendienst von Partnerdiensten zugeleitet wird. 2095 Angaben des BND in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. und 15. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17. Etwa die Hälfte dieser Selektoren stamme dabei von ausländischen Partnerdiensten; dazu jetzt auch BVerfGE 154, 152 (188, Rn. 24, 189 Rn. 27).
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kation aus, die auch individuell zuordenbare Kennungen beinhaltet2096. Exakte Angaben, wie viele Metadaten täglich oder monatlich durch den Bundesnachrichtendienst bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung erhoben werden, wurden nicht präsentiert. Im Urteil zum BNDG heißt es hierzu lediglich kryptisch, dass der Bundesnachrichtendient tägliche eine „um mehrere Größenordnungen höhere Menge“ an Metadaten im Vergleich zu den Inhaltsdaten erfasse und speichere2097. Dies gibt einen groben Eindruck von der Dimension. (a) Normative Streubreitenbegrenzungen bei Erhebung vom Inland aus gering Die rechtlichen Begrenzungen der Streubreite der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Inland aus sind im Vergleich zum G 10 – was seinerseits schon an normativen Sicherungsschwächen leidet – hingegen erheblich geringer ausgestaltet2098. Gemäß § 6 I BNDG darf der Bundesnachrichtendienst ganze „Telekommunikationsnetze“ überwachen, was nach der Legaldefinition in § 3 Nr. 65 TKG n. F. die Gesamtheit von Übertragungssystemen und gegebenenfalls Vermittlungs- und Leitwegeeinrichtungen sowie anderweitige Ressourcen2099 umfasst, womit der Gesetzgeber bewusst eine Abkehr vom erheblich enger gefassten Terminus des Übertragungswegs in § 10 IV 2 G 10 vollzieht2100. Dies wird – neben der Gesetzesbegründung – durch eine reine Wortlautauslegung unter Zugrundelegung der Legaldefinition des § 3 Nr. 65 TKG n. F. deutlich. Ein Telekommunikationsnetz ist schlicht „die Gesamtheit der technischen Einrichtungen, die die Übertragung von Signalen ermöglichen“ 2101. Das Kriterium ist damit praktisch allumfassend und ermöglicht den Zugriff auf Telekommunikationsnetze in beliebigen Abstraktionsleveln, wovon der Gesetzgeber auch selber ausgeht2102. 2096
BVerfGE 154, 152 (187, Rn. 23). BVerfGE 154, 152 (188, Rn. 24). 2098 Siehe zum Ganzen wiederum auch die Verfassungsbeschwerde gegen das BNDG von Bäcker, Verfassungsbeschwerde BNDG (Fn. 1160), S. 71 ff. 2099 An dieser Stelle wird die Legaldefinition bewusst verkürzt wiedergegeben. § 3 Nr. 27 TKG a. F. lautet in voller Länge: „,Telekommunikationsnetz‘ die Gesamtheit von Übertragungssystemen und gegebenenfalls Vermittlungs- und Leitwegeinrichtungen sowie anderweitigen Ressourcen, einschließlich der nicht aktiven Netzbestandteile, die die Übertragung von Signalen über Kabel, Funk, optische und andere elektromagnetische Einrichtungen ermöglichen, einschließlich Satellitennetzen, festen, leitungs- und paketvermittelten Netzen, einschließlich des Internets, und mobilen terrestrischen Netzen, Stromleitungssystemen, soweit sie zur Signalübertragung genutzt werden, Netzen für Hör- und Fernsehfunk sowie Kabelfernsehnetzen, unabhängig von der Art der übertragenen Information“. 2100 So Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 13 unter Verweis auf BT-Drs. 18/9041, S. 23; ferner Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 223. 2101 Einordnung bei Lünenbürger/Stamm (Fn. 514), § 3 TKG Rn. 77. 2102 BT-Drs. 18/9041, S. 26, spricht davon, dass es notwendig sein könne, „auch übergeordnete Telekommunikationsnetze“ anzuordnen; Bäcker Verfassungsbeschwerde 2097
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Es handelt sich im Vergleich zum im G 10 genutzten Begriff des „Übertragungsweges“ um eine signifikante Ausweitung des mit einer einzigen Anordnung überwachbaren Telekommunikationsumfanges2103. Hinzutritt, dass die Anordnung des Bundeskanzleramtes nach § 6 I 2 BNDG nur das auswertbare Telekommunikationsnetz bestimmt, aber – trotz des Begründungserfordernisses in § 9 I BNDG – keine konkreten Ziele der Überwachung festlegt2104. Dies zeigt sich auch in der Praxis: Am DE-CIX zum Beispiel ist nach Angaben der Betreiber das gesamte Netz Ziel der Anordnung2105. Ebenso bestimmt der Bundesnachrichtendienst die Suchbegriffe im Gegensatz zur strategischen Fernmeldeaufklärung in Eigenregie und nicht in Anbindung an die Überwachungsanordnung bzw. deren Gründe2106. Marxsen sieht sogar die Gefahr, dass sich die Aufklärungsrichtung verselbstständigen könnte, wenn erst einmal das zu überwachende Telekommunikationsnetz bestimmt wurde2107. Anfangs war zudem in der Gesetzesanwendung völlig unklar, wie eine solche Anordnung konkret auszusehen habe, dies musste erst im Benehmen zwischen dem Unabhängigen Gremium und dem Bundesnachrichtendienst herausgearbeitet werden2108 – das Gesetz hält hierzu keinerlei präzise Vorgaben bereit und kann somit nicht streubreitebegrenzend wirken. Das Bundesverfassungsgericht resümiert zutreffend, dass der Bundesnachrichtendienst „im Rahmen nur abstrakt vorgegebener Zwecke frei“ entscheiden könne „auf welche Netze, Daten und Personen“ er seine Aufklärungsmaßnahmen richte2109. In BeBNDG (Fn. 1160), S. 74, nennt als besonders weitgefasstes Beispiel das „Netz der deutschen Telekom“. 2103 So auch Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 223. 2104 So die plausible Auslegung der Regelung durch Bäcker, Verfassungsbeschwerde BNDG (Fn. 1160), S. 74; von einer Ziel- und Zweckbestimmung durch den BNG geht auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 176, aus. 2105 Angaben des DE-CIX Vorstandes Landefeld in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17. 2106 Die Suchbegriffe müssen gemäß § 6 II BNDG nur für die in § 6 I BNDG bestimmt und geeignet sein und müssen – was freilich mehr eine politische Einschränkung aufgrund der Erfahrungen mit NSA-Selektoren ist – im Einklang mit den außenund sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland stehen; dazu allgemein auch Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 223 f. 2107 Die Praxis der Datenerhebung könne sich nach dem Gesetzeswortlaut somit vom Anordnungsverfahren unabhängig machen und somit im Ergebnis ihre Steuerungs- und Begrenzungswirkung einbüßen, dazu Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224. 2108 Dies schilderte eindrücklich die ehemalige Vorsitzende des Unabhängigen Gremiums Cirener in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/ 17; siehe dazu auch erneut das Protokoll unter https://netzpolitik.org/2020/bundesver fassungsgericht-verhandelt-ueber-das-bnd-gesetz/ (15.1.2020). 2109 BVerfGE 154, 152 (242 f., Rn. 150). Diese Aussage trifft das BVerfG freilich wieder allgemein für die „strategische Telekommunikationsüberwachung“, mithin nach hiesigem Verständnis für alle strategischen Aufklärungsansätze (G 10 und BNDG). Es erscheint jedoch präziser, diese Wertung auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung
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zug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ist der Annahme einer „außerordentliche[n] Streubreite“ 2110, angesichts der dargelegten tatsächlichen Dimension und der rechtlichen Ausgestaltung, ohne Weiteres zuzustimmen. Die außerordentlich hohe Streubreite der Befugnis zur Überwachung von Telekommunikationsnetzen soll nach teilweise vertretener Ansicht durch die Eignungsprüfung gemäß § 12 BNDG reduziert werden, da hierdurch für den Bundesnachrichtendienst relevante Netze und Suchbegriffe erst ermittelt werden könnten, was zu einer gezielteren Überwachung führen könne2111. Um diese begrenzende Wirkung zu entfalten, muss die Eignungsüberprüfung jedoch noch entschieden breiter ansetzen; sie erlaubt letztlich die Totalerfassung eines gesamten Telekommunikationsnetzes ohne weitere Beschränkungen für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten2112. Dabei werden dann auch Inhaltsdaten ohne den Einsatz von Suchbegriffen erfasst2113. Die Streubreite einer Maßnahme lässt sich aber nicht dadurch begrenzen, dass zunächst zu noch weitergehenden Maßnahmen gegriffen wird, um damit im zweiten Schritt eine Einhegung zu realisieren; die betroffenen Grundrechtsträger bekommen dann Steine statt Brot. In der Konsequenz gerät der Grundrechtsschutz als Individualschutz aus dem Blick; Grundrechtsträger werden zu pauschalen Statistikgrößen, deren Rechte gegeneinander aufgewogen werden können. Es erstaunt zudem, dass seitens der Befürworter einer Streubreitenbeschränkung durch § 12 BNDG überhaupt mit einer die Eingriffsintensität hemmenden Wirkung argumentiert wird, denn schließlich soll es sich bei den durch die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung betroffenen natürlichen und juristischen Personen doch ohnehin nicht um subjektive Grundrechtsträger handeln2114. Wenn dem so wäre, bedürfte es aber auch keiner Einschränkungen der Streubreite. Besonders ins Gewicht fällt bei der Einschätzung der Streubreite der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung ferner, dass der Bundesnachrichtendienst – wie bereits geschildert – Metadaten gemäß § 6 II BNDG als full take sammelt und zu beschränken, da insbesondere Netze und Daten, bedingt durch die Selektoren, im G 10 nicht im selben Maße zur Disposition des BND stehen. 2110 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 150). 2111 Einschätzung von Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 186; ihm folgend Dietrich (Fn. 771), § 12 BNDG Rn. 1, der auch hinsichtlich der Eignungsprüfung von einer Sicherstellung der „Kaltstartfähigkeit“ des BND ausgeht. In der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom 14. und 15. Januar im Verfahren 1 BvR 2835/17, wurde bestätigt, dass eine Streckenauswahl mittels der Eignungsprüfung erfolgt. 2112 Dies gesteht auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 186, ein; a. A. Dietrich (Fn. 771), § 12 BNDG Rn. 4, der materielle Grenzen durch die Erforderlichkeitsanforderung in § 12 I BNDG sieht. 2113 BT-Drs. 18/9041, S. 28; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 164. 2114 Ablehnung des Grundrechtsschutzes für Ausländer im Ausland bei Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 172 ff.
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das konkretisierende Element der Selektoren zum Auffinden gefahrbereichsspezifischer Telekommunikationsverkehre hier nicht zum Tragen kommt2115. Dadurch kann der Bundesnachrichtendienst aus den angeordneten Telekommunikationsnetzen alle Metadaten gewinnen, die zur Erfüllung seiner Aufgaben im Sinne des § 6 I in Verbindung mit § 1 II 1 BNDG erforderlich sind. Hierbei sind kaum Restriktionen denkbar. Der strategische Aufklärungsansatz der Ausfilterung von Telekommunikation mittels Selektoren wird durch eine an den Gedanken der Vorratsdatenspeicherung angelehnte Metadatenbank ersetzt. Eine Kapazitätsbeschränkung analog zum G 10 fehlt im BNDG ferner gänzlich. Der Gesetzgeber hält dies für unproblematisch: Der Bundesnachrichtendienst könne aus Kapazitätsgründen ohnehin nur einen sehr geringen Teil der Ausland-AuslandTelekommunikation überwachen, weswegen eine diesbezüglich Beschränkung zum Ausschluss einer flächendeckenden Überwachung entbehrlich sei2116. Von den angeordneten Netzen greife der Bundesnachrichtendienst ungefähr zehn Prozent der dort verfügbaren Datenmengen tatsächlich ab, um die Daten zu verarbeiten und auszuwerten2117. Dies kann jedoch genau wie bei der strategischen Fernmeldeaufklärung kein Grund dafür sein, auf eine normative Begrenzung der überwachbaren Telekommunikation zu verzichten, da die technischen Fähigkeiten des Bundesnachrichtendienstes jederzeit ausgebaut werden können und auch stetig werden2118; so fehlt es insoweit einer die Streubreite hemmenden rechtlichen Mengenbegrenzung, und die erfassbare Quantität bleibt im Endeffekt der Investitionsfreudigkeit der Exekutive in Ressourcen des Bundesnachrichtendienstes überlassen. Es ist freilich einzugestehen, dass immer nur ein Bruchteil der „deutschlandweit und weltweit vorhandenen Netze von Netzanordnungen“ erfasst wird und mithin keine vollumfängliche Überwachung zu besorgen ist; insoweit wird die Eingriffsintensität partiell gemildert2119. Das Bundesverfassungsgericht betont diesen Faktor, in dem es darauf hinweist, dass sich die Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung aufgrund der nur partiellen Erfassbarkeit der Telekommunikation auch wegen des ständig wechselnden Routings „zumindest prinzipiell“ von einer Individualmaßnahme im Sinne des § 3 G 10 unterscheide2120. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom In2115 So auch in Bezug auf die Auswertungsmöglichkeit und die einhergehende Steigerung des Aussagegehalts der Daten BVerfGE 154, 152 (244, Rn. 153). Die Analyse von bevorrateten Metadaten steigert indes auch die Streubreite. 2116 BT-Drs. 18/9041, S. 26. 2117 BVerfGE 154, 152 (185, Rn. 18). 2118 So auch in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 11; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 184; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 164; a. A. und insoweit wie der Gesetzgeber Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 923. 2119 BVerfGE 154, 152 (241 f., Rn. 148). 2120 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 148); dazu auch Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 4.
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land aus im direkten Vergleich mit der strategischen Fernmeldeaufklärung durch eine nochmals gesteigerte, außerordentlich hohe Streubreite gekennzeichnet ist, die besonders schwer ins Gewicht fällt2121. (b) Datenerhebung vom Ausland aus ohne nennenswerte Streubreitenbegrenzung Der Sonderfall der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus nach § 7 BNDG stellt sich auch bezüglich der rechtlichen Streubreitebegrenzungen als Ausnahme dar. Gemäß § 7 I BNDG gilt § 6 I 2 BNDG nicht entsprechend für Aufklärung vom Ausland aus, womit die Beschränkung auf diejenigen Telekommunikationsnetze, die vom Bundeskanzleramt angeordnet werden, entfällt2122. Zwar kann das Bundeskanzleramt aufgrund des „Dazwischentretens“ einer „fremden Rechtsordnung“ keine bindende Anordnung erlassen, einen Internetknoten im Ausland aufzuklären, geschweige denn einen ausländischen Telekommunikationsanbieter zur Ausleitung von Datenströmen verpflichten2123. Warum aber keinerlei Rückkopplung an das Bundeskanzleramt, etwa durch einen Genehmigungsvorbehalt für die Erfassung ausländischer Telekommunikationsnetze, die der Bundesnachrichtendienst zuvor mit lokalen Partnern zur Aufklärung identifiziert hat, als Streubreitenbegrenzung im Gesetz implementierbar sein sollte, bleibt offen. Jedenfalls erhöht sich durch den Wegfall dieser verfahrensrechtlichen Sicherung die Streubreite potentiell, da der Bundesnachrichtendienst über die zu erfassenden Telekommunikationsnetze in Eigenregie entscheidet. Noch wesentlich entscheidender für den Wegfall einer nennenswerten Streubreitenbegrenzung bei der Aufklärung vom Ausland aus ist jedoch der fehlende Verweis des § 7 I BNDG auf § 6 II BNDG, womit die Bindung an die Selektoren auch bei der Erfassung von Inhaltsdaten entfällt2124. Damit erweitert sich der full take auch auf den eigentlichen Inhalt der Kommunikation, da der Bundesnachrichtendienst gar nicht mehr an den Einsatz der Selektoren gebunden ist und alle Daten ohne weitere normative Begrenzungen erfasst werden können. Dass dies mit einer Vergrößerung der Streubreite einhergeht, liegt auf der Hand. Die Eingriffsintensität ist mithin nochmals gesteigert. cc) Klandestine Überwachung als eingriffsintensive Ausnahme im Rechtsstaat Bei den Umständen der Datenerhebung wirkt vor allem ein heimliches Vorgehen der Behörden bei Überwachung eingriffsintensivierend, was nach der Recht2121
So im Ergebnis auch BVerfGE 154, 152 (242 f., Rn. 150 f.). Diesen Unterschied unterstreicht etwa Dietrich (Fn. 771), § 7 BNDG Rn. 3; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526. 2123 Dietrich (Fn. 771), § 7 BNDG Rn. 3, sieht dies als Grund für den Wegfall der Beschränkung. 2124 So etwa Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526. 2122
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sprechung des Bundesverfassungsgerichts typischerweise zu einer höheren Intensität führt2125. Die grundsätzliche Schwere eines heimlichen Eingriffes ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgericht unabhängig davon, ob die „Überwachung im Inland oder im Ausland stattfindet“ oder ob sie sich auf Deutsche, Inländer oder Ausländer beziehe2126. In einem Rechtsstaat stelle das heimliche Vorgehen staatlicher Institutionen eine Ausnahme dar und bedürfe infolgedessen einer besonderen Begründung2127. Gerade bei den Umständen des Informationseingriffes sieht das Bundesverfassungsgericht die drohende Gefahr von Einschüchterungseffekten, die bei einer klandestinen Überwachung ein „diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins“ hervorrufen könnten, welches eine „unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“ könne2128. In Bezug auf das Handeln von Nachrichtendiensten hat das Bundesverfassungsgericht ferner die besondere Intensivierung des Grundrechtseingriffes durch diese unterstrichen, da „praktisch die gesamten Aktivitäten der Nachrichtendienste geheim“ erfolgten, weswegen ihre Tätigkeiten das Gefühl eines „unkontrollierten Beobachtetwerdens in besonderer Weise“ befördern und „nachhaltige Einschüchterungseffekte auf die Freiheitswahrnehmung“ entfalten könnten2129. Für das Einschüchterungspotential heimlicher Überwachungsmaßnahmen kann daher – jedenfalls bei per se besonders eingriffsintensiven Maßnahmen – bei nachrichtendienstlichem Handeln von einer nochmals gesteigerten Schwere ausgegangen werden2130. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts leuchtet im konkreten Fallkontext der Vorratsdatenspeicherung, aber auch darüber hinaus, ein: Nachrichtendienste handeln gleichsam doppelt geheim, sowohl hinsichtlich der
2125 Stellvertretend BVerfGE 156, 11 (48 f., Rn. 96); 154, 152 (241, Rn. 147); 141, 220 (264 f., Rn. 92, 269 ff., Rn. 104 ff.); 120, 274 (325); weitere Fundstellen bei Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 247 m. Fn. 135; insoweit auch von einer höheren Eingriffsintensität geht aus Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 176; ders., Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 9; für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 153; siehe zur Heimlichkeit von Überwachungsmaßnahmen auch insbesondere die Monographie von Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 165 ff. 2126 BVerfGE 154, 152 (241, Rn. 147). 2127 BVerfGE 120, 274 (325); siehe dazu wiederum Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 125 ff. 2128 So in Bezug auf die Vorratsdatenspeicherung BVerfGE 125, 260 (320); Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 247, sieht das Kriterium der Heimlichkeit somit in den „Grundrechtsvoraussetzungsschutz“ mit eingebettet. 2129 Siehe das BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung und der Nutzung der Daten durch die Nachrichtendienste in BVerfGE 125, 260 (332); entschieden gegen diese Argumentation des Gerichts in der Entscheidung gegen Einschüchterungseffekte als juristisches Argument Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 14. 2130 A. A. Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 10, der eine pauschale Übertragung des Kriteriums der Heimlichkeit als eingriffsschärfend auf Behörden unterschiedlicher Zielsetzung, wie etwa Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendienste, ablehnt.
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konkret von ihnen durchgeführten Überwachungsmaßnahme als auch ihrer Tätigkeit im Allgemeinen. Eine Behörde, die nach außen kaum in Erscheinung tritt und deren Arbeitsweisen und Aufklärungsziele der (interessierten) Öffentlichkeit allenfalls überblicksartig aus medialer Berichterstattung bekannt sind, kann bei klandestiner Überwachung größere Einschüchterungseffekte auslösen als Behörden, die im Regelfall offen agieren, wie etwa die Polizei2131. Anders gewendet: Bei Handlungen der Polizei und Strafverfolgungsbehörden kann davon ausgegangen werden, dass deren Ziele und Vorgehensweisen den meisten Bürgerinnen und Bürgern dem Grunde nach – freilich exklusive spezifischer Ermittlungswerkzeuge – vertraut sein dürften. Bei Nachrichtendiensten erscheint diese Annahme hingegen fernliegend; hier dringt nur wenig nach außen, und die Dienste sind naturgemäß in der Öffentlichkeit und im Alltagsleben in der Regel überhaupt nicht präsent. Gegen die Heimlichkeit als eingriffsintensivierendes Kriterium wird – analog zur generellen Kritik an den Einschüchterungseffekten – vorgetragen, dass einerseits der Einschüchterungseffekt als erschwerend für den Grundrechtseingriff herangezogen werde, andererseits aber auch das Nichtwissen über die Maßnahme die Eingriffsintensität steigern solle; Nichtwissen solle damit paradoxerweise genau wie positives Wissen die Eingriffsintensität steigern2132. Hiergegen lässt sich, ebenso wie beim Vorliegen eines Grundrechtseingriffes aufgrund von Einschüchterungseffekten, anführen, dass es auf die Kenntnis der konkret durchgeführten Überwachung überhaupt nicht ankommen kann, sondern auf das Bewusstsein, jederzeit von einer Überwachungsmaßnahme betroffen sein zu können2133. Deswegen wirkt die Heimlichkeit der Maßnahme besonders invasiv. Hinzutritt ein verfahrensrechtliches Argument: Durch das verdeckte Vorgehen bei der Überwachung wird – wie das Bundesverfassungsgericht hervorhebt – „vorheriger Rechtsschutz faktisch verwehrt und nachträglicher [. . .] zumindest erschwert“ 2134. Richtigerweise ist zur Begründung der gesteigerten Eingriffsintensität von heimlichen Grundrechtseingriffen ebenfalls auf deren erhöhte
2131 BVerfGE 133, 277 (328 f., Rn. 121 f.), zum Unterschied zwischen dem verdeckten Handeln der Nachrichtendienste und der grundsätzlich offen agierenden Polizei. 2132 Sondervotum Haas BVerfGE 115, 320 (372); ferner etwa allgemein Dreier (Fn. 1814), Art. 2 I Rn. 87 m.w. N., der davon ausgeht, dass die Unkenntnis über eine Maßnahme der Informationserhebung gegen das Entstehen von Einschüchterungseffekten spricht; dahingehend auch Schoch, Ambivalenz (Fn. 1714), S. 65. 2133 BVerfGE 100, 313 (377) gesteht ein, dass der Einzelne bei jedem Telekommunikationsvorgang mit Auslandsbezug mit der Möglichkeit einer Erfassung seiner Daten durch den Bundesnachrichtendienst rechnen müsse; wie hier Zanger, Freiheit (Fn. 1716), S. 86; Oermann/Staben, Grundrechtseingriffe (Fn. 1814), S. 644; siehe hierzu bereits in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung unter F. II. 1. b) cc) (1) mit Fn. 1814. 2134 BVerfGE 120, 378 (403); zu den Problemen der möglichen Einschränkung des Rechtsschutzes durch Nichtwissen der Betroffenen Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 10 m. Fn. 40, unter Verweis auf die Monographie von Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 122 ff., zu den prozessualen Auswirkungen S. 319 f.
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„Rechtswidrigkeitswahrscheinlichkeit“ hingewiesen worden2135. Abschließend sind in die Eingriffsintensitätsbestimmung zudem besondere Vertraulichkeitserwartungen der Grundrechtsträger mit einzustellen, wenn etwa in das Fernmeldegeheimnis eingegriffen wird2136. Die Eingriffe wiegen auch deshalb schwer, weil klandestin in Telekommunikationsbeziehungen eingegriffen wird, die „oftmals privaten und unter Umständen auch höchstvertraulichen Charakter“ aufweisen2137. Die Heimlichkeit ist ein zentrales Element der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung. Sie ist für die Maßnahme schlicht konstitutiv und gleichermaßen zwingend. Nachrichtendienstliche Erkenntnisse lassen sich strategisch nur dann gewinnen, wenn die Überwachten (zunächst) nichts von der staatlichen Maßnahme wissen. Ansonsten könnten Personen und Gruppierungen von nachrichtendienstlichem Interesse ihre Kommunikation anpassen – wobei davon auszugehen ist, dass bereits vielfach Verschlüsselungs- und Verschleierungstechniken gerade bei diesen Telekommunikationsteilnehmern zum Einsatz kommen2138. Die Betroffenen erfahren in der Regel nichts von den Tätigkeiten des Bundesnachrichtendienstes, es sei denn, es findet ausnahmsweise eine Benachrichtigung statt. Erst durch die Enthüllungen Edward Snowdens wurde einer breiteren Öffentlichkeit das Vorgehen des Bundesnachrichtendienstes im speziellen Feld der SIGINT-Aufklärung bekannt. Vieles liegt weiterhin im Dunkeln. Nur bei der strategischen Aufklärung unter dem G 10 geben die Berichte des Parlamentarischen Kontrollgremiums nach § 14 I 2 G 10 einen vorsichtigen Einblick in die Praxis des Bundesnachrichtendienstes auf diesem Feld. Die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung bleibt praktisch vollkommen im Verborgenen. Die heimliche Überwachung der potentiell gesamten Telekommunikation ist mithin geradezu prädestiniert, Einschüchterungs- und damit Anpassungseffekte bei deren Nutzung herbeizuführen. Bei Nutzung von Telekommunikation kann jeder jederzeit in die Erfassung des Bundesnachrichtendienstes geraten, sogar bei rein nationaler Telekommunikation in Form der Filterkaskade. Die besondere Vertraulichkeitserwartung bei der Nutzung von Fernkommunikation wird somit erschüttert und es kann – ebenso wie bei der Vorratsdatenspeicherung – ein „diffus bedrohliches 2135 Eingehend zu diesem Phänomen Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 167 ff.; vgl. konkret zu möglichem Datenmissbrauch bei Nachrichtendiensten ferner C. Gusy, Datenmissbrauch durch Nachrichtendienste, in: H. Bielefeldt/V. Deile/ B. Hamm u. a. (Hrsg.), Nothing to hide – nothing to fear?, 2011, S. 174 ff., auf den auch Schwabenbauer hinweist. 2136 BVerfGE 115, 320 (348); hierauf verweist auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 246; ebenso Gusy, Informationseingriffs (Fn. 118), S. 406. 2137 BVerfGE 154, 152 (241, Rn. 147). 2138 Zu den Verschlüsselungs- und Tarnmöglichkeiten von Telekommunikation – etwa end-to-end Verschlüsselungen, bei denen die Schlüssel bei den Nutzern verbleiben – statt vieler Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), 503; Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 163 f.; Sohr/Kemmerich, Grundlagen (Fn. 1026), Kap. 2 Rn. 33 f.
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Gefühl des Beobachtetseins“ 2139 gerade durch die strategische und die AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung hervorgerufen werden. Auch aus diesem Grund wiegt die Eingriffsintensität der strategischen und der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung schwer2140. dd) Drohende Nachteile durch Folgeeingriffe – Erneut: Privilegierung der Nachrichtendienste? Als abschließendes Kriterium richtet das Bundesverfassungsgericht den Blick darauf, was mit den zunächst erhobenen Daten im Anschluss geschieht und welche Folgen sowie mögliche Nachteile den Betroffenen drohen können oder von diesen begründeterweise befürchtet werden2141. Hierbei sieht das Gericht vor allem das Risiko, dass der Einzelne durch die Verwendung und Übermittlung seiner Daten Gegenstand staatlicher Ermittlungsmaßnahmen werden könne, die über das allgemeine Risiko einer falschen Verdächtigung hinaus gingen2142. Hinzutrete eine mögliche stigmatisierende Wirkung bei Bekanntwerden der Ermittlungsmaßnahmen mit dem hieraus resultierenden mittelbaren Risiko, persönliche und berufliche Nachteile zu erleiden2143. Informationseingriffe durch Überwachung entfalten ihr Gewicht, neben den bereits genannten Faktoren, auch durch die Schaffung von „kognitiven Grundlagen für Folgemaßnahmen“ 2144. (1) Ausschluss von operativen Maßnahmen und Aufenthalt jenseits der Zugriffsmöglichkeiten deutscher Staatsgewalt Die möglichen Eingriffsfolgen sind für die Vermessung der Eingriffsintensität nachrichtendienstlicher Informationseingriffe von besonderer Bedeutung. Das „institutionelle Setting“, in das Nachrichtendienste und Polizei bzw. Strafverfolgungsbehörden in der Sicherheitsarchitektur des Grundgesetzes eingebettet sind, kommt bei der Auslotung der Eingriffsintensität prominent zum Tragen2145. Durch dieses Gewichtungskriterium wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung mit der eingangs der Untersuchung bereits ausgearbeiteten grundsätzlichen „Privile2139
BVerfGE 125, 260 (320). BVerfGE 154, 152 (241, Rn. 147). 2141 BVerfGE 156, 11 (48, Rn. 96); 115, 320 (351); 107, 299 (320); zur strategischen Fernmeldeaufklärung BVerfGE 100, 313 (376); Schwabenbauer (Fn. 700) G. Rn. 135; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 251 f., betont die subjektive Sichtweise der Gerichts, welches jedoch gleichfalls eine normative Begründetheitsschwelle installiert habe. 2142 Exemplarisch BVerfGE 115, 320 (351). 2143 Zu dieser Perspektive erneut ausdrücklich BVerfGE 115, 320 (351). 2144 Pointiert Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 11, dem insoweit zuzustimmen ist. 2145 Zitat mit selbiger Implikation bei Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 11; dazu auch Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 32. 2140
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gierung“ der Nachrichtendienste im Hinblick auf die materiell-rechtlichen Anforderungen an die jeweiligen Ermittlungsbefugnisse dogmatisch verzahnt2146. Der – durch das Urteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nunmehr erschütterte, dennoch im Ansatz weiterhin richtige – Grundgedanke einer Sonderstellung der Dienste, die sich grundsätzlich auf herabgesetzte materielle Eingriffsschwellen stützen können, fußt nicht zuletzt auf einer weithin postulierten möglichen Milderung der Eingriffsintensität: Das Eingriffsgewicht nachrichtendienstlicher Überwachungsmaßnahmen sei aufgrund der fehlenden Exekutivbefugnisse deutlich gemindert, da die Dienste – im Gegensatz etwa zum Bundeskriminalamt – nicht unmittelbar selbst Konsequenzen aus ihrer Überwachung ziehen könnten2147. Entsprechendes gelte, wenn die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse nicht pauschal, sondern nur unter gesteigerten Voraussetzungen zum Schutze „besonders hochrangiger“ Rechtsgüter für Folgeeingriffe – namentlich Datenübermittlungen an Polizei- und Strafverfolgungsbehörden – genutzt werden könnten2148. Nachrichtendienste übermittelten im Regelfall ferner keine Rohdaten an die jeweiligen Empfängerbehörden, sondern aufbereitete, verdichtete und selektierte Erkenntnisse ihrer Auswertung, also „finished intelligence“ 2149. Dadurch seien nicht relevante Informationen – insbesondere aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung – bereits ausgefiltert; zudem würden die zu übermittelnden Informationen „adressatenspezifisch selektiert“ 2150. Durch die Trennung von nachrichtendienstlicher Aufklärung und polizeilicher Gefahrenabwehr bzw. Strafverfolgung in zwei verschiedene Institutionen werde zudem eine doppelte Sicherung in Form eines „,Vier-Augen-Prinzips‘“ implementiert, da der Empfänger in eigener Verantwortung über die Folgemaßnahmen nach nochmaliger „Qualitätskontrolle“ entscheide2151. Der Auftrag zur reinen Gefahrerforschung weit im Vorfeld zur Information politischer Entscheidungsträger wirkt nach dieser Lesart darüber hinaus schon an sich eingriffsmildernd, da Bestrebungen in
2146
Siehe hierzu bereits die Einordnung unter B. II. 4. c). So stellvertretend Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 170 f.; Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 11 f., spricht von einer „deutlichen“ Minderung der Eingriffsintensität nachrichtendienstlicher Maßnahmen. 2148 Übertragung des Gedankens auf einfachrechtliche Übermittlungsbefugnisse durch Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 12. 2149 Hervorhebung nur hier; so argumentieren etwa Siems, Folgewirkungen (Fn. 98), S. 4; Unterreitmeier, Folgewirkungen (Fn. 182), S. 230; von der primären Übermittlung von aufbereiteten Informationen geht auch der Gesetzgeber in Bezug auf das Bundesamt für Verfassungsschutz aus, BT-Drs. 18/4654, S. 33; zu der Praxis im BND BT-Drs. 18/12850, S. 556, wonach der Austausch von finished intelligence die reguläre Form des Austausches mit anderen Behörden beim BND sei. 2150 Dies betonen insbesondere Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 171. 2151 So erneut die Einordnung bei Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 171 mit Verweis auf Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 12, der diesbezüglich von „Macht-Disaggregation“ spricht. 2147
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ihrer Gesamtheit im Fokus der Nachrichtendienste stünden und weniger die Feststellung der „persönlichen Verantwortlichkeit“ Einzelner2152. Zudem bleibe bei nachrichtendienstlicher Überwachung eine Stigmatisierung – im Gegensatz zu öffentlich geführten Strafverfahren – häufig gerade aus, da die Informationen zumeist nur dienstintern und zur Information von politischen Entscheidungsträgern im Hintergrund genutzt würden und nicht an die breite Öffentlichkeit gelangten2153. (a) Staatliche Zugriffsmöglichkeiten auf Individuen als entscheidender Faktor? Das Bundesverfassungsgericht geht auf den Aspekt der fehlenden Exekutivbefugnisse im BNDG-Urteil nur spezifisch, bezogen auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ein. Eine Minderung der Eingriffsintensität sieht der Erste Senat mit Blick auf Ausländer im Ausland, da diese nicht in derselben Art und Weise wie Deutsche und Inländer möglichen operativen Konsequenzen, die aus der Überwachung resultieren könnten, ausgesetzt seien2154. Die Auslandsaufklärung betreffe maßgeblich das Geschehen in anderen Ländern, und der Bundesnachrichtendienst verfüge grundsätzlich nicht über Exekutivbefugnisse2155. Zudem sei es die primäre Aufgabe der strategischen Aufklärung, eine Informationsbasis zu schaffen, diese zu bewerten und sodann der Bundesregierung und anderen Entscheidungsträgern und Empfängern zur Verfügung zu stellen2156. Die Handlungsmöglichkeiten anderer in- und ausländischer Stellen seien maßgeblich davon abhängig, ob und unter welchen Voraussetzungen Daten durch den Bundesnachrichtendienst übermittelt werden würden2157. Das stelle zwar nicht in Frage, das auch „im Ausland durchgeführte Überwachung zu gravierenden Konsequenzen für die Betroffenen führen“ könnten und gegebenenfalls auch sollten2158. Dennoch, so der Erste Senat etwas kryptisch, sei aufgrund der fehlenden operativen Befugnisse „eine weitere Datenverwendung zunächst von einer
2152 So zur strategischen Aufklärung Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 176; zum nachrichtendienstlichen Auftrag unter dem Grundgesetz im Lichte der Eingriffsintensität ders., Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 15 f.; ferner im Grundsatz auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 120. 2153 So erneut die Analyse zur Eingriffsintensität nachrichtendienstlicher Überwachung Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 16. 2154 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 149, 249 f., Rn. 165, 252, Rn. 172). 2155 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 149, 249 f., Rn. 165). 2156 BVerfGE 154, 152 (233 f., Rn. 128, 242, Rn. 149). 2157 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 149) – „Maßnahmen, die andere Stellen aufgrund dieser Informationen gegen Betroffene ergreifen, sind von Datenübermittlungen abhängig, die rechtlich durch den Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung begrenzt werden können und müssen.“ 2158 BVerfGE 154, 152 (250, Rn. 165).
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in Distanz zur eigenen Handlungsverantwortlichkeit vorgenommenen Sichtung der Daten abhängig“ 2159. Im Hinblick auf mögliche Folgen greift das Bundesverfassungsgericht auf die Unterscheidung zwischen In- und Ausland zurück und differenziert ferner anhand der Staatsangehörigkeit2160. Dabei geht der Erste Senat ausdrücklich auf die G 10-Überwachung als Referenz ein, was – neben ergänzenden, noch zu vertiefenden Aspekten – illustriert, dass das Urteil des Ersten Senats Aussagen zur gesamten strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung enthält. Die Inland-Ausland-Überwachung greife auf „Kommunikation mit unmittelbarem Inlandsbezug“ zu und reiche „somit tiefer in die innerstaatliche Rechtsordnung“ hinein als die Ausland-Ausland-Überwachung, weswegen hieran materiellrechtliche Differenzierungen festgemacht werden könnten2161. Darüber hinaus will das Bundesverfassungsgericht noch eine Sonderstellung von Deutschen bezüglich der gezielten Überwachung ausmachen. Diese gezielte Steuerung von Telekommunikation habe für „deutsche Staatsangehörige [zudem] typischerweise größeres Eingriffsgewicht als gegenüber sich im Ausland befindlichen Ausländern“, weil diese „in deutlich weitegehendem Umfang dem Zugriff deutscher Behörden unterliegen und damit leichter Folgemaßnahmen ausgesetzt sind“ 2162. Dies gelte sowohl für Deutsche, die sich nur kurzfristig im Ausland aufhielten, aber auch für langfristige Auslandsaufenthalte, da zumindest der Kontakt mit diplomatischen Einrichtungen schon aufgrund ausweisrechtlicher Verpflichtungen Zugriffsmöglichkeiten für deutsche staatliche Stellen schaffe2163. Zudem hielten deutsche Staatsbürger im Ausland regelmäßig engeren Kontakt zum Inland und reisten dementsprechend häufiger in die Bundesrepublik ein2164. Diese auf der Eingriffsintensität basierende Differenzierung anhand der Staatsangehörigkeit bei gezielten Erfassungen – die zugegebener Maßen einen Sonderfall darstellen – sieht das Bundesverfassungsgericht nicht im Konflikt mit seiner Prämisse, dass Art. 10 I GG Deutscher bzw. In- und Ausländer „grundsätzlich gleichermaßen“ schütze2165. Ähnliches wird auch im Schrifttum vorgetragen, allerdings mit einem technischen Kontext. Aufgrund der Unvorhersehbarkeit der Routingwege sei der Zugriff der deutschen Behörden auf die Telekommunikation deutscher Telekommunikationsteilnehmer wesentlich größer, da allenfalls quantitativ wenig Telekommunikation von diesen erfasst werden könne2166. 2159
BVerfGE 154, 152 (250, Rn. 165) im Rahmen der Angemessenheitsprüfung. Dies betont auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 720. 2161 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 176. 2162 BVerfGE 154, 152 (257, Rn. 186). 2163 BVerfGE 154, 152 (257, Rn. 186). 2164 BVerfGE 154, 152 (249 f., Rn. 165, insb. 257, Rn. 186). 2165 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172, 257, Rn. 186). 2166 So Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 243 ff., allerdings im Rahmen des territorialen Schutzbereiches. 2160
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(b) Stellungnahme Die Nachrichtendienste haben nach hier vertretener Meinung eine besondere organisationsrechtliche Stellung in der Sicherheitsverfassung unter dem Grundgesetz, was grundsätzlich zur Minderung der Eingriffsintensität führen kann; deswegen sind die Spezifika der Folgen der durch die Dienste durchgeführten Überwachungsmaßnahmen als Parameter in die Bestimmung der Eingriffsschwere einzustellen und hinreichend zu berücksichtigen. Der Bundesnachrichtendienst kann in der Tat aus seinen Erkenntnissen keine unmittelbaren Handlungen ableiten, da ihm Exekutivbefugnisse richtigerweise verwehrt sind. Diese wichtige rechtsstaatliche Sicherung, durch das Trennungsgebot mit Verfassungsrang, stellt unzweifelhaft eine Beschränkung der Eingriffsintensität dar. Die organisationsrechtliche Sonderstellung der Dienste darf aber nicht dazu führen, eine pauschale Reduktion der Eingriffsschwere nachrichtendienstlichen Handelns anzunehmen und deswegen die Aufklärung durch Nachrichtendienste generell als ein „grundrechtsschonenderes Aufklärungsinstrument“, im Gegensatz zu präventiv-polizeilichem Handeln, auszuflaggen2167. Dies zeigen schon die bereits dargelegten Kriterien, die die Eingriffsintensität beträchtlich schärfen. Sie muss vielmehr in Bezug auf die jeweils in Rede stehenden Befugnisse situativ vermessen werden. Zudem ist es zwar grundsätzlich richtig, dass der Bundesnachrichtendienst allgemeine Lagebilder über Sachverhalte von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik zur Information politischer Entscheidungsträger erstellt, und dass dabei die Feststellung der „persönlichen Verantwortlichkeit“ Einzelner2168 jedenfalls meistens weniger im Fokus des Bundesnachrichtendienstes stehen dürfte. Dennoch ist durch die (Mit-)Erfassung von Metadaten und die Nutzung formaler Selektoren – wie aufgezeigt – die Herstellung von Personenbezügen vielfach möglich2169. Das Ziel der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung mag somit in vielen Fällen eine reine Sachaufklärung sein, auf dem Weg dorthin werden aber sehr wohl individualisierbare Daten des Einzelnen erfasst und verarbeitet. So hält das Bundesverfassungsgericht sogar fest, dass die Überwachung „oftmals“ mit dem Ziel verbunden sei, gegenüber Zielpersonen Maßnahmen zu treffen, was im Ausland im Austausch mit anderen Staaten geschehe2170. Allein schon deswegen ist auch davon auszugehen, dass die reine Sachaufklärung durchaus in konkretes Handeln gegen Einzelne übergehen kann. In Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung und die Ausnahme in § 5 II 3 G 10 ist ferner zu berücksichtigen, dass gerade auch die gezielte Über2167 So aber Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 171; im Ergebnis auch Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 12. 2168 Hier sei erneut Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 15 f., zitiert. 2169 So schon in BVerfGE 100, 313 (378 ff.); dies gesteht auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 120, unter Berufung auf die Rechtsprechung ein. 2170 BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 149, 249 f., Rn. 165).
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wachung von Telekommunikation ermöglicht wird2171. Dies eröffnet in der Tat eine „eigene Dimension“ in der Überwachung2172. Die Eingriffstiefe wird hierdurch grundlegend erweitert; die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung „rückt näher an die individuelle Telekommunikationsüberwachung heran“ 2173. Insoweit handelt es sich um eine beachtliche Intensitätssteigerung. Bei gezielten Erfassungen macht daher auch das technische Routing einen wesentlich geringeren Unterschied, obschon nie alle Telekommunikation erfasst werden kann. Dies ist im Rahmen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung aber ohnehin nie der Fall und kann deshalb auch keine pauschalen Unterschiede in der Betroffenheitsintensität von Inländern und Ausländern begründen. Dass die Inland-Ausland-Überwachung stärker in die innerstaatliche Rechtsordnung hineinreicht als die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, ist zunächst plausibel. Ebenso leuchtet es ein, dass deutsche Staatsbürger hoheitlichen Maßnahmen deutscher staatlicher Stellen in großem Umfang und häufig ausgesetzt sind. Sie liegen im Regelfall schon aufgrund des inländischen Wohn- und Aufenthaltsortes stärker im Zugriffsbereich der Bundesrepublik als Ausländer im Ausland. Hiermit ist die Eingriffsintensität der strategischen Auslandstelekommunikation bezogen auf diese Gruppe besonders hoch, da jedenfalls mittelbar staatliche Exekutivmaßnahmen aufgrund der nachrichtendienstlichen Überwachung zu besorgen sind. Mit diesen allgemeinen Formeln ist aber noch nicht in den Blick genommen, welche hoheitlichen Maßnahmen jeweils drohen können. In Bezug auf die deutsche Staatsgewalt sind vor allem polizeiliche und strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen zu nennen, die in schärfster Konsequenz, bei der Nachweisbarkeit von Straftaten individualisierbarer Personen, zu Freiheitsstrafen führen können. Es kommen darüber hinaus jedoch auch intensive Sanktionsmöglichkeiten gegen Einzelne im Ausland in Betracht, die potentiell durch deutsche staatliche Stelle ergriffen werden können. Dies können zunächst lediglich mittelbare Folgen sein, die aus außenpolitischen Entscheidungen herrühren, welche die Bundesregierung letztlich aufgrund der durch den Bundesnachrichtendienst beschafften Informationen trifft2174. Darüber hinaus sind jedoch auch Individualmaßnahmen in Form von Einreiseverboten, gezielten Finanz- und Wirtschaftssanktionen, Eintragung auf sogenannten no-fly-Listen und strafrechtliche Verfolgung von Auslandstaten oder solchen nach dem VStGB möglich2175. 2171
Zu den Details der gezielten Erfassung noch unter F. III. 4. d) cc) (2) c). BVerfGE 154, 152 (244, Rn. 152). 2173 BVerfGE 154, 152 (244, Rn. 152); kritisch indes Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 176, der aufgrund des wechselnden Routings der jeweiligen Telekommunikationsverkehre eine Annäherung an die Individualüberwachung verneint; dahingehend auch schon Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 243 ff. 2174 Zu dieser übergeordneten Perspektive möglicher intensiver Eingriffsfolgen im Ausland Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 7. 2175 Siehe zu Beispielen auch erneut Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 7. 2172
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Hierzu bedarf es vor allem in den erstgenannten Fällen nicht einmal eines direkten Zugriffs deutscher Staatsgewalt auf Betroffene. Angesichts möglicher aktiver Cyberabwehrbefugnisse für deutsche Nachrichtendienste, die Bundeswehr oder weitere Stellen des Bundes bestehen in Zukunft gegebenenfalls weitere Zugriffsmöglichkeiten aus der Ferne. Ausländische Staaten können gegenüber ebenfalls durch das Fernmeldegeheimnis geschützten Ausländern im Ausland – und in besonderen Konfliktlagen unter Umständen auch gegen Deutsche – indes noch zu wesentlich drastischeren Folgemaßnahmen greifen, wenn ihnen Daten aus der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung übermittelt werden2176. Als Extrembeispiel seien hier Drohnenangriffe genannt, die aufgrund von durch die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung gewonnen Lagebildern und Daten erfolgen2177. Die Einbindung des Bundesnachrichtendienstes und der strategischen Überwachung in Drohneneinsätze anderer Staaten – in Einzelfällen sogar gegen deutsche Staatsbürger – durch Übermittlung nachrichtendienstlich generierter Metadaten war auch intensiv Gegenstand des NSA-Untersuchungsausschusses2178. Dabei blieb letztlich offen, ob die seinerzeit durch den Bundesnachrichtendienst an amerikanische Stellen übermittelten Mobilfunknummern eine genaue Geolokalisation und somit Zielerfassung durch Kampfdrohnen ermöglichten und inwieweit deutsche Stellen hiervon Kenntnis hatten2179. Freilich sind dies – denkbare, indes schwer verifizierbare – Szenarien, denen rechtlich durch hinreichende materiell-rechtliche Hürden bei Datenübermittlungen und Absicherung einer lediglich rechtsstaatlichen Nutzung von Daten durch Drittstaaten unter Wahrung eines angemessenen Datenschutzniveaus begegnet werden muss2180. Nichtsdestotrotz offenbaren die skizzierten Folgeeingriffe, dass 2176 Dies sieht freilich auch das BVerfG bei Datenübermittlungen an ausländische Staaten („rechtsstaatlich nicht gefestigte Staaten“) als reale Bedrohungslage, wenn es potentielle Unterdrückungen von Oppositionsgruppen, völkerrechtswidrige Tötungen, Folter oder rechtsstaatswidrige Strafverfahren beispielhaft aufzählt, BVerfGE 154, 152 (275, Rn. 237). 2177 Auf diese jedenfalls denkbare Folge geht ebenfalls ein Schwander, Antwort (Fn. 967), der eine typisierte Unterscheidung aufgrund der Staatsangehörigkeit, wie sie das BVerfG insoweit vornimmt, ablehnt. 2178 BT-Drs. 18/12850, S. 1111 ff., 1126 ff., 1145 ff., zu deutschen Staatsangehörigen S. 1150 ff. 2179 BT-Drs. 18/12850, S. 1116 ff. zu den technischen Hintergründen einer Geolokalisation von Mobiltelefonen, S. 1122 ff. zum Kenntnisstand deutscher staatlicher Stellen hinsichtlich der technischen Möglichkeiten, mit Telefonmetadaten Ziele für die Bekämpfung durch Drohnen positionsgenau zu lokalisieren. Ausgelöst wurde die Debatte um die Nutzung von Metadaten zu Zwecken des Drohnenkrieges durch ein Zitat des ehemaligen NSA-Direktors Hayden, der bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion den Satz prägte: „We kill people based on metadata“, siehe hierzu etwa BT-Drs. 18/12850, S. 1116 m. Fn. 6342. 2180 Dies unterstreicht freilich auch das BVerfG mit Verweis auf den Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung und einer einzuholenden „Rechtsstaatlichkeitsvergewisserung“ bei Datentransfers an ausländische öffentliche Stellen, BVerfGE 154, 152 (242, Rn. 149, 249 f., Rn. 165, 273 ff., Rn. 231 ff.).
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intensive Nachteile zu Lasten Einzelner aus den mittels strategischer Auslandstelekommunikationsüberwachung gewonnenen Daten auch im Ausland erwachsen können. Noch nicht in den Blick genommen sind bei einer an der Staatsangehörigkeit ansetzenden Differenzierung der Eingriffsintensität bei gezielten Überwachungen mögliche Folgeeingriffe gegenüber nicht deutschen Staatsangehörigen. Relevante Beispiele sind etwa der permanente Aufenthalt im Inland zu Arbeitszwecken oder ein hiesiger Lebensmittelpunkt2181. Ausländische Staatsbürger mit ständigem Wohnsitz in Deutschland – etwa aus EU-Mitgliedstaaten –, einer Niederlassungserlaubnis oder lediglich einer Duldung im Sinne des § 60a AufenthG sind migrationspolitische Realität in einem weltoffenen Deutschland2182. Diese Personen kommen mit der deutschen Staatsgewalt mindestens genauso, wenn nicht sogar öfter und intensiver, in Berührung, als deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Bundesrepublik; die gilt freilich auch, wenn sie kurz oder längerfristig Deutschland verlassen und dann wiederkehren. Die Beschränkung des Bundesnachrichtendienstes auf informationelle Befugnisse mildert das Eingriffsgewicht im Ergebnis daher nicht signifikant, sondern führt – neben der Tatsache, dass nicht alle Verbindungen erfasst werden können – erst dazu, dass das Eingriffsgewicht der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung nicht von vornherein übermächtig erscheint2183. Die Annahme, die Inland-Ausland-Überwachung reiche intensiver in die nationale Rechtsordnung hinein und deutsche Staatsbürger unterlägen dem Zugriff deutscher staatlicher Stellen in einem besonders intensiven Maße, ist nach alledem offensichtlich zutreffend. Hieraus indes pauschal den Schluss zu ziehen, dass die Eingriffsintensität bei Ausländern im Ausland demgegenüber regelmäßig herabgesetzt sei, erscheint angesichts zahlreicher Einwirkungsmöglichkeiten auch jenseits der deutschen Staatsgrenze und durch potentielle Folgen von Datenübermittlungen an ausländische öffentliche Stellen zu kurz gegriffen; gleiches gilt für Personen mit permanentem Aufenthalt im Inland. Über die konkrete Wertung von möglicherweise verschiedenen Anforderungen an die verfassungskonforme Ausgestaltung einzelner Dimensionen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung in Bezug auf die Inland-Ausland bzw. Ausland-Ausland-Überwachung oder gar qua Staatsangehörigkeit ist abschließend unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden. In Bezug auf die Eingriffsintensität ist insgesamt jedoch festzuhalten, dass diese gegenüber deutschen Staatsbürgern, Inländern sowie Ausländern im Ausland mit Blick auf mögliche Folgeeingriffe insgesamt hoch ist. Eine spezifische nachrichtendienstliche Privilegierung, die eine 2181 Solche will als Inländer bzw. sich im Bundesgebiet aufhaltende Personen i. S. d. § 6 IV BNDG richtigerweise ansehen Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827. 2182 So auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827 m.w. N. 2183 BVerfGE 154, 152 (250, Rn. 166) – dazu vertieft noch unter F. III. 4. d).
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nennenswerte Dämpfung der Eingriffsintensität rechtfertigen würde, kann insoweit nicht ausgemacht werden – sie kompensiert vielmehr ein sonst drohendes Übermaß2184. (2) Übermittlungstatbestände mit weiten beziehungsweise ohne Rechtsgüterkataloge Zur Erfüllung seines primären Auftrages der politischen Information von Entscheidungsträgern ist der Bundesnachrichtendienst selbstredend befugt, erzielte Erkenntnisse, auch unter Einschluss personenbezogener Daten, an diese weitergeben zu können. In diesen Fällen unterbleibt richtigerweise im Regelfall eine Stigmatisierungswirkung, da die Daten unter Verschluss bleiben. Das Gleiche wird man bei einer Übermittlung an andere Nachrichtendienste annehmen können. Unter die gegebenenfalls seitens des Bundesnachrichtendienstes zu übermittelnden Daten fallen dabei aber unter anderem auch solche, die zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zu intensiven Folgeeingriffen verwendet werden können. Datenübermittlungen von Nachrichtendiensten in Richtung der operativ tätigen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden qualifiziert das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Antiterrordatei als „besonders schwerwiegenden Eingriff“ 2185. Diese Wertung gibt bereits eine klare Stoßrichtung vor und lässt insbesondere die Übermittlungsbefugnisse an Strafverfolgungsbehörden zur Bestimmung der Eingriffsintensität relevant werden2186. Aber auch die soeben dargelegten Übermittlungen an ausländische staatliche Stellen können Folgeeingriffe von erheblichem Gewicht und Ausmaß bedingen. Bei Übermittlungen von Erkenntnissen aus der strategischen Fernmeldeaufklärung an Polizei- und Strafverfolgungsbehörden differenziert das G 10 – wie dargelegt – zwischen präventiver und repressiver Verwendungsabsicht2187. Sowohl die Übermittlungsbefugnisse an Polizei- als auch Strafverfolgungsbehörden enthalten teilweise Bagatelldelikte in den Katalogstraftaten, was Übermittlungen in einer großen Anzahl von Fällen und auch bei wenig gravierenden Straftaten er-
2184 Der Begriff sei hier untechnisch, d. h. (noch) nicht im strengen Kontext der Verhältnismäßigkeitsprüfung verwendet. 2185 BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123); so im Ergebnis auch zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung BVerfGE 154, 152 (268 ff., Rn. 219 ff.); für eine besonders hohe Eingriffsintensität bei der Übermittlung von Daten, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, durch Nachrichtendienste streitet auch instruktiv Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 246 ff., 257 f. 2186 Dabei kann über die generelle Schwelle der Datenübermittlung hier freilich noch nicht entschieden werden, da aufgrund des reziproken Verhältnisses zwischen Datenerhebung und Datenübermittlung zunächst die allgemeine Einschreitschwelle zur Erhebung definiert werden muss. 2187 Siehe dazu bereits unter C. III. 2. e).
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möglicht2188. Eine intensive Begrenzung der Übermittlungsbefugnisse auf hochrangige Rechtsgüter stellen sie somit in einigen Fällen gerade nicht dar. Die Übermittlungsbefugnis an ausländische Nachrichtendienste nach § 7a G 10 ist zwar dem Grunde nach restriktiv gefasst, verzichtet jedoch auf eine konkrete Übermittlungsschwelle oder einen ausdifferenzierten Katalog von materiellen Übermittlungsgründen. Letztlich handelt es sich um eine Übermittlung aufgrund einer Erforderlichkeitsklausel in § 7a I 1 Nr. 1 G 10, die klare Beschränkungen von Übermittlungen nicht im Tatbestand etabliert. Ebenfalls weitgefasst sind die Übermittlungsmöglichkeiten an Polizei- und Strafverfolgungsbehörden im Falle der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Die in § 24 III BNDG in Verbindung mit § 20 BVerfSchG statuierte Übermittlungspflicht an die Strafverfolgungsbehörden, bei tatsächlichen Anhaltspunkten dafür, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist, senkt die Übermittlungsschwelle nochmals erheblich herab. Die Staatsschutzdelikte im Sinne des § 20 BVerfSchG umfassen insbesondere mit dem Verweis auf die „sonstigen Staatsschutzdelikte“ zudem auch vergleichsweise harmlose Taten der einfachen bis mittleren Kriminalität bei entsprechender Motivlage des Täters2189. Die weiteren Übermittlungstatbestände des § 24 BNDG verzichten auf namhafte Übermittlungsschwellen und Rechtsgüterkataloge in Gänze und ermöglichen so weitgehende Datentransfers, auch ins Ausland2190. Hinzutritt die Übermittlungsbefugnis von Daten innerhalb einer Kooperation und der sogar automatisierte Austausch von auch unselektierten Metadaten. Eine strenge Begrenzung hinsichtlich der zu schützenden Güter und mithin der Eingriffsintensität wird somit auch bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung mit Blick auf mögliche Folgeeingriffe keinesfalls erreicht. (3) Begrenzung durch Beschränkung auf finished intelligence? Grundsätzlich erscheint es plausibel, dass die Eingriffsintensität nachrichtendienstlicher Überwachung durch die Übermittlung von finished intelligence und ihrer doppelten Rechtmäßigkeitskontrolle durch mehrere beteiligte Akteure gemindert wird. Jedoch verbleibt der spezifische Informationsgehalt des personenbezogenen Datums auch dann in einer nachrichtendienstlichen Meldung, wenn diese als verdichtetes Endprodukt an Empfängerbehörden übermittelt wird2191.
2188 Sehr kritisch hierzu Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 49 ff., mit tabellarischer Auflistung der Katalogstraftaten; siehe insbesondere die ausführliche Studie von Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 422 ff. et passim. 2189 Knapp Bäcker, Verfassungsbeschwerde BNDG (Fn. 1160), S. 89 f.; mit Verweis auf die eingehende Auseinandersetzung bei Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 327 ff., der entsprechende Beispiele präsentiert. 2190 Siehe dazu bereits unter C. IV. 2. f). 2191 Dahingehend auch Siems (Fn. 248), § 7 Rn. 61.
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Selbst wenn eine Identifikation konkreter Personen im Falle objektivierter, rein strategischer Lageeinschätzungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themenlagen durch den Bundesnachrichtendienst bei finished intelligence ausgeschlossen sein sollte, bliebe der Ersteingriff durch den Bruch des Fernmeldegeheimnisses bestehen. Informationen aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung sind zudem bereits immer sofort zu löschen, wenn sie erkannt werden, weswegen insoweit keine besondere Grundrechtsschonung ersichtlich ist. Der Ansatz der finished intelligence wird sich zudem regelmäßig im Bereich der inhaltlichen Aufbereitung von Lageberichten und hiermit assoziierter Daten realisieren, für die automatisierte Übermittlung von Metadatensätzen – insbesondere unselektierten – scheint er wenig einschlägig. b) These: Besonders schwere Grundrechtseingriffe Zusammenfassend ergibt sich ein vielschichtiger Befund der Eingriffsintensität, bei dem sich eine abschließende Einordnung, insbesondere aufgrund des nachrichtendienstlichen Kontextes, komplex gestaltet2192. Die eingriffsintensitätssteigernden Faktoren bei der strategischen Fernmeldeaufklärung sind sowohl die hohe Aussagekraft der Daten, unter Einschluss von Personenbezug und Standortdaten, die zumindest technische – wenngleich nicht explizit vorgesehene – Möglichkeit zur Auswertung in Dateien über viele Ebenen hinweg mit Softwareanwendungen zur Netzwerkerkennung, die sehr hohe Streubreite mit ihrer potentiell einschüchternden Wirkung, die Heimlichkeit der Maßnahme, die insbesondere bei technischer Überwachung durch Nachrichtendienste geeignet ist, ein Gefühl des permanenten Beobachtetseins in der Bevölkerung zu kreieren sowie die Datenübermittlungsmöglichkeiten, welche teilweise nicht hinreichend beschränkt sind. Die subjektive wie objektive Dimension des Fernmeldegeheimnisses ist somit intensiv berührt. Bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung treten zu den vorgenannten Faktoren die gesetzlich ausdrücklich vorgesehene sechsmonatige Metadatenspeicherung mit einhergehender Auswertung, die regelmäßig vorgesehene Möglichkeit zur gezielten Erfassung einzelner Telekommunikationsverkehre und eine nochmals erheblich gesteigerte Streubreite sowie kaum namhafte Übermittlungsbegrenzungen und die Möglichkeiten zur Kooperation mit ausländischen Diens2192 Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 351, nimmt indes allgemein an, dass die Bestimmung der Eingriffsintensität in der Regel kaum Schwierigkeiten bereite; siehe hingegen auch die breite Erörterung der Eingriffsintensität in BVerfGE 115, 320 (347 ff.), wo das Gericht das Gewicht der präventivpolizeilichen Rasterfahndung abmisst. Auch in der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung geht das Gericht dezidiert auf die Eingriffsintensität der strategischen Überwachung ein, prüft diese jedoch abstrakt und losgelöst von den Normen des BNDG, BVerfGE 154, 152 (241 ff., Rn. 145 ff.). Inhaltlich geht der Erste Senat aber offensichtlich nicht davon aus, dass die Eingriffsintensität der Maßnahme auf der Hand liegt.
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ten hinzu. Dabei wird die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung indes nicht stärker normativ eingehegt, sondern ist im Gegenteil insgesamt erheblich geringeren Restriktionen als das G 10 Regime – welches seinerseits an Begrenzungsschwächen leidet – unterworfen. Der Ausnahmefall der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus geht noch weiter und eröffnet eine fast unbeschränkte Streubreite. Als eingriffsmindernd steht demgegenüber grundsätzlich die organisationsrechtliche Stellung des Bundesnachrichtendienstes in der Sicherheitsverfassung, gekennzeichnet durch den Mangel an Exekutivbefugnissen sowie die grundsätzlich überindividuell ausgestaltete Sachaufklärung, wobei insoweit eine Intensitätsbegrenzung von der tatsächlichen Anwendung der Überwachungsinstrumente abhängt. Dabei fällt jedoch ins Gewicht, dass jedenfalls mittelbar teils erhebliche Folgeeingriffe aufgrund der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung zu besorgen sind. Eine starre Differenzierung zwischen deutschen Staatsbürgern, Inländern und Ausländern im Ausland hinsichtlich des Gewichts der Grundrechtseinschränkung erscheint jedenfalls als typisierende Betrachtung zu pauschal gefasst. Insgesamt folgt aus dem spezifischen Aufklärungsauftrag des Bundesnachrichtendienstes und seiner Stellung im sicherheitsrechtlichen Koordinatensystem keine signifikante Verringerung der Eingriffsintensität, die die vorgenannten Wertungen modifizieren würde. Allein schon wegen der vielen erschwerenden Parameter, die sich aufgrund der Aufzählung des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zur Kennzeichenerfassung I2193 und in der Wertung der BNDG-Entscheidung2194 als kumulative Faktoren begreifen lassen, handelt es sich bei der strategischen und der Ausland-Ausland-Aufklärung um besonders schwere Grundrechtseingriffe2195. Das 2193
BVerfGE 120, 378 (401 f.). BVerfGE 154, 152 (241 ff., Rn. 145 ff.). 2195 Siehe zu einer zusammenfassenden Einschätzung der Eingriffsintensität auch Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 138 ff., 151, der ebenfalls von einer hohen Eingriffsintensität der strategischen Aufklärung ausgeht; gleiches Ergebnis in ders., Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 29 ff.; siehe zudem ders., Verfassungsbeschwerde BNDG (Fn. 1160), S. 72 ff.; bezüglich der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 123, spricht in Bezug auf die strategische Fernmeldeaufklärung davon, dass diese mittlerweile aufgrund des technischen Fortschritts als eine der Individualkontrolle „nahe kommende Aufklärungsmethode“ angesehen werden müsse. Auch die Befürworter einer grundsätzlichen Sondereinstufung der Eingriffsintensität nachrichtendienstlicher Handlungen gestehen durchaus ein, dass nachrichtendienstliche Informationseingriffe erhebliche Intensität aufweisen können, so etwa Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen (Fn. 189), S. 171; zur strategischen Fernmeldeaufklärung vorsichtig wohl auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 175 f.; a. A. Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 405 f., die durch eine „weitere Selektion“ der Daten nur ein „geringfügigen Grundrechtseingriff“ jedenfalls in der Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung erblicken wollen; ebenfalls von einem Eingriff „geringerer Intensität“ jedenfalls auf Datenerhebungsebene ausgehend Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 271; einen Eingriff von „einigem Gewicht“ sowohl bei der strategischen als auch bei 2194
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Bundesverfassungsgericht gelangt nunmehr ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es sich bei der „strategischen Telekommunikationsüberwachung um ein Instrument von besonders schwerem Eingriffsgewicht handelt“ 2196. Im Ergebnis verdient die Wertung der Eingriffsintensität durch das Bundesverfassungsgericht Zustimmung. Sie spiegelt die heutige tatsächliche Dimension der Überwachung in Zeiten der Digitalisierung und Algorithmierung korrekt wider. Obschon das Bundesverfassungsgericht sich im BNDG-Urteil hierzu nicht hätte äußern müssen, grenzt der Erste Senat – im Bestreben, einheitliche Maßstäbe zu etablieren – die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung von der „Inland-Ausland-Überwachung“, ergo der strategischen Fernmeldeaufklärung, ab2197. Letztere habe ein größeres Eingriffsgewicht als die Ausland-Ausland-Überwachung. Diese Aussage überrascht zunächst angesichts der Alleinstellungsmerkmale der bevorratenden Speicherung von Metadaten bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, ihrer im Vergleich zur Inland-Ausland-Überwachung nochmals gesteigerten Streubreite sowie der Kooperation mit Partnerdiensten. Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts entspricht freilich der Linie des Ersten Senats, den zentralen Gradmesser der Eingriffsintensität an der Zugriffsmöglichkeit deutscher staatlicher Stellen festzumachen. Angesichts tatsächlicher möglicher Folgeeingriffe, die sich letztlich auch nicht immer hinreichend sicher durch normative Begrenzungen abschirmen lassen, kann dem – wie dargelegt – nicht pauschal gefolgt werden. c) Befundsicherung durch Rückkoppelung an andere höchstinvasive Informationseingriffe Angesichts der komplexen Gesamtwertung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung und der nicht letztverbindlich gesicherten Terminologie der Schweregerade eines Grundrechtseingriffes erscheint es zielführend, die Überwachung nicht nur als besonders schwere Grundrechtseingriffe auszuflaggen, sondern diese inhaltlich mit anderen Informationseingriffen in Bezug zu setzen2198. Nur dann wird die Eingriffsintensität erst richtig deutlich und belastbar der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nimmt an Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 312 f., 344. 2196 Siehe hierzu die Zusammenfassung im Obersatz in BVerfGE 154, 152 (241, Rn. 146); affirmativ Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411 – „angesichts der Rspr. heute unbestritten“. 2197 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172). 2198 Zu einer allgemeinen Gliederung der Eingriffsintensität nachrichtendienstlicher Befugnisse nach einem Vierstufensystem instruktiv der Vorschlag von Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 138 ff., ausgehend von den Befugnissen im BVerfSchG. Die strategische Aufklärung durch den Massendatenabgleich mit Telekommunikationsdaten verortet er auf der dritten Stufe seines Modells als Eingriff mit hoher Intensität, jedoch unter Maßnahmen, die tief in die Privatsphäre eindringen. Die Wohnraumüberwachung und Online-Durchsuchung wären hiernach höchstinvasive Grundrechtseingriffe der vierten Stufe.
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abgesichert2199. Dies gilt insbesondere aufgrund der besonderen Ausgestaltung des Überwachungsinstruments, welches im sonstigen Sicherheitsrecht keine Entsprechung findet. Als qualitativ besonders tief in die Privatsphäre eindringende Befugnisse hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht die Wohnraumüberwachung und die Online-Durchsuchung eingeordnet, sie also gleichsam als schärfste Schwerter des Rechtsstaates bei der heimlichen Informationsgewinnung gekennzeichnet2200. Ein direkter Vergleich – was eine spätere Referenz in der Sache nicht ausschließt2201 – mit diesen zweifelsohne besonders schweren Grundrechtseingriffen ist indes untunlich, da diese gerade nicht mit großer Streubreite wirken, sondern als konkretisierte Individualmaßnahmen ausgestaltet sind2202. Naheliegend ist dagegen die Bezugnahme auf ebenfalls anlasslose Instrumente mit sehr großer Streubreite, namentlich die präventivpolizeiliche Rasterfahndung und die Vorratsdatenspeicherung, deren Intensität aus ihrer Breitenwirkung herrührt2203. In seiner Entscheidung zur Rasterfahndung zog das Bundesverfassungsgericht selbst den Vergleich zur strategischen Fernmeldeaufklärung, um die Unterschiede zur Rasterfahndung aus seiner Sicht deutlich zu machen und im Endeffekt zu begründen, warum die Rasterfahndung an hohe materiell-rechtliche Hürden – in Gestalt des Tatbestandsmerkmals der konkreten Gefahr im hergebrachten, polizeirechtlichen Sinn – gebunden sei und nur unter diesen zum Einsatz kommen
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Eine solche nimmt nicht vor Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16). BVerfGE 141, 220 (269, Rn. 105); zur Eingriffsintensität dieser beiden Mittel auch stellvertretend T. Petri, Informationsverarbeitung im Polizei- und Strafverfahrensrecht, in: Matthias Bäcker/Erhard Denninger/Kurt Graulich (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, Kap. G. Rn. 622 (in der aktuellen Auflage fortgefallen); allgemein zur Intensität tief in die Privatsphäre dringender Mittel auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 176. 2201 Siehe im Rahmen der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Datenübermittlung F. III. 5. a) cc). 2202 Auch BVerfGE 141, 220 (268, Rn. 101), hebt diesen Aspekt gleich zu Beginn der Begründetheitsprüfung hervor; Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 148, geht davon aus, dass diese höchstinvasiven Maßnahmen der vierten Stufe seines Gliederungsvorschlages schon von vornherein nicht den Nachrichtendiensten zur Verfügung gestellt werden sollten, da die Verfassung solch intensive Grundrechtseingriffe an das Ziel der Gefahrenabwehr knüpfe, wozu die Nachrichtendienste schon funktional nicht berufen seien. 2203 Die automatisierte Kennzeichenerfassung hat – nach der Rechtsprechungsänderung des BVerfG und der hiermit einhergehenden Streubreitenerweiterung – nunmehr auch „erhebliches Gewicht“, BVerfGE 150, 244 (283, Rn. 96). Der Senat stellt aber richtigerweise heraus, dass sich der begrenzte Aussagegehalt der im öffentlichen Verkehrsraum erhobenen, für jedermann sichtbaren Kennzeichen, die nur eine mittelbare Identifizierung ermöglichen, nicht auf persönliche Merkmale oder Eigenschaften von Personen beziehe (Rn. 97). Deswegen handelt es sich hierbei nicht um einen besonders schweren Grundrechtseingriff, weswegen ein Vergleich mit der strategischen und der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung zur Verifizierung der aufgestellten These nicht zielführend erscheint. Die automatisierte Kennzeichenerfassung wird trotz ihrer erheblichen Streubreite deshalb hier nicht als Maßstab berücksichtigt. 2200
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könne2204. Anders als die strategische Fernmeldeaufklärung sei die präventivpolizeiliche Rasterfahndung von vornherein darauf angelegt, Datenbestände zusammenzuführen, um gegen potentiell Verdächtige weitere personenbezogene Maßnahmen einzuleiten, wohingegen bei der strategischen Fernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst allenfalls Zufallsfunde als Zweckänderungen unter „engsten Voraussetzungen an die Verhältnismäßigkeit“ weitergenutzt werden könnten2205. Angesichts der umfangreichen Kataloge derjenigen Straftaten, die eine Übermittlung von Zufallsfunden an die Polizei und Strafverfolgungsbehörden gestatten, erscheint diese Aussage schon fraglich – von „engsten“ Voraussetzungen kann jedenfalls bei Einbeziehung auch von Bagatelldelikten nicht die Rede sein2206. Zwar zielt die strategische Fernmeldeaufklärung schon aufgrund des Trennungsgebots in der Tat nicht direkt auf die Identifikation von Verdächtigen, um gegen diese Maßnahmen einzuleiten; dies ist jedoch – wie dargelegt – auch nicht ausgeschlossen. Dies gilt erst recht für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung mit ihrer Metadatenspeicherung und Auswertung. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht selbst anerkannt, dass bei der Rasterfahndung die betroffenen Informationen „regelmäßig eine geringere Persönlichkeitsrelevanz haben [. . .], als sie regelmäßig bei Eingriffen in den Schutzbereich aus Art. 10 Abs. 1 [. . .] GG gegeben ist“, da hier keine besonderen Vertraulichkeitserwartungen verletzt würden; dennoch habe sie „erhebliches Gewicht“ 2207. Allerdings waren bei der durch das Bundesverfassungsgericht zu beurteilenden Rasterfahndung die Datensätze, die von öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen angefordert werden konnten, nicht inhaltlich oder quantitativ begrenzt2208. 2204 BVerfGE 115, 320 (359 ff.); instruktiv Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 367 m. Fn. 635; zur erheblichen Eingriffsintensität der Rasterfahndung m.w. N. aus der Literatur M. W. Müller/T. Schwabenbauer Informationsverarbeitung im Polizei- und Strafverfahrensrecht, in: Bäcker/Denninger/Graulich, Handbuch Polizeirecht (Fn. 96), Kap. G. Rn. 953 m. Fn. 2225; die Kritik an der Rasterfahndung fasst Ruthig (Fn. 252), § 48 BKAG Rn. 1, zusammen. 2205 BVerfGE 115, 320 (359 f.); allgemein zu Zufallsfunden Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 41, 393; König, Trennung (Fn. 50), S. 272; zur strafprozessualen Provenienz des Begriffes des Zufallsfundes und weiteren Deutungsansätzen Dose, Übermittlung (Fn. 233), S. 26 ff. m.w. N. 2206 Auf diesen Widerspruch zwischen der Aussage des BVerfG in der Entscheidung zur Rasterfahndung und der tatsächlichen Ausgestaltung der strategischen Fernmeldeaufklärung verweist auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 245 m. Fn. 377. 2207 BVerfGE 115, 320 (347 f.); Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 216 f., geht hingegen davon aus, dass die Frage, welches Grundrecht betroffen sei, eine untergeordnete Rolle spiele, da in vielen Lebenssituationen Vertraulichkeitserwartungen bestünden, was die „Bedeutung der jeweiligen Schutzbereichsvorgaben“ mindere. 2208 BVerfGE 115, 320 (349 ff.). Auf der hier interessierenden Bundesebene hat der Gesetzgeber beispielsweise in § 48 I 2, II BKAG mittlerweile Beschränkungen hinsichtlich der zur übermittelnden Daten vorgesehen und untersagt ausdrücklich die Einbeziehung der Datenbestände der Nachrichtendienste in eine präventivpolizeiliche Raster-
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Dieser extremen inhaltlichen Weite wird bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung auch durch die Verletzung der Vertraulichkeitserwartung an die Fernkommunikation entsprochen. Ferner lassen sich heutzutage aus Internetdaten, wie besuchten Websites und Suchmaschinenanfragen – die nach hiesiger Ansicht Art. 10 I GG unterfallen – ebenfalls sehr differenzierte Rückschlüsse hinsichtlich persönlicher Interessen und Vorlieben ziehen. Diese verdichteten Erkenntnisse über die Dimension und Potenz der strategischen Fernmeldeaufklärung existierten zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Rasterfahndung noch nicht, weil sie technisch noch nicht vollumfänglich abzusehen waren. Die quantitativen Begrenzungen der Datenerfassung sind ferner auch bei der strategischen Fernmeldeaufklärung lückenhaft bzw. bei der Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung von vornherein nicht implementiert. Dies spricht ebenso dafür, die gesamte strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung doch mit der Rasterfahndung hinsichtlich ihrer jeweiligen Eingriffsintensität zu vergleichen. Die Bezugnahme auf die strategische Fernmeldeaufklärung in der Entscheidung zur Rasterfahndung ist hierfür insoweit indirekter Beleg, als dass der Vergleich seitens des Senats sichtlich bemüht wirkt, Unterschiede herauszuarbeiten, um zwei sehr ähnliche Informationseingriffe doch irgendwie voneinander zu differenzieren2209. Die Vorratsdatenspeicherung ist hinsichtlich der besonderen Sensibilität von Telekommunikationsmetadaten mit der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung vergleichbar2210, hier wurde schließlich die Möglichkeit der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen instruktiv seitens des Gerichts herausgearbeitet2211. Freilich kann der Bundesnachrichtendienst schon aus Kapazitätsgründen immer nur einen Teil der Telekommunikation erfassen und keine „echte“ Vorratsdatenspeicherung im klassischen Sinn etablieren, wie sie durch eine Speicherpflicht der Verbindungsdaten bei den Telekommunikationsdienstleistern entsteht, selbst wenn er Metadaten – wie im BNDG vorgesehen – auf Vorrat sichert. Die Streubreite ist somit nicht direkt vergleichbar2212. Allerdings erfasst der Bunfahndung des BKA aus Gründen des Trennungsgebotes; zu den erfassten Datenbeständen und dem Inhalt des Auskunftsersuchens des BKAG Ruthig (Fn. 252), § 48 BKAG Rn. 15 ff. 2209 Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 367 m. Fn. 635, hält es für „nicht recht ersichtlich“, warum der Senat überhaupt den Vergleich zwischen präventivpolizeilicher und nachrichtendienstlicher Vorgehensweise gesucht habe. 2210 A. A. wohl Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 14, der in der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung einen Sonderfall sieht, der keine allgemeinen Rückschlüsse auf heimliche nachrichtendienstliche Maßnahmen erlaube. 2211 BVerfGE 125, 260 (319). 2212 BVerfGE 154, 152 (310, Rn. 326); eine „strukturelle Ähnlichkeit“ der Streubreite von Vorratsdatenspeicherung und selbst der strategischen Fernmeldeaufklärung nach G 10 sieht hingegen Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 368. Zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung konnte der Beitrag, mangels gesetzlicher Grundlage, seinerzeit freilich noch keine Aussage treffen.
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desnachrichtendienst bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung auch Inhaltsdaten, die bei der Vorratsdatenspeicherung von vornherein ausgenommen sind2213. Dies verschärft die Eingriffsintensität im Vergleich. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem der Tatsache, dass die Telekommunikationsmetadaten bei der seinerzeit zu entscheidenden Spielart der Vorratsdatenspeicherung bei den privaten Anbietern verblieben und gerade nicht durch den Staat selbst bevorratet wurden, erhebliches Gewicht beigemessen2214. Der Bundesnachrichtendienst speichert die Metadaten im Bereich der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung indes selbst2215; bei der Datei VERAS erfolgte dies jedenfalls bis zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auch im Rahmen der strategischen Fernmeldeaufklärung. Die Behörden durften bei der „echten“ Vorratsdatenspeicherung die extern gespeicherten Daten im Ergebnis erst in einem zweiten Schritt und dann anlassbezogen abrufen und nutzen2216. Diese verfahrensrechtliche Sicherung durch zwei Arbeitsschritte – Speicherung bei Privaten und anschließender, fallbezogener Abruf durch den Staat – entfällt bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, und damit auch die hierdurch bedingte Dämpfung der Eingriffsintensität. Deshalb erscheint auch bezüglich der Vorratsdatenspeicherung ein Vergleich insbesondere mit der Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung legitim. Bei der strategischen Fernmeldeaufklärung trägt dieser Vergleich bisher nur bedingt, da hier die Metadatenspeicherung (noch nicht) implementiert ist, gleichwohl aber bereits contra legem praktiziert wurde2217. Die Rückkopplung an besonders intensive Grundrechtseingriffe mit großer Streubreite zeigt jedoch insgesamt, dass die Einstufung der gesamten strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung als besonders schwere Grundrechtseingriffe die Dimension dieses nachrichtendienstlichen Mittels belastbar widerspiegelt. Es handelt sich mithin um Eingriffe auf der höchsten Stufe der sicherheitsrechtlichen Befugnispyramide.
2213 BVerfGE 125, 260 (321); auf diesen wichtigen Unterschied weist auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 368, hin. 2214 BVerfGE 125, 260 (321 f.). 2215 Kritisch deshalb zu diesem Punkt auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 201, der hierin einen signifikanten Unterschied ausmacht. 2216 Hierauf legt BVerfGE 125, 260 (321) unverkennbar besonderen Wert; zur wesentlichen Unterscheidung zwischen Speicherung und Abruf der Daten auch erneut Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 368. 2217 Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 368, bezweifelt hingegen auch, ob die strategische Fernmeldeaufklärung mit den in der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung aufgestellten Kriterien zu vereinbaren gewesen wäre, da die beiden Befugnisse hinsichtlich ihrer Streubreite, der Anlasslosigkeit der Maßnahme sowie dem Mangel von Einschreitschwellen vergleichbar seien. Zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung konnte der Beitrag seinerzeit freilich noch keine Stellung beziehen.
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III. Rechtfertigungsmöglichkeiten und Grenzen strategischer Auslandstelekommunikationsüberwachung unter dem Grundgesetz In Kenntnis der Dimension und der besonderen Schwere des Grundrechtseingriffes der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung müssen nunmehr noch die Grenzen dieses besonderen nachrichtendienstlichen Mittels ausgelotet werden. Dabei ist verstärkt die potentielle Differenzierung der grundrechtlichen Schutzintensität zwischen Deutschen, Inländern und Ausländern in den Blick zu nehmen und situativ, nicht bloß rein abstrakt, zu bewerten. Zunächst sind die formellen Sicherungen durch die kompetenziellen Begrenzungen des Grundgesetzes – insbesondere im Lichte und Rückgriff auf die Dimensionen des Trennungsgebots – sowie das Zitiergebot zu beleuchten (1. und 2.). Dann ist zu hinterfragen, inwieweit der Gesetzesvorbehalt seine Sicherungsfunktion auch im Ausland entfaltet und welche Anforderungen das Gebot der Normenklarheit und Bestimmtheit an die verfassungskonforme Ausgestaltung von klandestin wirkenden Nachrichtendiensten überhaupt stellt (3.). Herzstück ist freilich die Beleuchtung der Verhältnismäßigkeitsanforderungen – in Sonderheit der Angemessenheit – an die Datenerhebungsbefugnisse der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung (4.) und deren wechselseitige rechtsstaatliche Einhegungsfunktion durch Übermittlungsrestriktionen bei Datentransfers an die Bundesregierung sowie andere in- und ausländische (operativ tätige) Stellen (5.). Abschließend soll ein kursorischer Ausblick auf die nunmehr notwendig gewordenen grundlegenden Neuordnung der objektiven Kontrolle der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung unternommen werden (6.). Ein Resümee schließt dieses zentrale Kapitel ab (7.). 1. Kompetenzrechtliche Beschränkung auf Gefahren der äußeren Sicherheit als Ausdruck eines auch föderalen Trennungsgebots Der Bundesnachrichtendienst ist von seiner Konzeption und seinem Aufklärungsauftrag als klassischer Auslandsnachrichtendienst, nicht aber als Verfassungsschutzbehörde im engeren Sinn mit Auslandsbezug ausgestaltet. Nach hiesiger Auslegung des verfassungsrechtlich verankerten funktionalen Trennungsgebotes zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten dürfen den Nachrichtendiensten keine genuinen Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsaufgaben übertragen werden; Überschneidungen im Bereich des grundlegenden Staats- und Verfassungsschutzes sind hingegen mit der Sicherheitsarchitektur des Grundgesetzes vereinbar2218. Die Unterscheidung von Bundes-Auslandsaufklärung und traditionell landeshoheitlicher Gefahrenabwehr und Strafverfolgung ist darüber hinaus aber auch in Form einer föderalistischen Ausprägung, als Teil des 2218
Siehe B. II. 4. b).
III. Rechtfertigungsmöglichkeiten und Grenzen
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Trennungsgebotes, in der Sicherheitsarchitektur verankert2219. Die allgemeine Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes stützt sich auf Art. 73 I Nr. 1 GG2220 – diese Kompetenzgrundlage wird auch für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ins Feld geführt2221. Die Ausweitung der Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes zur strategischen Fernmeldeaufklärung auch auf Gefahrenlagen mit Bezug zur organisierten Kriminalität durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 ist bekanntlich nicht nur vor dem Hintergrund des Trennungsgebots streng gerügt, sondern auch für kompetenzrechtlich unzulässig erachtet worden2222. Neben der rein funktionalen Unterscheidung zwischen den Nachrichtendiensten und Gefahrenabwehrund Strafverfolgungsbehörden ist mithin auch die Kompetenzordnung des Grundgesetzes als zusätzlicher Sicherungsfaktor entscheidend, wobei die Übergänge zwischen den beiden Dimensionen freilich fließend sind. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass auch das Bundesverfassungsgericht die Abgrenzung von polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und nachrichtendienstlicher Auslandsaufklärung prüfungstechnisch auf Kompetenzebene verortet2223. Diesen Gedanken aus seinem Urteil von 1999 präzisiert das Bundesverfassungsgericht nunmehr dahingehend, dass die grundlegende Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Ländern durch den Rückgriff auf die auswärtigen Angelegenheiten im Sinne des Art. 73 I Nr. 1 GG nicht unterlaufen werden dürfe, weswegen nicht alle Tatbestände mit Auslandsbezug hierunter gefasst werden könnten2224. Diese Bundeskompetenz, so das Bundesverfassungsgericht, sei „für das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten oder zwischenstaatlichen Einrichtungen, insbesondere für die Gestaltung der Außenpolitik“ einschlägig2225. Im Einklang mit der damaligen Entscheidung grenzt der Erste Senat die Bundeskompetenz zur Auslandsaufklärung insbesondere von solchen ab, die die Bekämpfung des internationalen Terrorismus oder die Errichtung des Bundeskrimi2219 Allgemein zur grundrechtssichernden Bedeutung der föderalen Kompetenzverteilung und deren, nach seiner Sicht, zu geringen Würdigung in Rechtsprechung und Literatur auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 276 ff., unter Bezugnahme auf die grundlegende Arbeit von Gärditz, Strafprozeß (Fn. 63), S. 1 ff.; siehe zur zusätzlich föderalen Dimension des Trennungsgebotes, neben seiner funktionalen Ausprägung, instruktiv auch Paeffgen/ders., G 10-Urteil (Fn. 69), S. 68 ff. 2220 B. III. 3. 2221 BVerfGE 154, 152 (232 ff., Rn. 122 ff.); BT-Drs. 18/9041, S. 19. 2222 Siehe dazu die Darstellung bei F. III. c), insb. Fn. 582. 2223 BVerfGE 100, 313 (368 ff.); in der Sache hält das BVerfG hieran auch fest, siehe BVerfGE 154, 152 (232 ff., Rn. 123 ff.). Freilich lässt sich das Bundesverfassungsgericht auch in der neuesten Entscheidung nicht zu einer Aussage hinsichtlich des Trennungsgebots an sich hinreißen. 2224 BVerfGE 154, 152 (233, Rn.126); von einer Weiterentwicklung der Rechtsprechung spricht auch Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 410 f. 2225 BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 125) unter Verweis auf die ähnliche Bestimmung in BVerfGE 100, 313 (368 f.).
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nalamtes sowie die internationale Verbrechensbekämpfung zum Gegenstand haben, sprich Art. 73 I Nr. 9a und Nr. 10 GG2226. Der Senat stellt überdies noch einmal klar, dass das Gefahrenabwehrrecht in die Zuständigkeit der Länder falle2227. Der Bund könne deshalb den Bundesnachrichtendienst nicht mit der Gewährleistung der inneren Sicherheit betrauen; dem Dienst könnten nur Aufgaben übertragen werden, „die eine außen- und sicherheitspolitische Bedeutung haben und damit eine internationale Dimension aufweisen“ 2228. Das Bundesverfassungsgericht zitiert dazu erneut die Aussage aus seinem dritten Abhörurteil, dass dem Bundesnachrichtendienst nicht solche Befugnisse eingeräumt werden könnten, die auf „Verhütung, Verhinderung und Verfolgung von Straftaten als solche gerichtet“ seien2229. 1999 resümierte das Bundesverfassungsgericht noch, dass die Kompetenz nicht lediglich auf Vorgänge im Ausland beschränkt sei, deren Urheber Völkerrechtssubjekte seien2230. Diese müssten aber in einen „Regelungs- und Verwendungszusammenhang eingebettet sein, der auf die Auslandsaufklärung bezogen ist“ 2231. Daran hält der Erste Senat auch fest, er konzentriert die strategische Aufklärung jedoch nicht ausschließlich auf die „primäre Aufgabe“ der Information der Bundesregierung über außen- und sicherheitspolitische Entwicklungen, sondern sieht auch die „Früherkennung“ sonstiger Gefahren aus dem Ausland mit hinreichender „internationaler Dimension“ als von der Kompetenznorm des Art. 73 I Nr. 1 GG umfasst2232. Gleichwohl müsse die Auslandsaufklärung in ihrem „Gesamtprofil“ vom Informationsauftrag an die Bundesregierung geprägt bleiben2233. Dies ist und bleibt daher die Hauptaufgabe des Dienstes. Strikt betont der Erste Senat dann aber noch einmal, dass die Kompe2226 BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 126, 235 f., Rn. 132 f.), lässt in einem obiter dictum explizit die Frage offen, ob Art. 73 I Nr. 10 GG dem Bund die Befugnis zur internationalen Verbrechensbekämpfung insgesamt oder nur in Bezug auf die Befugnisse des BKA erteilt; siehe zu dieser Frage eingehend Bäcker, Kompetenzordnung (Fn. 310), S. 847 f. Für die hier interessierende strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung kann die Frage mit dem BVerfG indes dahingestellt bleiben. 2227 BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 126); so auch schon BVerfGE 100, 313 (369). 2228 BVerfGE 156, 11 (42 f., Rn. 80); 154, 152 (233, Rn. 127); tendenziell weitergehend Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 151, der auch eine rein inländische Überwachung unter Berufung auf Art. 73 I Nr. 1 GG für kompetenzkonform hält, solange diese Erkenntnisse über das Ausland verspreche. 2229 BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 127); grundlegend BVerfGE 100, 313 (370). 2230 BVerfGE 100, 313 (369). 2231 BVerfGE 100, 313 (369). 2232 BVerfGE 156, 11 (42 f., Rn. 80) unter Bezugnahme auf die zentrale BVerfGE 154, 152 (234, Rn. 128), welche als Beispiele für solche Gefahrenlagen „machtvoll agierende Netzwerke der organisierten Kriminalität“, „von außen gesteuerte Cyberangriffe auf wichtige Infrastruktur“ oder „Terrorakte, die sich als Ausdruck international verflochtener Konfliktlagen darstellen“ nennt; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 175; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828. 2233 Eindringlich wie richtig BVerfGE 154, 152 (234, Rn. 128). Das Gericht bleibt somit jedenfalls im Grundsatz eben doch bei seiner Linie aus der ATDG I-Entscheidung; a. A. Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 175.
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tenzen des Bundesnachrichtendienstes nicht pauschal auf Auslandstaten und solche mit Beiträgen und Ursachen im Ausland erstreckt werden könnten2234. Hier wirkt die Begrenzung letztendlich resoluter als noch im dritten Abhörurteil. Mit dem Gericht wird jedoch weiterhin davon auszugehen sein, dass auch Gefahrenlagen mit inhaltlichem Bezug zur organisierten Kriminalität bzw. strafrechtlich relevante Verhaltensweisen mit triftigem Auslandsbezug zur Information politischer Entscheidungsträger – der vordringlichsten Kernaufgabe des Bundesnachrichtendienstes – aufgrund des Kompetenztitels aus Art. 73 I Nr. 1 Var. 1 GG aufgeklärt werden können2235. Wenn das Ziel außenpolitischer Information sowie ein spezifischer sachlicher Auslandszusammenhang gegeben sind – dann, aber auch nur dann – ist die technische Auslandsaufklärung auch bezüglich nicht von fremden Staaten herrührender Bedrohungslagen genuin krimineller Provenienz kompetenzgemäß2236. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht eine klare Grenze gezogen. Im Ergebnis kann dem Bundesnachrichtendienst de constitutione lata nicht pauschal technische Aufklärung auch für Zwecke der inneren Sicherheit unter Rückgriff auf Art. 73 I Nr. 1 GG oder einen anderen ausschließlichen Bundeskompetenztitel übertragen werden. Wollte man dies rechtspolitisch erreichen, wäre eine tektonische Verschiebung in der Sicherheitsarchitektur des Grundgesetzes notwendig. Insbesondere müsste der Bundesnachrichtendienst in eine Sicherheitsbehörde mit Verfassungsschutzaufgaben transformiert werden, etwa indem Art. 73 I Nr. 10 GG ergänzt würde2237 oder man schon von vornherein eine solche Ausrichtung des Dienstes – unter Verschleifung der Aufgabenbereiche von Bundesnachrichtendienst und Bundesverfassungsschutz – durch dahingehende Auslegung unterstellt2238. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse dürfen im Anschluss ferner, ebenfalls auf Grundlage eines Bundeskompetenztitels, an inländische öffentliche Stellen übermittelt werden. Bei den zu übermittelnden Daten kann es sich aber nur um nachrichtendienstlichen Beifang oder Zufallsfunde handeln, die im Rahmen der eigentlichen Aufklärung der außenpolitischen Gefahrenfelder erzielt werden2239. Eine Steuerung von Selektoren, die schon mit dem anfänglichen Ziel einer Erfas2234
BVerfGE 154, 152 (234, Rn. 128). BVerfGE 100, 313 (370 ff.); Zustimmung auch bei Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 284 f. 2236 Die kompetenzrechtlich entscheidende Beschränkungsfunktion in Form des Zielkriteriums politischer Information der Bundesregierung in Sachverhalten mit Auslandskonnex betont auch noch einmal Bäcker, Kompetenzordnung (Fn. 310), S. 845 f.; so auch BVerfGE 154, 152 (234, Rn. 128), mit der Nennung der organisierten Kriminalität; allgemein zur Terrorismusbekämpfung auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 160 f. 2237 So der Appell bei Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 22 m. Fn. 208. 2238 Siehe zum Ganzen schon B. III. 3. 2239 Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 41, 393; König, Trennung (Fn. 50), S. 272. 2235
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sung von Fernmeldeverkehren für die Übermittlung von personenbezogenen Daten an die präventive Polizei oder die Strafverfolgungsbehörden eingesetzt würde, wäre schon mit dem föderalen Trennungsgebot unvereinbar, da in diesem Fall die speziellen nachrichtendienstlichen Fähigkeiten für Strafverfolgungszwecke genutzt würden; dies wäre mangels primärem außenpolitischen Informationsziel schlechterdings kompetenzwidrig2240. Die föderale Dimension wird man umso mehr nach den vorgenannten Präzisierungen des Ersten Senats annehmen dürfen. Zufall muss Zufall bleiben und darf nicht Ziel oder bloß Camouflage einer eigentlich zielgerichteten Ermittlung sein. Bezüglich der Übermittlung von Zufallsfunden erscheint es überdies überzeugender, die Übermittlungskompetenz, jedenfalls in Bezug auf innerstaatliche Informationsempfänger jenseits der klassischen Auftraggeber in der Bundesregierung, kompetenzrechtlich zu separieren und nicht bei den auswärtigen Angelegenheiten im Sinne des Art. 73 I Nr. 1 Var. 1 GG zu verorten, sondern mit dem Schrifttum eine Kompetenz aus der Natur der Sache anzunehmen2241. Die grundsätzliche Kompetenz des Bundes zur Datenübermittlung in diesem Fall wird man schon deshalb bejahen können, da die Länder diese für den Bundesnachrichtendienst nicht regeln können2242. Der rein innerstaatliche Datentransfer lässt sich aber schon dem Wortlaut nach kaum unter den Kompetenztitel der „auswärtigen Angelegenheiten“ subsumieren. Die gelingt allenfalls noch bei den Übermittlungsbefugnissen an ausländische öffentliche Stellen. Insgesamt erscheint es dogmatisch vorzugswürdig, die Erhebungsund Übermittlungsbefugnisse auf unterschiedliche Bundeskompetenzen aufzuteilen. Das Bundesverfassungsgericht nimmt hingegen eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs an2243. Klar abzuschichten ist hiervon indes die materiell-recht2240 Einen möglich Einsatz des Bundesnachrichtendienstes zur bewussten Generierung von „Zufallsfunden“ sehen und lehnen ab Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 180 f.; M. Bäcker, Schlusswort: Replik auf Horst Risse und Erhard Kathmann, in: DÖV 2012, S. 560 (560); Riegel, Quantensprung (Fn. 582), S. 176; Pfeiffer, Telefongespräche (Fn. 582), S. 255; konkret in Bezug auf das föderale Trennungsgebot auch Paeffgen/ Gärditz, G 10-Urteil (Fn. 69), S. 72; a. A. H. Risse/E. Kathmann, Das G 10 und die Kompetenzordnung – Entgegnung zu dem Aufsatz von Matthias Bäcker, DÖV 2011, 840 – , in: DÖV 2012, S. 555 (560), die ohne weitere Begründung davon ausgehen, die strategische Fernmeldeaufklärung eigne sich schon deshalb nicht für Strafverfolgungsmaßnahmen, da sie nicht speziell zur Überwachung von Beschuldigten oder Störern ausgerichtet sei, sondern der Generierung eines allgemeinen Lagebildes diene. Dies verkennt jedoch die tatsächliche Funktionsweise der Selektoren bei der Fernmeldeaufklärung, die de facto durchaus zur Erfassung einzelner Personen oder von rein kriminalitätsbezogenen Gefahrbereichen gesteuert werden können. Der Bundesnachrichtendienst ist hieran allenfalls rechtlich, nicht jedoch tatsächlich gehindert. 2241 So schon überzeugend Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 670; allgemein zur Kompetenz aus der Natur der Sache und ihren Annahmevoraussetzungen statt vieler ausführlich J. Ipsen/A.-K. Kaufhold/T. Wischmeyer Staatsrecht I, 33. Aufl. 2021, § 10 Rn. 49 ff. 2242 Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 285; Zöller, Informationssysteme (Fn. 69), S. 366; hierzu aus der unmittelbaren Literatur zur Entscheidungsbesprechung auch erneut Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 670. 2243 BVerfGE 154, 152 (235, Rn. 131); BVerfGE 133, 277 (319, Rn. 101 f.).
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liche Frage, welche Übermittlungskompetenzen an andere Nachrichtendienste sowie Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden dem Bundesnachrichtendienst unter welchen Voraussetzungen – informationelles Trennungsprinzip bzw. Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung – von Verfassung wegen zugestanden werden können; dies darf mit formell rechtlichen Anforderungen nicht vermengt werden2244. a) G 10-Aufklärung kompetenzkonform Die strategische Fernmeldeaufklärung mit den Gefahrenlagen nach § 5 G 10 fällt nach alledem im Ergebnis teils unter die Bundeskompetenz des Art. 73 I Nr. 1 Var. 1 GG und teils unter eine Kompetenz aus der Natur der Sache hinsichtlich § 7 G 102245. Wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht betont, sind die in § 5 I 3 G 10 aufgeführten Gefahrbereiche nicht nur Ausdruck von internationaler Kriminalität, sondern stehen auch in sachlichem Zusammenhang mit staatlichen Handlungen oder Unterlassen2246. So wird etwa der internationale Betäubungsmittelhandel in Entwicklungs- und Schwellenländern teilweise durch korrupte staatliche Stellen zumindest geduldet2247. Bei den neueren Herausforderungen durch die illegale Migration in die Europäische Union oder durch Cyberwar-Angriffe2248 sind ebenfalls staatliche Strukturen im Hintergrund denkbar oder sogar die gänzliche Übernahme territorialer, einem Staat gleichkommender, Gebietskontrolle durch international nicht anerkannte Regime, etwa in nordafrikanischen Migrationstransitländern2249. In all diesen Fällen muss freilich die „internationale Dimension“ 2250 gewahrt sein, was jedoch letztlich auch eine Frage des Einzelfalles darstellt. Die Übermittlung an ausländische öffentliche Stellen stützt sich gleichfalls auf Art. 73 I Nr. 1 Var. 1 GG2251. Art. 73 I Nr. 9a und Nr. 10 GG sind 2244 Kritisch zu einer Verschleifung dieser materiell-rechtlichen Frage mit der Kompetenzprüfung in BVerfGE 100, 313 (372) deshalb auch zu Recht Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 670. 2245 A. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 310 f., der auch zusätzlich noch auf Art. 73 I Nr. 7 GG abstellt und nicht zwischen Datenerhebung und Übermittlung kompetenzrechtlich differenziert. 2246 So jedenfalls das BVerfG in Bezug auf die Nummern 2 bis 6 des § 3 I 2 G 10 a. F. in BVerfGE 100, 313 (371). 2247 Diese Feststellung galt schon 1999, BVerfGE 100, 313 (371). 2248 Dazu jetzt ausdrücklich BVerfGE 154, 152 (234, Rn. 128). 2249 Die durch § 5 I 3 Nr. 7 lit. c und Nr. 8 G 10 jeweils vorgenommenen Differenzierungen einerseits in gewerbs- und bandenmäßiges bzw. kriminelles und terroristisches Handeln und andererseits staatlich unterstütztes oder gar angeordnetes Handeln dürften daher in vielen Fällen fließend sein. 2250 BVerfGE 154, 152 (234, Rn. 128). 2251 Das BVerfG geht abweichend davon aus, dass auch Datentransfers an ausländische öffentliche Stellen – konkret gemäß § 24 BNDG – auf eine Kompetenz kraft Sachzusammenhanges gestützt werden könne, BVerfGE 154, 152 (235, Rn. 131). Es erscheint jedoch unnötig, im Fall von Datenübermittlungen an ausländische öffentliche
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hier hingegen nicht einschlägig, da diese Nummern des Kompetenzkataloges nicht die Bekämpfung internationaler Verbrechen, sondern die Zusammenarbeit deutscher und internationaler Stellen zur internationalen Verbrechensbekämpfung, etwa in kriminalpolizeilichen Fragen, vor Augen haben2252. § 7a G 10 gestattet jedoch Datenübermittlungen nur an ausländische öffentliche Stellen, die mit nachrichtendienstlichen Aufgaben betraut sind. b) Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung und innere Sicherheit? Der Gesetzgeber nimmt auch für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Art. 73 I Nr. 1 GG als Kompetenznorm in Anspruch2253. § 6 I 1 Nr. 1 bis 3 BNDG gestattet die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung indes zu erheblich weniger spezifizierten Zwecken. Die Nr. 1 der Datenerhebungsvoraussetzungen sieht die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung pauschal zur frühzeitigen Erkennung von Gefahren für die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik zwecks zeitgerechter Reaktionsmöglichkeiten der Bundesregierung vor. Eine derart breite Ermächtigungsgrundlage, die praktisch die gesamte Sicherheit der Bundesrepublik im In- und Ausland als Gefahrenlage für den Bundesnachrichtendienst zur nachrichtendienstlichen Beobachtung ausweist, kann jedoch nicht auf diese ausschließliche Bundeskompetenz gestützt werden. Zwar ist in der sicherheitsrecht- und politikwissenschaftlichen Debatte häufig konstatiert worden, dass eine klare Trennung von äußerer und innerer Sicherheit angesichts heutiger Bedrohungslagen in vielen Fallkonstellationen nicht möglich sei2254, was in einer vernetzten Welt mit immer komplexeren und häufig hybriden Bedrohungslagen für die Bundesrepublik sicherlich der Realität entspricht. Die innere Sicherheit als solches fällt als klassisches Gefahrenabwehrrecht jedoch traditionell in die Gesetzgebungskompetenz der Länder2255. Das faktische Verschwimmen von hergebrachten Abgrenzungen zwischen den Phänomenen innerer und äußerer Sicherheit kann an der grundgesetzlichen Kompetenzordnung – insbesondere in einem Stellen eine ungeschriebene Gesetzeskompetenz anzunehmen, da diese Übermittlungen unschwer auch unter den Wortlaut der „auswärtigen Angelegenheiten“ subsumiert werden können. In der Sache ist § 7a G 10 freilich nach beiden Ansichten unschwer kompetenzkonform; siehe dazu auch noch Fn. 2267. 2252 So die Auslegung von Art. 73 I Nr. 10 GG in BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 126) unter Verweis auf BVerfGE 100, 313 (369); dazu auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 282 m.w. N. 2253 BVerfGE 154, 152 (232, Rn. 122); so und ohne weitergehende Differenzierungen BT-Drs. 18/9041, S. 19; a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 336, der auch insoweit zusätzlich noch auf Art. 73 I Nr. 7 GG abstellt. 2254 Statt vieler Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 18; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 132 f., Fn. 374; Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 22, Fn. 207, mit Verweis auf den Beitrag von Möstl, Vorgaben (Fn. 62), S. 1394 f., jeweils m.w. N. 2255 Siehe nur BVerfGE 100, 313 (369).
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derart sensiblen Bereich föderaler Machtsegmentierung – nicht rütteln2256. § 6 I 1 Nr. 1 BNDG ist daher bereits in formeller Hinsicht verfassungswidrig, insoweit er dem Bundesnachrichtendienst die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung in Bezug auf Gefahren für die innere Sicherheit der Bundesrepublik pauschal ohne weitergehende Differenzierungen oder Restriktionen erlaubt2257. Hierbei handelt es sich schließlich gerade nicht um einen irgendwie gearteten „Regelungsund Verwendungszusammenhang, [. . .] der auf die Auslandsaufklärung bezogen ist“ 2258, sondern um einen rein innerstaatlichen Vorgang. Eine einschränkende – im Ergebnis eher verfassungskonforme – Auslegung dergestalt, dass die AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung nur solche Gefahren für die innere Sicherheit, deren Gründe im Ausland liegen und die nur in die Bundesrepublik hineinwirken, aufklären sollte, steht der Wortlaut der Norm entgegen, der von Gefahren für die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik spricht und daher klar zwischen den beiden Räumen differenziert. Somit trennt die Norm selbst zwischen zwei territorial definierten Sicherheitsräumen. Das Bundesverfassungsgericht teilt die hiesigen Bedenken indes nicht und hält auch § 6 I 1 Nr. 1 1. Alt. BNDG für mit der Kompetenzordnung im Einklang stehend, da der gesamte Tatbestand in die „übergreifende Beschränkung“ der Aufgaben des Bundesnachrichtendienstes eingebunden sei2259. Dies gelte für alle drei Nummern des § 6 BNDG, welche insgesamt nur zur Aufklärung der in § 1 II BNDG genannten Zwecke der Gewinnung von Erkenntnissen mit außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung mit Auslandsbezug statthaft sei2260. Dies sei insoweit kompetenzrechtlich nicht zu beanstanden, wie sich die tatsächliche Handhabung der Vorschrift noch im durch das Gericht vorgezeichneten Rahmen halte2261. Im Ergebnis kommt das Bundesverfassungsgericht mithin zum selben Resultat, die hiesige Auslegung ermöglicht hingegen eine eindeutigere Klarstellung, dass rein inländische Sachverhalte der Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst entzogen sind. Die Datenerhebungsvoraussetzungen in § 6 I 1 Nr. 1 Alt. 1 sowie Nr. 2 und 3 BNDG lassen hingegen den notwendigen triftigen Auslandsbezug erkennen und können somit entsprechend des hiesigen Verständnisses des föderalen Trennungsgebots und der Aufgabe des Bundesnachnachrichtendienstes die kompetenzrecht2256
So im Ausgangspunkt auch Meinel, Kompetenzproblem (Fn. 400), S. 853. Zweifel an einer verfassungskonformen Regelung unter Bezugnahme der Kompetenz aus Art. 73 I Nr. 1 GG meldet – soweit ersichtlich – aus den Beiträgen zum reformierten BNDG nur Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 18 an; allgemein kritisch hierzu auch Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 132, die jedoch materiell-rechtliche Erwägungen des BVerfG aus seinem G 10-Urteil reichlich pauschal auf die Rechtslage im BNDG überträgt. 2258 So aber die Zusammenfassung der Voraussetzungen einer Bundeskompetenz in BVerfGE 100, 313 (369). 2259 BVerfGE 154, 152 (234, Rn. 129). 2260 BVerfGE 154, 152 (234 f., Rn. 129). 2261 BVerfGE 154, 152 (235, Rn. 129). 2257
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lichen Anforderungen erfüllen. Sie ermächtigen den Bundesnachrichtendienst zur Aufklärung von Gefahren für die äußere Sicherheit und die hiermit eng verbundene Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik (Nr. 1 Var. 2 und Nr. 2), was jeweils der Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik gegen Angriffe, Störungen, Einflussnahmen oder Nötigungen ihrer Verfassungsorgane dienen soll2262. Diese Informationen sichern die klassische Aufdeckung außenpolitischer Gefahren und können somit unter die Kompetenznorm des Art. 73 I Nr. 1 GG gefasst werden; gleiches gilt für § 6 I 1 Nr. 3 BNDG, der das Auftragsprofil der Bundesregierung umschreibt, wenn er den Bundesnachrichtendienst zur Erlangung von Erkenntnissen über die außen- und sicherheitspolitischen Vorgänge mit Bedeutung für die Bundesrepublik ermächtigt2263. Insoweit besteht auch keine Differenz zur Auffassung des Bundesverfassungsgerichts2264. Die Datenübermittlung an inländische öffentliche Stellen gemäß § 24 I 1 BNDG sowie an Polizei- und Strafverfolgungsbehörden gemäß § 24 III BNDG in Verbindung mit § 20 BVerfSchG unterfällt – analog zum G 10 – einer Kompetenz aus der Natur der Sache, da insoweit keine kompetenzrechtlichen Unterschiede auszumachen sind2265. Die Datenübermittlungen an ausländische öffentliche Stellen im Einzelfall nach § 24 II BNDG in Verbindung mit § 19 III BVerfSchG2266 und aus einer Kooperation gemäß §§ 13 ff. BNDG können auf Art. 73 I Nr. 1 GG gestützt werden, da hier der Zusammenhang zu den auswärtigen Angelegenheiten hinreichend plausibel ist2267. Selbiges gilt für § 7 BNDG2268. Insgesamt ist die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, bis auf § 6 I 1 Nr. 1 1. Alt. BNDG, kompetenzkonform. 2. Zitiergebot als formelle Sicherung mit Nichtigkeitsfolge Der Hinweis, dass nachrichtendienstliche Eingriffsbefugnisse in Art. 10 I GG dem Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG als „formeller Grundrechtssicherung“ 2269 ge2262 Siehe so auch Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 18 mit Verweis auf Karl/Soiné, Rechtsgrundlagen (Fn. 797), S. 920 f. 2263 Zur Bezugnahme auf das APB erneut auch Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 18. 2264 BVerfGE 154, 152 (234 f., Rn. 129). 2265 Ähnlich auch hier BVerfGE 154, 152 (235, Rn. 131) für eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs; ohne Differenzierung zwischen Datenerhebung und Übermittlung auch in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 336. 2266 Abweichend auch insoweit BVerfGE 154, 152 (235, Rn. 131) – Kompetenz kraft Sachzusammenhangs. 2267 In Bezug auf §§ 13 ff. BNDG will auch das BVerfG wiederum die Kompetenznorm in Art. 73 I Nr. 1 GG verorten, BVerfGE 154, 152 (235, Rn. 130): „steht hier erst recht außer Zweifel“ – weswegen Datentransfers an ausländische öffentliche Stellen – wie hier vertreten – dann nicht auch unter die „auswärtigen Angelegenheiten“ zu subsumieren sein sollten, sondern eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs bilden, ist nicht schlüssig. 2268 Insoweit auch BVerfGE 154, 152 (235, Rn. 130). 2269 Dreier (Fn. 1283), Art. 19 I Rn. 19.
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nügen müssen, erscheint prima facie als gleichsam pflichtschuldige Feststellung2270. Gerade bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung kommt dem Zitiergebot aber eine entscheidende Rolle zu. Zwar legt das Bundesverfassungsgericht das Zitiergebot anhand des Wortlauts der Verfassung zurückhaltend aus und verneint dessen Anwendbarkeit unter anderem schon dann, wenn ein Grundrecht nicht nur durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann2271. Zudem kommt das Zitiergebot nach der Rechtsprechung auch insbesondere dann nicht zur Anwendung, wenn ein Gesetz bereits bestehende Grundrechtseinschränkungen unverändert oder mit nur marginalen Abweichungen wiederholt2272. Auf Art. 10 GG, jedenfalls bei finalen Grundrechtseingriffen, ist das Zitiergebot aber auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts anwendbar2273. Art. 19 I 2 GG soll bekanntermaßen eine Warn- und Besinnungsfunktion für den Gesetzgeber bei Grundrechtseingriffen haben2274, teils wird ihm zudem eine – in der Terminologie nicht einheitliche – Klarstellungs-, Hinweisoder Verdeutlichungsfunktion zugesprochen, die die gesetzgeberischen Folgen hervorheben soll, sowie mitunter auch eine Informationsfunktion für den Grundrechtsträger2275. Insgesamt dient das Zitiergebot zum Schutz vor nicht hinreichend gewürdigten oder schlicht unbedachten Eingriffen in Grundrechte durch den Gesetzgeber2276. Es soll ferner sicherstellen, dass Dimension und Notwendigkeit von Grundrechtseingriffen in einer öffentlichen Debatte erörtert werden und der Staat mithin in einer Rechtfertigungspflicht diesbezüglich ist2277. 2270 Zur Einordnung des Zitiergebots als formelle Schranken-Schranke siehe nur Huber (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 65; aus der Aufsatzliteratur vor allem der Beitrag von J. Singer, Das Bundesverfassungsgericht und das Zitiergebot, in: DÖV 2007, S. 496 (496). 2271 Zur strikten Wortlautauslegung des BVerfG Singer, ebda., S. 498 ff. sowie weiteren Einschränkungen der Anwendbarkeit des Zitiergebots durch die BVerfG-Rechtsprechung mit einer Auflistung der jeweiligen Grundrechte; dazu auch ausführlich und kritisch Huber (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 71 ff.; Dreier (Fn. 1283), Art. 19 I Rn. 22 ff.; siehe zu den Einschränkungen des Anwendungsbereiches ferner auch Krebs (Fn. 1281), Art. 19 I Rn. 14 ff.; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 718 f. sieht in der Entscheidung zum BNDG die Tendenz hin zu einer Stärkung des lange vernachlässigten Zitiergebots und plädiert dafür, die Beschränkung des Anwendungsbereiches auf Grundrechte mit einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt zumindest zu überdenken. 2272 Ständige Rechtsprechung in BVerfGE 129, 208 (237); 61, 83 (113); 35, 185 (188 f.); 15, 288 (293); aus der Literatur etwa Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 257. 2273 So explizit in BVerfGE 120, 274 (343 f.); 113, 348 (366 f.). 2274 Ganz herrschende Meinung BVerfGE 129, 208 (236 f.); 113, 348 (366); 85, 386 (404); Huber (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 67; Dreier (Fn. 1283), Art. 19 I Rn. 19; Remmert (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 41. 2275 Siehe dazu statt vieler Dreier (Fn. 1283), Art. 19 I Rn. 19; Remmert (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 41 f.; Singer, Zitiergebot (Fn. 2270), S. 497 f. 2276 So die prägnante Zusammenfassung von Remmert (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 42. 2277 BVerfGE 129, 208 (236 f.); Huber (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 70; Dreier (Fn. 1283), Art. 19 I Rn. 19.
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Die Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot ist grundsätzlich die Nichtigkeit des Gesetzes, sofern nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung ein Restanwendungsbereich, der Eingriffe in nicht von Art. 19 I 2 GG umfasste Grundrechte ermöglicht, aufrechterhalten werden kann2278. Wenn sich der Gesetzgeber über einen Grundrechtseingriff im Klaren war, dies aber im Gesetzestext nicht niedergelegt hat, bleibt es bei der Nichtigkeit der Norm; Selbiges gilt für Fälle, in denen auf ein formell verfassungskonformes Gesetz – was Art. 19 I 2 GG wahrt – schlicht verwiesen wird, der Gesetzgeber also einen Grundrechtseingriff jedenfalls für möglich gehalten hat2279. Das Bundesverfassungsgericht geht jedoch teilweise lediglich von der Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz beim Verstoß gegen das Zitiergebot aus, die mit der Anordnung einer Neuregelung nach Ablauf einer Übergangsfrist gleichsam geheilt werden kann2280. Durch einen Verstoß gegen Art. 19 I 2 GG sei nicht der „Kern“ der Befugnisse betroffen, sondern nur „einzelne Aspekte ihrer rechtsstaatlichen Ausgestaltung, die der Gesetzgeber nachbessern kann“ 2281. Der Senat nimmt sodann eine inhaltliche Gewichtung anhand der durch die Eingriffsbefugnisse zu schützenden Rechtsgüter vor, um zu begründen, warum Nichtigkeit als Rechtsfolge gerade nicht eintreten solle2282. Insbesondere nimmt das Bundesverfassungsgericht eine Folgeabwägung vor, welche möglichen Risiken für den Schutz überragender Rechtsgüter der Allgemeinheit drohen und ob der inkriminierte Eingriff nur für eine Übergangszeit hingenommen werden muss, da der
2278 Grundlegend BVerfGE 113, 348 (366 ff.) zum niedersächsischen SOG, wo das BVerfG jedenfalls für solche Gesetze, die nach der Verkündung der Entscheidung gegen das Zitiergebot verstoßen, das Verdikt der Nichtigkeit vorsieht; zu der regelmäßigen Rechtsfolge der Nichtigkeit des Gesetzes bei Verstoß gegen das Zitiergebot komprimiert M. Sachs, in: ders., GG (Fn. 309), Art. 19 I Rn. 32; Huber (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 99; Dreier (Fn. 1283), Art. 19 I Rn. 29 m.w. N.; Krebs (Fn. 1281), Art. 19 I Rn. 18; Remmert (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 47; zum Grundsatz und seinen in BVerfGE 113, 348 aufgestellten Ausnahmen zudem eingehend Singer, Zitiergebot (Fn. 2270), S. 502 f. 2279 BVerfGE 120, 274 (343 f.) zur Online-Durchsuchung. 2280 So jedenfalls unlängst in BVerfGE 154, 152 (311 f., Rn. 329 ff.), allerdings ohne eine dezidierte Trennung von formellen und materiell-rechtlichen Mängeln; BVerfGE 150, 309 (344 f., Rn. 96 f.) zur automatisierten Kennzeichenerfassung in Hessen und Baden-Württemberg; vorsichtiger Hinweis auf die Entscheidung bezüglich der Rechtsfolgen der Nichtbeachtung des Zitiergebots lediglich bei Enders (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 18; Rusteberg, Entscheidung (Fn. 200); grundsätzlich eine Anwendbarkeit der Feststellungsrechtsprechung in Betracht gezogen auch bei Huber (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 101; Dreier (Fn. 1283), Art. 19 I Rn. 29; für die Anordnung einer Übergangsfrist in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 339 f. 2281 BVerfGE 150, 309 (344 f., Rn. 97). 2282 So zur automatisierten Kennzeichenerfassung BVerfGE 150, 309 (344 f., Rn. 97) – „Angesichts der Bedeutung, die der Gesetzgeber“ – im konkreten Fall die automatisierte Kennzeichenkontrolle zur Gefahrenabwehr – den Vorschriften beimessen dürfe, sei eine vorrübergehende „Fortgeltung eher hinzunehmen als deren Nichtigkeitserklärung“.
III. Rechtfertigungsmöglichkeiten und Grenzen
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Gesetzgeber den Verstoß gegen Art. 19 I 2 GG durch eine Neuregelung der Vorschriften nachbessern kann2283. Eine solch große Bedeutung misst der Erste Senat auch der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung bei2284. Diese Rechtsprechung ist – obschon prima facie einleuchtend – indes nicht unproblematisch. Schon der Wortlaut von Art. 19 I 2 GG, wonach das einschränkende Gesetz den Artikel nennen „muß“, spricht für eine scharfe Konsequenz in Form der Nichtigkeit ex tunc2285. Wenn die Regelung dem nicht entspricht, verfehlt sie schlechterdings die Anforderungen an ein grundrechtseinschränkendes Gesetz. Diese Rechtsfolge findet zudem Rückhalt in der hergebrachten deutschen Sichtweise der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze2286. Bereits der verfassunggebende Gesetzgeber ging wohl von dieser Konsequenz bei einem Verstoß gegen Art. 19 I 2 GG aus2287. Auch der Telos spricht für die Annahme der Nichtigkeit als Rechtsfolge, da die Warn- und Besinnungsfunktion durch eine nachträgliche Zitierung nicht mehr erreicht werden kann2288. Andernfalls müsste der Gesetzgeber dem Zitiergebot zunächst kaum Beachtung schenken, da er sein Versäumnis immer noch nachträglich beseitigen könnte, ohne den zumindest zeitweiligen Fortfall der Eingriffsbefugnisse zu befürchten – die Vorschrift würde erheblich entwertet. Zudem gefährdet eine reine Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz den Sinn des Zitiergebots mit der Aufnahme eines inhaltlichen Wertungskriteriums in die Prüfung einer formellen Voraussetzung: Wenn gefahrenabwehrrechtlichen bzw. nachrichtendienstlichen Befugnissen von Verfassung wegen so große Bedeutung zuzumessen ist, dass sie nicht für nichtig erklärt werden, müssen sie zwangsweise dem Schutz (besonders) hochrangiger Rechtsgüter dienen und gehen mithin auch mit Grundrechtseingriffen von erheblichem Gewicht einher2289. Gerade bei solch schweren Grundrechtseingriffen ist die Warn- und Besinnungsfunktion des Art. 19 I 2 GG aber besonders wichtig, um dem Gesetzgeber die Reichweite seiner Entscheidung vor Augen zu führen und eine öffentliche Debatte im Vorfeld zu ermöglichen. Je intensiver der Grundrechtseingriff ist, desto bedeutsamer wird auch die „nur“ formelle Schranken2283
BVerfGE 154, 152 (311 f., Rn. 329 f.). BVerfGE 154, 152 (311 f., Rn. 330). 2285 Für das Wortlautargument grundsätzlich auch Huber (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 98 f.; Dreier (Fn. 1283), Art. 19 I Rn. 29 m. Fn. 129; ferner Remmert (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 47; zur Wirkung ex tunc siehe auch instruktiv Singer, Zitiergebot (Fn. 2270), S. 502. 2286 Auf diesen Aspekt verweist Singer, Zitiergebot (Fn. 2270), S. 502. 2287 So jedenfalls mit Verweis auf die Beratungen im Parlamentarischen Rat Dreier (Fn. 1283), Art. 19 I Rn. 5 m. Fn. 17, Rn. 29 m. Fn. 129; dafür auch Krebs (Fn. 1281), Art. 19 I Rn. 18. 2288 Wie hier gegen eine nachträgliche Heilung auch Huber (Fn. 1278), Art. 19 I Rn. 98. 2289 Dies stellt das BVerfG korrekterweise auch selbst fest: BVerfGE 154, 152 (311 f., Rn. 329 f.); 150, 309 (336, Rn. 73). 2284
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Schranke des Zitiergebots. Auch deshalb bedarf es im Falle der Nichtbeachtung der scharfen Konsequenz der Nichtigkeit des Art. 19 I 2 GG verletzendes Gesetzes. Freilich streiten für die Feststellungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, bei drohenden Risiken für überragend wichtige Rechtsgüter keine Nichtigkeit anzunehmen, gewichtige Gründe. Es erscheint letztlich unverhältnismäßig, den Wegfall von Normen hinzunehmen, die ein überragend wichtiges Rechtsgut schützen, nur weil gegen eine Formvorschrift verstoßen wurde. Die drohende Gefahr eines Unterlaufens der vorgenannten Sicherungszwecke des Art. 19 I 2 GG lässt die Abwägung im Allgemeinen jedoch zur Nichtigkeitskonsequenz ausschlagen. Ansonsten droht eine Einzelfallrechtsprechung, wann eine Norm hinreichend gewichtig ist – etwa die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung –, um „nur“ eine Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu bewirken. Dem generellen Sinn von Art. 19 I 2 GG, dem Wortlaut und der Genese der Norm wird dadurch im Ergebnis jedoch nicht hinreichend Rechnung getragen. Der Fortfall der Befugnisse ex tunc ist letztlich – trotz zugegebener Probleme im Einzelfall – hinzunehmen, um eine Bindung des Gesetzgebers an das Zitiergebot jedenfalls auch für die Zukunft hinreichend sicherzustellen. Das Zitiergebot ist somit „scharf zu stellen“. Das G 10 nennt seit jeher den Art. 10 GG als eingeschränktes Grundrecht in § 21 und entspricht damit den Anforderungen des Zitiergebots2290. Die AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung ist hingegen ein Paradebeispiel für den Sinn des Zitiergebots und seine rechtsstaatliche Sicherungsfunktion für den Grundrechtsschutz. Entsprechend der fehlgehenden Rechtsauffassung der Bundesregierung, dass Ausländer im Ausland nicht durch Art. 10 GG geschützt sind, verzichtet auch das BNDG bezüglich der Fernmeldeaufklärung konsequenterweise auf die Einhaltung des Zitiergebots2291. Die Warn- und Besinnungsfunktion des Art. 19 I 2 GG wurde hier zumindest im Ergebnis verfehlt, da der Gesetzgeber offenkundig die Ansicht einer territorialen Begrenzung des Schutzbereiches des Fernmeldegeheimnisses – trotz der zahlreichen Gegenstimmen – nicht aufgeben woll-
2290 Das G 10 berührt noch weitere grundrechtlich geschützte Rechtspositionen aus Art. 12 I, 14 I GG, soweit es den Betreibern von Telekommunikationsdiensten Pflichten auferlegt, sowie Art. 19 IV GG durch die Beschränkung des Verwaltungsrechtsweges in § 13 G 10. Diese Grundrechte unterfallen jedoch nicht dem Zitiergebot, siehe dazu ausführlich und differenziert Huber (Fn. 511), § 21 G 10 Rn. 2 ff. 2291 Dazu etwa kritisch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 339; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 225; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 11; von einem lediglich taktischen Fehler des Gesetzgebers („Interpretationsrisiko“) geht Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 528 f. aus; kritisch ferner Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 163; schon vor Erlass des Gesetzes zur AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung, als die gesamte nicht dem G 10 unterfallende Erfassung noch auf § 1 II BNDG, gleichfalls ohne Einhaltung des Zitiergebots, gestützt wurde, Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 7; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 560.
III. Rechtfertigungsmöglichkeiten und Grenzen
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te2292. Umso wichtiger tritt hier eine negative Informationsfunktion für den Grundrechtsträger hervor, die schon im ersten Blick auf das Gesetz offenbart, dass aufgrund der Auslassung eines dem Zitiergebot entsprechenden Paragraphen jedenfalls seitens des Gesetzgebers kein Grundrechtsschutz gewährt werden soll. Sonst droht sich der Gesetzgeber einer parlamentarischen und öffentlichen Debatte zu entziehen2293. Das förmlich absichtliche Ignorieren des Zitiergebots kommt hier einem rechtspolitischen Statement gleich2294. Diese fehlgehende Rechtsauslegung hat jedoch keinen Einfluss auf die Sicherungsfunktion des Art. 19 I 2 GG. Das Zitiergebot muss auch gerade dann gelten, wenn der Gesetzgeber fälschlicherweise davon ausgeht, es handele sich um eine grundrechtsneutrale Informationserhebung2295. Das Bundesverfassungsgericht betont zudem richtigerweise, dass dem Zitiergebot nicht die bisherige Verwaltungspraxis der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung entgegengehalten werden könne, da diese nicht auf einer „bereits getroffenen Wertung des parlamentarischen Gesetzgebers“ beruhe, und auch die Warnfunktion des Art. 19 I 2 GG könne hierdurch nicht ersetzt werden2296. Nichts anderes gilt, wenn sich die betroffenen Grundrechtsträger im Ausland aufhalten oder ein Eingriff im Ausland normiert werden soll. Eine Modifikation des Zitiergebots in Auslandsfällen ist indes nicht angezeigt, der Telos der Norm ist „territorial bezuglos“ 2297. Wenn man richtigerweise einen Grundrechtseingriff durch die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung bejaht, dann muss ein solches Gesetz auch die formellen Schranken-Schranken wahren. Die Anwendbarkeit des Zitiergebots auf Sachverhalte mit Auslandsbezug wird – soweit ersichtlich – auch nicht bestritten. Im Gegenteil gestehen selbst diejenigen, die einen Grundrechtseingriff eigentlich ablehnen, die Notwendigkeit der Nennung des eingeschränkten Artikels ein, wenn man denn von der Gegenposition ausginge2298. Da jedoch auf die Nennung des Art. 10 GG als
2292 Dahingehend auch BVerfGE 154, 152 (237, Rn. 135); Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 338 f. 2293 Dies unterstreicht BVerfGE 154, 152 (237, Rn. 135). 2294 Kritisch zu diesem gesetzgeberischen Unterlassen erneut Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 528 ff. 2295 So auch BVerfGE 154, 152 (237, Rn. 135). 2296 BVerfGE 154, 152 (237, Rn. 134). 2297 So auch überzeugend Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 239; im Ergebnis auch wie hier Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 264 f.; Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 65 f., die beide darauf verweisen, dass auch § 21 G 10 Sachverhalte mit Auslandsbezug (jedenfalls bei einem Telekommunikationsteilnehmer) regele. Dies kann jedoch allenfalls als Indikator für eine Auslandsgeltung des Zitiergebots dienen, nicht aber als Beleg, da das einfache Recht nicht den Geltungsbereich des Art. 19 I 2 GG bzw. dessen Modifikationsnotwendigkeit bestimmen kann. Das BVerfG geht auf eine mögliche Anwendbarkeit gar nicht erst ein bzw. unterstellt diese schlechterdings. 2298 So Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 528 f., der überdies davon ausgeht, dass mit der Einhaltung des Zitiergebots keine Festlegung auf eine konkrete Rechtsansicht verbunden sei.
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durch die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung gezielt eingeschränktes Grundrecht verzichtet wurde, sind die Befugnisse schon formell verfassungswidrig und mithin ex tunc nichtig2299. 3. Universelle Geltung des Gesetzesvorbehaltes für Grundrechtseingriffe Das Fernmeldegeheimnis unterliegt nach Art. 10 II 1 GG einem einfachen Gesetzesvorbehalt, wonach Einschränkungen nur auf Grund eines Gesetzes erfolgen dürfen2300. Nach verbreiteter Meinung können die Eingriffe aber auch durch Satzungen oder Rechtsverordnungen erfolgen, wobei die Grundzüge regelmäßig in Parlamentsgesetzen geregelt werden müssen2301. Deshalb werden nur einzelne Verfahrensschritte oder technische Details jenseits eines formellen Gesetzes zu regeln sein2302. Der aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip resultierende Gesetzesvorbehalt2303 sichert die demokratische Legitimation von Grundrechtseingriffen durch Rückkopplung an den parlamentarischen Gesetzgeber und legt zugleich „Art und Ausmaß zulässiger Grundrechtsbeschränkungen im vorhinein (sic) abstrakt-generell“ fest2304. Der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt erfordert mithin eine auf den konkreten Sachverhalt anwendbare Regel, die als wirksame Erlaubnisnorm grundrechtsgeschütztes Handeln, welches Schutz vor gesetzlosem Zwang bietet, ausnahmsweise legitimiert2305. Es handelt sich mithin um einen fundamentalen Pfeiler des Grundrechtsschutzes unter dem Grundgesetz. Die Gel-
2299 Eine Nichtigkeit der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot nehmen ebenfalls ausdrücklich an Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 277; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 225, 227; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 155; so auch schon die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, Verfassungsfragen des Entwurfs eines Gesetzes zur AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes, WD 3 – 3000 – 194/16, S. 8. 2300 Statt aller BVerfGE 154, 152 (237, Rn. 137) – „Eingriffe in Art. 10 Abs. 1 GG und ebenso in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG müssen – wie Eingriffe in alle Grundrechte – auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruhen“; ferner explizit auf den BND bezogen BVerfGE 100, 313 (359); grundlegend für Informationseingriffe BVerfGE 65, 1 (44 ff.). 2301 Hierfür etwa BVerfGE 125, 260 (313); Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 67 ff.; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 61. 2302 Erneut Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 67 ff.; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 61. 2303 Hierzu etwa Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 468. 2304 Statt vieler instruktiv C. Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: Merten/Papier, HGR III (Fn. 1317), § 201 Rn. 27; zur demokratischen Verankerung sowie zum grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt auch ausführlich G. Hermes, Grundrechtsbeschränkungen aufgrund von Gesetzesvorbehalten, in: Merten/Papier, HGR III (Fn. 1317), § 63 Rn. 8 ff., Rn. 16 ff. 2305 Hillgruber, ebda., § 201 Rn. 27 f.; siehe auch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 167, hierzu sowie ebenfalls zur Abgrenzung des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts vom allgemeineren Vorbehalt des Gesetzes zur demokratischen Rückkopplung von Gesetzen an den parlamentarischen Gesetzgeber.
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tung des grundrechtlichen Gesetzesvorbehaltes im Inland wird man als allgemeingültig unterstellen dürfen, bei auswärtigen Angelegenheiten stellt sich jedoch die Frage, ob die Grundrechtsgeltung mit der Geltung des grundrechtlichen Gesetzesvorbehaltes einhergeht. a) Fehlende Ermächtigungsgrundlage für die Filterkaskade Die derzeitige Rechtslage stellt im G 10 und BNDG für die Datenerhebung sowie die Weiterverarbeitung und Übermittlung Ermächtigungsgrundlagen vom Inland aus bereit, die der Eingriffsqualität dieser Einzelschritte insoweit Rechnung tragen, als dass sie überhaupt normiert sind2306. Dem Gesetzesvorbehalt wird in diesen Fällen dem Grunde nach entsprochen. Keine Abbildung findet hingegen die Tatsache, dass auch durch die Filterkaskade mit ihrer Geolokalisation und dem DAFIS-Filter bereits Grundrechtseingriffe ins Werk gesetzt sind2307. Aufgrund der langjährigen abweichenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass eine Normierung von Verfassung wegen nicht notwendig sei. Die Vorschriften zur Erfassung der internationalen Telekommunikation und der Ausland-Ausland-Telekommunikation wurden in der Praxis schlicht dahingehend ausgelegt, dass sie die Rechtsgrundlage für die händische Aussonderung der jeweils nicht erstrebten Verkehre, die nicht automatisch gefiltert wurden, bildeten2308. Bezüglich dieser händischen Aussonderung nimmt auch das Bundesverfassungsgericht einen Grundrechtseingriff in Art. 10 I GG an2309, was insoweit Beifall verdient, jedoch – wie bereits erläutert – den darüberhinausgehenden Eingriffscharakter jeder Datenerhebung nicht hinreichend berücksichtigt. Für die Filterkaskade als Grundrechtseingriff bedarf es zunächst einer Ermächtigungsgrundlage zur Aussonderung rein nationaler Telekommunikation, oder solcher, an der ausschließlich deutsche Staatsbürger beteiligt sind. Darüber hinaus gilt dies auch, sofern internationale von Ausland-Ausland-Telekommunikation separiert werden soll, um diese unter zwei divergierenden Rechtsregimen weiterzuverarbeiten2310. Die Filterung mittels Geolokalisation und DAFIS-Filter erfolgt derzeit ohne rechtliche Grundlage und verstößt mithin schon gegen den Gesetzesvorbehalt. Sie kann nicht auf § 5 I G 10 bzw. § 6 BNDG gestützt werden, da sich die Vorschriften zur Filterkaskade schon im Ansatz nicht verhalten
2306 Über die Bestimmtheitsanforderungen im Einzelnen ist hiermit freilich noch nichts gesagt. 2307 Siehe dazu ausführlich schon unter F. II. 1. b) ee). 2308 So jetzt die Auslegung der langjährigen Praxis in BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 117), in Bezug auf § 6 I, IV BNDG und die Aussonderung der Telekommunikation von deutschen Staatsbürgern und Inländern. 2309 BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 117). 2310 BVerfGE 154, 152 (252 f., Rn. 173).
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und die Filterung diesen ohne externes Zusatzwissen schlechterdings nicht zu entnehmen ist. Das Verbot der Erfassung deutscher Staatsbürger und von Inländern in § 6 IV BNDG ruft allenfalls den „Anschein“ hervor, dass eine solche Trennung im BNDG vorzunehmen ist und diese auch ohne Probleme realisiert werden könnte2311. Dies kann jedoch keine hinreichende gesetzliche Grundlage für einen Grundrechtseingriff durch die Geolokalisation und den DAFIS-Filter sein; für die Erfassung der internationalen Telekommunikation ist das Problem, wenn überhaupt, in § 5 II 3 G 10 lediglich zu erahnen – auch dies wird den Anforderungen an eine normative Grundlage nicht im Ansatz gerecht. Die derzeitige Praxis der Filterkaskade als rechtsgrundloser Grundrechtseingriff in alle durch den Separator und den DAFIS-Filter gefilterten Telekommunikationsdaten unabhängig von ihrer Weiterverwendung ist somit schon verfassungswidrig. In der Literatur ist die Forderung zur Schaffung einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage für die Filterkaskade – soweit ersichtlich – noch nicht erhoben worden. Eine solche Regelung verlangt nunmehr im Ergebnis auch das Bundesverfassungsgericht – im Rahmen der Normenklarheit und Bestimmtheit sowie aus Verhältnismäßigkeitserwägungen –, freilich weiterhin ohne die allgemeine Eingriffswirkung der Filterkaskade als solche anzuerkennen2312. Warum in der Geolokalisation und dem DAFIS-Filter grundsätzliche keine Grundrechtseingriffe zu erblicken sein sollen, sondern nur in der händischen Ausfilterung durch Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes2313, bleibt weiterhin unklar und ist kritikwürdig. Jedenfalls muss eine solche Rechtsgrundlage normenklar regeln, dass, soweit technisch möglich, rein nationale Telekommunikation und gegebenenfalls Inland-Ausland-Telekommunikation ausgesondert werden muss; ferner ist der Bundesnachrichtendienst zur Implementierung von Filtermethoden zu verpflichten, die dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen2314. Hieran mangelt es derzeit ebenfalls, was den Verfassungsverstoß in qualitativer Hinsicht sogar noch vertieft. Nach alledem erfolgen die massenhaften Grundrechtseingriffe durch die Filterkaskade derzeit rechtswidrig ohne Ermächtigungsgrundlage. Dieser Mangel setzt sich im weiteren Verarbeitungsverlauf der Daten freilich fort, da diese schon rechtswidrig erhoben worden sind. Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ist schon deshalb mit verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht zu vereinbaren.
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So richtigerweise BVerfGE 154, 152 (301, Rn. 304). BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 171 f., 301, Rn. 304). 2313 BVerfGE 154, 152 (230, Rn. 116 f.). 2314 BVerfGE 154, 152 (252 f., Rn. 173); auf die Frage, ob eine Nutzung von Daten trotz möglicher Defizite überhaupt rechtlich möglich ist und wie mit nicht automatisch ausgefilterten Daten umgegangen werden muss, ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit noch zurückzukommen. Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 719 f. sieht in der Verpflichtung auf „quasi mitlernende Methoden“ bei den Filtersystemen zu Recht eine Indienstnahme evolutionierender Technik für den Datenschutz. 2312
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b) Fehlende Ermächtigungsgrundlage für die Aufklärung vom Ausland aus § 7 BNDG stellt nach hiesiger Ansicht keine Befugnisnorm zur Datenerhebung bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus dar; diese wird stattdessen weiterhin auf die reine Aufgabennorm des § 1 II 1 BNDG gestützt2315. Angesichts des Gesetzesvorbehaltes erscheint dies verfassungsrechtlich ebenfalls hochgradig bedenklich, da die Daten ohne rechtliche Grundlage auch im Ausland schon von Anfang an nicht erhoben werden dürften2316. Die rechtliche Wertung steht freilich unter der Prämisse, dass der Gesetzesvorbehalt auch bei Datenerhebungen vom Ausland aus Geltung beansprucht und insoweit keine Modifikation der grundrechtlichen Anforderungen an Auslandssachverhalte erforderlich ist. Bedenken gegen eine Erstreckung des grundrechtlichen Gesetzesvorbehaltes, aber auch des parlamentarischen Vorbehaltes des Gesetzes auf Staatshandeln im Ausland – welches bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung einzig bei § 7 BNDG in Rede steht –, sind auf die besondere Notwendigkeit der Flexibilität auswärtigen Handelns und das hergebrachte Primat der Exekutive in diesem Bereich gestützt worden2317. Eine grundsätzliche gesetzliche Regelung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung auch vom Ausland aus lässt sich nicht mit Überlegungen eines so weit gehenden Vorranges der Exekutive vor der Legislative widerlegen. Zunächst handelt es sich lediglich beim „Ob“ und „Wie“ des Einsatzes dieses nachrichtendienstlichen Instrumentes vom Ausland aus um einen genuin der Exekutive zuzuordnenden Sachverhalt. Sofern überhaupt außenpolitisch opportun, entscheidet die Bundes2315
Siehe die Analyse der Vorschrift unter C. IV. 2. b). Zu diesen Bedenken konkret gegen § 7 BNDG auch BVerfGE 154, 152 (303, Rn. 309). 2317 So in Bezug auf den Auslandseinsatz von Bundeswehrsoldaten etwa Nettesheim (Fn. 1407), § 241 Rn. 73; Überblick über die Diskussion gleichfalls aus verteidigungsrechtlicher Warte Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 166 ff., die das Fehlen von Ermächtigungsgrundlagen für Auslandseinsätze der Bundeswehr beklagt; die Frage nach der generellen Normierbarkeit nachrichtendienstlichen Handelns wirft ebenfalls auf und bejaht Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 468 ff., 481 ff., der darüber hinaus aber im Bereich des auswärtigen Handelns die demokratische Legitimation stärker über die parlamentarische Verantwortlichkeit der Bundesregierung und weniger durch die legislatorische Rechtsetzung sicherstellen will („Als Vergleichsgegenstand für den notwendigen Grad gesetzlicher Programmierung des BND im Auslandseinsatz drängt sich daher auch nicht das innerstaatliche Sicherheitsrecht, sondern vielmehr der bewaffnete Auslandseinsatz der Bundeswehr auf“); dieser Ansicht folgt Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 342 f.; zur traditionellen Einstufung der auswärtigen Angelegenheiten als Wirkungsfeld der Exekutive und dem insoweit von Verfassung wegen zugestandenem weiten Spielraum in der ständigen Rechtsprechung siehe BVerfGE 143, 101 (140, Rn. 129 ff., 153, Rn. 170); 131, 152 (195); 104, 151 (207); dazu auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 206 ff., 233 ff., der auf Schriften der klassischen Staatslehre rekurriert. Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 181 geht hingegen davon aus, dass das Erfordernis einer formellen gesetzlichen Grundlage spätestens seit dem BNDG von 1990 „für alle Behörden der inneren Sicherheit“ anerkannt sei. 2316
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regierung darüber, wo und unter welchen Kooperationsbedingungen der Bundesnachrichtendienst allein oder mit Partnern außerhalb des Bundesgebietes strategisch Telekommunikationsdaten erhebt. Wenn er dies aus außenpolitischen Überlegungen tun soll, muss es hierfür eine gesetzliche Grundlage geben, da eine Geltung der Grundrechte ohne Geltung des Gesetzesvorbehaltes diese letztlich zu reinen Leitlinien ohne ausdifferenzierte Einhegungsfunktion staatlicher Handlungsmacht herabstufen würde2318; über deren Detailliertheit ist damit noch nichts gesagt. Ein Primat des Auswärtigen vor den Grundrechten und mithin ihren jeweiligen Anforderungen bei Beschränkungen kennt das Grundgesetz nicht pauschal2319. Das Bundesverfassungsgericht geht auf die Frage, ob überhaupt eine gesetzliche Normierung nachrichtendienstlicher Befugnisse für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung geschaffen werden kann, nur in Bezug auf mögliche Konflikte mit fremden Rechtsordnungen ein und verneint eine völkerrechtliche Beschränkung diesbezüglicher Regelungen zu Recht2320. Hierbei weist der Erste Senat auch auf zahlreiche Regelungen anderer demokratischer Rechtsstaaten (USA, Großbritannien und Frankreich) zur strategischen Aufklärung von Telekommunikation durch Nachrichtendienste hin2321. Eine gesetzliche Regelung ist demnach – je nach Sichtweise – zwar eventuell „anrüchig“ 2322, aber sicherlich möglich. Diese hat auch nur eine „innerstaatliche Ermächtigungsfunktion“, weswegen schon die Sichtweise, dass ein deutsches Gesetz gleichsam im ausländischen Rechtsraum wirkt, fehl geht2323. Daran, dass der Gesetzesvorbehalt in grundrechtlicher wie parlamentarisch-demokratischer Verantwortungsperspektive auch für die Regelung von Auslandstätigkeiten durch den Bundesnachrichtendienst gilt, lässt der Erste Senat richtigerweise keine Zweifel aufkommen2324. Ebenso wie das Budget und die Personalplanung der Nachrichtendienste parlamentarischer Kontrolle unterlägen, müssten auch ihre Befugnisse normenklar bestimmt, öffentlich geregelt und an klare Verantwort-
2318 Wie hier auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 206 ff., 236 f.; Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 188 in Bezug auf die Bundeswehr; in Bezug auf zwischenstaatliche Kooperation auf Grundlage völkerrechtlicher Verträge oder auch ohne eine formelle Grundlage – wie in der Praxis der nachrichtendienstlichen Kooperation – für die Notwendigkeit der Einhaltung des Gesetzesvorbehalts auch Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 325 f. 2319 So auch Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 48. 2320 BVerfGE 154, 152 (222 ff., Rn. 100 ff.). 2321 BVerfGE 154, 152 (223, Rn. 103, 247, Rn. 160). 2322 Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 470. 2323 BVerfGE 154, 152 (223, Rn. 103); so auch die Deutung des BVerfG bei Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 952. 2324 BVerfGE 154, 152 (239, Rn. 139) – „Mit der Grundrechtsbindung korrespondiert die parlamentarisch-demokratische Verantwortung für die Einschränkung der Grundrechte“; für die Notwendigkeit einer einfachgesetzlichen Eingriffsgrundlage auch erneut Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 952.
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lichkeiten gebunden werden2325. Dies gilt auch für solche, die Grundrechtseingriffe im Ausland erlauben. Ein anderes Ergebnis ist auch kaum vorstellbar, da andernfalls das Fernmeldegeheimnis, das auch im Ausland gilt bzw. keine Differenzierung hinsichtlich des Standortes der Telekommunikationsteilnehmer ermöglicht, ohne Ermächtigungsgrundlage als das zentrale Element des demokratischen Rechtsstaates zur Einhegung staatlicher Macht beschränkt werden könnte. Dies widerspricht dem Grundgedanken der Grundrechte und der demokratischen Verantwortlichkeit des Gesetzgebers. Nur durch eine öffentliche Debatte, insbesondere bei der Schaffung von technisch hochpotenten Ermächtigungsgrundlagen wie der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, kann Klarheit darüber gewonnen werden, „ob das was technisch möglich ist, auch [normativ] verwirklicht werden soll“ 2326. Im Ergebnis kann die Datenerhebung vom Ausland aus nicht auf die reine Aufgabennorm des § 1 II 1 BNDG gestützt werden2327. Der Gesetzgeber hat diese schließlich nicht einmal als Befugnisnorm schaffen wollen. Etwas anderes ließe sich – sofern dem Gesetzesvorbehalt noch eine nennenswerte Funktion auch bei Datenerhebungen im Ausland verbleiben soll – nur dann vertreten, wenn von einer Nichtgeltung des Fernmeldegeheimnisses im Ausland gegenüber Ausländern ausgegangen wird2328. c) Normenklare, hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlagen – auch insoweit keine Privilegierung der Nachrichtendienste Eng mit der Frage, ob der Gesetzesvorbehalt überhaupt gilt, ist diejenige verbunden, welche Anforderungen an die Normierung inhaltlich zu stellen sind. Das Gesetz, welches den anwendbaren Gesetzesvorbehalt wahrt, muss nach langjähriger Rechtsprechung insbesondere bei der Datenverarbeitung dem Gebot der Normenklarheit und dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen2329. Anlass, Zweck und Grenzen des Grundrechtseingriffes müssen mithin in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden2330. Daten dürfen schlech2325
BVerfGE 154, 152 (238 f., Rn. 139). Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 188; so auch schon B. Schlink, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, in: VVDStRL 48 (1990), S. 235 (250). 2327 Wie hier auch BVerfGE 154, 152 (303, Rn. 309); Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 348, jedenfalls bei grundrechtsgeschützten Personen; ferner Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 273; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 222 ff.; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 163. 2328 Insoweit konsequent für eine rechtskonforme Ermächtigungsgrundlage des § 7 bzw. § 1 II 1 BNDG Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526; Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 396 f. 2329 BVerfGE 156, 11 (44, Rn. 85); 155, 119 (176 f., Rn. 123); 154, 152 (237 f., Rn. 137); 150, 244 (279, Rn. 83); 141, 220 (265, Rn. 94); 133, 277 (336, Rn. 140); 120, 378 (407 f.); 113, 348 (375 ff.); 100, 313 (359 f.); 65, 1 (44). 2330 Stellvertretend BVerfGE 110, 33 (53); 100, 313 (359 f.); Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 34; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 270. 2326
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terdings nicht zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken gesammelt werden; hierbei handelt es sich um eine zentrale, absolute verfassungsrechtliche Grenze bei Datenerhebungen und diesbezüglichen Normen, die das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung – seit dem Volkszählungsurteil – hochhält und die nicht überschritten werden darf 2331. Das Bestimmtheitsgebot wird – jenseits des Art. 103 II GG – wahlweise im Rechtsstaatsprinzip oder den Grundrechten selbst verortet2332; ihm kommt im Sicherheitsrecht eine „herausragende Bedeutung“ zu2333. Der Grundsatz soll – hier als Ausgestaltung des Gesetzesvorbehaltes verstanden2334 – dafür Sorge tragen, dass den Bürgern Rechte und Pflichten aus Sicherheitsgesetzen hinreichend transparent gemacht werden und sie ihr Verhalten hieran ausrichten können, der Handlungsspielraum der Behörden inhaltlich und quantitativ begrenzt und eine nachträgliche Kontrolle durch Gerichte und sonstige Institutionen ermöglicht wird2335. Es darf mithin nicht durch eine „Kombination von unscharfen Begriffen eine Gesamtunschärfe der Norm entstehen“ 2336, wodurch eine sinnvolle Deutung unter Zugrundelegung hergebrachter Auslegungsmethoden nicht mehr hinreichend ein2331
BVerfGE 125, 260 (317); 100, 313 (360); grundlegend BVerfGE 65, 1 (46). Siehe zur Herleitung des Bestimmtheitsgebots nur Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 339 f., der zudem betont, dass zwischen dem Terminus des Bestimmtheitsgrundsatzes und der Formulierung des BVerfG „Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheit“ kein inhaltlicher Unterschied besteht; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 182. 2333 So die Wertung bei Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 335, der indes in der starken Betonung des Bestimmtheitsgrundsatzes durch das BVerfG ein Misstrauen gegenüber der Verwaltung erblickt (S. 337 f.); zur Bedeutung des Gebots der Normenklarheit und Bestimmtheit im Sicherheitsrecht ausführlich R. Bartone, Gedanken zu den Grundsätzen der Normenklarheit und Normenbestimmtheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, in: Rensen/Brink, Rechtsprechung Bd. 1 (Fn. 1197), S. 305 (327 f.). 2334 Das BVerfG behandelt die Frage, ob es einer gesetzlichen Regelung überhaupt bedarf und welchen Anforderungen an diese nach dem Bestimmtheitsgrundsatz zu stellen sind, regelmäßig in einem Zuge, siehe BVerfGE 154, 152 (237 ff., Rn. 137 ff.); das Bestimmtheitsgebot stehe in engem Bezug zum grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt, so BVerfGE 133, 277 (336 f., Rn. 140). Recht eigentlich erscheint es aber dogmatisch präziser, zuerst zu bestimmen, ob es überhaupt einer normativen Grundlage entsprechend dem grundrechtlichen und parlamentarischen Gesetzesvorbehaltes bedarf und in einem zweiten Schritt die konkreten Anforderungen an die Ausgestaltung der Eingriffsbefugnis zu vermessen – deshalb wird hier eine Trennung diesbezüglich vorgenommen, was jedoch keinesfalls im Gegensatz zur Herangehensweise des BVerfG steht. 2335 Zusammenfassend BVerfGE 156, 11 (44 ff., Rn. 85 ff.); Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 154; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 212 f.; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 341; instruktiv aus der langen Reihe der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hierzu auch BVerfGE 120, 378 (407 f.); die notwendige Kontrollmöglichkeit klandestiner nachrichtendienstlicher Maßnahmen durch Gerichte betont Dietrich (Fn. 157), § 3 Rn. 50, der zugleich unterstreicht, dass es keinen „nachrichtendienstlichen Beurteilungsspielraum“ gäbe. 2336 Prononciert zum Verbot defizitärer Tatbestandsmerkmale unter dem Bestimmtheitsgrundsatz Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 184 f. 2332
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deutig möglich ist. Die Normenklarheit setzt deswegen auch gesetzlichen „Verweisungsketten“ Grenzen, da zwar der Verweis einer Norm auf eine andere an sich unschädlich ist; übermäßige Schwierigkeiten bei der Praxisanwendung durch „unübersichtliche Verweisungskaskaden“ sind aber mit den grundrechtlichen Anforderungen an die Normenklarheit nach der Rechtsprechung richtigerweise nicht vereinbar2337. Verweisungen müssen überdies begrenzt bleiben und dürfen nicht durch Inbezugnahme von Normen, „die [schlechterdings] andersartige Spannungslagen bewältigen“, ihre Eindeutigkeit einbüßen2338. Bei heimlichen Datenerhebungsvorschriften stellt der Bestimmtheitsgrundsatz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besonders strenge Anforderungen auf, da die Betroffenen von den hoheitlichen Maßnahmen regelmäßig keine Kenntnis erlangen und „sich die Befugnisse somit nicht im Wechselspiel von behördlichen Einzelanordnungen und gerichtlicher Kontrolle schrittweise konkretisieren können“ 2339. Die Anforderungen an die Normenklarheit und Bestimmtheit machen jedoch nicht bei den Datenerhebungsvorschriften halt, sondern gelten für jeden weiterführenden Grundrechtseingriff, wie etwa die Datenübermittlung oder die Verarbeitung in einer nachrichtendienstlichen Kooperation2340. Ferner kommt dem Bestimmtheitsgrundsatz die bereits dargelegte parlamentarische Legitimations- und Rückkopplungsfunktion zu. Entsprechend einem allgemeinen Gedanken im Sicherheitsrecht werden die Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz umso höher, je intensiver der hoheitliche Eingriff auf eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition einwirkt2341. Angesichts des besonders schweren Eingriffsgewichts der gesamten Auslandstelekommunikationsüberwachung sind demnach grundsätzlich hohe Standards an die einschlägigen Ermächtigungsgrundlagen hinsichtlich deren Normenklarheit und Bestimmtheit anzulegen. 2337 Für diese gleichsam anwenderfreundliche Auslegung des Grundrechtsschutzes BVerfGE 154, 152 (266, Rn. 215); bestätigt durch BVerfGE 156, 11 (46, Rn. 88); dahingehend auch schon BVerfGE 110, 33 (57 f.); ebenso Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 185; konkret für den Kontext der Auslandsaufklärung durch den BND Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831. 2338 BVerfGE 154, 152 (266, Rn. 215). 2339 BVerfGE 156, 11 (45 f., Rn. 87); 154, 152 (238, Rn. 137) mit hiesigem Zitat; maßgeblich zuvor BVerfGE 141, 220 (265, Rn. 94); zu diesem Kontrollgedanken aus menschenrechtlicher Warte auch EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 306 – Big Brother Watch u. a.; EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 93 f. – Weber u. Savaria; dies gilt insbesondere bei heimlichen Maßnahmen der Nachrichtendienste, siehe Dietrich (Fn. 157), § 3 Rn. 48; eingehend zu den Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz bei heimlichen Eingriffen auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 187 ff. 2340 BVerfGE 154, 152 (266 ff., Rn. 212 ff.), zu Datenübermittlungen in Einzelfällen, BVerfGE 154, 152 (281 ff., Rn. 252 ff.), zur Wahrung verfassungsrechtlicher Bestimmtheitsgrundsätze bei Datenübermittlungen innerhalb einer Kooperation. 2341 BVerfGE 156, 11 (45 f., Rn. 87); 141, 220 (265, Rn. 94); 120, 378 (408); 110, 33 (55); Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 154.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
Die skizzierten verfassungsrechtlichen Anforderungen sind indes größtenteils in Bezug auf präventiv-polizeiliche Befugnisse und Inlandssachverhalte entwickelt worden2342. In Bezug auf den Auslandsnachrichtendienst und insbesondere die strenge Geheimhaltung der Fähigkeiten zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung stellt sich die Frage, ob hier dieselben Maßstäbe angelegt werden können. Insbesondere die Auslandsaufklärung wurde – in der Tendenz auch durch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil im Jahr 19992343 – als ein sicherheitsrechtlicher Gegenstand angesehen, bei dem durch den Gesetzestext nicht mehr als unbedingt nötig Ziele und Wirkweisen der Aufklärung publik werden sollten, um zu verhindern, dass sich potentielle Überwachungsziele hierauf einstellen können2344. Die besondere Funktion des Dienstes sollte also Modifizierungen – gerade auch in Ansehung der Auslandstätigkeit – der Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes rechtfertigen. Auch die Ursprungsfassung des BNDG von 1990 sollte von ihrer Anlage her möglichst wenig über potentielle Aufklärungsmaßnahmen offenbaren, um die Wirkweise des Dienstes bestmöglich abzuschirmen2345. Wenn aber Geheimschutzbelange den Bestimmtheitsgrundsatz ganz oder jedenfalls in großen Teilen dispensieren könnten, würde eine zentrale Steuerungsfunktion verloren gehen: Sofern der Rechtsstaat mit seinem zentralen Werkzeug, dem Parlamentsgesetz, die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung nur schemenhaft normieren dürfte und aussagekräftige Tatbestandsmerkmale allenfalls im Binnenrecht genutzt würden, bliebe die Überwachung letztlich von rechtsstaatlichen Anforderungen – trotz erwiesener besonders schwerer Grundrechtseingriffe – de facto weitgehend freigestellt. Das Bundesverfassungsgericht ist diesem Gedanken jetzt richtigerweise eindeutig entgegengetreten2346: Für die Nachrichtendienste gelte im Hinblick auf das Gebot der Normenklarheit und den Bestimmtheitsgrundsatz „keine Ausnahme“ 2347. 2342 Siehe zum Wechselspiel der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und der Frage der Übertragbarkeit auf die Nachrichtendienste in Bezug auf den Bestimmtheitsgrundsatz stellvertretend Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 35 f. 2343 BVerfGE 100, 313 (373). 2344 Unlängst Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 342 f.; ferner für eine allenfalls grobe Normierung Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 468 ff., 482 f.; Krieger, Grundrechtsbindung (Fn. 1589), S. 10; allgemein auch Nettesheim (Fn. 1407), § 241 Rn. 73, in Bezug auf die Schaffung eines Eingriffsrechts für die Bundeswehr im Auslandseinsatz. 2345 Siehe zu diesem im Gesetz seitjeher angelegten Geheimnisschutzgedanken instruktiv Gusy (Fn. 229), Vorb. BNDG Rn. 10. 2346 Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411, erblickt hierin zu Recht eine „grundlegende Weiterentwicklung der G 10-Entscheidung“; die Fortsetzung der „etablierten Rechtsprechungslinie im Sicherheitsrecht“ betont ferner Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829. 2347 Pointiert BVerfGE 154, 152 (238, Rn. 138); Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 719 sieht hierin die Konkretisierung des Beitrags von Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 13 („Transparenz der Intransparenz“), spricht insoweit aber von einer „paradoxen wie stupenden Formulierung“.
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Zwar erkennt der Erste Senat die besonders gesteigerten Geheimhaltungsbedürfnisse des Bundesnachrichtendienstes und der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung – die wohl auch niemand generell in Abrede stellen will – an, verortet diese jedoch im operativen Teil der nachrichtendienstlichen Tätigkeit in Bezug auf einzelne Maßnahmen, den Detaillierungsgrad der Aufklärung und die Ressourcen und technischen Fähigkeiten2348. Diesen nachrichtendienstspezifischen Anforderungen dürfe der Gesetzgeber Rechnung tragen. Hieraus lasse sich jedoch nicht ableiten, dass „über den Bundesnachrichtendienst überhaupt möglichst wenig bekannt werden dürfte und auch seine Rechtsgrundlagen möglichst weitgehend im Dunklen bleiben müssten“ 2349. Dazu verweist der Erste Senat auf die bereits dargelegten Überlegungen einer demokratischen Legitimation durch den parlamentarischen Gesetzgeber2350. Der freiheitliche Verfassungsstaat ringt schließlich immer um das richtige Verhältnis zwischen Transparenz als indisponible Bedingungen demokratischer Öffentlichkeit und den notwendigen Geheimhaltungsinteressen gerade auch nachrichtendienstlicher Arbeit, die anderenfalls obsolet wäre2351. Darüber hinaus ist die Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes für Nachrichtendienste aber auch entscheidend, um den Bürgern zu vermitteln, welche Daten wie und unter welchen Voraussetzungen erhoben werden. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, die Jahrzehnte im Verborgenen ohne Rechtsgrundlage betrieben wurde. Erst jetzt kann erstmals ein klareres Bild für die Rechtsunterworfenen gezeichnet werden. Auch ist eine effektive Kontrolle ohne klare Befugnisstrukturen nicht zu realisieren, was freilich auch das Bundesverfassungsgericht herausstellt. Den Befürwortern einer weitgehenden Geheimhaltung bzw. Verallgemeinerung nachrichtendienstlicher Befugnisse zum Schutze der Handlungsfähigkeit der Auslandsaufklärung lässt sich ferner entgegenhalten, dass etwa auch das Polizeirecht durch operativ-taktische Geheimhaltungsinteressen geprägt ist, was jedoch nicht dazu führt, hier Raum für eine Herabsetzung des Bestimmtheitsgrundsatzes oder gar der Grundrechtsbindung generell zu sehen2352. Auch wird wohl niemand postulieren, die Lektüre der StPO verhindere die Aufklärung von Straftaten, weil Täter sich über die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft informieren können2353. Dieser Gedanke gilt auch im internationalen Ringen der Nachrichtendienste um 2348
BVerfGE 154, 152 (238, Rn. 138). BVerfGE 154, 152 (238, Rn. 139). 2350 BVerfGE 154, 152 (239, Rn. 139) – „Geheimhaltung gilt insoweit nur nach Maßgabe des öffentlichen Gesetzes. Sie ist auch für die Auslandsaufklärung kein Selbstzweck, sondern nur gerechtfertigt, wenn Art und Umfang der geheimhaltungsbedürftigen Tätigkeit des Dienstes in demokratisch-öffentlicher Weise legitimiert sind und die Geheimhaltung in den spezifischen Grenzen funktionaler Notwendigkeit verbleibt.“ 2351 Instruktiv zum Konflikt von Transparenz und Geheimhaltung von Nachrichtendiensten im freiheitlichen Verfassungsstaat Wolff (Fn. 949), § 1 Rn. 1 ff. 2352 Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 209 f. 2353 So auch erneut Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 209 f. 2349
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
Informationsvorsprünge und gleichzeitig möglichst effektive Abschirmung der eigenen Tätigkeiten. Nahezu alle Staaten betreiben Spionage und – im Rahmen ihrer jeweiligen tatsächlichen Möglichkeiten – Fernmeldeaufklärung. Es wäre lebensfremd, davon auszugehen, dass sich die Dienste anderer Länder im Bundesgesetzblatt über die Tatsache und die Rahmenbedingungen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung des Bundesnachrichtendienstes informieren. Viele ausländische Dienste werden hierüber durch eigene nachrichtendienstliche Aktivität zum Nachteil des Bundesnachrichtendienstes mehr oder weniger genau im Bilde sein; zumal der Bundesnachrichtendienst mit vielen Partnerdiensten weltweit kooperiert, die ebenfalls strategische Überwachung von Telekommunikation betreiben und auch diesbezüglich Daten austauschen. Die Geheimhaltung betrifft mithin die Operationen und technischen Fähigkeiten im Einzelnen, nicht aber die Rechtsgrundlagen2354. Erst recht kann der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung als vollkommen neue rechtliche Grundlage, die nunmehr erstmals gerichtlicher Kontrolle unterlag, nicht attestiert werden, sie sei, wie die polizeirechtliche Generalklausel, durch jahrzehntelange Rechtsprechung und Lehre hinreichend konkretisiert2355. Auch die strategische Fernmeldeaufklärung unterliegt trotz ihrer vergleichsweise langen Geschichte keinesfalls der breiten und langjährigen gerichtlichen Kontrolle und der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit wie das herkömmliche Polizeirecht. Mit seiner Erstreckung des Bestimmtheitsgrundsatzes auf die Nachrichtendienste gliedert das Bundesverfassungsgericht diese auch insoweit in den Rechtsrahmen des allgemeinen Sicherheitsrechts ein2356 und nimmt – zustimmungswürdig – erneut eine Deprivilegierung der Dienste, konkret des Bundesnachrichtendienstes vor. Geheimhaltungsinteressen sind demnach in Bezug auf Operationen, Ressourcen, Fähigkeiten und interne Organisation des Bundesnachrichtendienstes 2354 So auch im Ergebnis BVerfGE 154, 152 (239, Rn. 140); in der Sache ebenfalls affirmativ Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 719. Was unter die Operationen und faktischen Fähigkeiten fällt bzw. welcher Abstraktionsgrad der Beschreibung im Gesetz noch hinnehmbar ist, muss freilich im Einzelfall bestimmt werden. 2355 So aber Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 343; dies bedeutet freilich nicht, dass der Bestimmtheitsgrundsatz eine Nutzung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln – auch für schwere Grundrechtseingriffe – verbieten würde, es geht vielmehr um die generelle Bestimmbarkeit der Normen, siehe dazu instruktiv Bartone, Gedanken (Fn. 2333), S. 327. Ob der tradierte polizeirechtliche Gefahrbegriff angesichts seiner zahlreichen Varianten mit unterschiedlichen Konkretisierungsanforderungen, insbesondere auch in der Rechtsprechung des BVerfG, indes heute überhaupt noch pauschal als in jahrzehntelanger Wissenschaft und Praxis geklärt gelten kann bezweifelt, eingehend Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 74. Dazu auch sogleich im Rahmen der Angemessenheit. 2356 Allgemein zur Entwicklung konvergenter Rechtfertigungsmaßstäbe für Informationseingriffe im Sicherheitsrecht mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 343; für eine Gleichbehandlung der Sicherheitsbehörden beim Bestimmtheitsgrundsatz unter expliziter Einbeziehung der Nachrichtendienste auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 195 ff.
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hinzunehmen und zu schützen; dies gilt jedoch nicht für abstrakt-generelle gesetzliche Befugnisse, die auch bei Nachrichtendiensten das Licht der demokratischen Öffentlichkeit nicht scheuen dürfen2357. Das Grundgesetz kennt keine Geheimgesetzgebung bzw. pauschale Ermächtigungen zu besonders schweren Grundrechtseingriffen. Damit werden die Nachrichtendienste, an den tradierten Anforderungen der Normenklarheit und Bestimmtheit gemessen, die auch für rein inländisch operierende präventiv-polizeiliche Maßnahmen gelten2358. Dies ist ein weiterer Schritt zur einer Nivellierung von materiell-rechtlichen Privilegien der Nachrichtendienste. Dieser ist insoweit, obschon ebenfalls pauschal angelegt, zu begrüßen – anders als allzu undifferenzierte Tendenzen einer unterschiedslosen Parallelisierung von befugnisspezifischen Eingriffsschwellen jenseits höchstinvasiver Eingriffe. Hiergegen lassen sich auch keine Bedenken aus dem polizeirechtlichen Schrifttum anführen, dass eine Überkodifikation drohe, die ihrerseits zu unbestimmten und normenunklaren Befugnisstrukturen führe2359. Gerade das Nachrichtendienstrecht führt vor Augen, dass es normenklarer und eben auch sehr bestimmter Befugnisse bedarf, um klandestines staatliches Handeln einzuhegen. Andernfalls können Maßnahmen – wie früher die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – schlichtweg auf Normen (§ 1 II BNDG) gestützt werden, die hierüber nichts aussagen oder deren Umfang unter Berufung auf vermeintlich unumgängliche Geheimhaltungsinteressen camoufliert wird2360. Dafür ist im Rechtsstaat kein Platz. 4. Verhältnismäßigkeit einer strategischen Datenerhebung zur Auslandstelekommunikationsüberwachung Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist zweifelsohne das überragende Element der sicherheitsverfassungsrechtlichen Kontrolle von Grundrechtseingriffen2361. 2357
Dahingehend auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 269 f. So auch Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411, der die Anwendung der Maßstäbe des BKAG-Urteils betont. 2359 Dezidiert gegen eine zu strenge Handhabung des Grundsatzes der Normenklarheit und Bestimmtheit – freilich im Grundsatz auf das Polizeirecht bezogen –, wie sie vor allem im BKAG-Urteil ausgeformt wurde, indes M. Möstl, Projekt Musterpolizeigesetz – Eine Stellungnahme, in: DV 53 (2020), S. 21 (26), der bemängelt, dies führe zu immer komplexeren und ausladenderen Normen, was wiederum die Normenklarheit konterkariere; dahingehend auch schon zum BKAG Sondervotum Schluckebier BVerfGE 141, 220 (378, Rn. 29). 2360 Über den Detaillierungsgrad im Einzelnen wird man freilich mit konkretem Normbezug streiten können. 2361 Siehe etwa Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 174; Petersen, Verfassungsrecht II (Fn. 1190), § 2 Rn. 65; Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 405; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 353; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 205 m. Fn. 136; ausführlich zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch D. Merten, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: ders./Papier, HGR III (Fn. 1317), § 68 Rn. 50 ff. 2358
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Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung muss demnach – entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der hergebrachten Lehre – einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und vor allem angemessen sein2362. Dabei liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne respektive der Angemessenheit des besonders schweren Grundrechtseingriffes2363. Diese stellt – jedenfalls nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts – weit ins Detail gehende Anforderungen an eine materiell verfassungskonforme Ausgestaltung einer strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung. a) Nachrichtendienstliche Auslandsaufklärung als legitimer Zweck Der Gesetzgeber muss bekanntermaßen einen legitimen Gemeinwohlzweck mit der strategischen Aufklärung verfolgen2364. Die Information der Bundesregierung über das Ausland in Fällen von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung und zu bestimmten Gefahrbereichen zur Wahrung der Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik und Ermöglichung politischer Reaktionen hierauf wird man unschwer als solch einen legitimen Zweck einstufen können2365. Sofern die Gefahrbereiche – wie in § 5 I 3 G 10 – spezifischer gefasst sind, lässt sich freilich auch die Information der Bundesregierung über hierin aufgelistete Gefahren für hochrangige Rechtsgüter2366, die sich weitestgehend gegen das Gemeinwesen als Ganzes richten2367, als legitimer Zweck identifizieren2368. Das Bundesverfassungsgericht hat ferner sogar den Verweis auf die „Aufgaben der Nachrichtendienste“ als legitimen Zweck der gesetzgeberischen Regelung zum ersten Aufschlag der Vorratsdatenspeicherung ausreichen lassen2369. Dies steht im Einklang mit der Feststellung, die Nachrichtendienste seien vom Grundgesetz – in concreto Art. 45d, Art. 73 I Nr. 10 lit. b und Art. 87 I 2 GG – ausdrücklich zugelassen und 2362 Siehe aus der langen Rechtsprechungsreihe nur BVerfGE 154, 152 (239, Rn. 141); 141, 220 (265, Rn. 93); 125, 260 (316); 120, 378 (427); 120, 274 (318 f.); 104, 337 (347 ff.); 100, 313 (373 ff.); 67, 157 (173); 65, 1 (54). 2363 BVerfGE 154, 152 (240 f., Rn. 144) verwendet eine von 332 Randnummern auf die Prüfung des legitimen Zwecks, der Geeignet- und Erforderlichkeit; tendenziell auch schon BVerfGE 100, 313 (373 ff.); siehe auch für die Literatur in Bezug auf strategische Überwachungsbefugnisse für das BfV Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 174. 2364 Zur Gemeinwohlorientierung des legitimen Zwecks staatlichen Handelns BVerfGE 100, 313 (359, 373); Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 206. 2365 BVerfGE 154, 152 (240 f., Rn. 144). 2366 BVerfGE 100, 313 (373). 2367 Siehe für diese Bedrohungslage durch den internationalen Terrorismus BVerfGE 143, 101 (139 f., Rn. 125); 133, 277 (333 f., Rn. 133). 2368 Statt vieler siehe auch unlängst Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 311. 2369 So in apodiktischer Kürze BVerfGE 125, 260 (316 f.); siehe dazu auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 174 m. Fn. 118; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 357.
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Ausdruck des Grundgesetzes für eine wehrhafte Demokratie und des Selbstbehauptungswillens des Rechtsstaates2370. Angesichts dessen kann es nicht verwundern, dass das Bundesverfassungsgericht den legitimen Zweck der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung in aller Kürze feststellt2371. Der Intention des Gesetzgebers, Informationen über außen- und sicherheitspolitische Gefahrenfelder mittels strategischer Aufklärung zu gewinnen, wird man indes auch kaum die Legitimität absprechen können. b) Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung als geeignetes technisches Mittel Ebenfalls verfassungsrechtliches Gemeingut stellt die Aussage dar, dass Grundrechtseingriffe die Erreichung des vom Gesetzgeber verfolgten Ziels zumindest fördern müssen, also nicht von vornherein untauglich sein dürfen, um der Geeignetheit zu entsprechen2372. Das Bundesverfassungsgericht gesteht dem Gesetzgeber einen nicht unerheblichen Einschätzungsspielraum2373 bei der Auswahl des geeigneten Mittels zu und beschränkt seine Kontrolle darauf, dass der gewählte Ansatz nicht von vornherein untauglich sein darf 2374. Diese breite Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers führt dazu, dass sicherheitsrechtliche Befugnisse bei der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kaum an der Schwelle der Geeignetheit scheitern können2375. So sieht der Erste Senat die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung denn auch ohne Weiteres als geeignetes Mittel an, Informationen über außen- und sicherheitspolitische Zusammenhänge mit Interesse für die Bundesregierung zu gewinnen2376. Daran soll auch die Tatsache, dass bei einem strategischen Ansatz zwangsläufig große Datenmengen ohne „relevanten Informationsgehalt“ zunächst miterfasst werden, nichts ändern, da dieser groß angelegte Zuschnitt der Maßnahme dennoch „bedeutsame Erkenntnisse“ zu Tage fördere2377. Gleiches gilt für Verschlüsselungs2370 So jedenfalls die Einordnung der Nachrichtendienste durch den Zweiten Senat in BVerfGE 146, 1 (49 f., Rn. 101); 143, 101 (139, Rn. 126); dahingehend auch schon Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 359. 2371 Allgemein zur grundsätzlichen Kürze der verfassungsgerichtlichen Prüfung des legitimen gesetzgeberischen Zwecks Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 356. 2372 Stellvertretend BVerfGE 100, 313 (373); für die Literatur der Handbuchbeitrag von Merten (Fn. 2361), § 68 Rn. 65. 2373 BVerfGE 120, 274 (320); Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 28. 2374 Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 358; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 207; pointiert auch Merten (Fn. 2361), § 68 Rn. 65 m.w. N. 2375 Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 28; siehe ferner Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 359, wonach bisher kein sicherheitsrechtliches Instrument schon auf dieser Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch das BVerfG verworfen wurde. 2376 BVerfGE 154, 152 (240 f., Rn. 144). 2377 BVerfGE 154, 152 (240 f., Rn. 144); ebenso BVerfGE 115, 320 (345); 100, 313 (373); Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 174.
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möglichkeiten von Telekommunikation – auf die das Bundesverfassungsgericht im neuesten Urteil nicht einmal eingeht –, welche nicht auf „gesetzlicher“, sondern erst auf „Anwendungsebene“ Berücksichtigung finden sollen2378. Nach damaligen Angaben der Bundesregierung lief nur ein geringer Teil der Telekommunikation verschlüsselt ab2379. Dennoch hatten die Beschwerdeführer 1999 aufgrund möglicher Verschlüsselung noch durchgreifende Bedenken an der Geeignetheit angemeldet2380; in der aktuellen Verfassungsbeschwerde wurde dahingehend – einigermaßen überraschend – indes nichts vorgetragen. Dabei wäre höchst interessant gewesen, inwieweit Verschlüsselung die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung behindert oder gar vereitelt. Dies gilt freilich nur für Inhaltsdaten, da Metadaten im Regelfall unverschlüsselt übertragen werden. Auch die Tatsache, dass Personen und Bestrebungen von nachrichtendienstlichem Interesse gezielt und breit Verschlüsselungen nutzen, Journalisten aber etwa nicht, machte die strategische Fernmeldeaufklärung aus Sicht des Ersten Senats 1999 nicht zu einem ungeeigneten Mittel2381. Angesichts mittlerweile omnipräsenter Überwachungsmöglichkeiten von Telekommunikation und der ohne große technische Hürden zu implementierenden Ende-zu-Ende Verschlüsselung in Messengern oder mittels PGP-Technik bei Emails2382 – deren Nutzung insbesondere bei Investigativjournalisten mittlerweile weit verbreitet sein dürfte2383 – wird man von einer anderen tatsächlichen Ausgangslage auszugehen haben2384. Selbiges gilt für die Fortschritte des Bundesnachrichtendienstes beim Einsatz von Entschlüsselungstechnik2385. Dass weiterhin tatsächlich Informationen gewonnen werden, belegt das hohe Meldeaufkommen, welches sich aus der strategischen Überwachung speist. Angesichts des breiten Einschätzungsspielraumes des Gesetzgebers ist aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts die Eignung des sicherheitsrechtlichen Mittels gegeben. 2378
BVerfGE 100, 313 (374 f.). BVerfGE 100, 313 (375). 2380 BVerfGE 100, 313 (327); siehe dazu auch Müller-Terpitz, Kontrolle (Fn. 62), S. 298. 2381 BVerfGE 100, 313 (374 f.); kritisch hierzu maßgeblich Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 674, der jedenfalls auf Stufe der Angemessenheit eine erneute Auseinandersetzung des Senats mit diesem Problem für notwendig erachtet. 2382 Siehe für einen ersten Zugriff auf die Technik https://www.heise.de/ct/artikel/ Einfach-erklaert-E-Mail-Verschluesselung-mit-PGP-4006652.html (11.8.2020); Schneider, Herausforderungen (Fn. 1033), 503; Gerhards, Verschlüsselung (Fn. 1855), S. 29 ff.; siehe auch die Nachweise in Fn. 2138. 2383 Reporter ohne Grenzen bietet zu den Themen Verschlüsselung und Internetsicherheit für Journalisten eigene Schulungen sowie weitergehende Unterstützung an, vgl. https://helpdesk.rsf.org/ (11.8.2020). 2384 Anders noch Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 674. 2385 Siehe zu den fortschreitenden Dekryptierungsmöglichkeiten der Sicherheitsbehörden beispielhaft – wenngleich nicht direkt auf den Bundesnachrichtendienst bezogen – BVerfGE 120, 274 (320); zur Dekodierung von Messengerkommunikation und dem Projekt ANISKI des BND siehe schon Fn. 463. 2379
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Das „großzügige Verständnis der Geeignetheit“ durch das Bundesverfassungsgericht stößt jedoch nicht auf ungeteilte Zustimmung2386. So wird ein strengeres Eignungsverständnis angemahnt, welches jedenfalls rein zufällige Erfolge sicherheitsbehördlicher Informationseingriffe nicht mehr toleriert und in der Folge strategische Überwachungen und Rasterfahndungen an zielgerichtetere Kriterien binden will2387. Ebenso soll die weite Verbreitung von Verschlüsselungsmethoden schon auf Gesetzesebene verarbeitet werden, indem etwa tatbestandliche Vorbehalte implementiert werden, falls bekannt ist, dass Telekommunikationsteilnehmer Kryptierung nutzen2388. Letzteres erscheint indes zumindest bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung allenfalls bei der gezielten Steuerung von Telekommunikationsteilnehmern denkbar; bei der strategischen Überwachung in der Breite ist eine Verschlüsselung des Inhalts schließlich erst nach Erfassung faktisch zu erkennen; zudem ist der metadatenzentrierte Ansatz des Bundesnachrichtendienstes in vielen Fällen eher an den unverschlüsselten Begleitumständen des Telekommunikationsaufkommens interessiert. Ohne weitere Kenntnisse der Entschlüsselungsmöglichkeiten und eventueller Hemmnisse der Aufklärung, die durch chiffrierte Telekommunikation entstehen, fällt es schwer, konkrete Einschätzungen der Geeignetheit der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung diesbezüglich abzugeben. Eine Verschärfung der Anforderungen an die zu ermittelnden Gefahrbereiche bzw. Selektoren lässt sich eher bei der Beurteilung der Angemessenheit verorten, da hier das Eingriffsgewicht, der beabsichtigte Rechtsgüterschutz und die Spezifika der Maßnahme – mithin auch die Datenverarbeitungszwecke, die initial eine Erhebung überhaupt erst legitimieren – in Bezug zueinander gesetzt werden können2389. Im Ergebnis ist die strategisch-technische Aufklärung daher, im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht, trotz Bedenken an der Reduzierung des Kontrollmaßstabes auf offensichtliche Fälle, als geeignetes Mittel zur Zielerreichung anzusehen2390.
2386 Dezidiert kritisch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 208 ff.; siehe auch erneut die Zweifel konkret zur Geeignetheit der strategischen Fernmeldeaufklärung bei Paeffgen, Urteil (Fn. 557), S. 674. 2387 Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 209 ff.; a. A. Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 174, der die Suche nach der „,Nadel im Heuhaufen‘“ gerade zum Spezifikum von „Suchrastern“ erklärt. 2388 Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 211 f. 2389 A. A. insoweit wohl Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 212, der – im Ansatz durchaus begrüßenswert – die „Operationalisierbarkeit“ dadurch fördern will, die Aspekte der Verschlüsselung und der zu geringen Trefferhäufigkeit bei Maßnahmen mit hoher Streubreite der freien Abwägung im Rahmen der Angemessenheit zu entziehen. Dies erscheint aber aufgrund der dargelegten Spezifika jedenfalls bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung nicht zielführend; tendenziell wie hier BVerfGE 154, 152 (241 ff., Rn. 145 ff.). 2390 BVerfGE 154, 152 (240 f., Rn. 144); BVerfGE 100, 313 (373 ff.); Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 174; Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 311 zum G 10, S. 343 zum BNDG.
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c) Erforderlichkeit der technisch-strategischen Auslandsaufklärung Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung muss – selbstredend – ferner erforderlich sein, um den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren. Dies ist bekanntlich dann der Fall, wenn dem Gesetzgeber kein gleich wirksames milderes Mittel zur Verfügung steht2391. Auf normativer Ebene vermag der Erforderlichkeitsgrundsatz freilich nur begrenzt Wirkung zu entfalten2392, da er vor allem ein verfassungskonformes Vorgehen im konkreten Einzelfall sicherstellt2393. In seiner zweiten Abhörentscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht dennoch Überlegungen angestellt, ob die strategische Aufklärung über verteidigungspolitische Sacherhalte gleich wirksam durch Satellitenbeobachtungen oder Agenten in den Staaten des Warschauer Paktes realisiert werden könne, was das Gericht im Ergebnis aber nachvollziehbarerweise verneinte2394. Angesichts der extremen Datenmengen, die mittlerweile zur Generierung der Informationen aus Telekommunikationsnetzwerken verarbeitet werden müssen, stellt sich die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung – mehr denn je – als insoweit einzig taugliches Mittel dar2395. Keine menschliche Quelle könnte auch nur annähernd eine derartige Informationsflut liefern. Auf anderem technischen Wege ließen sich die Datenvolumina schlechterdings nicht filtern und auswerten; ein Wegfall der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung hätte eine signifikante Reduktion des Meldeaufkommens an die Bundesregierung zur Folge. Mithin lassen sich die Informationen nicht auf andere Art und Weise gleich effektiv erheben. Dieses Ergebnis ist indes allen besonders fortschrittlichen und regelmäßig neuen Eingriffsbefugnissen immanent, da andere Maßnahmen mit deren Effektivität schon von vornherein nicht konkurrieren können2396. Der Gesetzgeber hat sie schließlich zielgerichtet zur Lösung eines bisher normativ nicht adressierten Problems geschaffen, um bestehende Gesetzeslücken zu beseitigen; hätten gleich effektive Befugnisse bestanden, wäre eine Novelle schon nicht nötig gewesen. Mithin sind insbesondere sehr spezifische, hoch potente Mittel, wie namentlich die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung, 2391 Pars pro toto BVerfGE 154, 152 (241, Rn. 144); 100, 313 (375); Merten (Fn. 2361), § 68 Rn. 66. 2392 Beispiele verfassungsrechtlicher Beanstandung durch das BVerfG unter Erforderlichkeitsgesichtspunkten bei Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 359 f. 2393 Instruktiv Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 213; exemplarisch für die Durchdringung des Polizeirechts durch den Grundsatz der Erforderlichkeit Merten (Fn. 2361), § 68 Rn. 67 ff. 2394 Siehe dazu C. III. 1. b); auf diese ausnahmsweise vertieften Ausführungen zur Erforderlichkeit verweist auch Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 213. 2395 BVerfGE 154, 152 (240 f., Rn. 144); Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 174; sehr knapp auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 311 zum G 10, S. 343 zum BNDG. 2396 Anschaulich hierzu Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 361 unter Verweis auf BVerfGE 120, 378 (428).
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regelmäßig erforderlich. Bedenken könnten insoweit allenfalls an der Erforderlichkeit der gezielten Steuerung von Telekommunikationsteilnehmern innerhalb der strategischen Aufklärung angemeldet werden, da diese an eine individualisierte Überwachung jedenfalls angenähert ist. Die Durchführung von Individualmaßnahmen im Sinne des § 3 G 10 – deren Praktikabilität auch im Ausland unterstellt – anstelle einer strategischen Überwachung ist dennoch kein milderes Mittel, da auch bei einer gezielten Steuerung von Telekommunikationsteilnehmern die Erfassung schon aufgrund des Routings nicht derart umfänglich ausfällt wie bei einer Individualmaßnahme2397. Im Ergebnis ist die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung in Abwesenheit eines milderen, gleich geeigneten sicherheitsrechtlichen Instrumentes somit auch erforderlich im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. d) Verfassungsrechtliches Herzstück: Die Angemessenheitsanforderungen an die Datenerhebung Die Prüfung der Angemessenheit bzw. der Verhältnismäßigkeit einer sicherheitsrechtlichen Befugnis im engeren Sinne bildet – insbesondere in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – bekanntlich das Herzstück der verfassungsrechtlichen Evaluierung2398. Die Angemessenheit einer Maßnahme ist – gleichfalls verfassungsrechtliches Allgemeingut – dann gegeben, wenn die Schwere des Eingriffs nach einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu den Gemeinwohlzwecken steht, denen sie dient2399. Es ist dabei primär Aufgabe des Gesetzgebers, einen Ausgleich zwischen der Eingriffsintensität in individuelle Grundrechte und den hierdurch zu schützenden Belangen des Allgemeinwohls herzustellen2400. Dabei hat der Gesetzgeber einerseits das spezifische Gewicht des Grundrechtseingriffes zu berücksichtigen und andererseits einen wirksamen „Schutz der Grundrechte und Rechtsgüter der Bürgerinnen und Bürger zu si2397 Zwischen den beiden Befugnissen muss deshalb immer eine wahrnehmbare Grenze erhalten bleiben, schon um die Voraussetzungen einer individualisierten Telekommunikationsüberwachung nicht zu unterlaufen, siehe BVerfGE 154, 152 (241 f., Rn. 148, 258, Rn. 189); im Ergebnis wie hier auch Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 174, zur Untauglichkeit einer individuellen Überwachung als milderes Mittel. 2398 Für die Rechtsprechung und maßgeblich für die Bildung der bereits angesprochenen „übergreifende[n] Anforderungen“, die das BVerfG aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit destilliert, prominent BVerfGE 141, 220 (268 ff., Rn. 103 ff.); siehe für die Literatur etwa Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 174; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 362; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 25; Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 350. 2399 St. Rspr. BVerfGE 141, 220 (267, Rn. 93); 133, 277 (322, Rn. 109); 120, 378 (428); 120, 274 (321); 113, 348 (382); 100, 313 (375 f.); für die Literatur statt vieler Merten (Fn. 2361), § 68 Rn. 71. 2400 Exemplarisch BVerfGE 141, 220 (265, Rn. 93); Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 373 m. Fn. 659.
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chern“ 2401. Nach der Rechtsprechung kommt zum Eingriffsgewicht und den zu schützenden Rechtsgütern als gleichsam „dreipoliges Verhältnis“ die Eingriffsschwelle hinzu, ab der der Gesetzgeber den Einsatz konkreter Befugnisse vorsehen darf 2402. Die Eingriffsschwelle ist dabei der entscheidende Schlüssel, ab wann – konkret: ab welchem Grad der Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutverletzung2403 – der Gesetzgeber eine konkrete Maßnahme überhaupt vorsehen darf 2404. Dabei gilt nach der „je-desto-Formel“ im Grundsatz, dass je gewichtiger die drohende Rechtsgutverletzung ist, desto geringer müssen die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit sein; umgekehrt wachsen die Anforderungen, je geringer die jeweils drohende Schadensintensität ist2405. Allerdings gilt ebenfalls grundsätzlich, dass selbst bei „höchstem Gewicht der drohenden Rechtsgutbeeinträchtigung [. . .] auf das Erfordernis einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit nicht verzichtet werden“ kann2406. Mit der Formel soll die, häufig nicht einfach durchführbare, Abwägung der widerstreitenden Interessen einer zumindest etwas konkreteren Leitlinie zugeführt werden2407. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht Konstellationen ausgewiesen, in denen ein angemessener Ausgleich zwischen der Eingriffsintensität und dem Gemeinwohl von vornherein ausgeschlossen ist und mithin absolute Grenzen gezogen, die unter dem Grundgesetz nicht überschritten werden dürfen2408. Ebenso wie eine Datensammlung zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter dem Grundgesetz strikt verboten ist2409, ist eine „grundrechtseingreifende Ermittlung“ „,ins Blaue hinein‘“ schlechterdings unzulässig2410. 2401
Maßgeblich erneut BVerfGE 141, 220 (267, Rn. 99 f.). Instruktiv Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 350, ihm folgt Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 373; in der Rechtsprechung angelegt etwa in BVerfGE 120, 274 (327 ff.); 115, 320 (347); 100, 313 (376). 2403 Dahingehend in einem ersten Zugriff etwa BVerfGE 141, 220 (271, Rn. 109); 113, 348 (386); Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 380. 2404 Hierfür steht in der neuen sicherheitsverfassungsrechtlichen Rechtsprechung prominent das BKAG-Urteil mit seiner Zusammenführung der Anforderungen an die Einschreitschwelle BVerfGE 141, 220 (271 ff., Rn. 109 ff.). 2405 So aus der „älteren“ Rechtsprechung BVerfGE 120, 378 (429); 115, 320 (360 f.); 100, 313 (392); M. Thiel, Auf dem Weg zu einem neuen „Musterpolizeigesetz“, in: DV 53 (2020), S. 1 (4); Pieroth, Musterentwurf (Fn. 119), S. 46; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 175; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 395; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 220. 2406 BVerfGE 120, 378 (429); 120, 274 (327); 115, 320 (361); Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 396, sieht hierin eine „abstrakt-absolute“ Grenze. 2407 So auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 395 f. 2408 Schluckebier, Sicherheitsgewährleistung (Fn. 148), S. 10, spricht anschaulich von einer „Art ,No-go-area‘“, die das BVerfG für einige Bereiche entwickelt habe. 2409 BVerfGE 125, 260 (317); 100, 313 (360); BVerfGE 65, 1 (46). 2410 BVerfGE 150, 244 (281, Rn. 92); 120, 378 (429); 115, 320 (361); tendenziell auch BVerfGE 125, 260 (343); Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 394 f., 2402
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aa) Überragendes öffentliches Interesse am Auftrag Auslandsaufklärung Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung stellt nach hiesiger Ansicht und nach neuester Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts einen besonders schweren Grundrechtseingriff dar. Das Eingriffsgewicht kommt nunmehr zum Tragen, da verfassungsrechtlich (besonders) schwere Eingriffe mit präventivem Charakter nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter zulässig sind2411. Das Gericht spricht hier teils auch von „überragend wichtigen“ Rechtsgütern bzw. öffentlichen Interessen2412, wobei trotz der sprachlichen Steigerung inhaltlich die adressierten Rechtsgüter im Wesentlichen kongruent sind2413: Leib, Leben und Freiheit der Person sowie der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes. In Bezug auf terroristische Bedrohungen ist ferner – mit besonderer Relevanz für Nachrichtendienste – noch die verfassungsmäßige Ordnung als solche zu nennen und mit ihr die Stabilität des Gemeinwesen als Ganzes2414. Diese originär auf die Gefahrenabwehr ausgerichtete Rechtsprechung lässt sich hinsichtlich der relevanten Schutzgüter auch für den Bundesnachrichtendienst fruchtbar machen, obschon die Gefahrenabwehr aus Gründen des Trennungsgebots und der kompetenziellen Einhegung freilich keine Aufgabe des Dienstes als solche ist. Allerdings ist die Auslandsaufklärung selbst ein berücksichtigungsfähiges Rechtsgut. Das Bundesverfassungsgericht attestiert einer „wirksamen Auslandsaufklärung“ – ohne Beschränkung auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung – ein „überragendes öffentliches Interesse“ 2415. Die außen- und
spricht von einem „verfassungsrechtlich tödliche[m] Verdacht“; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 230; Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 358; kritisch Möstl, Kfz-Kennzeichenerfassung (Fn. 1789), S. 106, der die pauschale Annahme, anlasslose Grundrechtseingriffe seien per se verfassungsrechtlich problematisch, nicht mitträgt und insoweit den Verweis auf das Verbot einer Überwachung „ins Blaue hinein“ als nicht zielführend ablehnt. 2411 In der Sache st. Rspr. BVerfGE 141, 220 (269, Rn. 104, 270 f., Rn. 108); 125, 260 (328 ff.); 120, 274 (328); 115, 320 (346); tendenziell auch schon BVerfGE 100, 313 (392); in der Literatur betonen dies etwa Trute, Rechtsprechungsanalyse (Fn. 196), S. 106; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 377 ff.; Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 351. 2412 BVerfGE 154, 152 (248 ff., Rn. 161 ff.); 125, 260 (330); 120, 274 (328) mit wohl nochmaliger Steigerung, siehe dazu Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 232. 2413 So Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 378 unter Rekurs auf die Rechtsprechung. 2414 Dieses Schutzgut betont auch im Kontext des BND BVerfGE 143, 101 (138 f., Rn. 124 f.); ferner BVerfGE 141, 220 (266, Rn. 96); 133, 277 (333 f., Rn. 133); 115, 320 (357). 2415 BVerfGE 154, 152 (248, Rn. 161); Hervorhebung dieser Aussage des Senats auch bei Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 720; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828, spricht von einer Stärkung des „materiell-rechtlichen Auftrag[s] und [der] Funk-
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sicherheitspolitischen Informationen hülfen der Bundesregierung, sich im internationalen „machtpolitischen Kräftefeld“ zu behaupten und „folgenreiche Fehlentscheidungen“ zu verhindern2416. Es gehe mithin um die „Bewahrung demokratischer Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung“ und damit um „Verfassungsgüter von hohem Rang“ 2417. Schon insoweit wirken die potentiell bedrohten Rechtsgüter als Spitze einer Pyramide von Verfassungsgütern, das Bundesverfassungsgericht steigert die Aufzählung jedoch noch um einen Superlativ: Ein „gesamtgesellschaftliches Interesse“ stehe in Frage, „das über das Interesse an der Gewährleistung der inneren Sicherheit als solcher deutlich“ hinausgehe2418. Bei der Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes sollen mithin kollektive Rechtsgüter höchster Stufe geschützt werden. Durch weltweite Verflechtung von organisierter Kriminalität, Terrorismus, Cyberangriffen und Proliferation habe die Bedrohungslage für diese Rechtsgüter im Vergleich zur Situation im Jahr 1999 erheblich zugenommen2419. Deshalb müsse der Bundesnachrichtendienst auch mit anderen Nachrichtendiensten kooperieren, um verschiedenste außenpolitische aber auch Gefahrenfrüherkennungslagen effektiv zu bearbeiten und Erkenntnisse zu tauschen2420. Hierfür bedürfe es wiederum eigener potenter Befugnisse, um überhaupt nachrichtendienstlich relevante Informationen zum Tausch anbieten zu können2421. Letztlich reagiert das Bundesverfassungsgericht mit dieser Einschätzung auf die Digitalisierung, Globalisierung und Internationalisierung2422 und grenzt sich deutlich von seiner Lagebeurteilung im dritten Abhörurteil ab. All diese Entwicklungen könnten letztlich auch höchste Individualrechtsgüter – Leib, Leben, Freiheit – schädigen2423. Damit spannt der Erste Senat auch in Bezug auf die Sondersituation „Auslandsaufklärung“ durch den Bundesnachrichtendienst den Bogen zu den in ständiger Rechtsprechung als besonders wichtig bzw. überragend wichtig anerkannten Rechtsgütern2424. Zugleich legt er aber implizit dar, welche Bedrohuntionen des BND“; in der Sache von hochrangigen Rechtsgütern ausgehend auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 317, 344. 2416 BVerfGE 154, 152 (248, Rn. 162). 2417 BVerfGE 154, 152 (248, Rn. 162). 2418 BVerfGE 154, 152 (248, Rn. 162) – Hervorhebung nur hier; noch wesentlich enger auf die Zwecke des § 3 G 10 a. F. bezogen BVerfGE 100, 313 (382), wo als höchste Bedrohungslage die Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik, für die das G 10 einst geschaffen wurde, adressiert wird. 2419 BVerfGE 154, 152 (248 f., Rn. 163 f.); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 175 f.; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829. 2420 BVerfGE 154, 152 (247, Rn. 160). 2421 BVerfGE 154, 152 (247, Rn. 160). 2422 Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829. 2423 BVerfGE 154, 152 (249, Rn. 163). 2424 BVerfGE 154, 152 (249, Rn. 163), freilich ebenfalls unter Nennung der verfassungsmäßigen Ordnung und des Bestands und der Sicherheit des Bundes oder Landes, um die gängige, bereits dargelegte Auflistung zu komplettieren.
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gen konkret höchste Rechtsgüter schädigen könnten und orientiert sich dabei offensichtlich am Katalog des § 5 I 3 G 10. Zum Schutz dieser Rechtsgüter und in Anbetracht der besonderen Situation dürfe der Gesetzgeber eine „wirksame und zugleich rechtsstaatlich eingehegte Auslandsaufklärung als unverzichtbar ansehen“ 2425. Dabei erlangt – insoweit teilweise im Widerspruch zum hier vertretenen kompetenziellen Vorrang der außenpolitischen Information der Bundesregierung – die Gefahrenfrüherkennung eine besondere Bedeutung zum Schutz der referierten Rechtsgüter2426. Die Einschätzung der mittels strategischer Auslandstelekommunikationsüberwachung – als ein Mittel zur Auslandsaufklärung – zu schützenden höchsten Rechtsgüter durch das Bundesverfassungsgericht überzeugt im Ergebnis und reiht sich in die langjährige Rechtsprechung ein. Die Bestimmung der potentiell gefährdeten Rechtsgüter bereitet indes auch keine allzu großen Schwierigkeiten2427, da der Fokus des Bundesnachrichtendienstes auf gravierenden Bedrohungslagen liegt2428. Ob indes die Auslandsaufklärung als Ausdruck eines „gesamtgesellschaftliche[n] Interesse[s]“ gleichsam die schiere Existenz der Staatlichkeit der Bundesrepublik sichert, sei hier dahingestellt. Bisweilen wirken die vom Ersten Senat beschriebenen möglichen Auswirkungen der Bedrohungslagen auf die in Rede stehenden Rechtsgüter etwas drastisch und mit Pathos vorgetragen. Im Ergebnis berechtigen die betroffenen Schutzgüter schon an sich zu besonders schweren Grundrechtseingriffen, ohne das es hierfür einer drohenden Destruktion staatlicher Integrität bedürfte. bb) Besonders schwere Grundrechtseingriffe ohne Bindung an eine Einschreitschwelle – Aufklärung „ins Blaue hinein“? Grundsätzlich hat der Gesetzgeber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisierende Einschreitschwellen zu implementieren, die den Einsatz sicherheitsrechtlicher Maßnahmen an einen hinreichend konkreten, objektiv bestimmbaren Grund knüpfen und somit eine bestimmbare Wahrscheinlichkeit für eine Rechtsgutverletzung darlegen2429. Um einen angemessenen Ausgleich zwischen den Rechtsgütern Betroffener und dem Gemeinwohl herzustellen, darf der Gesetzgeber intensive Grundrechtseingriffe erst ab einer 2425 BVerfGE 154, 152 (249, Rn. 163), unter Bezugnahme auf BVerfGE 143, 101 (138 f., Rn. 124 ff.; 115, 320 (358). 2426 BVerfGE 154, 152 (248 f., Rn. 163); dies betont insbesondere Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 176, der diese Aufgabe auch allgemein besonders hervorhebt. 2427 So auch allgemein zur Bestimmung der Rechtsgüter bei schweren Grundrechtseingriffen zur Gefahrenabwehr Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 351. 2428 So auch BVerfGE 100, 313 (382), in Bezug auf die im G 10 a. F. spezifischer aufgegliederten Gefahrbereiche. 2429 BVerfGE 154, 152 (244 f., Rn. 155); 150, 244 (280 ff., Rn. 90 ff.); 141, 220 (269 ff., Rn. 104 ff.); 120, 378 (428); 120; 274 (328); 115, 320 (346).
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gewissen Verdachts- und Gefahrenstufe vorsehen2430. Dies sichert die Begrenzung von Grundrechtseingriffen, die anderenfalls ohne Rückkopplung an konkrete Umstände ins Werk gesetzt werden könnten und ermöglicht ihre Kontrolle „anhand für sich stehender Kriterien“ 2431. Eine konkretisierte Eingriffsschwelle ist demnach ein „Kernelement rechtsstaatlicher Anforderungen“, das grundsätzlich „für schwerwiegende Grundrechtseingriffe wie die Überwachung der Telekommunikation [verfassungsrechtlich schlechterdings] unverzichtbar ist“ 2432. Bei besonders schweren Grundrechtseingriffen ist sowohl nach der hier unterstützten Konvergenztheorie als auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – auch bereits vor der BNDG-Entscheidung – eine Privilegierung der Nachrichtendienste in der Sicherheitsverfassung insoweit ausgeschlossen; mithin gelten die allgemeinen Anforderungen auch für den Bundesnachrichtendienst2433. Die Annahme aus der dritten Abhörentscheidung, dass für den Dienst die allgemeinen Einschreitschwellen aufgrund der nachrichtendienstlichen Tätigkeit trotz des schon damals hohen Eingriffsgewichts nicht gelten würden, ist schlechterdings überholt2434. Welcher Konkretisierungsgrad der Gefahrstufe indes zur Rechtfertigung eines besonders schweren Grundrechtseingriffs bei Überwachungsmaßnahmen verfassungsrechtlich – nicht einfachrechtlich etwa in den Polizeigesetzen2435 – mindestens erforderlich ist, ist trotz langjähriger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts2436 und intensiver Begleitung und Debatte im Schrifttum nach wie vor nicht abschließend geklärt; teils wird sogar eine „Bankrotterklärung von Verfassungsrechtsprechung und Wissenschaft“ in Bezug auf die Diskussion um die Konturierung des Gefahrbegriffes im Vorfeld konstatiert2437. Dies konnte in Bezug auf die allgemeine Verortung der Nachrichtendienste im sicherheitsrechtlichen Koordinatensystem noch dahinstehen, bei der Angemessenheitsprüfung als solcher müssen die Schwellen freilich näher betrachtet werden. 2430 Siehe etwa BVerfGE 120, 274 (326); 115, 320 (346); für die Literatur siehe etwa nur Trute, Rechtsprechungsanalyse (Fn. 196), S. 106. 2431 BVerfGE 154, 152 (245, Rn. 155). 2432 BVerfGE 154, 152 (245 f., Rn. 155). 2433 Ausführlich hierzu schon unter B. II. 4. c); a. A. explizit in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung aus der neuesten Literatur noch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 317 f., 346 f. 2434 So aber noch BVerfGE 100, 313 (383); Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 367 f., hält die Entscheidung ebenfalls für systematisch nicht mehr integrierbar in die nachfolgende Rechtsprechungsentwicklung. 2435 T. Petri, Das Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts, in: ZD 2018, S. 453 (455), betont zu Recht, dass verfassungsrechtliche Voraussetzungen für „sicherheitsrechtliche Wahrscheinlichkeiten“ in Rede stehen, was auch das BVerfGE insoweit tue. 2436 Maßgeblich BVerfGE 150, 244; 141, 220; 125, 260; 120, 274; 115, 320; 113, 348. 2437 Siehe hierzu instruktiv wie pointiert Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 71 ff., 74 (mit hiesigem Zitat).
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(1) Konkretisierungsanforderungen an eine präventive Einschreitschwelle Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass bei intensiven, heimlichen Grundrechtseingriffen zumindest eine Gefährdung der Rechtsgüter hinreichend absehbar sein muss und der „Adressat der Maßnahme aus Sicht eines verständigen Dritten den objektiven Maßstäben nach in sie verfangen ist“ 2438. Bei der Rasterfahndung – als mit der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung jedenfalls vom Ansatz her artverwandten Befugnis – verlangte das Bundesverfassungsgericht noch eine konkrete Gefahr, da aufgrund der Ausrichtung zur „,Verdächtigengewinnung‘“ keinerlei konkrete Personen oder zumindest ein Verdacht gegen diese im Raum stünden2439. Bei einem „vollständig verdachtslosen“ Eingriff sei ein Unterschreiten dieser Schwelle von Verfassung wegen ausgeschlossen2440. Dabei bezieht sich das Gericht auf das hergebrachte – letztlich doch einfach-polizeirechtlich geprägte – Verständnis von einer konkreten Gefahr, welches bekanntermaßen eine Sachlage voraussetzt, die bei ungehindertem Ablauf des zu erwartenden Geschehens im Einzelfall in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Schädigung von Rechtsgütern führt2441. Ort, Zeit, Art und Weise der Rechtsgutverletzung sowie der Störer müssen dann schon hinreichend konkretisiert sein, wobei Unsicherheiten bei einem Kriterium durch ein anderes ausgeglichen werden können; das gesamte Geschehen muss wenigstens im Groben umrissen sein2442. Dies bedeutet daher nicht, dass die befürchtete
2438 BVerfGE 141, 220 (271, Rn. 109) unter Verweis auf BVerfGE 125, 260 (330 f.); 120, 274 (328 f.); für die Literatur betont diese zwei allgemeinen Elemente einer Zurechnung aus dem Gefahrenabwehrrecht etwa Enders, Verfassungsgrenzen (Fn. 155), S. 207 f. 2439 BVerfGE 115, 320 (362 f.); im Übrigen bestätigt durch BVerfGE 141, 220 (303, Rn. 207); Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 367, betont zu Recht, dass damit auch den Nachrichtendiensten eine Rasterfahndung nicht im Vorfeld der hergebrachten konkreten Gefahr erlaubt werden sollte; kritisch zum Ansatz des BVerfG mit Blick auf die in der Konsequenz erheblich eingeschränkte Nutzbarkeit der Maßnahme etwa Schoch, Ambivalenz (Fn. 1714), S. 68; Trute, Grenzen (Fn. 1844), S. 101; die Rasterfahndung als untaugliches Mittel verwirft in Gänze Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 395 f. – „Das Instrument darf schlicht deshalb nicht zur Gefahrerkennung eingesetzt werden, weil es keine Gefahren erkennen kann.“ 2440 BVerfGE 115, 320 (360). 2441 BVerfGE 114, 220 (271, Rn. 111); 115, 320 (364); aus polizeirechtlicher Warte zum hergebrachten oder überkommenen Gefahrbegriff statt vieler M. Ogorek, Gefahrenvorfeldbefugnisse, in: JZ 2019, S. 63 (64); B. Pieroth, Befugniserweiterung mit Begriffsverwirrung, in: GSZ 2018, S. 133 (134); Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 8 Rn. 13; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 234. 2442 Bäcker, Gefahr (Fn. 198), S. 148; Ogorek, ebda., S. 64; A. Kulick, Gefahr, „Gefährder“ und Gefahrenabwehrmaßnahmen angesichts terroristischer Gefährdungslagen, in: AöR 143 (2018), S. 175 (181 f.); Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 363 f.; a. A. Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 77 ff., der die Voraussetzung, dass Schadensereignis müsse bereits hinsichtlich des „Wann“, „Wo“ und „Wie“ feststehen, für eine Verengungstendenz der letzten zehn Jahre sieht.
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Rechtsgutverletzung schon in allen Dimensionen – etwa hinsichtlich des Störers – hinreichend konkretisiert sein muss, weswegen die Gefahrenschwelle, wie bei der Rasterfahndung, dann grundsätzlich auch für Gefahrerforschungsmaßnahmen vorgesehen werden kann2443. In seinen Entscheidungen zur Online-Durchsuchung und Vorratsdatenspeicherung hat das Bundesverfassungsgericht dann aber eine Einschreitschwelle definiert, die eine Sachlage erfordere, „bei der im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ohne Eingreifen des Staates ein Schaden für die Schutzgüter der Norm durch bestimmte Personen verursacht wird“ 2444. Der Zugriff auf informationstechnische Systeme sei gleichwohl auch dann zulässig, wenn „sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr schon in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen“ 2445. Das Gericht hat hier eine Tendenz zur Personalisierung der Gefahrprognose begründet, welche dann maßgeblich im bereits mehrfach adressierten BKAG-Urteil kulminiert2446 und den aktuellen Stand der Diskussion bestimmt. Der Erste Senat hat im Wesentlichen zwei Fallgruppen herausgestellt, die im Gegensatz zur hergebrachten konkreten Gefahr eine Herabsenkung der „Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs“ rechtfertigen und „nur noch“ das Vorliegen einer „hinreichend konkretisierten Gefahr“ bzw. der schillernden „drohenden Gefahr“ verlangen2447. Das bedeutet aber auch, dass die konkrete Gefahr im hergebrachten 2443 Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 365 f., konkret zur Rasterfahndungsentscheidung; grundsätzlich kritisch zur Nutzung der Gefahrschwelle gerade im Vorfeld der Gefahr Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 76. 2444 BVerfGE 120, 274 (328) – Hervorhebung nur hier; darauf verweist dann auch BVerfGE 125, 260 (330); siehe auch die Zusammenfassung der Rechtsprechung bei Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 71 f., der indes die Entscheidung im 125. Band so versteht, dass das Gericht hier wiederum einen Unterfall der konkreten Gefahr etablieren wollte; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 234 f., kritisiert stellvertretend, dass der Gefahrbegriff mit der Störereigenschaft verschliffen würde. 2445 BVerfGE 120, 274 (329) – Hervorhebung nur hier; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 234; Gudermann, Online-Durchsuchung (Fn. 85), S. 135 f. 2446 BVerfGE 141, 220 (271 ff., Rn. 111); zu dieser grundsätzlichen Personalisierungstendenz etwa Bäcker, Gefahr (Fn. 198), S. 156; Barczak, Staat (Fn. 67), S. 522; Kulick, Gefährdungslagen (Fn. 2442), S. 185 ff., mit anschaulichen Beispielen eines auf Personen ausgerichteten Gefahrverständnisses; Leisner-Egensperger, Umbruch (Fn. 155), S. 679 ff. 2447 BVerfGE 141, 220 (272 f., Rn. 112); zum einen sollen Vorfeldmaßnahmen in Betracht kommen, „wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, sofern bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. Die Tatsachen müssen dafür zum einen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann“. Zum anderen sollen – jedenfalls in Bezug auf terroristische Straftaten –, die im BKAG letztlich streitgegenständlich waren, intensive
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Sinne in jedem Fall verfassungsrechtlich ausreicht, um schwere Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen – sie bleibt gleichsam der verfassungsrechtliche Goldstandard des präventiven Gefahrenabwehrrechts2448. Von diesem darf nach dem Bundesverfassungsgericht nunmehr allerdings abgewichen werden. Wie die „drohende Gefahr“ im Einzelnen in die bisherige Dogmatik einzugliedern ist2449, ob das personenbezogene Wahrscheinlichkeitsurteil strikt auf terroristische Bedrohungen beschränkt bleiben muss2450, und erst Recht, wie diese Schwelle in einfachgesetzliche Befugnisse übertragen werden soll2451, ist höchst umstritten und führt zur initialen Bestandsaufnahme Möstls zurück, die Lage sei, vorsichtig formuliert, äußerst verworren. Diese laufende Kontroverse vor Augen nähert man sich der zentralen Frage der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung an: Wenn schon im Bereich von mehr oder weniger konkretisierten schadensgeneigten Einzelszenarien bzw. zur Rechtgüterschädigung entschlossenen Personen Unklarheiten bestehen, ab wann eine sicherheitsrechtliche Befugnis vorgesehen werden darf und trotz intensiver wissenschaftlicher Durchdringung kein belastbarer Konsens herrscht, wie soll dann erst mit einer „allein final angeleiteten und begrenzten Ermächtigung“ 2452, wie der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, verfassungsrechtlich verfahren werden?
Grundrechtseingriffe im Vorfeld erlaubt werden, „wenn zwar noch nicht in seiner Art nach konkretisiertes Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in absehbarer Zeit begehen wird“. Für die Annahme von zwei divergierenden Fallgruppen siehe etwa Bäcker, Gefahr (Fn. 198), S. 156 f.; Ogorek, Gefahrenvorfeldbefugnisse (Fn. 2441), S. 68. 2448 Dies sieht freilich auch das BVerfG so, BVerfGE 141, 220 (271, Rn. 111). Dies gilt allerdings unter der Prämisse, dass zumindest Klarheit darüber gewonnen werden kann, was die konkrete Gefahr denn nun ausmacht. 2449 Siehe für einen ersten Überblick über die Literatur erneut Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 73 f.; Barczak, Staat (Fn. 67), S. 522 ff.; Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 8 Rn. 15 ff., jeweils mit ausführlichen Nachweisen, sowie schon die Literatur in den Fn. 120, 155, 198 (zur allgemeinen Stellung der Nachrichtendienste in der Sicherheitsverfassung). 2450 Dafür beispielsweise Bäcker, Gefahr (Fn. 198), S. 162; Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 8 Rn. 18; dagegen Möstl, Musterpolizeigesetz (Fn. 2359), S. 33; Leisner-Egensperger, Umbruch (Fn. 155), S. 681 f. Nunmehr lässt der Erste Senat erstmals durchscheinen, dass die personenbezogene Gefahrenprognose aus seinem BKAGUrteil nicht nur auf drohenden terroristische Straftaten streng begrenzt bleiben muss, sondern auch der Schutz weiterer besonders wichtiger Rechtsgüter eine derartige Flexibilisierung des tradierten Gefahrbegriffes verfassungsrechtlich tragfähig machen soll, siehe zur Bestandsdatenauskunft II BVerfGE 155, 119 (188, Rn. 149). 2451 Zu den wörtlichen bzw. impliziten Umsetzungen im Polizeirecht in den Ländern (NRW und Bayern) siehe die Nachweise in Fn. 120, 155; ferner noch Ogorek, Gefahrenvorfeldbefugnisse (Fn. 2441), S. 68 ff.; zur Ablehnung der „drohenden Gefahr“ im aktuellen Entwurf eines Musterpolizeigesetzes als eigene Gefahrkategorie Thiel, Weg (Fn. 2405), S. 15 f.; Pieroth, Musterentwurf (Fn. 119), S. 45 ff. 2452 BVerfGE 154, 152 (245, Rn. 155).
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(2) Grundsätzliche Unzulässigkeit rein final angeleiteter und begrenzter Grundrechtseingriffe Bei einem besonders schweren Grundrechtseingriff müsste nach den allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen grundsätzlich zumindest eine drohende bzw. hinreichend konkretisierte Gefahr als belastbare Einschreitschwelle angenommen werden, welche zur Rechtfertigung eigentlich verfassungsrechtlich unverzichtbar ist2453. Dies gilt grundsätzlich auch für den Bundesnachrichtendienst und die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung. Die Erkenntnis besteht nicht erst seit dem Urteil zum BNDG, sondern war schon zuvor auch für die Nachrichtendiente mit der Konvergenztheorie richtigerweise bejahen und ist es auch weiterhin. Legte man die Entscheidung zur Rasterfahndung als Maßstab an, wäre sogar eine konkrete Gefahr im hergebrachten polizeirechtlichen Sinne erforderlich. Den Rechtsstaat erkennt man schließlich auch daran, dass er auch bei besonderer Dringlichkeit und hohen Bedrohungslagen für überragend wichtige Rechtsgüter, die die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung jedenfalls mittelbar schützt, die allgemein geltenden rechtsstaatlichen Grundsätze einhält2454. Ohne Einschreitschwelle droht zumindest im Ansatz eine Überwachung ins „Blaue hinein“ und damit ein Verstoß gegen ein absolutes Verbot2455 – dann wäre die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung von vornherein mit Art. 10 I GG unvereinbar und verfassungswidrig. Anlasslose Eingriffe sind zwar nicht per se untersagt, setzen aber als orts- oder raumbezogene Maßnahmen eine zumindest typisierte Umschreibung von Gefahrensituationen voraus, etwa durch die Anknüpfung an verkehrsspezifische Gefahren oder gefährliche Orte2456. Die anlasslose strategische Überwachung – sowohl im G 10 als auch im BNDG – kennt aber keine konkretisierbaren Anhaltspunkte, noch ist sie – jedenfalls abseits der gezielten Steuerungen von Teilnehmern – tat-
2453 Dies fordert konsequenterweise denn auch Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 151; allgemein kritisch für die Übernahme der Gefahrenschwelle aus dem Bereich der „Gefahrbeseitigung“ in den Bereich der „Gefahrerkennung“ unter Verzicht auf eine eigene diesbezüglich ausgerichtete Dogmatik indes Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 402 – Hervorhebung im Original. 2454 Dahingehend pointiert BVerfGE 115, 320 (358), im Lichte der terroristischen Bedrohungslage. 2455 Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 398, sieht die strategische Fernmeldeaufklärung einer „Ermittlung ,ins Blaue hinein‘ mindestens empfindlich nahe“ kommend; Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 358 f., konstatiert bei der strategischen Fernmeldeaufklärung gerade eine Überwachung ins „Blaue hinein“ und mithin einen Konflikt mit der Rechtsprechung, die diese absolut untersage. 2456 BVerfGE 150, 244 (281 f., Rn. 91 ff.); Möstl, Kfz-Kennzeichenerfassung (Fn. 1789), S. 105; Bäcker, Gefahr (Fn. 198), S. 156 m. Fn. 27; Löffelmann, Anmerkung (Fn. 1789), S. 79, sieht in dieser Regelungsart eine „sinnvolle Alternative“ zur Nutzung der drohenden Gefahr im BayPAG – offengelassen in Rn. 105 der Entscheidung.
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bestandlich auf bestimmte Gefährder fokussiert2457. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht noch 1999 behauptet, die strategische Fernmeldeaufklärung nach § 3 G 10 a. F. habe auf „Voraussetzungen und Begrenzungen“ nicht verzichtet2458. Gleichwohl hielt der Senat seinerzeit fest, dass selbst die großen Gefahrenlagen, denen mit der strategischen Überwachung begegnet werden solle, einen Einsatz des nachrichtendienstlichen Mittels ohne solche Limitierungen verfassungsrechtlich nicht zuließen2459. Beschränkungen waren zwar implementiert, echte Voraussetzungen einer Konkretisierung fehlten jedoch2460 und fehlen bis heute. Dies betont der Erste Senat in seinem Urteil zum BNDG nunmehr auch klar und versucht gar nicht erst, vermeintliche Einschreitschwellen bei der Maßnahme zu suchen2461. Es gibt bei einer anlasslosen, rein final ausgerichteten strategischen Aufklärung schlicht keine belastbare Einschreitschwelle. Mithin kann auch keine Gefahr, sei sie konkret, drohend oder hinreichend konkretisiert, als tatbestandliche Voraussetzung installiert werden2462. Insbesondere kann eine allgemeine Gefahrenlage nicht als Einschreitschwelle verstanden werden, da sie keine Voraussetzungen der Maßnahme enthält und somit keine Konkretisierung des Einsatzanlasses der strategischen Fernmeldeaufklärung oder der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung enthält – die Gefahrenlage soll vielmehr erst ermittelt werden2463. Mit diesem Befund offenbart sich ein Dilemma2464: Eigentlich kann die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung aufgrund ihres höchsten Eingriffsgewichts bei gleichzeitiger Anlasslosigkeit nicht gerecht2457 Siehe dazu schon ausführlich unter F. II. 2. a) bb); Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 244 f., geht im Ergebnis jedoch von einem personenbezogenen Aufklärungsinteresse jedenfalls bei Gefahrenlagen der organisierten Kriminalität und sonstiger verwandter Aufklärungsziele des § 5 1 3 Nr. 2 bis 6 a. F. aus, die aber, entgegen der rein sachbezogenen Aufklärung zur Abwehr eines bewaffneten Angriffs, nicht unter derart geringen Anforderungen an die Einschreitschwelle erlaubt werden könnten. Der Einsatz zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung scheidet nach hiesiger Ansicht indes schon aus Gründen des Trennungsgebots und der Kompetenzverteilung aus. Zudem ermöglicht die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung zwar durchaus auch die Herstellung eines Personenbezuges, dieser ist jedoch – außer bei gezielten Erfassungen – nicht tatbestandlich vorgesehen. 2458 BVerfGE 100, 313 (383). 2459 BVerfGE 100, 313 (383). 2460 So auch in Bezug auf BVerfGE 100, 313 (383); Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 398. 2461 BVerfGE 154, 152 (244 f., Rn. 155 f.); den Unterschied zur Entscheidung von 1999, wo das Gericht noch ohne große Begründung über die fehlenden Einschreitschwellen hinwegging, betont auch Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411. 2462 Ähnlich im Kontext der präventiv-polizeilichen Rasterfahndung Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 394; weitergehend, nämlich allgemein für informationelle Maßnahmen der Gefahraufklärung traditionell Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 76 m.w. N. 2463 So auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 383 f.; a. A. insoweit noch Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 356 ff. 2464 Hiervon spricht auch Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 401.
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fertigt werden, da sie nicht an den Gefahrbegriff oder typisierte Umschreibungen von Gefahrsituationen gekoppelt werden kann; dies gesteht auch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich ein: „Eine allein final angeleitete und begrenzte Ermächtigung zu [. . .] [besonders schweren] Eingriffen ist mit Art. 10 Abs. 1 GG grundsätzlich unvereinbar“ 2465. Die Rechtfertigung eines solchen Grundrechtseingriffs kommt – so das Bundesverfassungsgericht – „nur unter besonderen Bedingungen in Betracht“ 2466. (3) Ausnahmebefugnis im Rechtsstaat? Es bedarf von Verfassung wegen mithin einer besonderen Ausnahme, um die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung – wenn überhaupt – zu rechtfertigen. Der Erste Senat rekurriert hierzu breit auf das Aufgabenprofil des Bundesnachrichtendienstes zur Auslandsaufklärung, welches die Grundlage für die verfassungsrechtliche Ausnahme darstelle2467. Dieser besondere und im behördlichen Vergleich letztlich singuläre Auftrag eines abstrakten Erkenntnisinteresses, der schlechterdings auf „außergewöhnliche Mittel“ verwiesen sei, rechtfertige, trotz des Eingriffsgewichts, zusammen mit dem überragenden öffentlichen Interesse der Allgemeinheit an der Auslandsaufklärung einen ausnahmsweisen Verzicht auf belastbare Einschreitschwellen2468. Gleichsam als Versicherung in eigener Sache betont der Erste Senat dann noch einmal die Stellung des Bundesnachrichtendienstes als Behörde ohne Exekutivbefugnisse und die – hier nicht pauschal geteilte – Annahme einer grundsätzlich eingeschränkten Zugriffsmöglichkeit deutscher staatlicher Stellen im Ausland. Ganz sicher ist sich der Senat dabei erkennbar nicht; er gesteht ein, dass durchaus gravierende Folgen auch bei Ausländern im Ausland eintreten könnten, was letztlich durch die Anforderungen an die Datenübermittlung begrenzt werden müsse. Im Ergebnis hat der Erste Senat die strategische Überwachung als „Ausnahmebefugnis“ ausgeflaggt, die nur durch das besondere „Aufgabenprofil“ Auslandsaufklärung und den Verzicht auf operative Befugnisse zur Gefahrenabwehr zu rechtfertigen sei; unter diesen Prämissen sei die – eigentlich unzulässige (!) – Maßnahme mit Art. 10 I GG nicht 2465 BVerfGE 154, 152 (245, Rn. 155). Diese Stoßrichtung hatte das BVerfG schon in der Entscheidung zur Kennzeichenerfassung II, BVerfGE 150, 244 (297, Rn. 142), bezüglich der Schleierfahndung angedeutet, die ebenfalls eine Befugnis sei, „die allein final durch eine weit gefasste Zwecksetzung definiert ist“. Der Erste Senat hält auch hier fest: „Eine solche Befugnis zu praktisch anlasslosen, nur final angeleiteten Maßnahmen ist – soweit sie nicht an eine spezifische Verantwortlichkeit der Betroffenen anknüpft [. . .] – grundsätzlich mit verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar“; im Ergebnis dahingehend auch Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 151; Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 383 f.; a. A. im Ergebnis jedoch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 346 f. 2466 Instruktiv wie offenlassend BVerfGE 150, 244 (297, Rn. 142). 2467 BVerfGE 154, 152 (245 ff., Rn. 158 ff.); siehe zum Auftrag Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes ausführlich unter B. III. 3. b). 2468 BVerfGE 154, 152 (246 ff., Rn. 159 f.).
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von vornherein unvereinbar2469. Es bedürfe dann jedoch einer hinreichend begrenzenden Ausgestaltung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung im Weiteren. Das Bundesverfassungsgericht hält somit an seiner Linie der Ermöglichung von Grundrechtseingriffen durch rechtsstaatliche Einhegung fest, durch welche es dem Gesetzgeber bzw. den Sicherheitsbehörden „noch nie ein Aufklärungsinstrument gänzlich aus der Hand geschlagen“ hat2470. Die Begründung des Ersten Senats, es handele sich um eine „Ausnahmebefugnis“, die nicht an den allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen für informationelle Vorfeldeingriffe höchster Intensität zu messen sei, wirft zumindest Bedenken auf. Freilich wird man nicht bestreiten können, dass die strategische Überwachung in ihrer Funktionsweise und Zielrichtung schlicht einzigartig ist. Auch das Auftragsprofil des Bundesnachrichtendienstes findet sich so kein zweites Mal in der deutschen Behördenlandschaft, weswegen eine Beschränkung der strategischen Überwachung auf die Auslandsaufklärung immerhin einen Einsatz der strategischen Überwachung für Zwecke der inneren Sicherheit unter Einschluss rein innerdeutscher Verbindungen zu Recht endgültig ausschließt2471: Reine Inlandstelekommunikation und solche allein zwischen deutschen Staatsbürgern darf von vornherein nicht erfasst werden. Dass jedoch die verfassungsrechtlich eigentlich unverzichtbare Begrenzung durch eine hinreichende Eingriffsschwelle mittels Verweis auf eine „Ausnahme“ dispensiert werden kann, erscheint rechtsstaatlich problematisch. Ausnahmerecht insinuiert, dass gewisse Grenzen, die als absolut gelten, eben doch in gewissen Situationen überschritten 2469 BVerfGE 154, 152 (250, Rn. 166); die grundsätzliche Vereinbarkeit der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung mit Art. 10 I GG betonen ferner Rn. 136, 142 f.; siehe auch Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411. 2470 Diese Linie des Gerichts betont so allgemein zuvor auch schon Masing, Nachrichtendienste (Fn. 138), S. 8, 19; dass der Erste Senat diesen Weg auch bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung gegangen ist, konstatiert wie hier auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 720; ferner Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 177; die „Abwägungsleitlinien“ zwischen dem Schutz höchster Rechtsgüter und der Grenze, ab der der Rechtsstaat um seiner selbst willen auf eine sicherheitsrechtliche Befugnis verzichten muss, fasst instruktiv zusammen Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 248 ff. 2471 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 171) – für rein inländische Telekommunikationsverkehre kommt die strategische Telekommunikationsüberwachung „von vornherein [verfassungsrechtlich] nicht in Betracht“; so auch schon BVerfGE 115, 320 (359) – „So ist der Einsatz der Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes, zur so genannten strategischen Kontrolle verdachtslos Fernmeldeverkehre zu überwachen und sie durch Abgleich mit Suchbegriffen auszuwerten, für Zwecke der personenbezogenen Risikoabwehr im Bereich der inneren Sicherheit in jedem Falle unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig“; ferner Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 142; dezidiert a. A. Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 176 f., der strategische Überwachungsbefugnisse auch für innerdeutsche Verbindungen zu Zwecken der inneren Sicherheit – freilich mit weiteren Sicherungsmaßnahmen – unter Führung des BfV gestatten will. Einem solchen Ansinnen ist nach hiesiger Ansicht und den Ausführungen des BVerfG jedoch (nunmehr) schon im Ansatz die Grundlage entzogen.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
bzw. außer Kraft gesetzt werden dürfen2472. Zudem wird unweigerlich eine Reminiszenz an das zuletzt reichlich strapazierte Bild des Ausnahmezustands als Dispens von der „normalen Rechtsordnung“ hervorgerufen, wenngleich freilich Welten zwischen der Rechtfertigung einer sicherheitsrechtlichen Einzelbefugnis und der Außerkraftsetzung verfassungsrechtlicher Parameter liegen2473. Es schleicht sich jedoch die Befürchtung ein, ob dann nicht auch weitere informationelle oder gar aktionelle Befugnisse zur Sicherheitsvorsorge „ausnahmsweise“ doch ohne Einschreitschwellen erlaubt werden könnten – freilich nur unter wie auch immer definierten „besonderen Bedingungen“ 2474. So hat das Bundesverfassungsgericht etwa auch die allein final angeleitete Schleierfahndung im Grenzgebiet mittels automatischer Kennzeichenerfassung akzeptiert, da diese eine Kompensation für die weggefallenen innereuropäischen Grenzkontrollen darstelle2475. Dabei hat es letztlich darauf abgestellt, dass die Grenzkontrollen zum „überlieferten Instrumentarium zur Sicherung der Territorialhoheit und zur Gewährleistung von Recht und Sicherheit auf dem jeweiligen Staatsgebiet“ gehörten und somit die Ausnahme durch „Traditionalität“ argumentativ gerechtfertigt; ergänzend hat der Erste Senat auf bestehende unionsrechtliche Begrenzungen grenzkontrollähnlicher Maßnahmen verwiesen2476. Dies zeigt, dass die Figur der „Ausnahmebefugnis“ auch für weitere, gänzlich anders gelagerte Informationseingriffe aktiviert werden kann. Die automatische Kennzeichenerfassung wird man aber kaum als genauso wichtig wie die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ansehen können. Wo soll dann aber – außer im Einzelfall in Karlsruhe – die Grenze rein final angeleiteter informationeller Vorfeldbefugnisse liegen? Mit anderen Worten: Wie stellt man sicher, dass die Ausnahme auch wirklich eine Ausnahme bleibt2477? 2472
Vgl. zur Auflösung von absoluten „Tabugrenzen“ etwa J. Masing, Die Ambivalenz von Freiheit und Sicherheit, in: JZ 2011, S. 753 (755 f.). 2473 Der Ausnahmezustand als schillernder Extrembegriff des Rechts hat in der rechtswissenschaftlichen Debatte wieder erheblich Konjunktur, wie zwei neue Habilitationsschriften belegen, vgl. Barczak, Staat (Fn. 67); Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht (Fn. 544); ebenso hat das Phänomen im Rahmen der Corona-Pandemie (wieder) erhebliche Aufmerksamkeit erfahren, als zum ersten Mal in der Praxis Grundrechtseingriffe – freilich mit dem Ziel des Infektionsschutzes – in bisher kaum gekanntem Ausmaß rechtswissenschaftlich zu begleiten waren, vgl. etwa nur die Vielzahl von Blogbeiträgen zum Schlagwort „Ausnahmezustand“ auf dem Verfassungsblog seit Beginn der CoronaPandemie und den hiermit einhergehenden Grundrechtseingriffen, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/tag/ausnahmezustand/ (24.8.2020). 2474 BVerfGE 150, 244 (297, Rn. 142). 2475 BVerfGE 150, 244 (297 ff., Rn. 143 ff.). 2476 BVerfGE 150, 244 (298 ff., Rn. 144 ff.); diesen Argumentationsansatz betont Möstl, Kfz-Kennzeichenerfassung (Fn. 1789), S. 106 m. Fn. 59; dezidiert kritisch zu einer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Schleierfahndung letztlich aufgrund unionsrechtlicher Begrenzungsüberlegungen Rusteberg, Entscheidung (Fn. 200). 2477 Die Tendenz, an die Grenze des verfassungsrechtlich Erlaubten zu gehen, zeigt sich beispielsweise auch bei der Intention der aktuellen Projektgruppe zum Muster-
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In letzter Konsequenz bliebe nur ein absolutes verfassungsrechtliches Verbot anlassloser strategischer Auslandstelekommunikationsüberwachung. Ein solches würde jedoch der überragenden Bedeutung der nachrichtendienstlichen Auslandsaufklärung mit technischen Mitteln nicht gerecht und würde keinen angemessenen Ausgleich der Individualrechtsgüter mit denen der Allgemeinheit darstellen. Das Dilemma der fehlenden Einschreitschwelle vor Augen, sollte jedoch nicht von einer „Ausnahmebefugnis“, die außerhalb der allgemeinen Anforderungen steht, gesprochen werden, sondern vielmehr die rechtsstaatliche Einhegung durch weitere Bedingungen an die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung betont werden. Man mag hiergegen freilich einwenden, es handele sich „nur“ um eine terminologische Spitzfindigkeit, die Wörter „Ausnahme“ und „Ausnahmebefugnis“ im hiesigen Kontext hinsichtlich der Eingriffsermächtigungen zu vermeiden. Aufgrund der möglichen Öffnung für weitere „Ausnahmen“ muss einer Entgrenzung indes schon im Ansatz vorgebeugt werden. Deswegen kann nicht von einer „Ausnahme“ rein zugunsten der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung ausgegangen werden. Der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, die weitere Ausgestaltung der Rahmenbedingungen als rechtsstaatliche Kompensation bzw. Einhegung zu nutzen, verdient dennoch Zustimmung. Die strategische Überwachung kann nur dann mit Art. 10 I GG in Einklang gebracht werden, wenn sie – begrifflich vage angelehnt an ein zivilrechtliches Institut – gleichsam eine geltungserhaltende Reduktion erfährt. Dabei muss die Hauptaufgabe der Information der Bundesregierung zur Ermöglichung von außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen im Zentrum der Überlegungen stehen2478. Die Intensität des Eingriffes muss rechtlich begrenzt und insbesondere die weitere Datenauswertung und Übermittlung qualitativ reduziert werden. Nur dann kann die allein final angeleitete Aufklärung gerechtfertigt werden und eine auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts – diesmal wirklich – absolut verbotene „globale und pauschale Überwachung“ verhindert werden2479. Dabei muss die Reduktion indes entschieden polizeigesetz, wo ebenjenes Ansinnen wohl vorherrscht, wie Pieroth, Musterentwurf (Fn. 119), S. 39 ff., darlegt und aus verfassungsrechtlicher und rechtspolitischer Warte zu Recht kritisiert sowie vor Anpassungs- und Normalisierungstendenzen der Rechtsanwender qua Gewöhnung an eine neue Rechtslage – hier durch die „drohende Gefahr“ – warnt. Das Musterpolizeigesetz soll indes, nach derzeitigem Stand der Arbeitsgruppe, auf den Begriff der „drohenden Gefahr“ wohl verzichten, siehe dazu Thiel, Weg (Fn. 2405), S. 15 f. 2478 Die „vorrangig politischen Erkenntnisinteressen“ müssen mithin Ziel, aber auch Grenze der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung sein, siehe zu diesem Fokus Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 179; dafür plädiert freilich auch der Erste Senat, BVerfGE 154, 152 (233, Rn. 126, 250, Rn. 167), wenngleich er die Gefahrenfrüherkennung etwas überbetont. 2479 Eine solche hat das Bundesverfassungsgericht auch zu Zwecken der Auslandsaufklärung ausgeschlossen, BVerfGE 154, 152 (251, Rn. 168); 100, 313 (376). Es handelt sich letztlich um das Äquivalent des Verbots einer Datenerhebung zu unbestimmten
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ausfallen, um den Dispens von allgemeinen Anforderungen auf Datenerhebungsebene in angemessener Weise kompensieren zu können. cc) Geltungserhaltende Reduktion durch Verzahnung unterschiedlicher Datenebenen Das Urteil des Ersten Senats zum BNDG enthält viele – in dieser Detailtiefe zuvor weder in Rechtsprechung noch Literatur entfaltete – spezifisch auf den Bundesnachrichtendienst zugeschnittene Ansätze, leistet aber an einigen Stellen keine hinreichende rechtsstaatliche Begrenzung. Entsprechend der Technik aus dem Urteil zum Bundeskriminalamtgesetz destilliert der Erste Senat – wie bereits grob skizziert – dezidierte, übergreifende Anforderungen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wobei die Verankerung manch fein ziselierter „Mikromaßgaben“ in selbigem bisweilen Fragen aufwirft2480. Dabei entwirft das Gericht ein komplexes Geflecht aus wechselseitigen Anforderungen – auf die innerhalb der Entscheidung mit Verweisen, einer Monographie gleich, Bezug genommen wird – an die Datenerhebung, die Übermittlung im Einzelfall und in einer nachrichtendienstlichen Kooperation sowie an eine übergeordnete Kontrolle. Die ebenso detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Anforderungen ist der Schlüssel zur verfassungsrechtlich angemessenen Ausgestaltung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung insgesamt sowie zur abschließenden Bewertung des Urteils des Ersten Senats2481. Einem so komplexen Thema wie der strategischen Auslandsaufklärung, die überdies mit technischen Problemen aufgeladen ist, kann sich nur auf der Mikroebene angenähert werden; Großformeln helfen hier nicht weiter. Dabei ist nach hiesigem Verständnis davon auszugehen, dass das Gericht übergreifende Anforderungen für die gesamte strategische Überwachung aufgestellt hat und nur einzelne Differenzierungen zwischen der InlandAusland- und der Ausland-Ausland-Überwachung zulässt2482; ob und inwieweit oder noch nicht bestimmbaren Zwecken sowie des Verbots einer Überwachung „ins Blaue hinein“, allerdings spezifisch auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung bezogen. Jedenfalls soll auch hier – zu Recht – eine Grenze liegen, wenn doch schon die Überwachung bei klarer Betrachtung zumindest nahe an der Überwachung „ins Blaue“ liegt. Das Problem absoluter Grenzziehungen innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird hier allerdings deutlich: Absolutheit wirkt nur dann, wenn sie auch wirklich eine nicht überschreitbare Grenze darstellt. 2480 Im ersten Zugriff schon unter D. III. 2; Zitat bei Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181. 2481 Die Darlegung dieser Details ist regelmäßig im Aufsatzformat der einschlägigen Entscheidungsbesprechungen in der Breite schon nicht zu leisten, wie Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 719, betont. Deswegen konzentrieren sich die bisherigen Beiträge auf unterschiedliche Einzelaspekte. Eine kompakte Zusammenfassung des Urteils bietet indes Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 5 ff. Stärker in die übergreifenden Verhältnismäßigkeitsanforderungen taucht ein Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 175 ff. 2482 Ebenso Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 953 f.
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die Abstufungen der Schutzintensität des Fernmeldegeheimnisses für Ausländer im Ausland tragfähig sind, muss hier daher auch untersucht werden. Das höchstrichterliche Urteil steht als neuer Referenzstandard daher im Folgenden im Zentrum des Interesses. Zunächst bedarf es zu Recht einer allgemeine Kapazitätsbegrenzung zusammen mit einer geographischen Beschränkung des Überwachungsgebiets, um die enorme Streubreite wenigstens etwas zu dämpfen und eine normative Sicherung zu implementieren, statt pauschal auf faktische, jederzeit durch Ressourcensteuerung veränderbare, Limitierungen des Bundesnachrichtendienstes abzustellen2483. Ohne eine solche wäre jedenfalls theoretisch schon im Ansatz eine verfassungsrechtlich unzulässige Globalüberwachung möglich, weswegen diese Begrenzung schlechterdings unverzichtbar ist und Verweisen auf tatsächliche oder vermeintliche tatsächliche Kapazitätsbeschränkungen einen normativen Riegel vorschiebt. (1) Strengste Limitierung einer Nutzung rein inländischer Telekommunikation Für die Filterkaskade durch Separator und DAFIS-Filter mit dem Ziel der Separation rein inländischer Verkehre bedarf es nach hiesiger Ansicht aufgrund des Eingriffscharakters zunächst einer Ermächtigungsgrundlage, welche derzeit fehlt2484. Zudem ist mit der Beschränkung auf die Auslandsaufklärung auch aus Verhältnismäßigkeitsgründen eine Aussonderung unabdingbar, da die strategische Überwachung für inländische Telekommunikationsverkehre von vornherein unverhältnismäßig wäre2485. Die Tatsache, dass die Filtersysteme eine Trennung nicht stets mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit garantieren können, führt nach Ansicht des Ersten Senats nicht zur Ablehnung der Überwachung insgesamt2486. Die Linie, zwischen der „Anwendung der Norm“ und der „Gültigkeit“ zu differenzieren, vertrat das Bundesverfassungsgericht schon im BKAG-Urteil in Bezug auf die technische Umsetzbarkeit der Begrenzung der Quellen-Telekommunikationsüberwachung ausschließlich auf die laufende Telekommunikation2487. Freilich handelt es sich in erster Linie um die Umsetzbarkeit 2483 BVerfGE 154, 152 (251, Rn. 169); Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 5; für eine flexible Begrenzung der Datenmenge abhängig vom Aufklärungsziel, jedenfalls im Bereich der G 10-Aufklärung, aber Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 184 ff. Zum Ganzen auch schon unter F. II. 2. bb). 2484 Zu den diesbezüglichen Anforderungen des Gesetzesvorbehaltes siehe F. III. 3. a). 2485 So auch folgerichtig bzw. schlicht zwingend unter den aufgestellten Bedingungen BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 171 f.). 2486 BVerfGE 154, 152 (253, Rn. 174). 2487 BVerfGE 141, 220 (311, Rn. 234) – „Insbesondere ist die Vorschrift nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie, wie die Beschwerdeführer meinen, [. . .] unerfüllbare Anforderungen stellt. Ob oder wie sich durch technische Maßnahmen sicherstellen lässt, dass ausschließlich die laufende Telekommunikation überwacht und aufgezeichnet wird, betrifft die Anwendung der Norm, nicht aber ihre Gültigkeit. [. . .] Das Gesetz lässt jedenfalls keinen Zweifel, dass eine Quellen-Telekommunikationsüberwachung nur
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der Vorschrift durch die Exekutive im Einzelfall. Ob indes die technische Realisierbarkeit keine oder eine untergeordnete Rolle bei der Normierung sicherheitsbehördlicher Befugnisse spielen sollte, darf durchaus bezweifelt werden2488, kann hier aber dahinstehen. Dass die Filtersysteme im Ansatz durchaus funktionieren, ist unstreitig, nur deren Wirkungsgrad ist fraglich und weiterhin letztlich ungeklärt2489. Es bedarf jedoch der dringenden Überlegung, ob es verfassungsrechtliche Grenzen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gibt, ab denen eine Fehlzuordnung rein inländischer Telekommunikation nicht mehr hingenommen werden kann und die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung in der Folge insgesamt nicht mehr angemessen ist2490. Wenn die Filtersysteme einen signifikanten Teil fälschlich zuordnen würden, stünde ferner schon die Geeignetheit der Maßnahme in Frage. Nach dem bisherigen Stand wird man aufgrund fehlender exakter Informationen zum Wirkungsgrad davon ausgehen müssen, dass die Systeme – trotz der unbestreitbaren Schwächen und Unsicherheiten – eine hinreichende Genauigkeit haben und die Fehlerquote verfassungsrechtlich noch (!) tolerierbar ist. Bei einer größeren Abweichung müsste dies, schon aufgrund der ungeheuren Datenmengen, anders bewertet werden. Daher bedarf es zwingend einer anfänglichen wie permanenten Wirkungskontrolle der Filtersystem und der Festlegung eines geeigneten Fehlergrenzwertes, der nicht überschritten werden darf. Sollten Daten aus rein inländischen Verkehren demnach erfasst und verarbeitet werden, müssen sie nach händischer Entdeckung sofort gelöscht werden2491. Eine Nutzung kann allenfalls unter engsten Voraussetzungen zur Gefahrenabwehr in besonderen Lagen erlaubt werden. Da dem Staat unter dem Grundgesetz eine Pflicht zur Abwehr von Bedrohungen von Leib, Leben und Freiheit des Einzelnen durch Dritte zukommt und lebenswichtige Güter der Allgemeinheit sowie bei einer technisch sichergestellten Begrenzung der Überwachung auf die laufende Telekommunikation erlaubt ist. [. . .] Sollten zum gegenwärtigen Zeitpunkt diese Anforderungen nicht erfüllbar sein, liefe die Vorschrift folglich bis auf weiteres leer. Auch dies machte sie jedoch nicht widersprüchlich und verfassungswidrig, weil damit nicht ausgeschlossen ist, dass die nötigen technischen Voraussetzungen in absehbarer Zukunft geschaffen werden können.“ Auf diese Aussage des BVerfG verweist ebenfalls Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 179 m. Fn. 704, allerdings im Kontext des territorialen Schutzbereichs bzw. der Differenzierung der Schutzintensität des Fernmeldegeheimnisses. Es handelt sich aber um eine Frage der Verhältnismäßigkeit. 2488 Vgl. instruktiv zu den Anpassungen des Rechts gerade erst durch die technologische Entwicklung – etwa bei der „Schaffung“ des Grundrechts auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme gerade als Reaktion auf die de facto technische Schaffung der Online-Durchsuchung – etwa monografisch Hoffmann-Riem, Innovation (Fn. 35), S. 557 ff. 2489 Siehe ausführlich dazu E. III. 2490 Ein „rechtsverträglicher Umgang mit Fehlerwahrscheinlichkeiten“ aus technischen Datenauswertungs- und Filtersystemen muss allerdings erst noch gefunden werden, siehe Bäcker, Big Data (Fn. 630), S. 170 f.; siehe auch Fn. 1673. 2491 BVerfGE 154, 152 (253, Rn. 174); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 176.
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der Bestand des Staates selbst ebenfalls höchste Rechtsgüter darstellen2492, darf in einer Sonderkonstellation daher doch eine Datennutzung stattfinden. Dafür soll aber eine unmittelbar bevorstehende konkrete Gefahr für die genannten Schutzgüter erforderlich sein2493. Damit meint das Gericht offenbar den hergebrachten polizeirechtlichen Begriff der konkreten Gefahr, der indes durch einen besonders engen zeitlichen Zusammenhang qualifiziert ist2494. Damit ist sichergestellt, dass die Daten rein inländischer Verkehre, sollten sie doch einmal durch die Filter gelangen, wirklich nur verwendet werden dürfen, wenn es bereits „fünf vor zwölf“ ist. Diese Regelung schafft einen angemessenen Ausgleich zwischen dem grundsätzlich absoluten Ausschluss inländischer Verkehre und der Schutzverantwortung des Staates. Die Annahme des Ersten Senats, dass hierfür eine qualifizierte konkrete Gefahr erforderlich sei, illustriert erneut, dass die konkrete Gefahr weiterhin der strenge verfassungsrechtliche Ausgangsmaßstab ist, der auch schwerste Grundrechtseingriffe zulässt bzw. – wie hier – sogar ansonsten nicht vertretbare Sondersituationen legitimieren kann. Zur Strafverfolgung wird der Bundesnachrichtendienst diese Daten indes nicht nutzen bzw. übermitteln dürfen, da das Gericht dies explizit nur zu Zwecken der Gefahrenabwehr erlaubt2495. Angesichts der Annahme eines Vorrangs staatlicher Prävention vor Repression erscheint diese Beschränkung schlüssig2496. Den Gedanken betonte das Bundesverfassungsgericht schon in Bezug auf die Übermittlungsbefugnisse aus der strategischen Fernmeldeaufklärung 1999: Bei der Gefahrenabwehr könne der Erfolgseintritt noch verhindert werden, die Strafverfolgung könne eine Rechtsgutverletzung indes nur noch staatlich sanktionieren, nicht aber vereiteln2497. Aus Verhältnismäßigkeitsgründen erscheint dies angesichts dieser Prämisse ebenfalls geboten. Andernfalls würden innerdeutsche Verkehre eben doch zu Zwecken der inneren Sicherheit genutzt, obschon sie der strategischen 2492
Stellvertretend BVerfGE 141, 220 (267 f., Rn. 100). BVerfGE 154, 152 (253, Rn. 174). 2494 BVerfGE 154, 152 (269, Rn. 222); 141, 220 (271 f., Rn. 111); zur Qualifikation einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr auch Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 8 Rn. 21. 2495 Einen Ausschluss zur Strafverfolgung sieht auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 179, allerdings in Bezug auf Daten, die zur Information der Bundesregierung beschränkt sind (dazu sogleich). 2496 Zum Verhältnis von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung BVerfGE 100, 313 (394) – „unterschiedliche Dringlichkeit“; von einer Vorrangstellung der Gefahrenabwehr geht auch aus Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831 m. Fn. 110; ferner Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 369 ff.; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 218, die beide auf das Schrankensystem des Art. 13 III und IV GG verweisen; für den Rang und die Bedeutung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses indes Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 278 ff. 2497 BVerfGE 100, 313 (394); Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 371 ff., geht aber davon aus, dass das Gericht diese Position in späteren Entscheidungen wieder aufgegeben habe. Jedenfalls für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung trifft dieser Befund offenbar nicht zu. 2493
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Aufklärung kategorisch entzogen sein müssen. Gerechtigkeitsbedenken bleiben freilich, wenn etwa besonders schwere Straftaten hierdurch nicht verfolgt werden können; dabei gilt es aber zu bedenken, dass diese Daten erst durch einen von vornherein einfach- wie verfassungsrechtlich untersagten Grundrechtseingriff für staatliche Stellen überhaupt verfügbar gemacht wurden und letztlich die Konsequenz eines im Einzelfall defizitären Filtersystems sind. Dass sich der Staat hierdurch gegenüber einer Straftat bewusst unwissend oder gar „blind“ stellen muss, ist dann letztlich als rechtsstaatlicher Kollateralschaden hinzunehmen2498. (2) Abstufungen grundrechtlicher Schutzintensität: Fortsetzung territorialer Demarkationslinien Die Anforderungen des Art. 10 I GG an die Ausgestaltung einer anlasslosen, rein final angeleiteten wie begrenzten Befugnis will der Erste Senat, wie bereits allgemein angedeutet, auch davon abhängig machen, ob es sich um Inland-Ausland- oder um Ausland-Ausland-Telekommunikationsverkehre handelt; letztlich setzt das Gericht damit die Modifikation der grundrechtlichen Schutzintensität für Ausländer im Ausland fallspezifisch auf Verhältnismäßigkeitsebene um2499. Die Eingriffsintensität ist – wie dargelegt – hierzu das dogmatische Vehikel des Senats, um eine Abstufung der verfassungsrechtlichen Anforderungen zu realisieren2500. Wollte der Gesetzgeber an diesem Dualismus festhalten, müsse er auch die Separierung der Inland-Ausland von der Ausland-Ausland-Telekommunikation sicherstellen2501. Damit perpetuiert das Bundesverfassungsgericht die Trennung der verschiedenen Überwachungskonstellationen. Der Erste Senat greift damit die Linie von weiten Teilen des Schrifttums auf, dass die Intensität der Grundrechtsgeltung für Ausländer im Ausland schlechterdings herabgesetzt sein müsse2502. Bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung soll es aus Verhältnismäßigkeitsgründen nicht untersagt sein, eine gänzlich gefahrunabhängige Auslandsaufklärung zur Information der Bundesregierung zu implementieren ((a)), Selektoren erst nach Festlegung der Überwachungsmaßnahme zu bestimmen ((b)) und Metadaten automatisiert innerhalb einer Kooperation an ausländi-
2498 Instruktiv zu Begrenzungen staatlicher Wissensgenerierung Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 248 ff. m.w. N.; zur Tolerierung von Sicherheitsrisiken im Strafrecht aufgrund übergeordneter verfassungsrechtlicher Grundsätze siehe auch pointiert Masing, Ambivalenz (Fn. 2472), S. 757 f. 2499 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 176. 2500 F. II. 2. a) dd) (1). 2501 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172). 2502 Es beruhigt damit auch die Stimmen, die immer von einer zu weit gehenden Erstreckung der Grundrechte gewarnt haben, wie Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 176, zu Recht betont. Diese Diskussion um die Schutzintensität wird damit, im Gegensatz zur Frage, ob die Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt im Ausland überhaupt besteht, noch weiter anhalten.
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sche Partnerdienste zu übermitteln2503. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber, dass alle anderen Verhältnismäßigkeitsanforderungen für die gesamte strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung gelten und damit auch für die Inland-Ausland-Aufklärung; dies unterstreicht erneut die Annahme, dass es sich auch um eine Grundsatzentscheidung mit Wirkung auch für den G 10-Bereich handelt. Eine Sonderstellung nimmt die gezielte Erfassung von Telekommunikationsteilnehmern ein ((c)). Auffällig ist indes die Diskrepanz der Begründungsintensität, mit der das Bundesverfassungsgericht die unterschiedlichen grundrechtlichen Schutzniveaus untermauert. Hier lässt der Senat einen recht kurzen Verweis auf unterschiedliche Eingriffsintensitäten genügen – bei der Frage, ob das Fernmeldegeheimnis überhaupt für Ausländer im Ausland gilt, bemüht das Gericht hingegen eine beinahe akademische Abhandlung zur Auslegung von Art. 1 III GG. Dass Grundrechte im Ausland gegenüber Ausländern situative Einschränkungen erfahren können, wird auch hier nicht bestritten; im Fall der gefahrenunabhängigen Auslandsaufklärung zur Information der Bundesregierung und bezüglich verfahrensrechtlicher Details begegnet die Herabsenkung der Anforderungen an die Ausland-Ausland-Überwachung im Vergleich zur Inland-Ausland-Überwachung jedoch teils Bedenken. (a) Alleiniges Ziel: Außen- und sicherheitspolitische Information der Bundesregierung in ihrer Regierungsfunktion Das Bundesverfassungsgericht hält zunächst fest, dass die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung einer normenklaren, hinreichend präzisen Festlegung auf differenzierte Zwecke seitens des Gesetzgebers bedürfe, die auf den Schutz der angeführten hochrangingen Gemeinschaftsgüter ausgerichtet sei2504, deren Verletzung „schwere Schäden für den äußeren und inneren Frieden und die Rechtsgüter Einzelner zur Folge hätten“ 2505. Hierbei ist der Erste Senat ganz auf der Linie der dritten Abhörentscheidung und der im § 5 I 3 G 10 erprobten näheren Spezifizierung der durch die strategische Überwachung zu erhellenden Gefahrbereiche2506. Für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung will der Erste Senat indes eine Aufklärung darüber hinaus zulassen, „die von vornherein allein das Ziel der Information der Bundesregierung und der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen“ hat und somit „unabhängig von einer Ausrichtung 2503 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172, 254, Rn. 177, 254 f., Rn. 179 f., 282 ff., Rn. 254 ff.); zur Kooperation noch F. III. 5. b) cc). 2504 BVerfGE 154, 152 (253 f., Rn. 175 f.). 2505 So schon BVerfGE 100, 313 (373); Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 5; für die Notwendigkeit dieser Beschränkung auch Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 13; siehe ferner Fn. 2836. 2506 Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 129, spricht in Bezug auf § 5 I 3 G 10 von näherer Spezifizierung.
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auf die Gefahrenfrüherkennung erlaubt“ werden könne2507. Der Erste Senat installiert somit zwei „parallele Datenregimes“ 2508. Dafür dürfe der Gesetzgeber das schon kompetenziell auf die außen- und sicherheitspolitische Aufklärung begrenzte volle „Aufgabenspektrum“ des Bundesnachrichtendienstes als Zweck der Überwachung vorsehen und dies allein an Aufträge der Bundesregierung koppeln2509; die ansonsten notwendige Begrenzung auf Gefahrbereiche im Sinne des § 5 I 3 G 10 entfällt dann. Diese verfassungsrechtliche Flexibilisierung ist gänzlich neu und eine entscheidende Innovation im Urteil des Ersten Senats, welche maßgeblich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Auswirkungen hat2510. Sofern der Gesetzgeber von dieser Konzentration auf die Kernaufgabe des Bundesnachrichtendienstes Gebrauch mache und gerade nicht auf Gefahrenfrüherkennung, sondern auf außenpolitisches Wissen abziele, müsse dann aber ausgeschlossen sein, dass diese Daten an andere Stellen weitergeleitet werden; eine datenschutzrechtliche Zweckänderung sei, abgesehen von „Ausnahmefällen“ – den Begriff verwendet der Senat hier erneut –, mithin von vornherein ausgeschlossen2511. Um die politische Information unabhängig von der Gefahrenfrüherkennung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Einklang zu bringen, vertieft der Senat seine pauschale Annahme einer verminderten Eingriffsintensität gegenüber Ausländern datenübermittlungs- und nutzungsspezifisch und rekurriert letztlich auf die potentiellen Folgen hoheitlicher Maßnahmen gegenüber dem Einzelnen. Bei der Information der politischen Entscheidungsträger stünden im Regelfall personenbezogene Daten weniger im Zentrum des Interesses, sodass diese häufig ausgesondert werden könnten und auch müssten2512. Bei der „Hintergrundinformation der Bundesregierung“ oder als „Grundlage zur Vorbereitung [. . .] [von] Regierungsentscheidungen“ verschwinde schließlich typischerweise der Fokus auf einzelne „Privatpersonen“ 2513. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Die Beschränkung ließe sich maßgeblich durch eine Anonymisierungspflicht in den Fällen, in denen die Personen für die nachrichtendienstliche Lageunterrichtung irrelevant sind, weitergehend normativ absichern. Selbst wenn aber personenbe2507
BVerfGE 154, 152 (254, Rn. 177). Pointiert so Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829; kritisch Unterreitmeier, Funktion (Fn. 125), S. 179 ff. 2509 Siehe erneut BVerfGE 154, 152 (254, Rn. 177). 2510 Die Flexibilisierung wird eben auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit und nicht so sehr beim allgemein Aufgabenzuschnitt des BND, den Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 175, stark betont wirkmächtig – freilich geht der Beitrag auf die politische Information auch in der hiesigen Dimension ein, siehe S. 178; ähnlich wie Dietrich auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829 f. 2511 BVerfGE 154, 152 (254, Rn. 177, 270 ff., Rn. 223 ff.); dass die Verhältnismäßigkeitserwägungen sich maßgeblich erst auf Ebene der Anforderungen an die Datenübermittlung realisieren betont auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 178. 2512 BVerfGE 154, 152 (270, Rn. 225). 2513 BVerfGE 154, 152 (271, Rn. 225). 2508
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zogene Informationen in die Berichte aufgenommen werden müssten, sei die Intensität des Eingriffs gänzlich anders gelagert als bei der Übermittlung an operative Behörden oder gar ausländische Stellen2514. Dass dies insbesondere bei Organwaltern fremder Staaten und Organisationen der Fall sein kann, billigt der Erste Senat mit dem Verweis auf das überragende öffentliche Interesse2515; nach hiesiger Ansicht sind diese Personen schon vom persönlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses nicht umfasst, sodass diesbezüglich verfassungsrechtlich nichts zu erinnern ist. Da die Berichte an die Bundesregierung alleinig der Außenpolitik dienen, muss dann aber als rechtsstaatliche Kompensation die Übermittlung an andere Empfänger grundsätzlich ausgeschlossen sein2516; die sonstigen Übermittlungsschwellen und Rechtsgüteranforderungen – die noch darzulegen sind – sind hier schließlich nivelliert. Analog der Sondersituation einer Verwertung von Daten aus rein nationaler Telekommunikation dürfen diese rein außenpolitisch determinierten Informationen allenfalls nur zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden konkreten Gefahr für Leib, Leben und Freiheit einer Person, überlebenswichtiger Güter der Allgemeinheit oder den Bestand und die Sicherheit des Staates vorgesehen werden2517. Aus praktischer Perspektive ist freilich kritisiert worden, dass eine Unterscheidung zwischen Gefahrenfrüherkennung und reiner Information der Bundesregierung zu außenpolitischen Zwecken ein „holzschnittartiges Verständnis“ nachrichtendienstlicher Tätigkeit zugrunde lege, welches sich so in der Realität kaum hinreichend sicher umsetzen und randscharf normieren lasse2518. Insbesondere müsse der Bundesnachrichtendienst schon vorab festlegen, was das Ziel einer SIGINT-Operation sei2519. Dies ist aber letztlich eine Frage der gesetzlichen Umsetzung, wenngleich die praktischen Bedenken nicht leichtfertigt beiseite gewischt werden dürfen. Durch die zwei Aufklärungszwecke wird der Bundesnachrichtendienst aber auch gezwungen sein, seine Operationen sehr genau zu planen und das Mittel der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung zielgenau einzusetzen. Hierdurch entsteht eine weitergehende rechtsstaatliche Sicherung. Etwaige Zweifelsfälle könnten ferner dadurch geklärt werden, dass die Zuordnung entweder zur Gefahrenfrüherkennung oder der allgemeinen Information 2514
BVerfGE 154, 152 (270 f., Rn. 225). BVerfGE 154, 152 (270, Rn. 225). 2516 BVerfGE 154, 152 (271, Rn. 226); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 179. 2517 BVerfGE 154, 152 (271 f., Rn. 228), unter Verweis auf die Sonderregelung für die Nutzung fälschlich nicht ausgesonderter rein innerdeutscher Telekommunikationsverkehre auf S. 253, Rn. 174; kritisch Unterreitmeier, Funktion (Fn. 125), S. 180, der hierin einen Bruch mit dem ansonsten geltenden Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung sieht. 2518 So pointiert Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 178; ebenso Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830, der von ineinander übergehenden Szenarien spricht und hierfür die Lage in Syrien als Beispiel anführt. 2519 Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830. 2515
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der Bundesregierung im Bedarfsfall der übergeordneten objektiven Kontrolle überantwortet wird. Die Unterscheidung des Ersten Senats zwischen den beiden Zielen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung überzeugt daher. Insbesondere ist hier eine Minderung der Eingriffsintensität tatsächlich zu bejahen und nicht lediglich von vagen und pauschalen Annahmen der Zugriffsmöglichkeit durch deutsche staatliche Stellen geprägt. Die Übermittlung ist schließlich – bis auf hochgradige Bedrohungen – rechtlich ausgeschlossen. Hier entfaltet die Eingriffsminderung durch Übermittlungsbegrenzung tatsächlich Wirkung. Warum allerdings eine Information allein zu außenpolitischen Zwecken nur bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung erlaubt sein soll und der verfassungsrechtliche Schutz im Vergleich zur Inland-Ausland-Überwachung zurückgenommen wird, leuchtet nicht ein. Die Eingriffsmilderung durch Begrenzung der Information auf die politische Leitungsebene realisiert sich für alle dem Bundesnachrichtendienst zur Verfügung stehenden Daten aus strategischen Aufklärungsansätzen. Die Idee einer primären Information politischer Entscheidungsträger bildet vielmehr das Herzstück einer geltungserhaltenden Reduktion der Auslandsaufklärung – genau zu diesem Hauptzweck soll der Bundesnachrichtendienst aus verfassungsrechtlicher, insbesondere kompetenzieller Sicht (Art. 73 I Nr. 1 GG), überhaupt sein Geschäft betreiben. Sie ist auch Ausdruck der Stellung des Bundesnachrichtendienstes in der Sicherheitsarchitektur, zumindest, wenn man – wie hier – eine generelle Gleichsetzung der Nachrichtendienste mit Sicherheitsbehörden ablehnt. Außen- oder sicherheitspolitisch relevante Telekommunikation kann durchaus auch bei der Inland-Ausland-Überwachung erfasst werden, weswegen auch nachrichtendienstliche Erkenntnisinteressen für eine Ausweitung dieses Datenregimes auf die Inland-Ausland-Überwachung streiten. Eine Differenzierung zwischen Inländern und Ausländern an dieser Stelle nicht sinnvoll. Die Eingriffsminderung durch Datenbeschränkung auf die politischen Spitzenebene kommt allen Betroffenen zugute – sofern sie konsequent eingehalten wird. Die Aufklärung zur rein außenpolitischen Information der Bundesregierung ist daher, entgegen der Meinung des Bundesverfassungsgerichts, nicht auf die Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung beschränkt. Die Ungleichbehandlung ist nach Art. 10 I GG in Verbindung mit Art. 3 I GG nicht gerechtfertigt. (b) Verfahrensrechtliche Grundrechtssicherungen Die allein final angeleitete Befugnis muss an verfahrensrechtliche Regelungen gekoppelt werden, die diese kontrollierbar machen2520. Dazu müssen die Art der 2520 Zum Grundrechtsschutz durch Verfahren allgemein etwa Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 10; Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 17 m. Fn. 148; zur verfahrensrechtlichen Begrenzung von Überwachung etwa auch BVerfGE 141, 220 (275 ff., Rn. 117 ff.); 125, 260 (339 f.); 65, 1 (44, 49).
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aufzuklärenden Gefahr – im Fall der Gefahrenfrüherkennung – der geographische Fokus der Überwachung und deren Zeitraum dargelegt werden; hierbei handele es sich datenschutzrechtlich gesehen um die „Zweckbestimmung der Maßnahme“ 2521. Dabei orientiert sich das Gericht offenbar an der bereits erprobten Praxis der §§ 9, 10 G 10 und weniger am insoweit ungenauen § 9 BNDG2522. Deswegen betont der Erste Senat auch, dass sich die Anzahl der Anordnungen gegenüber der bisherigen Anordnungspraxis erhöhen müsse2523. Entgegen der Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts wird man aber aus Angemessenheitsgründen einer Wiederholung der befristeten Anordnungen eine Höchstgrenze setzen müssen, ab der jedenfalls ein neues Prüfverfahren vorzusehen ist, ob die initialen Anforderungen wirklich noch bestehen2524. Ansonsten können Anforderungen praktisch unbegrenzt immer wieder verlängert werden und somit rein prophylaktisch weiter betrieben werden. Hiergegen bedarf es rechtlicher Absicherung. Die genaue Ausgestaltung des Verfahrens darüber hinaus lässt sich nach Ansicht des Ersten Senats nicht aus der Verfassung ableiten; Details wie Behördenleitervorbehalte oder die Mitwirkung des Bundeskanzleramtes erwähnt das Gericht – wohl nicht nur rein prophylaktisch – dennoch2525. Auch im Verfahrensablauf nimmt das Bundesverfassungsgericht aber eine Abstufung des grundrechtlichen Schutzes vor. So soll es bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung von Verfassungs wegen nicht erforderlich sein, dass politisch unmittelbar verantwortliche Organe immer an der Zwecksetzung mitwirkten; ferner müssten die Selektoren – anders als derzeit im G 10, welches erneut als Referenz herangezogen wird – nicht schon vorab festgelegt werden und mithin nicht in der Anordnung implementiert sein2526. (aa) Hochzonung politischer Verantwortlichkeit unabhängig von geographischen Parametern Diese Herabsetzung der ansonsten einleuchtenden verfassungsrechtlichen Verankerung des Grundrechtsschutzes durch Verfahren begegnet erneut Bedenken. Zunächst entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der Erste Senat richtigerweise annimmt, die genauen Spezifika ließen sich der Verfassung – konkret dem 2521
BVerfGE 154, 152 (254, Rn. 179). Die insoweit einfachrechtlich erprobte Vorgehensweise betont auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 177. 2523 BVerfGE 154, 152 (255 f., Rn. 183); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 177, will hierfür das Auftragsprofil der Bundesregierung als „binnenrechtliches Steuerungsinstrument“ nutzen und dessen Ausgestaltung zugleich rechtlich fixieren. 2524 A. A. insoweit B BVerfGE 154, 152 (255, Rn. 179). 2525 BVerfGE 154, 152 (255, Rn. 180). 2526 BVerfGE 154, 152 (255, Rn. 180), mit Verweis auf die Rechtslage im G 10 und auf BVerfGE 100, 313 (373 f.); Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 5. 2522
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knappen Art. 10 I GG – nicht entnehmen, dann aber die Nichteinbindung politisch Verantwortlicher im hochpolitischen Feld der Auslandsaufklärung – welche gerade im Bereich Ausland-Ausland zu den Verwerfungen nach den SnowdenEnthüllungen führte – doch mit höchstrichterlichen Weihen zu versehen. Eine stichhaltige Begründung, die Inland-Ausland- und die Ausland-Ausland-Überwachung insoweit anders zu behandeln, ist nicht ersichtlich. Eine Hochzonung der politischen Verantwortlichkeit durch Verfahrensvorschriften2527 sichert in beiden Fällen die Rückkopplung an erkennbare Entscheidungsträger und verhindert hierdurch eine Verselbstständigung der Anordnung der Überwachungsmaßnahmen2528. Selbst wenn man pauschal eine verminderte Eingriffsintensität bei der Ausland-Ausland-Überwachung annehmen wollte, ändert dies am hiesigen Befund nichts. Politische Letztverantwortlichkeit für nachrichtendienstliche Maßnahmen dieser Tragweite erscheint gerade geeignet, einer Verselbstständigung wirksam entgegenzuwirken, da Anordnungen durch entsprechend zu dokumentierende Freigaben letztlich persönlich zugeordnet werden können; dies ist durch einfachgesetzliche Ausgestaltung sicherzustellen. Dem Ersten Senat kann mithin auch insoweit nicht gefolgt werden, wenn er eine Herabsetzung des Grundrechtsschutzes durch Verfahren für die Ausland-Ausland-Telekommunikation annimmt und eine Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich toleriert. (bb) Selektorenbestimmung in der Anordnung nicht generell erforderlich Vertretbar erscheint hingegen die Annahme, dass bei der Ausland-AuslandÜberwachung die Suchbegriffe nicht schon vorab festgelegt werden müssen2529. Dies ist schon allein angesichts des enormen Umfangs der Suchbegriffe2530 aus rein praktischer Sicht schlicht unmöglich. Zudem ist eine schnelle Anpassung der Selektoren bisweilen erforderlich, um auf tagesaktuelle Veränderungen reagieren zu können. Dies wird insbesondere in Fällen gelten, bei denen die Informationen zur rein außen- und sicherheitspolitischen Information der Bundesregierung dienen sollen, etwa wenn schnell Informationen über sich permanent entwickelnde internationale Konfliktlagen generiert werden müssen, um der Bundesregierung eine informierte Entscheidung zu ermöglichen. Man denke hier nur an die weltweiten Konfliktherde, aber auch die Vergiftung russischer Oppositioneller2531. Hier bestehen aber schon weitergehende verfassungsrechtliche 2527 Hierzu nur Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 528; Huber (Fn. 511), § 7a G 10 Rn. 17. 2528 Dahingehend auch Dietrich (Fn. 771), § 9 BNDG Rn. 3. 2529 A. A. mit Blick auf die ex-ante-Kontrolle der Selektoren Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 225. 2530 Siehe zu den Zahlen unter F. II. 2. a) bb) (2). 2531 Zum Fall Nawalny siehe nur die offizielle Stellungnahme der Bundesregierung, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/erklaerung-der-bundes regierung-im-fall-nawalny-1781790 (22.9.2020).
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Sicherungen zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit. Selbstredend muss aber die „Maßnahme“ an sich an eine gerichtsähnliche ex-ante-Kontrolle – abgesehen von Eilfällen, in denen die Entscheidung nachzuholen – gekoppelt werden2532. Nur auf die Festlegung der Selektoren als solcher kann verzichtet werden. Ob indes bei der strategischen Fernmeldeaufklärung im Gegensatz eine Festlegung der Selektoren im Voraus verfassungsrechtlich unabdingbar ist, erscheint nicht von vornherein zwingend. Im dritten Abhörurteil hat das Bundesverfassungsgericht dies nicht positiv festgestellt, sondern lediglich auf diese einfachrechtliche Praxis zur verfahrensrechtlichen Begrenzung der strategischen Fernmeldeaufklärung verwiesen2533. Allerdings besteht bei der Inland-Ausland-Überwachung verstärkt die Gefahr, dass auch Selektoren mit innenpolitischem Fokus gesteuert werden könnten2534. Dem kann am effektivsten präventiv begegnet werden. Deswegen erscheint es zur bestmöglichen verfahrensrechtlichen Grundrechtssicherung sinnvoll, dass die Selektoren bei der strategischen Fernmeldeaufklärung immer vorab festgelegt werden müssen; an dieser Stelle ist der Unterscheidung des Ersten Senats zwischen der Inland-Ausland- und der Ausland-Ausland-Überwachung zuzustimmen. Die Ungleichbehandlung scheitert hier nicht an Art. 10 I GG in Verbindung mit Art. 3 I GG, da der Grundrechtsschutz für Ausländer im Ausland insoweit zurückgenommen werden kann. (c) Gezielte Erfassung konkreter Personen: Grundrechtsschutz doch aufgrund Personalhoheit? Die gezielte Erfassung von einzelnen Personen mit Mitteln der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung ist aus Sicht der Verhältnismäßigkeit ein besonders delikater Punkt. Hier wird das Element der Sachaufklärung als prägendes Charakteristikum der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung aufgegeben, und individuelle Personen rücken ins Zentrum des nachrichtendienstlichen Interesses; hiermit wird die Maßnahme einer Individualüberwachung empfindlich angenähert, was die Gefahr birgt, dass deren Voraussetzungen letztlich unterlaufen werden könnten2535. So kulminierte denn auch die verfassungsrechtliche Kritik einer territorialen Beschränkung des Fernmeldegeheimnisses an der Ungleichbehandlung von deutschen Staatsbürgern und Ausländern bei der gezielten Erfassung, wie sie bisher einfachrechtlich durch den weithin wegen 2532 BVerfGE 154, 152 (255, Rn. 181); Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 5; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 178. 2533 BVerfGE 100, 313 (374, strenger tendenziell indes 379). 2534 Dies untersuchte seinerzeit BVerfGE 67, 157 (180 f.), freilich ohne Anhaltspunkte dafür zu finden, dass die strategische Kontrolle für Zwecke der inneren Sicherheit „mißbraucht“ werde. 2535 Dies betont ausdrücklich BVerfGE 154, 152 (257 ff., Rn. 186 ff.); so auch schon zu Recht Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 123; a. A. schon aus technischen Beschränkungsgründen Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 176.
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Verstoßes gegen Art. 10 I in Verbindung mit Art. 3 I GG als verfassungswidrig gebrandmarkten § 5 II 3 G 10 und § 6 III BNDG – hier zusätzlich aufgeladen durch die potentielle unionsrechtliche Determinierung – etabliert ist2536. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das Bundesverfassungsgericht den Ausschluss einer gezielten Erfassung für deutsche Staatsbürger einst als absolute Grenze gewertet hat, ohne die die Verhältnismäßigkeit der Überwachung schlechterdings nicht mehr gegeben sei2537. Dabei muss zunächst genauer gefasst werden, was unter einer „gezielten“ Erfassung mittels formaler Suchbegriffe bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung überhaupt verstanden werden soll. Der weit überwiegende Einsatz von formalen Selektoren bedingt, dass die hinter den jeweils gesteuerten Suchbegriffen stehenden Personen zum Teil bekannt sind, ohne dass sie jedoch direkt bzw. ihr „Verhalten im Fokus des Aufklärungsinteresses stehen“ 2538. Dabei sind ungefähr fünf Prozent der Selektoren auf Individuen mit dem Zweck ausgerichtet, gezielt Informationen über diese zu erlangen und gegebenenfalls „Maßnahmen“ ihnen gegenüber zu ergreifen2539. Diese sind als Gefahrverursacher, „Nachrichtenmittler“ oder als sonstige Informanten von gezielt personenbezogenem Interesse2540. Versteht man die gezielte Erfassung von Telekommunikationsteilnehmern eng, dann ist eine wirklich gezielte Überwachung auf diese fünf Prozent der Selektoren bzw. individuelle Zielpersonen begrenzt2541. Bei einem weiten Verständnis würde allein schon die personenbeziehbare Kennung durch den formalen Selektor potentiell als gezielte Steuerung gewertet werden. Hier soll ein enges Verständnis der gezielten Erfassung zugrunde gelegt werden, da andernfalls beinahe die gesamte strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung aufgrund der hohen Anzahl von formalen Selektoren letztlich hierunter fiele2542. Dann wäre zu konstatieren, dass der strategische Ansatz weitgehend aufgegeben wurde. Für deutsche Staatsbürger will der Erste Senat eine gezielte Überwachung von vornherein weiterhin kategorisch ausschließen, da diese aufgrund des besonders
2536 § 5 II 3 G 10 halten im Licht von Art. 10 I i.V. m. Art. 3 I GG für verfassungswidrig etwa Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 221; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1076 f.; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 7; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 559; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 5; Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1339; grundlegend Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 40 ff.; siehe ebenso schon die Nachweise in Fn. 673; a. A. etwa Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 295 ff.; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 129. Zur unionsrechtlichen Dimension siehe unten G. II. 2537 Rigide BVerfGE 100, 313 (384). 2538 BVerfGE 154, 152 (188, Rn. 23); Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830, nennt dies „kollateral in Kauf genommene Individualisierung“. 2539 BVerfGE 154, 152 (188, Rn. 23). 2540 BVerfGE 154, 152 (258, Rn. 188 f.). 2541 Dahingehend auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830. 2542 Siehe erneut mit selbiger Stoßrichtung Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830.
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intensiven Zugriffes der deutschen Staatsgewalt einen unverhältnismäßig intensiven Eingriff in Art. 10 I GG darstelle2543. Dem ist im Ansatz zuzustimmen. Damit setzt das Bundesverfassungsgericht insoweit doch aber wieder auf einen Grundrechtsschutz qua Staatsangehörigkeit2544 und knüpft damit – freilich isoliert auf die gezielte Erfassung – im Ergebnis an diejenigen Stimmen in der Literatur an, die die Grundrechtsgeltung von vornherein gleichsam am Pass festmachen wollen. Diesen Meinungen konnte bei der Frage des „Ob“ der Geltung des Fernmeldegeheimnisses schon nicht gefolgt werden, ebensowenig sind sie hinsichtlich des „Wie“ anschlussfähig. Es bedarf einer funktionaleren Betrachtungsweise jenseits formaler Personalhoheit über Individuen, die grundrechtlichen Schutz als Ausfluss einer besonderen Beziehung zum Heimatstaat deutet. Ansatzpunkt hierfür muss zunächst die Überlegung sein, dass auch Inländer, insbesondere, aber nicht nur, mit dauerhaftem Aufenthalt in der Bundesrepublik denselben Schutz genießen müssen, da sie nach hiesiger Ansicht derselben Eingriffsintensität wie deutsche Staatsbürger ausgesetzt sind2545. Die Bedrohungslage, die das Bundesverfassungsgericht durch den potentiellen Zugriff deutscher Staatsgewalt und hieraus potentiell resultierender Folgemaßnahmen entwirft, lässt sich auf diese Personengruppe eins zu eins übertragen. Der Begriff des „Inländers“ muss daher – wie hier – weit verstanden werden und gerade auch solche Personen mit einbeziehen, die zwar formal keine deutschen Staatsbürger im Sinne des Art. 116 I GG sind, aber in der Bundesrepublik wie solche leben2546. Nur so lassen sich die heutigen Lebensrealitäten in einem weltoffenen Land hinreichend abbilden. Wenn der „Inländer“ im weiteren Sinne im Ausland Urlaub macht, wird er nicht etwa zum Ausländer und damit gezielt überwachbar, sondern bleibt geschützter Inländer2547. Warum ausgerechnet bei der gezielten Erfassung eine Unterscheidung nicht anhand des eingeschränkt hinzunehmenden Inland-Ausland- und Ausland-Ausland-Schemas, sondern strikt aufgrund der 2543
BVerfGE 154, 152 (257, Rn. 186); siehe F. II. 2. a) dd) (1). Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827, betont demgegenüber den grundrechtsdogmatischen Fortschritt des BVerfG, welches den Grundrechtsschutz nunmehr nicht mehr an starren Staatsangehörigkeitsdemarkationen festmache. Dies ist grundsätzlich zutreffend und zu begrüßen, im entscheidenden Punkt der größtmöglichen Eingriffsintensität verharrt der Erste Senat aber in den tradierten Mustern. 2545 Ähnlich für Personen mit Aufenthalt im Bundesgebiet Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827; für eine verfassungskonforme Differenzierung zwischen deutschen Staatsbürgern und anderen Nationalitäten indes zuvor noch ders., Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 529, freilich schon mit der Andeutung einer am Wohnsitz zu orientierenden Schutzausrichtung (insbesondere in Fn. 52). 2546 Instruktiv erneut Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827, der indes davon ausgeht, dass BVerfG lege dieses Verständnis ebenfalls zugrunde. Nach hiesiger Ansicht lässt sich dies insbesondere aus der besonders wichtigen Rn. 186 bezüglich der gezielten Erfassung nicht herleiten. 2547 Dahingehend auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827, freilich mit einem anderen Beispiel. 2544
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Staatsangehörigkeit aus Verhältnismäßigkeitsgründen gefordert sein soll, lässt sich nicht schlüssig begründen. Die Ungleichbehandlung von deutschen Staatsbürgern und Inländern (im weit verstandenen Sinne) ist daher gemäß Art. 10 I GG in Verbindung mit Art. 3 I GG nicht gerechtfertigt2548. Damit muss aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auch eine gezielte Steuerung von Inländern von vornherein unterbleiben. Wer bleibt, sind die Ausländer im Ausland – die Unterscheidung des grundrechtlichen Schutzniveaus speist sich daher hier tatsächlich aus territorialer und personeller Demarkation, wobei Abschichtungen vorzunehmen sind, die im Ergebnis eine Begrenzung der Ungleichbehandlung jedenfalls bei den gezielten Erfassungen evozieren. Nach hiesiger Ansicht sind Personen, die als Organwalter für einen ausländischen Staat oder ein vergleichbares de-facto Regime tätig werden, in ihrer dienstlichen Position nicht vom Fernmeldegeheimnis geschützt, weswegen eine wichtige Zielgruppe für gezielte Erfassungen wohl schon von vornherein aus dem Problemkreis ausscheidet. Die gezielte Erfassung muss allerdings auch weitergehend materiell flankiert werden. Dies nimmt grundsätzlich auch das Bundesverfassungsgericht an, wenn es für Personen, denen gegenüber Folgemaßnahmen zu besorgen sind, eigene Schutzmaßnahmen fordert, die einer ex-ante-Kontrolle unterliegen müssen2549. Die fließende Grenze zu Individualmaßnahmen soll da liegen, wo der „Einsatz eines personenbezogenen Suchbegriffes von vornherein mit annähernd vergleichbarer Sicherheit und Wirkung wie eine Einzelanordnung“ zur Telekommunikationsüberwachung führe2550. Die „echte“ Individualüberwachung soll – sowohl für deutsche Staatsbürger als auch für Ausländer – nach den im BKAG-Urteil konsolidierten Anforderungen an eine hergebrachte präventive Telekommunikationsüberwachung verfassungsrechtlich erlaubt sein; es bedarf dann also eines gewichtigen Rechtsguts und jedenfalls einer hinreichend konkretisierten Gefahr2551. Dies ist nur konsequent, wenngleich diese feinen Grenzen in schier unvorhersehbaren Sachverhaltskonstellationen kaum generell-abstrakt normiert werden können2552. Es muss daher ferner sichergestellt werden, dass die gezielte Erfassung von Ausländern im Ausland ein Sonderfall der strategischen Auslands-
2548 Insoweit wie hier Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 221; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1076 f.; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 7; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 559; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 5; Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1339; grundlegend Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 40 ff., die freilich uneingeschränkt auch die Ausländer im Ausland mit einbeziehen. 2549 BVerfGE 154, 152 (258, Rn. 188). 2550 BVerfGE 154, 152 (258, Rn. 189). 2551 BVerfGE 154, 152 (245, Rn. 156, 258, Rn. 189); 141, 220 (309 ff., Rn. 228 ff.). 2552 Diese Gefahr betont auch mit anschaulichem Beispiel Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830.
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telekommunikationsüberwachung bleibt2553. Ein ultima ratio-Vorbehalt müsste aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten implementiert werden; zudem wird auf die besondere Situation noch im Rahmen der Übermittlungsvorschriften zurückzukommen sein, um die Ungleichbehandlung von Ausländern im Ausland angesichts der gravierenden Eingriffsintensität weitergehend zu flankieren und diese adäquat zu dämpfen. Überdies muss eine einfachgesetzliche Grundlage für Individualüberwachungsmaßnahmen im Ausland in Abgrenzung zur strategischen Erfassung zunächst geschaffen werden – eine solche existiert derzeit nicht; § 1 II BNDG kommt hierfür offensichtlich nicht in Frage2554. Die aufgezeigten Begrenzungen der gezielten Erfassung gelten mit dem Bundesverfassungsgericht wiederum nicht, wenn die Daten ausschließlich zum Zwecke der außenpolitischen Information der Bundesregierung dienten und die Übermittlung dementsprechend engstens begrenzt sei2555. Entsprechend der auch hier geteilten Anerkennung des Primats der Information der Bundesregierung ist direkte Steuerung von Ausländern im Ausland insoweit verfassungsrechtlich ohne weitere Sicherungen zulässig. Das Schlüsselelement der Datenübermittlung ist hier von vornherein hinreichend begrenzt. (3) Bevorratung und Auswertung von Daten: Verhältnismäßigkeit durch Datenverwendungsrecht Zentrale Bedeutung einer angemessenen Ausgestaltung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung und mithin ihrer geltungserhaltenden Reduktion kommt der Regelung einer Bevorratung von Metadaten und der Datenauswertungsschritte im Allgemeinen zu. Zum Beleg sei nur auf den Einsatz einer Auswertung von bevorratend gespeicherten Metadaten über mehrere Kontaktebe-
2553 Zum Ausnahmecharakter des § 6 III BNDG etwa Gärditz, Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 529. 2554 § 3 G 10 ist auf das Inland beschränkt, siehe Graulich, Reform (Fn. 807), S. 47; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526, die dies überzeugend aus einem argumentum e contrario aus § 3 Ia G 10 herleiten, der eine Überwachung an Bord von Schiffen unter deutscher Flagge außerhalb deutscher Hoheitsgewässer zulässt. Wenn aber eine solche extraterritoriale Zuständigkeit extra begründet wird, muss die sonstige Norm im Umkehrschluss auf das Inland beschränkt bleiben. Dies übersieht Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 281, der eine Anordnung nach § 3 G 10 auf Deutsche im Ausland anwenden will, jedenfalls dergestalt, dass die „Suchbegriffe“ auch im Rahmen einer strategischen Überwachung gesteuert werden können. Dieser Ansatz ist abzulehnen, da § 3 G 10 im Ausland schon nicht anwendbar ist und die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung als Sonderbefugnis ferner keinesfalls ein „wirkungsmäßiges Minus“ zur normalen Telekommunikationsüberwachung darstellen kann. Sie ist vielmehr, wie das BVerfG insoweit anschlussfähig betont, für deutsche Staatsbürger – bzw. richtigerweise auch für Inländer – unter allen Umständen von vornherein verfassungsrechtlich ausgeschlossen. 2555 BVerfGE 154, 152 (259, Rn. 190).
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nen hinweg sowie die Nutzung hochpotenter Analysewerkzeuge à la XKeyscore verwiesen2556. Überraschenderweise verhält sich das Bundesverfassungsgericht hierzu – im Kontrast zu den übrigen Ausführungen – nur relativ knapp. Für die bevorratende Sammlung von Metadaten sei eine „substantielle Begrenzung“ erforderlich sowie eine Höchstspeicherdauer von sechs Monaten sicherzustellen2557. Die explizit an der Vorratsdatenspeicherung und der aktuellen Rechtslage (§ 6 VI 1 BNDG) orientierte Speicherdauer mag relativ „zufällig“ scheinen und nicht an den originären Bedingungen nachrichtendienstlicher Metadatenauswertung orientiert sein2558. Wenn allerdings bei der Vorratsdatenspeicherung als ebenfalls besonders schwerem Grundrechtseingriff – und Vergleichsfaktor zur strategischen Überwachung – dieser Zeitraum als noch angemessen gewertet wurde, schiene es angesichts der Speicherung bei den Nachrichtendiensten systematisch inkonsequent, wollte man nunmehr wesentlich längere Fristen von Verfassung wegen hinnehmen. Dass sich derartig feste Zeitlimits freilich kaum unmittelbar aus dem Verfassungstext deduzieren lassen, ist der Kritik zuzugeben. Die einzelnen Schritte der Datenauswertung müssen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts aus Gründen der Verhältnismäßigkeit indes nur in „wesentlichen Grundlagen“ vorgegeben werden; die nähere Strukturierung könne dem Bundesnachrichtendienst „als Binnenrecht“ überantwortet werden, wobei dieses „freilich“ einer unabhängigen Kontrolle zugänglich sein müsse2559. Die binnenrechtliche Struktur beherrschte die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung allerdings bisher durchgreifend in Form diverser Dienstanweisungen im weitesten Sinne des § 6 VII 1 BNDG2560. Dabei wurden auch intern entwickelte zweifelhafte Rechtsansichten – Stichwort: Funktionsträgertheorie und G 10-Handbuch – in Dienstanweisungen gegossen; diese sind aber letztlich in der Praxis der Schlüssel zur Durchführung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, da sich die Beamten des Dienstes auf Anwendungsebene hieran regelmäßig orientieren werden und dies auch müssen. Das abstrakt-generelle Gesetz kann freilich nicht alles erschöpfend regeln, weswegen Konkretisierungen auf untergesetzlicher Ebene unabdingbar sind2561. Ferner dienen die Dienstvorschriften nicht der Ermächtigung, sondern der internen Festlegung
2556
Siehe zum Potential F. II. 2. a) aa). BVerfGE 154, 152 (259, Rn. 191); im Anschluss an BVerfGE 125, 260 (322); für „flexible quantitative Begrenzungen“ überlegungshalber auch Löffelmann, AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 806), S. 41. 2558 Kritisch insoweit Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 178. 2559 BVerfGE 154, 152 (259, Rn. 192). 2560 Siehe die verschiedenen Dienstvorschriften des BND in Fn. 826 sowie BVerfGE 154, 152 (183 f., Rn. 14); zur Rechtsnatur der Dienstanweisung als innerdienstliche Weisung siehe nur H. Maurer/C. Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2020, § 24 Rn. 42. 2561 So auch instruktiv Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830 m. Fn. 94. 2557
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von Verfahrensweisen durch Vereinheitlichung von Vorgesetztenanweisungen2562. Fraglich ist nur, ob gerade im Nachrichtendienstrecht in der Vergangenheit nicht übermäßig seitens des Gesetzgebers in das Binnenrecht delegiert wurde; in den Dienstanweisungen mag vieles rechtsstaatlich höchst akkurat und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechend geregelt sein, einem öffentlichen Gesetzgebungsverfahren sind sie indes nicht unterworfen2563. Das Bundesverfassungsgericht sieht deshalb nun zu Recht vor, dass jedenfalls die unmittelbare Datenauswertung analog der Regelung in § 6 I 1 G 10 und die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für Selektoren, welcher eben bisher nur in einer Dienstanweisung verankert war, in Gesetzesform durch den Gesetzgeber selbst implementiert werden müssen2564. Ebenso müssen Diskriminierungsverbote angesichts von Art. 3 III GG und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 III WRV zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit vorgesehen sein, wenn etwa Selektoren spezifisch auf diese verfassungsrechtlich besonders geschützten Bereiche ausgerichtet werden sollen2565. Vom Ansatz einer Regelung durch Binnenrecht macht das Bundesverfassungsgericht eine weitere, zunächst unscheinbare, aber aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten besonders wichtige Ausnahme: Regelungen zur Nutzung besonders eingriffsintensiver Datenauswertungsmethoden, insbesondere „komplexe Formen des Datenabgleiches“ bedürfen auch einer normativen Verankerung2566. Damit nimmt das Bundesverfassungsgericht Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wo ebenjene Formulierung – ohne tiefergehende Erläuterung – in Bezug auf die britische Fernmeldeaufklärung und deren Auswertungsmethoden genutzt wird2567. Zudem sei „gegebenenfalls“ auch der „Einsatz von Algorithmen, insbesondere die Sicherstellung ihrer grundsätzlichen Nachvollziehbarkeit“, zwecks einer unabhängigen Kontrolle aus Verhältnismäßigkeitsgründen zu regeln2568. Damit adressiert das Bundesverfassungsgericht die zentrale Frage, wie die erlangten Daten durch den Bundesnachrichtendienst konkret ausgewertet werden dürfen, und unterfüttert flankierende Auswertungsregelungen verfassungsrecht-
2562 Zur Funktion der Dienstanweisung siehe auch Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 527. 2563 Für eine Verrechtlichung durch außenwirksame Normierung auch Gusy, Reformperspektiven (Fn. 193), S. 28. 2564 BVerfGE 154, 152 (259 f., Rn. 192). 2565 Insbesondere zum Schutz von religiösen Überzeugungen bei Datensammlungen und Massendatenabgleichen BVerfGE 133, 277 (359 f., 189); 115, 320 (348). 2566 BVerfGE 154, 152 (259, Rn. 192). 2567 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 339 ff. – Big Brother Watch u. a. 2568 BVerfGE 154, 152 (260, Rn. 192).
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lich2569. Bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung geht es bei der Auswertung von Datenmassen letztlich um „informationstechnisch unterstütze Mustererkennung“ zur Aufdeckung von Telekommunikationsnetzwerken und Aktionsräumen von Personen2570. Der gegenwärtige sicherheitsrechtliche Fokus ist indes auf die Datenerhebung als solche ausgelegt und konzipiert die anschließende Analyse der Daten gleichsam als „unselbständigen nachgelagerten“ Schritt, weswegen zu Recht insoweit von einem „blinden Fleck“ des Sicherheitsrechts gesprochen wird2571. Verfassungsgerichtliche Vorgaben über die Andeutung im BNDG-Urteil – und der vorsichtigen Annäherung im jüngsten ATDG IIBeschluss – hinaus bestehen für den Einsatz automatisierter „Gefahrerkennungsverfahren“ sowohl in polizeilichen Einsatzfeldern, aber auch im weiteren Sinne darüber hinaus schlechterdings noch nicht2572. Stand des Verfassungsrechts ist vielmehr der Grundsatz der Zweckbindung und Zweckänderung2573: Zum einen wird die „weitere Nutzung“ innerhalb des initialen Erhebungszwecks verfassungsrechtlich ausgeformt2574, zum anderen die Verwendung für einen anderen Zweck – maßgeblich durch Übermittlung – durch den Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung begrenzt2575. Ansätze bestehen auch für die Einhegung
2569 Zum dortigen ersten Ansatz des BVerfG algorithmisierter Instrumente des Sicherheitsrechts einzuhegen auch Golla, Algorithmen (Fn. 125), S. 671 m. Fn. 51. 2570 Zur Analyse von Datenmassen durch Nachrichtendienste so allgemein Bäcker, Big Data (Fn. 630), S. 168 f. 2571 Prononciert erneut Bäcker, Big Data (Fn. 630), S. 169 f. 2572 So jedenfalls die Bestandsaufnahme von Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 410; eine verfassungsrechtliche Einschätzung des predictive policing in abstrakter Weise bietet nunmehr H. Hofmann, Predictive Policing, 2020, S. 130 ff., 180 ff. (zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne), der freilich aber keine übergeordneten Grundsätze etabliert. Erste Ansätze der Begrenzung jedenfalls des Anlasses einer komplexen Datenauswertung präsentiert nunmehr der Beschluss zur Antiterrordatei II, BVerfGE 156, 11; zu dieser Einschätzung kommt Golla, Algorithmen (Fn. 125), S. 671 f. 2573 Zu den Grundsätzen der Zweckbindung und Zweckänderung siehe die st. Rspr. BVerfGE 141, 220 (324, Rn. 276) unter Verweis auf BVerfGE 133, 277 (372 ff., Rn. 225); 103, 1 (33 ff.); 125, 260 (333); 120, 351 (368 f.); 110, 33 (73); 109, 279 (375 ff.); 100, 313 (360 f., 389 f.); grundlegend BVerfGE 65, 1 (51, 62); ausführlich zu den zwei Kategorien der „zweckkonformen Weiternutzung“ und „zweckändernden Weiternutzung“ im Lichte des BKAG-Urteils Löffelmann, Umsetzung (Fn. 244), S. 17 f.; D. Müllmann, Zweckkonforme und zweckändernde Weiternutzung, in: NVwZ 2016, S. 1692 (1693 ff.). 2574 BVerfGE 141, 220 (324 ff., Rn. 278 ff.); kritisch zur „unklaren Rechtsfigur“ der weiteren Nutzung indes Bäcker, Big Data (Fn. 630), S. 170 m. Fn. 11; zur informationellen Begrenzungsfunktion des Verfahrens aus polizeirechtlicher Sicht ders., Kriminalpräventionsrecht (Fn. 101), S. 475 ff. In Bezug auf Data-Mining präzisierend nunmehr BVerfGE 156, 11 (39 f., Rn. 72 f.). 2575 Auch das „Data Mining“ im Rahmen der Antiterrordatei richtete sich nach dem Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung, BVerfGE 156, 11 (49 ff., S. 97 ff.); grundlegend BVerfGE 141, 220 (326 ff., Rn. 284 ff.); siehe auch schon einleitend B. II. 5.
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der über den initialen Anlass hinausgehenden Verarbeitung und Nutzung von Daten für weitere noch nicht konkret bestimmte Zwecke2576. Sind Daten aber erst erfasst, dürfen diese etwa im Rahmen der Gefahrenfrüherkennung, hinsichtlich ihrer Mittel ohne weitergehende Restriktionen ausgewertet werden2577. Eine eigene Fassung der Datenauswertungsstufe durch eine Erweiterung vom reinen Datenerhebungs- hin zu einem Datenverwendungsrecht ist indes nötig, um die komplexen Datenanalysemethoden, die mit Data-Mining-Anwendungen mittlerweile zur Verfügung stellen, rechtlich handhabbar zu machen2578. Die Ausgestaltung ist freilich dem einfachen Recht überantwortet, aber die Betonung der rechtlichen Einhegung von Algorithmen und Analysemethoden als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist ein wichtiger – wenngleich erster und vorsichtiger – Impuls des Bundesverfassungsgerichts, welcher der Vertiefung bedarf: Noch so ausdifferenzierte Vorgaben zur Datenerhebung können ohne flankierende Begrenzungen der Datenverwendung, jedenfalls bei der Bevorratung und computergestützten Auswertung von Massendaten, wie Telekommunikationsmetadaten, überdies mit hochpotenten Algorithmen und Softwareanwendungen, die Angemessenheit nicht hinreichend sichern. Deshalb ist neben der normativen Klarstellung, wie und in welcher Tiefe und Intensität die erlangten Daten ausgewertet werden dürfen, auch die unabhängige Kontrolle der Analysewerkzeuge von herausgehobener Bedeutung. Hier seien am Ende der Untersuchung erste, vorsichtige Vorschläge in Bezug auf die einfachrechtliche Fassung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung unterbreitet. Ergänzend stellt sich auch bei der gesamthaften Bevorratung von Metadaten die Frage, ob insoweit ein Abstufung der Schutzintensität zwischen In- und Ausländern angezeigt ist. Das Bundesverfassungsgericht verhält sich hierzu nicht, weswegen man aufgrund des numerus clausus der Sonderkonstellationen2579, in denen der Erste Senat Abweichungen vom Ansatz des gleichen Schutzes durch Art. 10 I GG zulassen will, annehmen darf, dass die Metadatensammlung auch für die Inland-Ausland-Aufklärung zugelassen wird. Damit würde verfassungsrechtlich legitimiert, was vor der VERAS-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bereits gängige Praxis war. Es überrascht, dass der Senat insoweit eine Differenzierung nicht zumindest in Erwägung zieht. Die Fähigkeit einer Auswer2576 Zu externen Datensammlungen im polizeirechtlichen Bereich und deren grundrechtlichen Anforderungen ausführlich und kritisch wiederum Bäcker, Kriminalpräventionsrecht (Fn. 101), S. 502 ff. 2577 BVerfGE 156, 11 (39 f., Rn. 73) in Bezug auf § 6a V ATDG; siehe vor dem Beschluss zur Antiterrordatei II maßgeblich Bäcker, Big Data (Fn. 630), S. 170. 2578 Für eine Erweiterung des rechtlichen Zugriffes auch Bäcker, Big Data (Fn. 630), S. 170; für eine „Lernfähigkeit des Rechts“ bezüglich automatisierter Auswertungstechnologien im Sicherheitsrecht, flankiert durch Gesetzesevaluation und Berichtspflichten, plädiert Golla, Algorithmen (Fn. 125), S. 672. 2579 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172, 254, Rn. 177, 254 f., Rn. 179 f., 257, Rn. 186, 261 f., Rn. 196, 282 ff., Rn. 254 ff., 285 ff., Rn. 262 ff.).
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tung von Telekommunikationsmetadaten, insbesondere mit dem Ziel der Erkennung von Telekommunikationsnetzwerken und Kontakten, hat bei Personen im Inland potentiell eine wesentlich größere Intensität. Kontakte, auch wenn diese ins Ausland bestehen, können wiederum ihrerseits Kontakte in der Bundesrepublik haben und mithin mittelbar auch nationale Netzwerke offenbaren und in den nachrichtendienstlichen Fokus rücken. Gegen eine Fokussierung derartiger Kontaktspuren bedarf es rechtlicher Absicherung; nur dann wird man auch für die strategische Fernmeldeaufklärung eine bevorratende Speicherung von Metadaten und deren Auswertung zulassen können2580. Gegen einen generellen Ausschluss der Erstreckung auf Inland-Ausland-Verkehre spricht indes erneut ein Verweis auf die vom Bundesverfassungsgericht für noch zulässig befundene Vorratsdatenspeicherung, die zwar größere Datenmengen umfasst, dafür die Vorratsdaten aber nicht unmittelbar bei den Abfragebehörden speichert. Beim Bundesnachrichtendienst ist es genau entgegengesetzt, was im Ergebnis aber für eine grundsätzlich verfassungskonforme Ausformung der Speicherung von Metadaten auf Vorrat spricht, da diese nicht derart umfassend sind wie bei der eigentlichen Vorratsdatenspeicherung2581. (4) Kernbereichsabschirmung und Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung muss zur Wahrung der Angemessenheit und als Ausdruck einer wirkungsvollen geltungserhaltenden Reduktion des nachrichtendienstlichen Mittels besonderen verfassungsrechtlich geschützten Rückzugsräumen bei der Nutzung von Telekommunikation hinreichend Rechnung tragen. (a) Tradierter Kernbereichsschutz Entsprechend der ständigen Rechtsprechung zu staatlichen Überwachungsmaßnahmen muss auch bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung der durch Art. 1 I GG in Verbindung mit Art. 10 I GG besonders geschützte Kernbereich privater Lebensgestaltung abgesichert werden2582. Dieser 2580 Siehe zur kommenden Rechtsgrundlage im G 10 schon Fn. 2033. Der Gesetzgeber wird den Wink des BVerfG aufgreifen und eine Metadatenauswertung auch für den Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung implementieren. 2581 Dies wird man freilich auch anders sehen können, wenn man die externe Speicherung als verfassungsrechtlich unverzichtbar ansieht, dahingehend Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 368; vorsichtig auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 201. 2582 Zum Kernbereich privater Lebensgestaltung grundlegend vor allem BVerfGE 109, 279 (280 f., 325 ff.) – großer Lauschangriff; ferner BVerfGE 154, 152 (262 ff., Rn. 199 ff.). Lehrbuchmäßige Zusammenfassung in BVerfGE 141, 220 (276 ff., Rn. 119 ff.); ferner in unterschiedlichen Konstellationen betont in BVerfGE 130, 1 (2); 129, 208 (245 ff.); 120, 274 (335 ff.); 113, 348 (389 ff.); zur Genese der Rechtsfigur des Kernbereiches privater Lebensgestaltung in der Verfassungsgerichtsrechtsprechung ausführlich Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 96), S. 131 ff.; Schwabenbauer, Grund-
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Schutz gehört heute schlechterdings zum „Standardrepertoire“ des Sicherheitsrechts2583. Der bereits in der Elfes-Entscheidung2584 angelegte Gedanke eines Kernbereiches der Persönlichkeit, der staatlichem Eindringen schlechterdings entzogen ist, gilt auch bei der Überwachung durch Nachrichtendienste und auch im Ausland2585. Dies wurde auch nie ernsthaft bestritten, wie die Regelung in § 11 BNDG belegt, die selbst unter der seinerzeitigen gesetzgeberischen Prämisse eines ansonsten territorial begrenzten Schutzbereiches der Grundrechte, den Kernbereichsschutz einfachrechtlich absichern sollte2586. Die universeller Geltung der Menschenwürde, deren Ausdruck auch der Kernbereichsschutz ist, wurde nicht relativiert; ein Argument territorialer Begrenzung wurde gegen Art. 1 I GG – soweit ersichtlich – nie ernsthaft in Stellung gebracht. Selbst überragend wichtige Interessen des Allgemeinwohls – wie die Auslandsaufklärung – können einen Eingriff in den Kernbereich bekanntermaßen nicht rechtfertigen2587. Die Bestimmung, was genau zum Kernbereich zählt, ist die zentrale Herausforderung dieser dogmatischen Konstruktion2588. Räumliche Demarkationen2589 sind für den Bereich der Fernmeldeaufklärung nicht von Belang, hier muss vielmehr die Nichtöffentlichkeit der Kommunikation im Fokus stehen2590. Der Ausdruck „innerer Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art“ unterfällt dem Kernbereich, etwa im Gespräch mit besonders vertrauten Personen2591 oder situativ beim Austausch mit Geistlichen, Ärzten oder Strafverteidigern2592; demgegenüber ist die Planung und Besprechung von Straftaten als solche nach gefestigter Karlsruher Rechtsprechung nicht geschützt, selbst wenn sie höchstpersönliche Elemente aufweist2593. Gleichwohl darf der Kernbereich nicht dahingehend ver-
rechtseingriffe (Fn. 68), S. 255 ff.; vgl. allgemein zum Kernbereich privater Lebensgestaltung ferner monographisch J. M. Barrot, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung, 2012; I. Dammann, Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung, 2011. 2583 Pointiert M. Löffelmann, Der Schutz grundrechtssensibler Bereiche im Sicherheitsrecht, in: GSZ 2019, S. 190 (190). 2584 BVerfGE 6, 32 (41); zu diesem Ausgangspunkt etwa Löffelmann, ebda., S. 190; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 255. 2585 BVerfGE 154, 152 (262, Rn. 200); 141, 220 (277, Rn. 123). 2586 Zu § 11 BNDG siehe C. IV. 2. d). 2587 BVerfGE 141, 220 (276, Rn. 120); 109, 279 (313). 2588 Dies betont zu Recht Löffelmann, Schutz (Fn. 2583), S. 191. 2589 Löffelmann, Schutz (Fn. 2583), S. 191; Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 257 ff. 2590 Siehe nur BVerfGE 154, 152 (262, Rn. 201). 2591 Stellvertretend BVerfGE 141, 220 (276, Rn. 121); ausführlich zur Konkretisierung des Kernbereichs Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 261 ff. 2592 Zentral hierzu die Entscheidung zur Wohnraumüberwachung BVerfGE 109, 279 (321 ff.); Löffelmann, Schutz (Fn. 2583), S. 191. 2593 BVerfGE 154, 152 (263, Rn. 202); instruktiv erneut BVerfGE 141, 220 (277, Rn. 122).
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engt werden, dass „,allein‘ höchstpersönliche Fragen Gegenstand sind“ 2594. Hinweise auf Straftaten bzw. Ansätze zu deren Aufklärung, die sich aus dem Gespräch ergeben, lassen den höchstpersönlichen Charakter nicht entfallen, anderenfalls wäre der Kernbereich unter einen Abwägungsvorbehalt gestellt2595. Das tradierte mehrstufige Modell eines absoluten Verbots, den Kernbereich zum Ziel einer staatlichen Maßnahme zu machen, sowie die Differenzierung der Datenerhebungs- und Auswertungsebene findet auch bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung Anwendung, wenngleich Spezifikationen vorzunehmen sind2596. Auf Erhebungsebene ist bei der strategischen Überwachung indes eine verbotene gezielte Erfassung des Kernbereichs regelmäßig nicht zu besorgen, da die Selektoren grundsätzlich keine Rückschlüsse auf Kernbereichsbezug ermöglichen2597. Freilich dürfen keine Selektoren genutzt werden, bei denen im Vorhinein offenkundig ist, dass sehr wahrscheinlich Kernbereichskommunikation erfasst wird2598. Hierzu würden beispielsweise inhaltliche Selektoren zählen, die gezielt so ausgerichtet sind, dass sie typischerweise die Telekommunikation zwischen einem Mandanten und seinem Strafverteidiger erfassen, indem Schlüsselwörter aus einem konkreten Tathergang – und nicht allgemeine Begriffe – gesteuert werden. Dem Bundesverfassungsgericht und der Literatur ist indes dahingehend beizupflichten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass mit Selektoren kernbereichsrelevante Telekommunikation erfasst wird, letztlich sehr gering bleibt. Bei der anschließenden händischen Datenauswertung – automatisierte Filtersysteme werden kaum in der Lage sein, die juristische Wertung eines Kernbereichsbezuges vorzunehmen – muss indes die Auswertung bei Kernbereichsverdacht unterbrochen werden, Zweifelsfälle müssen einer objektiven Kontrolle zugeführt und Regelungen für Eilfälle getroffen werden; das Bundesverfassungsgericht verweist für die Auswertungsregeln auf die Struktur des § 3a S. 2 bis 11 G 10 und gibt dem Gesetzgeber damit schon vor, welche Regelung den Anforderungen entsprechen dürfte2599. Flankierend sind Verwertungsverbote
2594 Dies betont ausdrücklich BVerfGE 154, 152 (263, Rn. 204); Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411, sieht hierin eine wichtige Klarstellung gegenüber der vorherigen „missverständlichen“ Rechtsprechung, ohne diese jedoch konkreter zu spezifizieren. 2595 Siehe hierzu BVerfGE 154, 152 (263, Rn. 202); 141, 220 (277 f., Rn. 122 ff.). 2596 BVerfGE 154, 152 (263 ff., Rn. 203 ff.); zum Stufenmodell siehe stellvertretend Löffelmann, Schutz (Fn. 2583), S. 191. 2597 BVerfGE 154, 152 (264, Rn. 206); einen rein theoretischen Gehalt von § 11 S. 1 BNDG konstatieren deshalb etwa Dietrich (Fn. 771), § 11 BNDG Rn. 1; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 185; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 529, aufgrund der Unwahrscheinlichkeit der Steuerung von kernbereichsrelevanten Selektoren. 2598 Dieses Vorab-Aussonderungsgebot von derartigen Selektoren unterstreicht freilich auch der Erste Senat, BVerfGE 154, 152 (264, Rn. 206). 2599 BVerfGE 154, 152 (264, Rn. 207); 141, 220 (279 f., Rn. 129).
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sowie Lösch- und Protokollpflichten aus Gründen der Verhältnismäßigkeit unverzichtbar2600. (b) Personen- und kontextabhängige Schutzabwägung besonderer Vertraulichkeitsbeziehungen Die vor allem von Journalisten und Rechtsanwälten initiierten verfassungsgerichtlichen Überprüfungen der strategischen und der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung2601 warfen die Frage auf, wie mit der Erfassung und Auswertung von Telekommunikation zwischen verfassungsrechtlich – namentlich durch Art. 5 I 2 GG und Art. 12 I GG2602 – privilegierten Telekommunikationsverkehren unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten verfahren werden soll. Schon in der dritten Abhörentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht aus diesem Grund die Berücksichtigung der Besonderheiten journalistischer Telekommunikation thematisiert2603. Auch in diesem Punkt bemüht sich der Erste Senat – was schon die intensive Rechtsdiskussion in der mündlichen Verhandlung diesbezüglich erwarten ließ – um entscheidende Klarstellungen und Restriktionen der Überwachung. Entsprechend der Überlegungen zum Kernbereichsschutz unterscheidet das Bundesverfassungsgericht richtigerweise zwischen der Erfassung der Daten und deren Auswertung. Auf Ebene der Datenerfassung lassen sich, im Gegensatz zum Kernbereich, mittels formaler Selektoren Medienvertreter und Rechtsanwälte gezielt steuern, um diese zum Ziel nachrichtendienstlicher Aufklärung zu machen. Eine pauschale Erhöhung der Überwachungswahrscheinlichkeit nur aufgrund der beruflichen Tätigkeit ist dabei richtigweise nicht hinzunehmen2604. Hier bedarf es auch im Rahmen des strategischen Überwachungsansatzes belastbarer Eingriffsschwellen; das Bundesverfassungsgericht will hier eine „im Einzelfall schwerwiegende Gefahr“ oder die Aufklärung einer „besonders schweren Straftat“ bzw. die „Ergreifung bestimmter gefährlicher Straftäter“ voraussetzen, für deren Vorliegen es „belastbarer Erkenntnisse“ bedürfe2605. Wenn 2600 BVerfGE 154, 152 (264, Rn. 207, 265, Rn. 209, 296, Rn. 291); 141, 220 (279 f., Rn. 129) m.w. N. 2601 Zu den Beschwerdeführern im dritten Abhörurteil BVerfGE 100, 313 (324 ff.); zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung D. I. 2602 Zur Normverankerung BVerfGE 154, 152 (260, Rn. 193); ebenfalls Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831, der noch Art. 6 EMRK hinzuzieht. 2603 BVerfGE 100, 313 (365, 387); Huber (Fn. 511), § 5a G 10 Rn. 7 f.; vgl. zur Berücksichtigung der Pressefreiheit bei strafprozessualen bzw. polizeirechtlichen Telekommunikationsüberwachungen monographisch N. Gruske, Telekommunikationsüberwachung und Pressefreiheit, 2011. 2604 BVerfGE 154, 152 (260 f., Rn. 194); 107, 299 (336); dahingehend auch Huber (Fn. 511), § 5a G 10 Rn. 7 f.; a. A. Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 528, jedenfalls für die Ausland-Ausland-Überwachung; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 149. 2605 BVerfGE 154, 152 (260, Rn. 194); Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 5 f.; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 177.
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diese Grenze erreicht ist, bedarf es im Übrigen noch einer Interessenabwägung zwischen den Vertraulichkeitserwartungen und dem öffentlichen Interesse2606. Des Weiteren muss ein ex-ante-Schutz für die Vertraulichkeitsbeziehungen gesichert sein2607. Damit etabliert das Bundesverfassungsgericht zwar Einschrittschwellen für Vertraulichkeitsbeziehungen, richtet diese aber letztlich rechtsgutbezogen aus und verzichtet auch insoweit auf einen Rückgriff auf tradierte Regelungsmuster einer konkretisierbaren bzw. drohenden oder gar konkreten Gefahr im überkommenen, polizeirechtlich geprägten Verständnis. Würde man diese nunmehr einfordern, ergäbe sich jedoch erneut das grundlegende Problem, eine spezifizierbare Gefahr zur Voraussetzung für eine Gefahrerforschungsmaßnahme zu machen. Die Folgen der gezielten Erfassung von Vertraulichkeitsbeziehungen sind indes bei der Datenübermittlung – wie auch nach hiesiger Ansicht bei gezielten Erfassungen allgemein – gesteigert zu berücksichtigen. Sofern Vertraulichkeitsbeziehungen nicht schon von vornherein gezielt gesteuert werden und somit der privilegierte Charakter der Telekommunikation bereits bei der Ausrichtung der Maßnahme offensichtlich ist, wird dies häufig erst auf Auswertungsebene zu Tage treten. Auch hier ist eine Interessenabwägung zwischen den schutzwürdigen Belangen der Berufsgeheimnisträger und denjenigen der Allgemeinheit vorzunehmen und eine Beschränkung auf „schwerwiegende und sich konkret abzeichnende Gefahren“ von Verfassung wegen erforderlich2608; dieser Prozess muss zudem ebenfalls einer unabhängigen Kontrolle unterliegen. Dies ist zum einen für den unmittelbaren Individualgrundrechtsschutz unabdingbar. Zum anderen kommen etwa bei Kontakten mit Rechtsanwälten oder gar Strafverteidigern häufig delikate Sachverhalte zur Sprache, was einen besonderen Einschüchterungseffekt auslösen kann. Deshalb erscheint es auch zur Sicherung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktion des Fernmeldegeheimnisses zur Aufrechterhaltung einer freien Kommunikation2609 dringend geboten, besondere Schutzvorkehrungen für die Telekommunikation durch oder mit Vertrauenspersonen vorzusehen. Das Problem, dass die Tätigkeit als Journalist oder Rechtsanwalt als formale Tarnung einer nach deutschem Verständnis nicht hierunter fallenden Tätigkeit genutzt wird, adressiert das Bundesverfassungsgericht dadurch, dass es insoweit einen verfassungsrechtlichen Schutz personen- und kontextabhängig ausgestal-
2606 BVerfGE 154, 152 (260 f., Rn. 194); zur Abwägung im Einzelfall auch schon BVerfGE 141, 220 (281, Rn. 132); für ein kumulatives Verständnis der Anforderungen auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 177. 2607 BVerfGE 154, 152 (261, Rn. 194). 2608 BVerfGE 154, 152 (261, Rn. 195); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 177; insoweit auch für einen Schutz Löffelmann, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 806), S. 42 f. 2609 BVerfGE 113, 348 (383); 107, 299 (313); 100, 313 (359).
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tet2610. Letztlich ist damit dem Bundesnachrichtendienst überantwortet, zu beurteilen, ob die jeweilige Tätigkeit einer Person durch die nötige „Freiheit und Unabhängigkeit“ gekennzeichnet ist, um in den Genuss des Grundrechtsschutzes zu kommen2611. Somit kann richtigerweise der Ausflaggung einer reinen Propagandatätigkeit für einen ausländischen Staat oder gezielter Desinformationskampagnen zur Verunsicherung der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik als unabhängiger „Journalismus“ hinreichend Rechnung getragen werden2612. Damit erlangt der Bundesnachrichtendienst aber letztlich die Definitionsmacht darüber, wann Journalismus oder Anwaltstätigkeit vorliegen und der sachliche bzw. persönliche Schutzbereich eröffnet ist. Das Bundesverfassungsgericht hat dies für Auslandsfälle als Anpassung des Schutzniveaus hingenommen2613, was angesichts des deutlich verschiedenen Verständnisses in Staaten oder Regionen davon, was journalistische und anwaltliche Tätigkeit ausmacht, angemessen erscheint. Allerdings müsste diese Einordnung durch den Bundesnachrichtendienst durch verfahrensrechtliche Sicherungen wie Vorgesetztenvorbehalte durch Personen mit der Befähigung zum Richteramt sowie einer – jedenfalls nachträglichen objektiven Kontrolle der Praxis – in Streit- und Zweifelsfällen weitergehend rechtstaatlich flankiert sein. Insbesondere letzteres sichert nicht nur den Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen ab, sondern vermittelt den zuständigen Beamten des Bundesnachrichtendienstes die notwendige Rechtssicherheit für die tägliche Praxis beim Umgang mit echten oder vermeintlichen Vertraulichkeitsbeziehungen im Wechselspiel der Abwägung mit übergeordneten Allgemeinwohlinteressen; einen solchen letzten Verfahrens- und Kontrollschritt lässt das Bundesverfassungsgericht hier in seinen Verhältnismäßigkeitsüberlegungen vermissen. Aus Gleichheitsgründen erscheint es jedoch dringend geboten einheitliche, kontrollierte Parameter besonderer Vertraulichkeitsbeziehungen und deren Definition anzulegen. Konsequenterweise kann von den Schutzanforderungen für die gezielte Erfassung und nachträgliche Auswertung von Vertraulichkeitsbeziehungen dann abgesehen werden, wenn die Daten ausschließlich der Information der Bundesregierung über außen- und sicherheitspolitische Themen dienen und die Übermittlung
2610 BVerfGE 154, 152 (261 f., Rn. 196); wie hier auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831; affirmativ zu dieser Differenzierung auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 177; dahingehend auch Löffelmann, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 806), S. 43. 2611 BVerfGE 154, 152 (261, Rn. 196); einen Beurteilungsspielraum konstatiert auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 177. 2612 Ebenso mit weiteren Beispielen Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 177; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831. Dabei darf von Verfassung wegen freilich nicht an den Inhalt der Berichterstattung, sondern nur an deren Rahmen bzw. die Umstände angeknüpft werden, wie Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 4 zu Recht betont. 2613 BVerfGE 154, 152 (224, Rn. 104, 261 f. Rn. 196).
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an Dritte infolgedessen grundsätzlich ausgeschlossen ist2614. Zur Wahrung der Angemessenheit kann dieser Schutz aber nur im Falle einer konkreten Notwendigkeit hierzu entfallen2615; wie bei der Information der Bundesregierung allgemein, sind auch hier, sofern möglich und für den originären Informationszweck sinnvoll, Anonymisierungen vorzunehmen. (5) Löschpflichten: Wesentlicher Verhältnismäßigkeitsschutz statt reiner Formvorschriften Zentrales Element der Zweckbindung von durch die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung gesammelten Daten sind Löschpflichten und deren Protokollierung nebst hinreichender Speicherdauer dieser zu Kontrollzwecken2616. Der Wert ihrer Implementierung aus Verhältnismäßigkeitsgründen darf nicht geringgeschätzt werden, sichern sie doch letztlich objektiv nachvollziehbar, dass Daten nicht endlos gespeichert bleiben und damit dem Bundesnachrichtendienst mit großer zeitlicher Spanne zur Verfügung stehen, wodurch der Grundrechtseingriff perpetuiert wird2617. Es handelt sich letztlich um die Fortsetzung des absoluten verfassungsrechtlichen Verbots einer Speicherung von Daten zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken. Bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung ist zunächst entscheidend, dass die rein nationale Telekommunikation sofort ausgesondert und rückstandslos gelöscht wird und ferner für die jeweiligen Datenreduktionsschritte gleichfalls eine Vernichtung der aussortierten und nicht mehr benötigten Daten sichergestellt ist2618. Die rechtswidrige Speicherung von leitungsvermittelten Telekommunikationsdaten in der VERAS-Datei2619 illustriert, wie wichtig die stete Prüfung der Notwendigkeit einer weiteren Speicherung im Einklang mit dem Erhebungszweck – der ebenfalls normativ dargestellt werden muss – in hinreichend engen Abstän-
2614
BVerfGE 154, 152 (262, Rn. 198). BVerfGE 154, 152 (262, Rn. 198) – auf einen besonderen Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen könne verzichtet werden, „soweit dies erforderlich ist“. Das BVerfG sieht also auch hier einen Erforderlichkeitsvorbehalt vor, konkretisiert diesen aber nicht näher. 2616 BVerfGE 154, 152 (264 ff., Rn. 208 ff.); 100, 313 (361 f., 400 f.). 2617 Löschpflichten gehören mithin richtigerweise seit langem zu den Standardanforderungen an die verfassungskonforme Ausgestaltung von staatlichen Datenerhebungsmaßnahmen, siehe nur BVerfGE 141, 220 (285 f., Rn. 144); 133, 277 (366, Rn. 206); 125, 260 (335); 109, 279 (363); 100, 313 (361 f.); 65, 1 (46); vgl. zur Diskussion um Löschpflichten unter der DS-GVO anschaulich L. M. Keppeler/W. Berning, Technische und rechtliche Probleme bei der Umsetzung der DS-GVO-Löschpflichten, in: ZD 2017, S. 314 ff. 2618 BVerfGE 154, 152 (265, Rn. 209); in Ansätzen auch schon BVerfGE 100, 313 (385 f., 400). 2619 Zum Problem mit der Datenbank VERAS schon unter F. II. 2. a) aa) (1). 2615
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den ist2620. Nur wenn diese Löschungen zusammen mit belegenden Protokollen zwecks einer nachträglichen Kontrolle eingehalten werden, ist den Anforderungen einer angemessenen Datenerhebung abschließend Genüge getan. Dass Daten aus der strategischen und der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung insoweit gleich zu behandeln sind, liegt auf der Hand, da es keinen ersichtlichen Grund für Differenzierungen gibt. Eine Ausnahme besteht für Daten, die für einen nachträglichen Rechtsschutz benötigt werden, wobei diese auch nur zu diesem Zwecke gespeichert bleiben dürfen2621. dd) Zwischenfazit Die geltungserhaltende Reduktion der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung bedingt eine Vielzahl von tief ins Detail gehenden Restriktionsüberlegungen. Die vom Bundesverfassungsgericht in seinem BNDG-Urteil eingeforderte rechtsstaatliche Einhegung zur Wahrung der Angemessenheit der Überwachung schon auf Erhebungseben hinterlässt einen gemischten Eindruck; der Erste Senat setzt viele wichtige Impulse, lässt aber teilweise – wie aufgezeigt – Schutzlücken und differenziert das grundrechtliche Schutzniveau zwischen deutschen Staatsbürgern, Inländern und Ausländern bisweilen zu weitgehend. Bei der Ausrichtung der Überwachung zur reinen Information der Bundesregierung zu außen- und sicherheitspolitischen Zwecken kann der Bundesnachrichtendienst hingegen auch von der Ausweitung der Überwachung auf die Inland-AuslandÜberwachung zumindest aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten profitieren, da hier zum einen sein Kernauftrag im Zentrum steht und zum anderen die Übermittlungsebene hochgradig reglementiert ist. 5. Geltungserhaltende Reduktion auf Übermittlungsebene Die Übermittlung von Daten, die mit dem besonders schweren Grundrechtseingriff der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung gewonnen wurden, ist nicht nur ein zusätzlicher Eingriff, der verfassungsrechtliche Anforderungen stellt, sondern sie ist das entscheidende Begrenzungskriterium für mögliche Folgen der Überwachung. Erst im Wechselspiel zwischen Datenerhebungsund Übermittlungsbegrenzungen lässt sich eine nachhaltige rechtsstaatliche Einhegung bzw. geltungserhaltende Reduktion des Überwachungsinstrumentes realisieren2622. Da die Erhebungsbefugnis nicht an objektive Einschreitschwellen 2620 BVerfGE 154, 152 (259, Rn. 192, 265, Rn. 209); in Ansätzen auch schon BVerfGE 100, 313 (400); Roggan (Fn. 510), § 6 G 10, Rn. 3. 2621 BVerfGE 100, 313 (360 f.); 65, 1 (46); Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 303; vgl. einfachrechtlich § 6 I 6, 7 G 10. 2622 Dahingehend auch im Ansatz Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526; allgemein zum Verhältnis von Datenerhebung- und Übermittlung auch Zöller, Rechtsrahmen (Fn. 240), S. 191; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 263;
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gebunden ist – und auch regelungstechnisch nicht sinnvoll gebunden werden kann – muss aber wenigstens auf Übermittlungsebene eine derartige rechtsstaatliche Sicherung implementiert sein, insbesondere wenn Datentransfers an operative Behörden oder Institutionen in Rede stehen2623. Nach Aussage des Bundesverfassungsgerichts rückten der Zweck der Datenerhebung und -Übermittlung „insofern zusammen“ 2624. Die anlasslos zur Gefahrenfrüherkennung erhobenen Datenmassen, die anschließend als zentralem Zweck auf ihre nachrichtendienstliche Relevanz gefiltert würden, dürften nur dann an andere Stellen übermittelt werden, wenn „eine Erhebung nach allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen für die Übermittlungszwecke gerechtfertigt wäre“ 2625. Hier rekurriert das Bundesverfassungsgericht – wie bereits im Rahmen der allgemeinen informationellen Trennung skizziert – auf das im BKAG-Urteil ausdifferenzierte Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung zur Rechtfertigung der Zweckänderung2626. Dies ist grundsätzlich überzeugend und auch notwendig; es handelt sich offensichtlich um eine Zweckänderung, da der Bundesnachrichtendienst und die (operativ) tätigen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden schlicht andere Zwecke (Auslandsaufklärung versus originäre Gefahrenabwehr und Repression) verfolgen2627 bzw. die Empfänger (etwa das Bundesamt für Verfassungsschutz) die Daten eben nicht zu Zwecken der Auslandsaufklärung sammeln. Angesichts des besonders schweren Eingriffsgewichts muss dann aber für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung folgerichtig derjenige verfassungsrechtliche Maßstab angelegt werden, der auch für ähnlich intensive Informationseingriffe, namentlich die Wohnraumüberwachung und die Online-Durchsuchung, gilt2628
die Datenübermittlungsebene blendet bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des G 10 und des BNDG indes gänzlich aus Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 287 ff. Dies begegnet durchgreifenden Bedenken, da die Datenerhebungsbefugnisse zwingend im Wechselspiel mit den Übermittlungsvorschriften betrachtet werden müssen, um belastbare verfassungsrechtliche Ergebnisse zu erzielen. 2623 Diesen Ansatz verfolgt auch BVerfGE 154, 152 (267 f., Rn. 218). 2624 Siehe erneut BVerfGE 154, 152 (267, Rn. 218). 2625 BVerfGE 154, 152 (268, Rn. 218); a. A. Löffelmann, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 806), S. 41, jedenfalls in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, da diese nach dort vertretener Ansicht erst auf Sekundärebene, d. h. bei der Datennutzung von Trefferfällen, einen Grundrechtseingriff darstellt. 2626 Siehe hierzu allgemein schon unter B. II. 5. BVerfGE 154, 152 (267 f., Rn. 218 f.); 141, 220 (327 ff., Rn. 287 ff.); die Inbezugnahme des Kriteriums betont und befürwortet auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830 f. 2627 A. A. Unterreitmeier, Relecture (Fn. 69), S. 289 ff.; Lindner/ders., Grundlagen (Fn. 189), S. 173 f. 2628 BVerfGE 154, 152 (268, Rn. 219); zu den Anforderungen aus dem BKAG-Urteil BVerfGE 141, 220 (271, Rn. 110, 273 f., Rn. 115 f., 326, Rn. 283, 329, Rn. 291); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 178 f.; wohl a. A. und kritisch zur Ausnahme für die Wohnraumüberwachung und die Online-Durchsuchung von den sonstigen Regeln der hypothetischen Datenneuerhebung Sondervotum Eichberger BVerfGE 141, 220 (361 f.); Löffelmann, Umsetzung (Fn. 244), S. 18.
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und so schon im Urteil zum ATDG I für die Übermittlung von Nachrichtendiensten an operativ tätige Polizeibehörden unter dem Terminus des „herausragenden öffentlichen Interesses“ angelegt war2629. Es handelt sich zugleich um die Fortsetzung der hier unterstützten Konvergenztheorie auf der Datenübermittlungsebene, die bei einer anlasslosen Datenerhebung naturgemäß erst in diesem nachgelagerten Schritt zur Anwendungen kommen kann und muss. Außer Betracht bleiben können hier indes weitergehende Einzelfragen des Kriteriums der hypothetischen Datenneuerhebung jenseits höchstinvasiver Maßnahmen2630. Die Debatte um die notwendigen Einschreitschwellen für ein dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechendes sicherheitsrechtliches Instrument sind bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung damit letztlich auf die Übermittlungsebene projiziert. a) Übermittlungs- als Einschreitschwellen: Konkretisierungsanforderungen II Das Wechselspiel von hochrangingen Rechtsgütern und Einschreitschwellen wurde bereits bei den Datenerhebungsvoraussetzungen beleuchtet, allein der Konkretisierungsgrad des Schadensereignisses auf Gefahrenabwehrebene ist bisher noch offengeblieben. Ferner ist auf Übermittlungsebene noch relevant, welche Schwellen bei Zwecken der Strafverfolgung von Verfassungs wegen erforderlich sind. In ständiger Rechtsprechung differenziert das Bundesverfassungsgericht zwischen den Anforderungen an Maßnahmen mit präventivem und repressiven Charakter2631. aa) Besonders gewichtige Rechtsgüter und besonders schwere Straftaten Im Hinblick auf die besonders wichtigen Rechtsgüter, bei denen eine Übermittlung zu Gefahrenabwehrzwecken zulässig ist, kann im Wesentlichen auf die Ausführungen zur initialen Datenerhebung verwiesen werden2632. Allerdings handelt es sich datenschutzrechtlich um eine Zweckänderung, weswegen auch ein anderes Rechtsgut maßgeblich für die Übermittlung sein kann – und vielfach auch wird sein müssen –, als die initiale Datenerhebung zur Gefahrenfrüherken-
2629 BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123); siehe auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830 m. Fn. 105. 2630 Siehe erneut unter B. II. 5.; sowie zur einfachrechtlichen Umsetzung im Sicherheitsrecht etwa Löffelmann, Umsetzung (Fn. 244), S. 18 ff. 2631 BVerfGE 154, 152 (268 f., Rn. 220); 141, 220 (270 f., Rn. 107 f.); 125, 260 (328 ff.); so auch schon bei der strategischen Fernmeldeaufklärung BVerfGE 100, 313 (394); Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831; instruktiv zur diesbezüglichen Trennung der Einschreit- bzw. Übermittlungsschwellen auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 380 ff. 2632 Siehe F. III. 4. d) aa).
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nung in der nachrichtendienstlichen Überwachungsanordnung2633. Dies liegt schon in der Breite der Gefahrbereiche begründet, die eine Gefahrenfrüherkennung mittels strategischer Auslandstelekommunikationsüberwachung zulassen. Regelungstechnisch fordert das Bundesverfassungsgericht, dass auf die Rechtsgüter als solche abzustellen sei und nicht bloß auf Straftatenkataloge2634. Damit soll richtigerweise der Vorverlagerung weit ins Gefahrenvorfeld entgegengewirkt werden, wie sie etwa bei der Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen oder Gefährdungsdelikten – insbesondere §§ 89a ff., §§ 129a f. StGB2635 – droht. Ob dies allein durch diese Regelungstechnik erreicht werden kann, erscheint mehr als eine rechtstechnische denn als eine genuin verfassungsrechtliche Frage; jedenfalls darf eine Vorverlagerung durch Aufnahme von Vorbereitungshandlungen und Gefährdungsdelikten nicht den ursprünglichen Zweck der Gefahrenabwehr bei Übermittlungen unterlaufen. Entsprechend den Anforderungen an eine Wohnraumüberwachung oder Online-Durchsuchung als besonders schwere Grundrechtseingriffe bedarf es auch bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung einer besonders schweren Straftat, wenn Daten zu Strafverfolgungszwecken übermittelt werden sollen2636. Eine solche richtet sich maßgeblich, wenn auch freilich nicht ausschließlich, nach dem Strafrahmen, welcher eine „höhere Höchststrafe“ als fünf Jahre Freiheitsentzug vorsehen muss2637. Die konkrete Zusammenstellung überantwortet das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber2638; dieser muss also nicht auf bereits bestehende Kataloge wie in § 100b II StPO zurückgreifen. Wichtig ist aber, dass nur Straftaten aufgenommen werden, die neben dem rein formalen Strafmaß auch ein „besonders schweres Tatunrecht aufweisen und damit den Bereich der mittleren Kriminalität eindeutig verlassen“ 2639. Damit geht das Bundesverfassungsgericht zu Recht weit über seine Aussage zur strategischen Fernmeldeaufklärung 1999 hinaus, wo es auch die Auf-
2633
BVerfGE 154, 152 (269, Rn. 221). BVerfGE 154, 152 (269, Rn. 221); 125, 260 (329 f.); a. A. Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 233 f. m. Fn. 316, der kritisiert, das BVerfG könne für seine Sicht keinen überzeugenden Grund anführen, und überdies sei es traditionelle polizeirechtliche Regelungstechnik, auf Straftatenkataloge Bezug zu nehmen; differenziert Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 55 f., der auf die spezifische Zusammenstellung des Straftatenkataloges verweist. 2635 Siehe zu dieser Vorverlagerung Wittreck, Kosten (Fn. 112), S. 132; Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 55 f. sowie die Nachweise in Fn. 112. 2636 BVerfGE 154, 152 (269, Rn. 221); 141, 220 (337 f., Rn. 316); 109, 279 (347 f.); für dieses Rechtsgut auch bei der strategischen Fernmeldeaufklärung schon Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 55 f. 2637 So grundlegend BVerfGE 109, 279 (347 f.); hierauf bezugnehmend auch BVerfGE 141, 220 (337 f., Rn. 316); für weitere Faktoren zur Bewertung der Schwere einer Straftat instruktiv Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 281 f. 2638 BVerfGE 154, 152 (269, Rn. 221). 2639 Pointiert BVerfGE 109, 279 (348). 2634
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nahme von Handlungen mit geringerem Unrechtsgehalt tolerierte2640, und trägt hiermit der gesteigerten Intensität und den tatsächlichen Möglichkeiten der strategischen Überwachung Rechnung. Für die Fälle der gezielten Überwachung von Ausländern im Ausland und der (gezielten) Erfassung von Vertrauensbeziehungen – insbesondere bei Journalisten mit Kontakt zu Informanten – erscheint es darüber hinaus notwendig, die Straftatbestände noch weitergehend auf schwerste Verbrechen zum Nachteil Einzelner oder der Allgemeinheit zu beschränken. Hierdurch wird der nochmals gesteigerten Eingriffsintensität Rechnung getragen. Nach hiesiger Ansicht bedarf es einer solchen Beschränkung zur Dämpfung der ansonsten – in Kombination von Datenerhebung und Übermittlung – unangemessen schweren Eingriffsintensität. Die Erhöhung der diesbezüglichen Voraussetzungen ist ebenfalls Ausdruck des Nachrangs der Strafverfolgung im Vergleich zur Prävention2641. Eine effektive Begrenzung lässt sich bei Übermittlungen zu Strafverfolgungszwecken maßgeblich durch die in Bezug genommenen Straftaten selbst erreichen und weniger durch die Differenzierung von Verdachtsgraden – dazu sogleich –; insoweit unterscheiden sich repressive und präventive Übermittlungszwecke. bb) Strafprozessualer Verdachtsgrad analog § 100c StPO: Begrenzter Ausfall verfassungsgerichtlicher Detaillierungsbestrebungen Soweit die Daten durch den Bundesnachrichtendienst an Strafverfolgungsbehörden übermittelt werden sollen, bedarf es bestimmter Tatsachen für den Verdacht einer besonders schweren Straftat2642. Um diesen Verdacht zu spezifizieren, wird – analog der hergebrachten polizeirechtlichen Gefahrdefinition – die einfachrechtliche Anforderung für eine Wohnraumüberwachung gemäß § 100c I Nr. 1 StPO als Maßstab herangezogen2643. Deshalb bedürfe es, wie die strafprozessuale Literatur definiert, konkreter und in gewissem Umfang verdichteter Umstände als Tatsachenbasis2644. Eine eigene genuin verfassungsrechtliche Abstufung von Verdachtsgraden und deren Wahrscheinlichkeitsanforderungen hat das Bundesverfassungsgericht bisher nicht in derselben Tiefe entwickelt wie im 2640
BVerfGE 100, 313 (392 f.). Allgemein dazu in Bezug auf den Vorrang der Gefahrenabwehr vor der Strafverfolgung auf der Übermittlungsebene Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831. 2642 BVerfGE 154, 152 (269, Rn. 222); dahingehend auch schon BVerfGE 100, 313 (395), allerdings unter der Prämisse einer Vergleichbarkeit der strategischen Fernmeldeaufklärung mit einer herkömmlichen Telekommunikationsüberwachung. Diese ist heute nicht mehr tragfähig. 2643 BVerfGE 154, 152 (270, Rn. 222); anders noch BVerfGE 100, 313 (394), wo auf § 100a StPO verwiesen wurde. 2644 So erneut BVerfGE 154, 152 (270, Rn. 222), unter Übernahme der Definition von M. Bruns, in: R. Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 100c Rn. 10. 2641
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Gefahrenabwehrrecht mit seinen Variationen – aber auch Unsicherheiten – des Gefahrbegriffes2645; eine vergleichbare Grundsatzentscheidung, wie diejenige zur drohenden Gefahr, steht insofern noch aus. Mithin wird man sich für Übermittlungen zu Strafverfolgungszwecken auch auf verfassungsrechtlicher Ebene bisweilen mit den tradierten strafprozessualen Anforderungen für Ermittlungsmaßnahmen begnügen müssen. Der Bundesnachrichtendienst übernimmt damit gleichsam in die Rolle des Gerichts und muss mithin selbst bewerten, ob eine derart qualifizierte Verdachtslage vorliegt, was in der Folge auch Beurteilungsspielräume abhängig von der konkreten Sachverhaltskonstellation implizieren wird2646. Die Entscheidungen sind freilich zu protokollieren und einer nachgelagerten Kontrolle zugänglich zu machen2647, um die sachgerechte Anwendung der dargelegten Maßstäbe objektiv abzusichern. Ebenso ist hierbei explizit die bei der Übermittlung zugrunde gelegte Norm zu nennen2648. Hierdurch wird in der Praxis eine konsistente Wahrung der von Verfassungs wegen erforderlichen repressiven und präventiven Übermittlungsschwellen – die der Bundesnachrichtendienst beide in eigener Verantwortung anwenden muss – erreicht. cc) Hinreichend konkretisierte versus konkrete Gefahr: Einhegung gezielter Überwachung Was gilt nun aber letztlich für die Übermittlungsschwelle zu Zwecken der Gefahrenabwehr? Vergegenwärtigt man sich die allgemeine Kontroverse um die Einschreitschwellen bei der initialen Datenerhebung, kann es nicht überraschen, dass das Bundesverfassungsgericht auch insoweit auf die Dogmatik des BKAGUrteils zurückgreift und an dieser Stelle den Konkretisierungsgrad der „hinreichend konkretisierten Gefahr“ als verfassungsrechtliche Anforderung aufstellt2649. Diese sei in dem Sinne zu verstehen, dass „zumindest tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr für die Schutzgüter bestehen“ 2650. Da2645 So auch Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 389 ff., der die Abgrenzungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigt. 2646 Die besondere Verantwortung des BND diesbezüglich betont auch BVerfGE 154, 152 (272, Rn. 229); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 179, will dem Dienst deshalb auch einen Beurteilungsspielraum bei der Sachverhaltsbewertung einräumen; ebenso Warg, Nachrichtendienstrecht (Fn. 56), Kap. 14 Rn. 87 f.; allgemein zur Fähigkeit von Nachrichtendiensten, Verdachtslagen einzuschätzen, Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 282. 2647 BVerfGE 154, 152 (272, Rn. 229); so schon für die Übermittlungsvorschriften im BKAG BVerfGE 141, 220 (340 f., Rn. 322). 2648 Erneut BVerfGE 154, 152 (272, Rn. 229). 2649 BVerfGE 154, 152 (269 f., Rn. 222); für die Übermittlungsschwelle bei besonders schweren Grundrechtseingriffen BVerfGE 141, 220 (329, Rn. 291). 2650 BVerfGE 154, 152 (269 f., Rn. 222); wortgleich in BVerfGE 141, 220 (272, Rn. 112). Den Begriff der „drohenden Gefahr“ nutzt das Gericht im BNDG-Urteil – was auffällt – indes nicht.
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mit ist diese Aussage an sich nicht etwa „nebulös“ 2651, sondern schlicht die Konsequenz der wenig griffigen Definition der herabgesetzten Konkretisierungsanforderungen an den Kausalverlauf, wie er vom Bundesverfassungsgericht eingeführt wurde. Selbst wenn man die hinreichend konkretisierte Gefahr als maßgebliche Einschreitschwelle anerkennt – wogegen, neben den bereits dargelegten dogmatischen Unklarheiten, auch ihre Unbestimmtheit spricht, die hier prominent zu Tage tritt –, wäre die Anwendung dieses Maßstabes auch unter den Prämissen der BKAG-Entscheidung nicht zwingend gewesen. Für Daten aus einer Wohnraumüberwachung sieht der Erste Senat auch bei Datenübermittlungen – nicht nur bei der Erhebung – die Übermittlungsschwelle der dringenden Gefahr im Sinne des Art. 13 IV GG als verfassungsrechtlich unverzichtbar an2652. Hierbei handelt es sich nach überwiegender Meinung um eine qualifizierte Form der konkreten Gefahr, die entweder ein besonderes Gewicht des drohenden Schadens bezeichnet2653 bzw. ergänzend auch eine besondere zeitliche Nähe des Schadenseintritts2654. Grundtatbestand ist aber der tradierte Begriff der konkreten Gefahr2655. Damit wäre auch in Ansehung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenjene konkrete Gefahr als Übermittlungsschwelle in Frage gekommen, freilich ohne die Qualifikation – diese reserviert das Gericht zu Recht, jedenfalls in zeitlicher Hinsicht, für die Sonderkonstellation einer Übermittlung von Daten, die aus rein innerstaatlicher Telekommunikation stammen oder zu rein außenpolitischen Informationszwecken der Bundesregierung erhoben wurden. Zudem ist die Wohnraumüberwachung die wohl einschneidendste individualbezogene sicherheitsrechtliche Befugnis neben der Online-Durchsuchung bzw. geht sogar darüber hinaus. Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ist hiermit – wie schon bei der Eingriffsintensität allgemein beleuchtet – als Maßnahme mit großer Streubreite nicht direkt vergleichbar; eine allgemeine Wertung lässt sich aber für den Sonderfall der gezielten Erfassung von Ausländern im Ausland fruchtbar machen. Hier erreicht die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung eine Intensität, die beinahe in eine Individualmaßnahme übergeht, und ist dennoch ohne Einschreitschwelle zulässig. Deshalb erscheint es aus Gründen der Angemessenheit notwendig, wenigstens auf Übermittlungsebene eine Begrenzung für Gefahrenabwehrzwecke einzuführen. Hierfür bildet die konkrete Gefahr im hiesigen, hergebrachten Verständnis 2651
So aber Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 6. BVerfGE 141, 220 (329, Rn. 291); grundlegend und unmissverständlich BVerfGE 109, 279 (377, 379). Der Erste Senat hätte andernfalls seine vorherige Rechtsprechung aufgeben müssen. 2653 Siehe etwa BVerwGE 47, 31 (40). 2654 So in der Literatur etwa Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 8 Rn. 21; G. Gornig, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I (Fn. 1184), Art. 13 Rn. 124; H.-J. Papier, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Fn. 272), Art. 13 (2014), Rn. 94; G. Hermes, in: Dreier, GG I (Fn. 551), Art. 13 Rn. 83. 2655 Stellvertretend erneut Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 8 Rn. 21. 2652
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den richtigen Ansatzpunkt2656. Die Zwischenstufe zwischen der dringenden bzw. unmittelbar bevorstehenden Gefahr und der „hinreichend konkretisierten Gefahr“ im Sinne des BKAG-Urteils ist schlechterdings der traditionelle Begriff der konkreten Gefahr2657. Deswegen erscheint es angemessen, die Übermittlung von Daten zu Gefahrenabwehrzwecken, die aus einer gezielten Überwachung herrühren, erst ab dem Konkretisierungsgrad der konkreten Gefahr in hergebrachten Sinne zuzulassen2658. Die „normalen“ Datenübermittlungen aus der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung sind demgegenüber schon bei einer hinreichend konkretisierten bzw. drohenden Gefahr zulässig; die besonders geschützte rein nationale Telekommunikation und die Daten zur außenpolitischen Information der Bundesregierung können nur unter höchsten Voraussetzungen übermittelt werden. Mit dem Mittelweg der konkreten Gefahr kann – nach hiesiger Ansicht – ein Ausgleich zwischen dem besonders hohen Eingriffsgewicht der gezielten Steuerung von Ausländern im Ausland, der Anlasslosigkeit der initialen Datenerhebung und der Kompensation auf Übermittlungsebene hergestellt werden. Anders verhält es sich bei der zweiten Sonderkategorie, dem Eindringen in besondere Vertraulichkeitsbeziehungen. Hier ist zumindest die Datenerhebung an gewisse Einschreitschwellen gebunden, weswegen eine gesteigerte Kompensation auf Übermittlungsebene entfällt. Damit bleibt es für die Übermittlung von Daten für Zwecke der Gefahrenabwehr – abgesehen von der gezielten Erfassung von Ausländern im Ausland – allgemein beim herabgesetzten Konkretisierungsgrad2659 der „hinreichend konkretisierten Gefahr“ als Übermittlungsschwelle. b) Internationale Datentransfers und Kooperationen unverzichtbar für Auslandsaufklärung Angesichts des Auftrages zur Auslandsaufklärung und der hierbei häufig notwendigen Zusammenarbeit mit fremden Nachrichtendiensten in Form von Datenund Erkenntnisaustausch müssen Daten selbstredend auch in das Ausland übermittelt werden dürfen. Die Kooperationsfähigkeit ist – wie Bundesregierung und 2656 A. A. BVerfGE 154, 152 (258, Rn. 189), unter Verweis auf BVerfGE 141, 220 (268 ff., Rn. 103 ff., 309 ff., Rn. 228 ff.). 2657 Für ein Verständnis der hinreichend konkretisierten Gefahr als eine lediglich in ihrem Konkretisierungsgrad herabgesenkte konkrete Gefahr plädiert auch Pieroth, Begriffsverwirrung (Fn. 2441), S. 135; ebenso nunmehr Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 8 Rn. 16 f.; für einen Gefahrverdacht – allerdings als Unterfall der konkreten Gefahr – indes Bäcker, Gefahr (Fn. 198), S. 157; einen stark konkretisierten Gefahrverdacht nimmt ebenfalls an Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 73; dagegen wiederum Kingreen/Poscher, ebda., § 8 Rn. 16. 2658 Allgemein sogar für die Übermittlungsschwelle der konkreten Gefahr im polizeirechtlichen Sinne selbst bei Eingriffen mit mäßigem Gewicht nunmehr wieder verschärft BVerfGE 155, 119 (186, Rn. 145 f.). 2659 Von einer Reduzierung der Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufes spricht explizit auch BVerfGE 141, 220 (272, Rn. 112).
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Bundesnachrichtendienst stets unisono betonen – entscheidend für die effektive Aufgabenwahrnehmung des Bundesnachrichtendienstes, der nur dann an fremden Informationen partizipieren kann, wenn er auch selbst in der Lage ist, solche zu liefern2660. In Anknüpfung an seine Annahmen zur Übermittlung von Daten an ausländische Sicherheitsbehörden im Urteil zum BKAG, sieht das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz auch offen für die internationale Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten2661. Dabei müssen jedoch die außen- und sicherheitspolitischen Ziele der Bundesrepublik sowie der rechtsstaatliche Umgang mit Daten gewahrt sein2662. Zu den dargelegten innerstaatlichen Anforderungen treten deshalb weitere in Form einer „Rechtsstaatlichkeitsvergewisserung“ hinzu, die ein Unterlaufen der verfassungsrechtlichen bzw. datenschutzrechtlichen Erfordernisse verhindern, den Kontrollverlust der nationalen Rechtsordnung über die preisgegebenen Daten bestmöglich kompensieren und gleichzeitig eine Achtung der Eigenständigkeit der fremden Rechtsordnung bei gleichzeitigem Austausch mit dieser sicherstellen sollen2663. Insbesondere ist sicherzustellen, dass ein Ringtausch verhindert wird, bei dem nationale Regeln und verfassungsrechtliche Grenzen schlicht durch nachrichtendienstliche Kooperation unterlaufen werden2664. Aufgrund der unterschiedlichen Funktionsweisen ist mit dem Ersten
2660 Siehe nur BVerfGE 154, 152 (247, Rn. 160, 278 ff., Rn. 243 ff.); aus der Binnenperspektive B. Kahl, Rahmenbedingungen und Notwendigkeiten internationaler Kooperation von Nachrichtendiensten, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Sicherheitsarchitektur (Fn. 38), S. 153 (153 ff.) et passim; zur Wichtigkeit der internationalen nachrichtendienstlichen Kooperation, insbesondere auch im Lichte jeweils begrenzter Ressourcen (sog. burden-sharing) siehe etwa auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 179; ders. (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 2; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831; ders., Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 530; D. Omand, A practical approach to improving international intelligence cooperation, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Vergesetzlichung (Fn. 148), S. 99 (99 ff.); allgemein auch schon so zu den Übermittlungsvoraussetzungen bei Datentransfers ins Ausland BVerfGE 141, 220 (268, Rn. 102, 341 ff., Rn. 324 ff.); Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 186 ff. 2661 BVerfGE 154, 152 (279, Rn. 247); 143, 101 (153 ff., Rn. 169 ff.); für eine Übertragbarkeit der Grundsätze aus dem BKAG-Urteil auch auf internationale Datenübermittlungen durch Nachrichtendienste schon Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 993; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 720, betont, dass das BVerfG keinen „,Datenschutzabsolutismus‘“ einfordere. 2662 BVerfGE 154, 152 (279, Rn. 247). 2663 BVerfGE 154, 152 (273 f., Rn. 232 f.); 141, 220 (342 ff., Rn. 327 ff.); Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 6 f.; Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2224; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 179; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 188 ff.; im Kontext der internationalen Zusammenarbeit des BfV F. Roggan/T. Hammer, Das Gesetz zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, in: NJW 2016, S. 3063 (3065); ostentativ kritisch Lindner/Unterreitmeier, „Karlsruher Republik“ (Fn. 196), S. 97, die dem BVerfG insoweit einen „,Moraluniversalismus‘“ unterstellen. 2664 Ausdrücklich BVerfGE 154, 152 (279 f., Rn. 248); Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411; so auch schon Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 530. Vgl. hierzu auch schon einfachrechtlich § 14 III BNDG.
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Senat, jedenfalls in Bezug auf verfahrensrechtliche Einzelanforderungen, zwischen der Übermittlung von Daten im Einzelfall und einer formalisierten Kooperation zu differenzieren2665. aa) Angemessenes Datenschutzniveau und Ausschluss menschenrechtswidriger Datennutzung Zum einen bedarf es eines angemessenen Datenschutzniveaus im Empfängerland in der tatsächlichen Anwendungspraxis, welches wenigstens in Grundsätzen dem des Grundgesetzes entspricht, insbesondere hinsichtlich der „Zweckbindung und Löschungspflichten sowie grundlegender Anforderungen an Kontrolle und Datensicherheit“ 2666. Durch den sehr hohen Standard des verfassungsrechtlichen Datenschutzes in der Bundesrepublik, insbesondere mit seiner feinen Verästelung in der maßgeblich durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten Dogmatik2667, kann es sich beim Vergleich mit vielen anderen Rechtsordnungen – vor allem außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes und des Anwendungsbereichs der DSG-VO als datenschutzrechtlicher Komplementärregelung – oft schon zwangsläufig nur um einen Datenschutz light handeln2668. Dies ist jedoch die Konsequenz der Interaktion mit einer anderen Rechtsordnung, die ihren eigenen Regeln folgt, welche das Grundgesetz anerkennt2669. Ein besonderes Augenmerk ist insbesondere bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung auf die Einhaltung elementarer Menschenrechtsstandards zu legen, zu deren Verletzung die Bundesrepublik nach ständiger Rechtsprechung im Ausland keinesfalls Beihilfe leisten darf 2670. Gerade beim Austausch mit fremden Nachrichtendiensten interagiert der Bundesnachrichtendienst bisweilen auch mit – vorsichtig formuliert – „rechtsstaatlich nicht gefestig2665
So auch BVerfGE 154, 152 (273 ff., Rn. 231 ff., 278 ff., Rn. 243 ff.); zu dieser Unterscheidung ebenfalls Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831. 2666 BVerfGE 154, 152 (274, Rn. 236; 141, 220 (344 f., Rn. 335); angelehnt an EuGH, Urteil vom 8.4.2014 – C-293/12 u. a., Rn. 73 – Digital Rights Ireland; Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 993 – die verfassungsrechtlichen Grenzen dürften durch den Datenaustausch nicht in ihrer „Substanz“ unterlaufen werden; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 192. 2667 Formulierung angelehnt an Gärditz, BKA-Gesetz (Fn. 107), S. 993, der von „zunehmend verästelten grundrechtlichen Anforderungen“ spricht, die das BVerfG in seiner langen Reihe von Rechtsprechung im Sicherheitsrecht entwickelt habe und die im BKAG-Urteil kulminierten. 2668 Instruktiv zu unterschiedlichen Verständnissen darüber, was Datenschutz und Privatsphäre überhaupt bedeuten, wo diese beginnen und welcher Stellenwert ihnen in einer Rechtsordnung zugedacht wird, Omand, Approach (Fn. 2660), S. 102. 2669 Zur Eigenständigkeit der fremden Rechtsordnung siehe erneut nur BVerfGE 154, 152 (273, Rn. 232); Gusy (Fn. 229), § 1 BNDG Rn. 61. 2670 BVerfGE 154, 152 (275, Rn. 237); so auch schon vor der Anerkennung einer Auslandsgeltung von Art. 10 I, 5 I 2 GG BVerfGE 141, 220 (342, Rn. 328); 140, 317 (347, Rn. 62); 60, 348 (355); für die Literatur m.w. N. Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2224 m. Fn. 47.
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ten Staaten“, weswegen hier unbedingt verhindert werden muss, dass von deutschen Stellen erhobene Daten zur politischen Repression im Empfängerstaat oder gar unmenschlicher Bestrafung und Erniedrigung führen2671. Der Erste Senat hat ferner explizit die Tötung von Personen „unter Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht“ vor Augen, also die sogenannten targeted killings, etwa mittels Kampfdrohnen, wie sie auch im Zuge der Snowden-Enthüllungen im Untersuchungsausschuss des Bundestages untersucht wurden2672. Das drohende Szenario dieser gravierendsten Folge einer Datenübermittlung muss auf jeden Fall unterbunden werden, insbesondere dürfen Mobilfunkkennungen mit Geolokalisationsparametern, die zur Zielerfassung für bewaffnete Drohnen potentiell geeignet sind, nicht übermittelt werden2673. Nur wenn dies sichergestellt ist, können Datenübermittlungen auch ins Ausland erfolgen. Freilich kann nie mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass Daten – allen Zusicherungen zum Trotz – zweckwidrig verwendet werden2674, weswegen auch deshalb – entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts – eine pauschale Reduktion der Eingriffsintensität für Ausländer im Ausland nicht angenommen wird. bb) Rechtsstaatlichkeitsvergewisserung als politische Prognose Freilich stellt die Rechtsprechung auch für diese Zusicherungen hohe Anforderungen auf: Es bedürfe zumindest generalisierter Einschätzungen der „Sach- und Rechtslage“ im Empfängerland, die erforderlichenfalls auch durch Einzelzusagen – welchen das Gericht aufgrund der spezifischen Zumessung auf einen konkreten Sachverhalt wohl mehr Glaubwürdigkeit zubilligt – zu flankieren seien2675. 2671 So pointiert BVerfGE 154, 152 (275, Rn. 237); Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831. 2672 Siehe dazu im Rahmen der Eingriffsintensität F. II. 2. a) dd); BVerfGE 154, 152 (275, Rn. 237) mit hiesigem Zitat; zu den targeted killings siehe Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831 m. Fn. 126; zur Gefahr einer solchen Verwendung von Daten, die durch den BND übermittelt werden, auch Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 191; allgemein zur Frage der verfassungs- und völkerrechtlichen Einordnung von targeted killings im ersten Zugriff etwa P. Starski, Terrorismusabwehr durch imperative Maßnahmen – „Targeted Killings“, in: Kulick/Goldhammer, Feind (Fn. 66), S. 237 (237 ff.); W. Bausback, Terrorismusabwehr durch gezielte Tötungen? – Assassination als Mittel des (deutschen) demokratischen Rechtsstaates?, in: NVwZ 2005, 418 (418 ff.). 2673 Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831. 2674 Dahingehend auch Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 192 m. Fn. 118, 204. 2675 BVerfGE 154, 152 (276, Rn. 239); 141, 220 (345 f., Rn. 337 f.); Zusammenfassung der Prämissen des BKAG-Urteils auch bei Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 191 ff., die allerdings an der Tragfähigkeit von Einzelzusagen aufgrund der enormen Datenmengen zweifelt (S. 195 f.). Dies lässt allerdings unberücksichtigt, dass zwischen Datenübermittlungen ins Ausland im Einzelfall und in einer formalisierten Kooperation differenziert werden muss, wie es das BVerfG ebenfalls tut; sehr kritisch zum Ansatz des BVerfG indes Lindner/Unterreitmeier, „Karlsruher Republik“ (Fn. 196), S. 93 f.
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Die Zusicherungen der Gegenseite müssten aber auch durch Ereignisse erschüttert werden können und mithin ein realistisches Bild der tatsächlichen Situation zeichnen2676. Der Bundesnachrichtendienst muss dabei allerdings häufig „hochpolitische Spannungslagen“ abwägen und die Analysen deshalb mit besonderer Sorgfalt durchführen2677. Diese müssten sich auf „gehaltvolle, realitätsbezogene und aktuelle Informationen“ stützen und unterlägen nicht „der freien politischen Disposition“ 2678. Teilweise wird für die Zusicherungen eine förmliche diplomatische Zusicherung verlangt2679, wobei die konkrete Rechtsnatur sich kaum aus der Verfassung selbst bestimmen lassen wird. Die Abmachungen unter Nachrichtendiensten erfolgen im Regelfall ohnehin in rein vertraglicher Form als Memorandum of Understanding und nicht als formalisierte Verwaltungsabkommen oder Verbalnoten2680, wie sie im hergebrachten diplomatisch-zwischenstaatlichen Austausch üblich sind. Solange das datenschutzrechtliche Ziel belastbar erreicht wird, erscheint die konkret angewandte Rechtsform der Zusicherung eher zweitrangig; diesen pragmatischen Ansatz teilt auch das Bundesverfassungsgericht2681. Im Kern muss der Bundesnachrichtendienst eine erneute Abwägung für jede Datenübermittlung im Einzelfall durchführen, um etwaige Risiken zu identifizieren und hierüber abschließend zu befinden2682. Diese Analyse muss dokumentiert werden sowie einer nachträglichen unabhängigen Kontrolle unterliegen2683. Ebenso muss sichergestellt sein, dass keine „Kettenübermittlungen“ von Daten stattfinden, der Bundesnachrichtendienst also belastbar absichert, dass Daten von Empfängern nicht ihrerseits ohne Zustimmung oder nur in besonderen Gefahren-
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BVerfGE 154, 152 (276, Rn. 239). BVerfGE 154, 152 (276, Rn. 240). 2678 BVerfGE 154, 152 (277, Rn. 241); so zuvor beinahe identisch BVerfGE 141, 220 (346, Rn. 339). 2679 Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 195 ff., 202 ff.; dahingehend auch BfDI, Stellungnahme (Fn. 1175), S. 7. 2680 So auch Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 8 ff.; Gärditz, Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 530. 2681 BVerfGE 154, 152 (285, Rn. 261), die Zusagen müssten „nicht in völkerrechtlich verbindlicher Form getroffen werden, jedoch tatsächlich wirksam sein“. Dieser Gedanke zu formalisierten Kooperationen wird sich auf die „normale“ Rechtsstaatlichkeitsversicherung übertragen lassen. 2682 Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832, zieht hier einen Vergleich zur „Technik des Asylverfahrens“. 2683 BVerfGE 154, 152 (277, Rn. 241); 141, 220 (346, Rn. 339); erneut in enger Anlehnung an EuGH, Urteil vom 8.4.2014 – C-293/12 u. a., Rn. 78, 81, 89 – Digital Rights Ireland; weitergehend Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 207 f., die die materiellen Anforderungen an das berechtigte Vertrauen in die Zusagen des Partnerdienstes bereits in der einfachgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage festlegen will. Dabei bleibt allerdings fraglich, wie diese verfassungsrechtliche Erwartung – die dem Grunde nach auch das BVerfG mit seinen Anforderungen aufstellt – normiert werden sollte. Dass der Bundesnachrichtendienst Daten an Partner nicht mehr übermitteln darf, wenn diese Zusicherungen nicht einhalten, folgt schon aus der Verpflichtung diese einzugehen selbst. 2677
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lagen an Dritte – insbesondere operative Behörden – weitergegeben werden2684. Diesem Aspekt kommt herausragende Bedeutung zu, da nur so die Kontrolle über die letztendliche Nutzung der Daten jenseits genuin nachrichtendienstlicher Aufklärungszwecken möglich bleibt. Bei besonderen Vertrauensbeziehungen geht der Erste Senat überzeugend noch einen Schritt weiter und fordert diesbezüglich eine separate, über die rein inländische Situation hinausgehende Abwägung, die überdies einer ex-ante-Kontrolle unterliegen müsse2685. Entsprechend der hiesigen Prämisse, die Daten aus einer gezielten Erfassung von Ausländern im Ausland aufgrund der Sondersituation denselben Schutzbedingungen zu unterwerfen, bedarf es dieser separaten Übermittlungsabwägung schon aus Gleichheitsgründen auch hier, ebenso wie der unabhängigen Vorabkontrolle. Nur dann werden gezielt erfasste Ausländer im Ausland auch bei Datenübermittlungen, wohlmöglich an ihre Heimatländer bzw. an ihren Aufenthaltsort, hinreichend geschützt und die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung wahrt auch insoweit die Grenzen eines angemessenen Grundrechtseingriffes2686. An der Absolutheit dieser Anforderungen für Datenübermittlungen ins Ausland gerade im Bereich des Bundesnachrichtendienstes entzündet sich indes Kritik. Die engen Voraussetzungen seien zwar für den Austausch mit EU- oder NATO-Partnern praktikabel, jedoch nicht bei Kontakten gerade mit den vom Senat besonders hervorgehobenen rechtsstaatlich nicht gefestigten Ländern2687. In der Tat dürfte bei den Mitgliedstaaten der Union, in denen die DSG-VO gilt, ein stärkerer Indikator dafür vorliegen, dass die Datenschutzstandards eingehalten werden und vor allem das Niveau dem deutschen zumindest ähnlich ist, wenngleich die Verordnung bei nachrichtendienstlicher Tätigkeit freilich unanwendbar ist. Ebenso wird ein Angemessenheitsbeschluss der Kommission über ein angemessenes Datenschutzniveau in einem Drittland gemäß Art. 45 DSG-VO ein wichtiger Anhaltspunkt für die allgemeine Lage des Datenschutzes und seiner tatsächlichen Umsetzung in diesem Empfängerland sein2688. Bei Datenübermitt2684 BVerfGE 154, 152 (277 f., Rn. 242); Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 200, vergleicht dies mit einer sogenannten Kettenabschiebung im Ausländerrecht. 2685 BVerfGE 154, 152 (277, Rn. 241). 2686 An dieser Stelle sei erneut darauf hingewiesen, dass nach hiesiger Ansicht kein Grundrechtsschutz für Organwalter ausländischer Mächte, internationaler Organisationen oder ihnen gleichgestellter de-facto-Regimes bei dienstlicher Telekommunikation besteht, weswegen insoweit auch bei internationalen Datenübermittlungen keine besonderen Vorkehrungen getroffen werden müssen. Der Schutz der Menschenwürde muss freilich auch in diesen Fällen gesichert sein, da der Staat zu deren Verletzung nie beitragen darf. 2687 Diese Kritik trägt vor Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 180, unter Verweis auf Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831; a. A. Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 720 f., der eine sensible Regelung durch das BVerfG sieht. 2688 Zu Angemessenheitsbeschlüssen siehe nur C. Schröder, in: Kühling/Buchner, DS-GVO (Fn. 1907), Art. 45 Rn. 5 ff.; T. Zerdick, in: Ehmann/Selmayr, DSG-VO (Fn. 1910), Art. 45 Rn. 1 ff. Ein solcher Beschluss kann freilich keine Datenflüsse zum
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lungen in die Vereinigten Staaten wird diese Indikatorwirkung indes allenfalls vorsichtig Berücksichtigung finden dürfen2689. Gerade der Bundesnachrichtendienst mit seinem globalen Auftrag müsse darüber hinaus aber auch mit anderen Staaten interagieren können, weswegen seine Tätigkeit insoweit eher mit einer diplomatischen vergleichbar sei, bei der man mit allen Beteiligten, unabhängig von der jeweiligen Staatsform und der Datenschutzlage, im Gespräch bleiben müsse2690. Der Senat verenge die internationale nachrichtendienstliche Kooperation durch die hohen Anforderungen zu einem reinen „Verbund-Verwaltungshandeln zwischen Rechtsstaaten“ 2691. Insbesondere wird vor menschrechtlich „kaum hinzunehmenden Ergebnissen“ gewarnt, etwa wenn der Bundesnachrichtendienst Hinweise auf einen Bombenanschlag in Nigeria habe und diese Informationen aufgrund der Rechtslage vor Ort nicht weiterleiten dürfe – eine allgemeine Abwägung mit deutlich höherrangigen Interessen als Datenschutzbelangen sei unabdingbar2692. Die Kritik überzeugt indes nur teilweise: Das Bundesverfassungsgericht überträgt mit Recht seine strengen Anforderungen an internationale Datenübermittlungen aus dem BKAG-Urteil und erweitert diese spezifisch für die Zusammenarbeit unter Nachrichtendiensten. Wenn Daten aus dem Zugriff der deutschen Staatsgewalt entlassen werden, muss bestmöglich dafür Sorge getragen werden, dass die grundlegenden Datenschutzanforderungen des Grundgesetzes – die bereits zur Interaktion mit fremden Rechtsordnungen herabgesetzt sind – gesichert werden. Staaten, die keinerlei angemessenes Datenschutzniveau besitzen, in denen elementare Menschenrechtsverstöße zu besorgen sind und die auch nicht gegebenenfalls zu Einzelzusicherungen bereit sind, können schlechterdings nicht von Daten des Bundesnachrichtendienstes profitieren2693; seinerseits darf der Dienst Daten, die unter Verstoß gegen Menschenrechte erlangt wurden, jeden-
Zweck der nationalen Sicherheit ermöglichen, er taugt jedoch als Indikator für eine Abschätzung durch den Bundesnachrichtendienst. 2689 Vgl. das Urteil des EuGH zur Nichtigkeit des sog. Privacy Shield, der einen eigenes Schutzregime für Datenübermittlungen etablieren sollte, um jedenfalls partiell ein angemessenes Datenschutzniveau im Sinne der DS-GVO zu etablieren, EuGH, Urteil vom 16.7.2020 – C-311/18 – Schrems II. 2690 Pointiert Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832 – „Geiselnahmen, Flugzeugentführungen und Kriegswaffenproliferation ereignen sich eben nicht nur in demokratischen Rechtsstaaten“. 2691 Ostentativ Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832. 2692 Griffige Konfliktlage erneut bei Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832; ihm folgt Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 180; ein ähnliches Szenario entwerfen Lindner/Unterreitmeier, „Karlsruher Republik“ (Fn. 196), S. 93 f. 2693 Wie hier im Ergebnis Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2224; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 720 f.; Roggan/Hammer, Informationsaustausch (Fn. 2663), S. 3065; a. A. wohl Lindner/Unterreitmeier, „Karlsruher Republik“ (Fn. 196), S. 97, die diese Übertragung von Standards auf andere Staaten ablehnen.
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falls nicht aktiv anfordern2694, weswegen hier keine Behinderung von Kooperation droht. Feste Grenzen der Datenübermittlung ins Ausland sind letztlich unabdingbar, um Grundrechte, auch solche von Ausländern im Ausland, zu sichern. Ein Abweichen hiervon kann es nur in besonders außergewöhnlichen Lagen geben: Im Falle eines unmittelbar bevorstehenden Bombenanschlages monieren die Kritiker zu Recht eine – vom Ersten Senat möglicherweise insoweit nicht absolut gemeinte – fehlende Abwägungsmöglichkeit. In Fällen einer unmittelbar bevorstehenden konkreten Gefahr für Leib, Leben und Freiheit wird man eine Sonderkonstellation – analog der Übermittlung von rein außenpolitischen Erkenntnissen – annehmen können, die sehr begrenzt zumindest eine entsprechende Warnung auch an nicht rechtsstaatlich gefestigte Staaten ermöglicht. Wenn eine derartige Nutzung zum Schutz höchster Rechtsgüter selbst bei den Daten rein inländischer Telekommunikation, die eigentlich von vornherein mit Mitteln der strategischen Überwachung nicht erfasst werden dürfen, durch den Ersten Senat zugelassen wird, erscheint es vertretbar, die Entscheidung dahingehend auszulegen, dass dies erst Recht bei Datenübermittlungen von sonstigen Daten ins Ausland in dieser Sonderkonstellation tolerierbar ist. Dies bedeutet aber nicht, dass eine allgemeine Abwägungsoffenheit bei Datenübermittlungen an ausländische Stellen jenseits der dargelegten Anforderungen vorzusehen wäre. cc) Formalisierte Kooperationen: An der verfassungsrechtlichen Grenze oder darüber hinaus? Bisher nicht ausgeleuchtet waren die verfassungsrechtlichen Anforderungen für formalisierte nachrichtendienstliche Kooperationen2695, bei denen der Bundesnachrichtendienst fremde Selektoren nutzt, um selbst erfasste Telekommunikation auszuwerten oder die Treffer an Partnerdienste automatisiert 2696 ausleitet oder gar Metadaten ohne vorherige Auswertung gesamthaft unselektiert übermittelt2697. Zudem hat der Bundesnachrichtendienst im Gegenzug hier Zugriff auf die Fähigkeiten der Partner und bekommt von diesen Daten übermittelt. Nach der partiellen Normierung dieser formalisierten Kooperation in den §§ 13 ff. 2694 BVerfGE 154, 152 (280 f., Rn. 250), betont, dass nationale Standards durch die Entgegennahme von Daten anderer Dienste nicht unterlaufen werden dürften und es bezüglich der Entgegennahme von Daten ausländischer Nachrichtendienste eigener rechtlicher Regelungen bedürfe; dahingehend auch EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 424 – Big Brother Watch u. a.; siehe auch Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 184 ff. sowie schon unter C. IV. 2. g); Lindner/Unterreitmeier, „Karlsruher Republik“ (Fn. 196), S. 97, sehen hierin indes allein ein reines Sicherheitsrisiko. 2695 Vgl. die Bestandsaufnahme durch M. Bäcker, zit. nach BT-Drs. 18/12850, S. 537. 2696 Zur Definition der automatischen Übermittlung, die gerade nicht von der Einzelfallentscheidung einer natürlichen Person abhänge, Dietrich (Fn. 771), § 15 BNDG Rn. 2. 2697 Zusammenfassung in BVerfGE 154, 152 (182, Rn. 12, 278, Rn. 243).
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BNDG2698 musste sich das Bundesverfassungsgericht auch erstmals mit einer derart weitreichenden informationellen Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten befassen. Neben der Schaffung von rechtlichen Grundlagen für diese Entgegennahme – die hier nicht im Fokus stehen2699 – bedarf es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts entsprechend der allgemeinen Anforderungen an Datenerhebungen zunächst der Aussonderung rein nationaler sowie der Inland-Ausland-Telekommunikation, der Beschränkung auf besonders wichtige Rechtsgüter bzw. Ziele2700, verfahrensrechtlicher Sicherungen sowie der Rechtsstaatlichkeitsversicherung aufgrund einer Auslandsübermittlung2701. Allerdings ist fraglich, ob der Grundrechtsschutz für Ausländer im Ausland soweit zurückzunehmen ist, dass auch mittels fremder Selektoren Fernmeldeverkehre strategisch überwacht werden dürfen und die Daten automatisiert an Partnerdienste weitergeleitet werden dürfen. Selbst für diese weitgehenden Ausnahmen führt das Bundesverfassungsgericht – überraschenderweise auch insoweit bisher ohne kritische Begleitung durch die Literatur – keine weitergehenden Argumente an. Dabei handelt es sich um einen erheblichen qualitativen Unterschied im Vergleich zur Individualübermittlung, wie auch der Erste Senat allgemein anerkennt2702. Die hier bereits mehrfach angezweifelte pauschale Aussage, die Ausland-Ausland-Telekommunikation reiche nicht derart weit in die nationale Rechtsordnung hinein und rechtfertige deshalb die unterschiedliche Behandlung2703, kommt hier vollends an ihre Grenzen. Wieso soll die automatisierte Kooperationsform gerade für Ausländer im Ausland verfassungskonform sein, für Deutsche und Inländer aber kategorisch ausscheiden? Wohl weil sie mit intensivsten und vor allem höchst quantitativen Grundrechtseingriffen einhergeht. Allein die Notwendigkeit – der Austausch ist schließlich nach Angabe aller Akteure nachrichtendienstlich schlechterdings unverzichtbar – der Zusammenarbeit mit 2698
Zu den einfachrechtlichen Grundlagen C. IV. 2. g). Hierfür bestehen noch keine einfachrechtlichen Grundlagen oder ein Schutzkonzept, siehe BVerfGE 154, 152 (280 f., Rn. 250). Dies bedürfte wohl einer eigenen rechtswissenschaftlichen Untersuchung. 2700 Eine begrenzende Wirkung der „Zweckbindung“ bei einer Kooperation bezweifelt – wohl konkret in Bezug auf § 13 IV BNDG – Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 206, wobei sogar eine derartige Entgrenzung gesehen wird, dass Daten zur Exekution von Terroristen genutzt werden könnten. Dies ist indes fernliegend, da eine solche Nutzung schon aufgrund von Art. 1 I GG und der Rechtsstaatlichkeitsversicherungen ausscheidet. 2701 BVerfGE 154, 152 (281 f., Rn. 253). 2702 Insbesondere BVerfGE 154, 152 (278, Rn. 243) – „Vor besondere verfassungsrechtliche Herausforderungen stellt die Ausgestaltung von Regelungen, die die strategische Telekommunikationsüberwachung für eine Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten öffnen.“ Dahingehend auch Dietrich (Fn. 771), § 15 BNDG Rn. 1; partiell anders wohl Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 531, der die formalisierte Kooperation jedenfalls nicht als ultima ratio verstanden wissen will. 2703 BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 172). 2699
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ausländischen Diensten zur Wahrung der Kooperationsfähigkeit des Bundesnachrichtendienstes und der Anschluss an internationale Datenquellen kann als primäres Praktikabilitätsargument eine Reduktion des grundrechtlichen Schutzstandards des Art. 10 I GG und die korrespondierende Ungleichbehandlung von Ausländern im Ausland im Vergleich zu Inländern bzw. Deutschen im Lichte von Art. 3 I GG nicht rechtfertigen; ebensowenig hilft hier der Gedanke weiter, dass der Schutz im Ausland schlechterdings herabgesetzt sein müsse. Dies gilt insbesondere angesichts der vielfältigen Gefahren für das Unterlaufen verfassungsrechtlicher Anforderungen, die beim Einsatz fremder Selektoren und der automatischen Übermittlung von Daten drohen, da die Daten deutscher Kontrolle entzogen sind. Das Bundesverfassungsgericht versucht dem gleichsam auf technisch-faktischem Wege zu begegnen2704, wobei unklar bleibt, ob derartige Anforderungen überhaupt durch die Filtersysteme und IT-Sicherheitsmaßnahmen – neben der Filterkaskade von Separator und DAFIS-Filter – beim Bundesnachrichtendienst sowie durch die Mitarbeiter umgesetzt werden können: Eine „sorgfältige Kontrolle der Suchbegriffe“ von Partnerdiensten hinsichtlich ihrer Zweckrichtung, Listen „gefährdeter Personen“ oder „Situationen, bei denen Anhaltspunkte für eine besondere Schutzbedürftigkeit bestehen“, etwa „Dissidenten oder sogenannten Whistleblowern“, die nach „Möglichkeit“ auszufiltern seien, sowie die Aussonderung von Selektoren mit dem Ziel der Erfassung von besonderen Vertrauensbeziehungen samt anschließender „händischer Prüfung“ sollen den Grundrechtsschutz (noch) hinreichend gewährleisten2705. Damit reagiert der Erste Senat offensichtlich auf die Tatsache, dass Selektoren von Partnerdiensten in der Vergangenheit teilweise nicht nachvollzogen werden konnten und in der Folge auch Ziele gesteuert wurden, die eigentlich deutschen Interessen widersprachen2706. Freilich filtert der Bundesnachrichtendienst auch heute schon die Selektoren der Partnerdienste nach unzulässigen Parametern (Deutsche, Inländer, entgegenstehende Interessen der Bundesrepublik) und lässt keine Suchbegriffe mehr zu, deren Zielrichtung er nicht nachvollziehen kann2707. Auch prüft der Dienst stichprobenartig die fremden Selektoren sowie die automatisierten Übermittlungen an die Partnerdienste, was nach Ansicht des Ersten Senats auch unerlässlich ist2708. Dabei werden ca. 300 Selektoren und 25 bis 40 Übermittlungen an Partnerdienste
2704
BVerfGE 154, 152 (282 ff., Rn. 254 ff.). BVerfGE 154, 152 (283 ff., Rn. 255 ff.). 2706 Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 1; siehe ausführlich BT-Drs. 18/12850, S. 793 ff., 846 ff.; zum Selektoreneinsatz und dessen Kontrolle bei Kooperationen auch schon unter C. IV. 2. g). 2707 BVerfGE 154, 152 (189, Rn. 27). 2708 So jedenfalls die Feststellung in BVerfGE 154, 152 (189 f., Rn. 27 f., 284, Rn. 258). 2705
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überprüft2709. Angesichts der Menge an gesteuerten Selektoren und mutmaßlichen Übermittlungen können dies allerdings nur sehr punktuelle Aufnahmen sein. Abschließend beurteilen lässt sich die Effektivität der vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebenen Filteransätze freilich nicht, es wird jedoch ersichtlich, dass der Grundrechtsschutz hier – wieder – ganz besonders von der Technik und der Redlichkeit der Kooperationspartner abhängt. Ferner tun sich erhebliche datenschutzrechtliche Folgeprobleme auf, wenn die Telekommunikationsparameter von Journalisten, Rechtsanwälten und weiteren Personengruppen, die unter die besonderen Vertrauensbeziehungen fallen, in ständig zu aktualisierende Datenbanken und Filtersysteme eingepflegt werden und mithin permanent und in möglichst großer – da ansonsten wenig wirksamer – Quantität unmittelbar beim Bundesnachrichtendienst gespeichert werden müssen2710. Damit werden ausgerechnet die Kennungen verfassungsrechtlich besonders geschützter Telekommunikationsteilnehmer beim Bundesnachrichtendienst – ähnlich der G 10-Positivliste im Rahmen der DAFIS-Filterung, jedoch vom Typ her grundrechtssensibler – gesamthaft bevorratet. Insgesamt bleiben Zweifel an der effektiven Umsetzbarkeit der hohen verfassungsgerichtlichen Anforderungen, und es bestehen Bedenken aufgrund der Akkumulation von Kennungen geschützter Personen beim Bundesnachrichtendienst mit der korrespondierenden Vertiefung des Grundrechtseingriffes. Die verfahrensrechtlichen Zusicherungen der Gegenseite müssen dann nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, ebenfalls dem kompensatorischen Gedanken verpflichtet, besonders spezifische Zusagen (Löschung von Inlandskommunikation, Umgang mit besonders geschützten Telekommunikationsdaten, Ringtauschverbot) der Partnerdienste eingeholt werden, um den Kontrollverlust der deutschen Staatsgewalt über diese Datenübermittlungen zu kompensieren2711. Dabei wird schon die Tauglichkeit allgemeiner, vom Einzelfall gelöster Zusagen im Rahmen der automatisierten Übermittlungen generell in Frage gestellt2712. Dies überzeugt zwar nicht, da auch im Rahmen von Individualübermittlungen keine Einzelfallzusagen erforderlich sind und die Beurteilungen durchaus auch auf abstrakter Ebene tragfähig erscheinen2713. Fraglich bleibt aber hier, wie weit die Zugriffsrechte des Bundesnachrichtendienstes durch die Vereinbarungen mit
2709
BVerfGE 154, 152 (189 f., Rn. 27 f.). So der Ansatz von BVerfGE 154, 152 (283 f., Rn. 257 f.); Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 831, betont zu Recht, dass hierdurch zusätzlich in deren Grundrechte eingegriffen werde und bezweifelt, ob sich der Erste Senat dieser juristischen Konsequenz bewusst war. 2711 BVerfGE 154, 152 (284 f., Rn. 259 ff.). 2712 So Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 205 f. 2713 Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 206, will bei rein abstrakter Möglichkeit von elementaren Menschenrechtsverstößen automatisierte Übermittlungen aufgrund untauglicher Zusicherungen wohl ganz untersagen. 2710
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Partnerdiensten tatsächlich ausgestaltet werden können und wo deren Akzeptanzgrenzen liegen. Das Bundesverfassungsgericht ist hier wohl ebenfalls eher vorsichtig und fordert nur eine Prüfung durch die Bundesregierung2714. Einfachrechtlich sieht § 13 III 2 Nr. 5 und 6 BNDG indes Auskunfts- und Löschverpflichtungen des Partnerdienstes vor, was auf eine Umsetzbarkeit hindeutet, da hier sicherlich Erfahrungswerte der Praxis in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen sind. Eine abschließende Beurteilung ist freilich ohne Einsicht in nachrichtendienstliche Gepflogenheiten nicht belastbar möglich. Selbst wenn aber die technischen Sicherungen funktionieren, die Abgleichsdaten von Journalisten und Rechtsanwälten hinreichend datenschutzrechtlich wie faktisch und missbrauchssicher bevorratet werden können und die besonders qualifizierten Zusagen durch die Partnerdienste hinreichend belastbar und umfangreich abgegeben werden, bleibt die genuin verfassungsrechtliche Frage, was konkret Ausländer im Ausland von Inländern und Deutschen derart strukturell in ihrem Grundrechtsschutz unterscheidet, dass ihre Daten von Verfassung wegen auch in die automatisierte Kooperation einfließen dürfen. Eigentlich lässt sich die Ungleichbehandlung schlechterdings kaum rechtfertigen, da gerade für Ausländer im Ausland besonders intensive Eingriffe drohen, wenn Datensätze nicht mehr der nationalen Kontrolle unterliegen und weitergehend verknüpft oder gar in Gänze durch die Partnerdienste ausgewertet werden dürfen. Etwas anderes gilt nur, wenn Ausländer im Ausland in spezifisch konkretisierbare Gefahrenlagen involviert sind oder mit einiger Wahrscheinlichkeit sein könnten. Hier wird die strategische Überwachung einer Einschreitschwelle jedenfalls wieder angenähert2715, was die Überwachung, vergleichbar mit einem frühen Gefahrerforschungseingriff, zumindest etwas zielgenauer macht und die automatisierte Übermittlung jedenfalls hinreichend kompensiert, sodass eine Übertragung noch angemessen erscheint. Das Bundesverfassungsgericht verfolgt einen ähnlichen Ansatz, wenngleich es diesen nicht auf die Ungleichbehandlung der Inland-Ausland- und der Ausland-Ausland-Überwachung bezieht und auch nur isoliert bei automatisierten Übermittlungen unselektierter Metadaten an Partnerdienste zur Anwendung gelangen lassen will: Bei dieser Variante gäbe der Bundesnachrichtendienst die Kontrolle „ohne weitere inhaltliche Kontrollmöglichkeit [vollends] aus der Hand“, weswegen ein „qualifizierter Aufklärungsbedarf“ im „Hinblick auf eine spezifisch konkretisierte Gefahrenlage“ aufgrund „bestimmter Ereignisse“ zur Abwehr von „konkreten Bedrohungen“ notwendig sei2716. Mit diesem Maßstab rekurriert der Erste Senat wohl nicht auf die hinreichend konkretisierte Gefahr im Sinne seiner BKAG-Rechtsprechung, da er ansonsten auf die allge2714
BVerfGE 154, 152 (285, Rn. 261). Zur zentralen verfassungsrechtlichen Bedeutung von Einschreitschwellen rekapitulierend BVerfGE 154, 152 (244 f., Rn. 155). 2716 So die Umschreibung der notwendigen Gefahrenlage in BVerfGE 154, 152 (286, Rn. 263). 2715
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meinen Anforderungen der Übermittlungsschwelle hätte verweisen können, sondern fordert gleichsam einen gewissermaßen herabgesetzten Gefahrverdacht ein2717. Dieser Ansatz ist zustimmungswürdig, muss jedoch auf die gesamte formalisierte Kooperation ausgeweitet werden, also immer dann gelten, wenn Daten vorselektiert oder als Rohdaten an ausländische Partnerdienste übermittelt werden sollen. Hierdurch lässt sich die Überwachung zielgenauer ausrichten, etwa auf „die Vorbereitung terroristischer Anschläge [. . .], für Verschiebungen von Kriegswaffen auf einer bestimmten [(!)] Route oder für koordinierte Cyberattakken gegenüber bestimmten Staaten [einer Kooperation] oder Einrichtungen“ 2718. Mit dieser Festlegung wird der Kontrollverlust über die Daten im Ausland begrenzt, die Anlasslosigkeit wenigstens etwas eingedämmt und insgesamt eine verhältnismäßige Lösung erreicht. Es muss sich allerdings um eine Sonderbefugnis handeln, die nicht flächendeckend zum Einsatz kommt, sondern nur, wenn die skizzierten Gefahrenlagen vorliegen. Angesichts der überragend wichtigen Bedeutung der nachrichtendienstlichen Kooperation zur Auftragserfüllung des Bundesnachrichtendienstes werden die widerstreitenden Rechtsgüter letztlich einem angemessenen Ausgleich zugeführt. Hierzu trägt auch bei, dass die Ausrichtung auf konkretisierte Gefahrenlagen einer unabhängigen Kontrolle überantwortet wird und hierdurch weitergehend spezifiziert werden kann2719. c) Übermittlung von Erkenntnissen für außenpolitische Regierungsentscheidungen Entsprechend der Sonderkonstellation der alleinigen Datenerhebung zur Information der Bundesregierung zwecks Wahrnehmung der außen- und sicherheitspolitischen Regierungsfunktion2720, die die Datenerhebung vom grundsätzlichen Ausschluss der Übermittlung an andere Empfänger abhängig macht, bedarf es – wie dargelegt – keiner weitergehenden Beschränkung der Übermittlung im Ein2717 Dies gilt freilich nur, wenn man die hinreichend konkretisierte bzw. drohende Gefahr noch als Unterfall der hergebrachten Gefahr sieht – wie hier –, so etwa Pieroth, Begriffsverwirrung (Fn. 2441), S. 135, oder aber einen stark konkretisierten Gefahrverdacht annimmt, wie Möstl, Staatsaufgabe (Fn. 120), S. 73, da dann die hiesige Umschreibung eine herabgesetzte Stufe des Gefahrverdachtes darstellt. Eine finale dogmatische Verortung gestaltet sich freilich schwierig, da die dogmatische Einordnung der drohenden Gefahr sowie ihr Verhältnis zum Vorfeld – wie dargelegt – schon allgemein ungeklärt ist. Die Definition einer allgemeinen Gefahrenlage nach Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 356 ff., erscheint indes im hiesigen Kontext zu unkonkret, wenngleich sie allgemein als Tatbestandsvoraussetzung für die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung nach hier vertretener Ansicht wiederum zu spezifische Anforderungen stellt. 2718 BVerfGE 154, 152 (286, Rn. 263). 2719 Dies fordert folgerichtig BVerfGE 154, 152 (286, Rn. 263 a. E.). 2720 BVerfGE 154, 152 (270, Rn. 223); zum „materiellen“ Regierungsbegriff, den das BVerfG hiermit jenseits administrativer Aufgaben zu Grunde legt, instruktiv Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 830 m. Fn. 104.
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zelfall2721. Dass hiervon richtigerweise nur zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr für höchste Rechtsgüter abgewichen werden kann, begegnet indes ebenfalls Kritik. Insbesondere drohten auch in dieser Sonderkonstellation der reinen Regierungsinformation Folgen, die „im Ergebnis nicht gewollt“ sein könnten: So müsse beispielsweise die Benachrichtigung deutscher Strafverfolgungsbehörden über Proliferationshandlungen deutscher Unternehmen zum Aufbau einer Urananreicherungsanlage in einem fremden Staat unterbleiben, obschon die Bundesregierung hierüber im Rahmen allgemein außenpolitischer Zwecke durch den Bundesnachrichtendienst unterrichtet werde2722. Eine Sonderkonstellation zur Gefahrenabwehr liegt hier richtigerweise nicht vor – das Ergebnis ist mit der Situation vergleichbar, die bei nicht ausgesonderter, rein nationaler bzw. deutscher und inländischer Telekommunikation eintritt. Zugegebenermaßen ist hier der Verzicht auf eine Strafverfolgung aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten schwerer zu akzeptieren, da die Daten nicht von vornherein nur zufällig zur Verfügung stehen. Allerdings realisiert sich auch insoweit lediglich die verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung, dass der Bundesnachrichtendienst nicht zur Verfolgung von Straftaten als solchen eigesetzt werden darf, sondern die politische Information im Vordergrund steht. Zudem darf die Gefahrenfrüherkennung – initial – sehr wohl auf die Proliferation ausgerichtet werden und Ergebnisse hieraus dürfen nach den allgemeinen Regeln zur Übermittlung von Erkenntnissen aus der strategischen Auslandsaufklärung auch an Strafverfolgungsbehörden übermittelt werden2723. Ähnliche Bedenken werden im internationalen Kontext formuliert und wiederum an fiktiven Situationen durchgespielt: So wird das Szenario entworfen, die Europäische Union verhandele ein Handelsabkommen mit einem Drittstaat und 2721 Grundlegende Kritik am „Zweckbindungsdualismus“ zwischen „normalen“ Daten und solchen für Zwecke außenpolitischer Regierungsentscheidungen bei Unterreitmeier, Funktion (Fn. 125), S. 179 ff. 2722 Eindringliches Beispiel bei Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 179; siehe auch mit weiteren Konstellationen Unterreitmeier, Funktion (Fn. 125), S. 180 f., der ebenfalls auf Dietrich verweist. 2723 Dies setzt aber als Rechtsgut eine besonders schwere Straftat voraus. Im hiesigen Bespiel wären aber Teile einer Urananreicherungsanlage wohl eine Atomwaffe i. S. d. § 17 II 1 Nr. 2 KrWaffKontrG und der Verstoß gegen das Verbot des Inverkehrbringens oder der Ausfuhr (ohne entsprechende Genehmigung) nur bei bandenmäßiger Begehung eine besonders schwere Straftat im strafprozessualen Sinne nach § 100b II Nr. 5 lit. a) StPO i.V. m. § 19 II KrWaffKontrG. Ansonsten handelt es sich um eine schwere Straftat gemäß § 100a II Nr. 9 lit. a) StPO i.V. m. § 19 I KrWaffKontrG. Auch Verstöße gegen die Strafnormen der §§ 17, 18 AWG (sofern einschlägig) stellen „nur“ schwere Straftaten dar, § 100a II Nr. 6 StPO. Der Straftatenkatalog des § 7 IV G 10 sieht diese Tatbestände indes noch vor; der Gesetzgeber kann den Katalog unter Berücksichtigung der Schwere der Tat, die Ausdruck in ihrem Strafrahmen findet, freilich auch unabhängig von strafprozessualen Festlegungen bestimmen bzw. muss nicht auf diese zurückgreifen, BVerfGE 154, 152 (269, Rn. 221); 125, 260 (329).
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der schwedische Unterhändler, der die Union insoweit vertrete, werde von der anderen Seite erpresst, wovon der Bundesnachrichtendienst mittels der AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung Kenntnis erlange2724; allerdings seien diese Erkenntnisse im Datenregime der alleinigen Information der Bundesregierung erhoben worden, weswegen eine Übermittlung an die schwedischen „Behörden“ ausscheide2725. Dies entspricht jedoch nicht der Wertung des Ersten Senats, jedenfalls nicht in dieser Pauschalität. Zu Recht betont das Bundesverfassungsgericht, dass eine Übermittlung an „nachgeordnete Behörden im In- und Ausland“ insbesondere „zu operativen Zwecken“ grundsätzlich ausgeschlossen sein müsse2726. Eben dieser Ausschluss der besonderen Gefahr einer Akkumulation von außerordentlichen Erkenntnismöglichkeiten des Bundesnachrichtendienstes mit den Fähigkeiten von operativen Behörden – schlechterdings der Kerngedanke des Trennungsgebots – rechtfertigt die Privilegierung der Datenerhebung zu politischen Informationszwecken. Auf die Informationen kann die Bundesregierung aber sehr wohl auch „in der Kommunikation mit ausländischen Regierungen und internationalen Organisationen“ zurückgreifen, wenn es sich um einen rein politischen Austausch handelt2727, der Zweck also datenschutzrechtlich betrachtet derselbe bleibt. Deswegen verfängt insbesondere die Kritik nicht, dass selbst bei Gesprächen auf politischer Spitzenebene die erlangten Erkenntnisse nicht geteilt werden dürften2728. Richtig ist freilich, dass unmittelbare Datentransfers durch die Bundesregierung oder den Bundesnachrichtendienst selbst an Partnerdienste2729 oder sonstige, nicht näher spezifizierte Behörden im In- und Ausland grundsätzlich verfassungsrechtlich ausgeschlossen sind. Die Sonderkonstellation ist nach hiesigem Verständnis gerade auf die politische „Regierungsebene“ be2724
Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 180. So Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 180, der überdies weitere Szenarien entwirft: Wenn vor Wahlen in Frankreich politische Desinformation durch sogenannte Trolle aus Russland betrieben würde und der BND hiervon Kenntnis erlange, dürften die Informationen nicht an französische „Behörden“ weitergegeben werden; ferner dürften „britische Kollegen“ bei einem Treffen des britischen Premierministers mit dem Staatsoberhaupt eines nicht-EU-Landes, der die Opposition in seinem Land unterdrückt, nicht informiert werden. Jedenfalls im letzteren Fall wäre nach hiesigem Verständnis eine politische Information der britischen Regierung über die Menschenrechtslage im betreffenden Drittstaat auch nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungskonform möglich, allerdings nur auf der politischen Regierungsebene, etwa bei Kontakten zwischen den Außenministerien oder auf politischer Spitzenebene. 2726 BVerfGE 154, 152 (271, Rn. 226); dies gelte auch für die Kommunikation der Bundesregierung mit den Regierungen der Bundesländer. 2727 So ausdrücklich BVerfGE 154, 152 (271, Rn. 226); ähnlich Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832, der indes auch die Information von Partnerdiensten zu politischen Zwecken mit einbeziehen will. Ein politischer Austausch auf Regierungsebene innerhalb des von Gärditz angeführten „Normandie-Formats“ wäre damit nach hiesigem Verständnis möglich, nicht aber die Weitergabe an den französischen Partnerdienst. 2728 So aber explizit Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 180, mit dem Beispiel eines Treffens eines Bundesministers mit einem ausländischen Regierungsmitglied. 2729 A. A. insoweit wohl Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832. 2725
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schränkt; eine Datenweitergabe an oder durch „nachgeordnete“ Behörden muss gerade verhindert werden, sonst verlöre die Konstruktion ihren Sinn2730. Der Austausch vollzieht sich gleichsam im Dreieck von Bundesnachrichtendienst, Bundesregierung und ausländischen politischen Entscheidungsträgern, nicht aber bilateral zwischen den Nachrichtendiensten. Damit liegt das adressierte Problem aber eher in der Tatsache begründet, dass eine zweckändernde Nutzung ausgeschlossen ist. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, da eine solche – wie allgemein bereits beleuchtet – an Übermittlungsschwellen gebunden werden muss, die aber in der hiesigen Sonderkonstellation entfallen. Eine „außenpolitische Sackgasse“, die die „Bündnisfähigkeit“ der Bundesrepublik beeinträchtigt, erscheint jedenfalls auf politscher Ebene nicht zu drohen2731, da die Informationen sehr wohl fließen dürfen, nur eben beschränkt auf die Regierungsebene als solche. Problematisch erscheint daher eher, dass die Annahme, eine Information bliebe auf die rein politische Ebene beschränkt und würde auch im Ausland nach politischen Konsultationen auf Regierungsebene nicht an nachgeordnete Behörden weitergegeben, kaum den realen Bedingungen regierungspolitischen Handelns – insbesondere nicht fremder Staaten, die nicht an die nationalen verfassungsrechtlichen Anforderungen gebunden sind – entsprechen wird2732. Hier bedarf es entsprechender belastbarer Zusagen der Gegenseite. Für Gefahren, die für die Sicherheit des Bundes unmittelbar bevorstehen – und hiermit eine Übermittlung an andere Stellen auch im Sonderfall der rein außenpolitischen Information von Verfassungs wegen zulassen –, gilt es zur verhältnismäßigen Auflösung elementarer Bedrohungslagen gleichfalls zu überlegen, ob nicht auch die Sicherheit der „institutionellen Bündnispartner“ hierunter subsumiert werden kann2733. Dies muss dann aber auf besondere Gefahren für die Sicherheit des Bündnispartners beschränkt bleiben und bedarf einer eingehenden Verhältnismäßigkeitsabwägung im Einzelfall2734. 2730
BVerfGE 154, 152 (271, Rn. 226). So aber Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 180, der bezweifelt, dass sich der Erste Senat dieser Konsequenzen bewusst gewesen sei; dem stimmt zu Unterreitmeier, Funktion (Fn. 125), S. 180 f. 2732 Dies unterstreicht – auch mit Blick auf inländische politische Konsultationen – ebenfalls Unterreitmeier, Funktion (Fn. 125), S. 181. 2733 Diesen überzeugenden Lösungsansatz, bezogen auf die Sonderkonstellation einer Nutzung rein inländischer Telekommunikation zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden konkreten Gefahr, unterbreitet Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829. 2734 Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 829, präsentiert das Beispiel eines chinesischen Doppelagenten beim britischen MI5. Eine Informationsweitergabe unmittelbar an den britischen Nachrichtendienst und damit nicht auf rein politischer Regierungsebene wäre dann im Einzelfall zu erwägen, wenn der Doppelagent an zentraler Stelle und mit großem Einfluss installiert wäre oder die Erkenntnisse auf den Abfluss von zentralen Sicherheitsinformationen – womöglich auch auf Bündnisebene mit Beteiligung der Bundesrepublik – hindeuteten. Letztlich handelt es sich aber um eine situative Abwägung im Einzelfall; diese kann nicht durch verfassungsrechtliche Vorgaben bis ins letzte Detail antizipiert und aufgelöst werden. 2731
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Die Übermittlung an die Bundesregierung ist freilich auch dann ohne weitere Anforderungen möglich, wenn die Daten initial zu Gefahrenfrüherkennung erhoben wurden2735. Dies war bisher die wohl übliche Vorgehensweise in der Praxis2736, da eine Trennung in reine Regierungsinformation und Gefahrenfrüherkennung als datenschutzrechtliche Zweckbestimmungen bisher im Nachrichtendienstrecht unbekannt war. Wenn aber die Daten aus der Gefahrenfrüherkennung seitens der Bundesregierung an weitere – operative – Stellen weitergegeben werden sollen, gelten die allgemeinen dargelegten Grundsätze der hypothetischen Datenneuerhebung2737, da es sich um eine Zweckänderung handelt. Bis hier ist das Konzept der Ersten Senats stimmig, da die Information der Bundesregierung schließlich der Hauptauftrag des Bundesnachrichtendienstes ist und die Informationen dort auch dann ohne weitere Beschränkungen genutzt werden können müssen, wenn Daten aus der Gefahrenfrüherkennung stammen, die ihrerseits qualifizierten Anforderungen unterliegt. Warum das Bundesverfassungsgericht überdies die Verwendung von „Erkenntnisse[n] [. . .] über die Zwecke der Regierungsarbeit hinaus“ erlauben will, bleibt unklar2738. Es bleibt schon nebulös, welche Zwecke dies in concreto sein könnten. Zudem konterkariert der Erste Senat damit sein zuvor etabliertes fein ziseliertes Datenübermittlungsregime an die Bundesregierung zur Wahrnehmung ihrer außenpolitischen Regierungsfunktion. Auch bei der Übermittlung von Daten, die initial zur Gefahrenfrüherkennung erhoben wurden, darf eine Weiterübermittlung stets nur – wie dargelegt – unter Anwendung des Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung erfolgen. Für unklare Subregelungen ist verfassungsrechtlich kein Platz. Dem Bundesverfassungsgericht ist insoweit entgegenzutreten. Die besondere Beschränkung der Übermittlung von Daten, die initial schon allein zur außenpolitischen Information erhoben wurden und mithin nur unter höchsten Voraussetzungen übermittelt werden dürfe, bleibt hiervon unberührt. Es handelt sich um zwei verschieden Ansätze der Datenerhebung, die jeweils eigenen Weiterübermittlungsanforderungen, über die Bundesregierung hinaus, unterliegen. d) Fazit: Datenübermittlung komplementiert verfassungsrechtlichen Erhebungsschutz Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Datenübermittlung sind untrennbar mit der Datenerhebungsebene verbunden, da hier die fehlenden Einschreitschwellen durch Übermittlungsschwellen kompensiert werden und somit die Zweckänderung entsprechend dem Eingriffsgewicht der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung an hohe Hürden gebunden wird. Das Bun2735 2736 2737 2738
Klarstellung in BVerfGE 154, 152 (271, Rn. 227). So der Bericht in BVerfGE 154, 152 (271, Rn. 227). BVerfGE 154, 152 (271, Rn. 227). So aber BVerfGE 154, 152 (271, Rn. 227).
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desverfassungsgericht legt dabei den Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung zu Grunde und entwickelt seine allgemeinen Anforderungen aus den Urteilen zur Antiterrordatei und zum Bundeskriminalamtgesetz nachrichtendienstspezifisch weiter, streng unter Berücksichtigung der außergewöhnlichen Ausrichtung der strategischen Überwachung. Hierbei kann dem Ersten Senat weitgehend gefolgt werden, allerdings bedarf es nach hiesiger Ansicht einer besonders engen Auswahl von Tatbeständen, wenn Daten aus Vertraulichkeitsbeziehungen zu Strafverfolgungszwecken übermittelt werden sollen, und der Übermittlungsschwelle der hergebrachten konkreten Gefahr beim Transfer von Daten aus gezielten Überwachungen von Ausländern im Ausland zu Zwecken der Gefahrenabwehr. Internationale Datenübermittlungen müssen besonders sorgsam rechtsstaatlich eingehegt werden, indem ein angemessenes Datenschutzniveau im Empfängerland und ein Verbot der menschenrechtswidrigen Nutzung der Daten durch detaillierte Zusicherungen abgesichert werden. Eine formalisierte nachrichtendienstliche Kooperation kann – teils entgegen der Ansicht des Ersten Senats – bei der automatisierten Übermittlung von vor- oder unselektierten (Meta-)Daten von Ausländern im Ausland nur dann verfassungskonform sein, wenn zumindest ein rudimentärer Gefahrverdacht vorausgesetzt wird. Anders verhält es sich, wenn Daten ausschließlich zum Zweck der außen- und sicherheitspolitischen Information der Bundesregierung erhoben wurden und an diese ohne Zweckänderung übermittelt werden. Hier ist eine Nutzung durch nachgeordnete – insbesondere operative Behörden – grundsätzlich ausgeschlossen, was jedoch entgegen Stimmen in der Literatur die außenpolitischen Kommunikationskanäle der Bundesregierung nicht einschränkt; eine weitergehende Übermittlung muss – wie auch bei „normalen“ Übermittlungen an datenschutzrechtlich bedenkliche Staaten – auf engste Sonderkonstellationen zur unmittelbaren Gefahrenabwehr beschränkt bleiben. Insgesamt komplementieren die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Datenübermittlung diejenigen auf Erhebungsebene; erst das Wechselspiel beider Ebenen ermöglicht die hinreichende, geltungserhaltende Reduktion des Mittels der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung auf ein angemessenes Maß im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. 6. Gerichtsähnliche und administrative Kontrolle statt Transparenz und Individualrechtsschutz: Reset der bisherigen Strukturen Eine Überwachungsmaßnahme kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich nur dann angemessen sein, wenn, ergänzend zu den Sicherungen auf Datenerhebungs- und Übermittlungsebene, die Transparenz der Datenverarbeitung, ein individueller Rechtsschutz (a)) und eine unabhängige Kontrolle (b)) gesichert sind2739. Unbesehen zahlreicher Einzelfra2739 Zu unterschiedlichsten Überwachungsbefugnissen siehe etwa BVerfGE 155, 119 (211 ff., Rn. 203 ff.); 154, 152 (286 ff., Rn. 265 ff.); 150, 244 (285, Rn. 101); 141, 220
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gen wird man – auch in der Literatur2740 – hiergegen wohl kaum eine Fundamentalopposition finden können. Dass Nachrichtendienste im Rechtsstaat einer Kontrolle unterliegen müssen, ist selbstverständlich. Die Trias der übergeordneten Grundrechtssicherungen sieht sich freilich im nachrichtendienstlichen Umfeld und in Sonderheit der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung besonderen Bedingungen ausgesetzt, die maßgeblich aus der umfassenden Geheimhaltung herrühren. Entsprechend der Ausrichtung dieser Arbeit soll die Kontrollebene nur eingeschränkt behandelt werden, und die wesentlichen Innovationen der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung sollen im Zentrum stehen. Abzuschichten ist dementsprechend vor allem die politisch-parlamentarische Kontrolle durch das Parlamentarische Kontrollgremium, deren Andersartigkeit der Erste Senat nunmehr ausdrücklich hervorhebt2741. Die genuin grundrechtlichen Anforderungen an die Kontrolle des Bundesnachrichtendienstes ließen sich nicht auf die insoweit eigenständigen verfassungsrechtlichen Befugnisse des Parlamentes zur Kontrolle der Nachrichtendienste übertragen; im Gegenzug blieben diese – und damit die diesbezügliche Rechtsprechung des Zweiten Senats2742 – unberührt2743. Damit greift der Erste Senat die Intention des Zweiten aus der Entscheidung zur Parteifähigkeit der G 10-Kommission auf, wonach grundrechtliche Bedenken gegen die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung im Rahmen der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden müssten2744. Es existieren somit – verfassungsgerichtlich intendiert wie autorisiert – zwei verschiedene Kontrollsphären, deren wechselseitiger Informationsfluss aus Gründen der Geheimhaltung, welche im parlamentarischen Raum an Grenzen stößt2745, grundsätzlich begrenzt bleiben kann, wenngleich das Parla(282 ff., Rn. 134 ff.); 133, 277 (365 ff., Rn. 204 ff.); 125, 260 (334 ff.); 109, 279 (363 f.); 100, 313 (361, 364); grundlegend BVerfGE 65, 1 (44 ff.); 30, 1 (21 ff.). 2740 Siehe die Nachweise der monographischen Veröffentlichungen in Fn. 479. 2741 BVerfGE 154, 152 (296, Rn. 298, 300, Rn. 300); dies betont auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832. 2742 Maßgeblich zu den Rechten des NSA-UA in Bezug auf die NSA-Selektorenliste BVerfGE 143, 101; zur Frage der Vereinbarkeit der Rechtsprechung des Ersten und Zweiten Senats siehe Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 721 f., sowie sogleich im Rahmen der Third Party Rule. 2743 BVerfGE 154, 152 (300, Rn. 300). 2744 BVerfGE 143, 1 (20 f., Rn. 58 ff.); siehe auch unter C. III. 2. g) m. Fn. 744; a. A. Rusteberg, Streit (Fn. 743). 2745 Ostentativ dazu Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 534, der das größte Risiko bei Abgeordneten sieht, die „mit ihrer großen Verantwortung nicht angemessen umzugehen“ wüssten und eine Skandalisierung der Kontrolle betrieben; dahingehend auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181. Dies mag in Einzelfällen zutreffen, hieraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, möglichst „zahme“ Abgeordnete in Kontrollinstanzen zu berufen, um eine möglichst geräuschlose Kontrolle zu etablieren. Es braucht politisches wie persönliches „Standing“, um eine effektive und selbstredend professionelle, d. h. auch verschwiegene, Kontrolle der Nachrichtendienste sicherzustellen.
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mentarische Kontrollgremium schon aufgrund von Art. 45d GG über die Kontrolltätigkeit im operativen Bereich regelmäßig allgemein zu unterrichten ist2746. Im Ergebnis wird aber eine Trennwand zwischen parlamentarischer Kontrolle und der operativen, konkret grundrechtssichernden Aufsicht geschaffen2747. Die Trennung grundrechtlicher und staatsorganisatorischer Kontrollräume erfolgt aber vor allem aufgrund der Einbindung des Bundesnachrichtendienstes in die internationale Kooperation von Partnerdiensten und die hiermit einhergehende Geltung der sogenannten Third Party Rule (c)). a) Transparenz und Benachrichtigungspflichten weit zurückgenommen Eine Transparenz kann es bei der Tätigkeit des Bundesnachrichtendienstes naturgemäß kaum geben. Auskunftsansprüche (§ 22 BNDG) gegen den Dienst dürfen, entsprechend der ebenso langjährigen Rechtsprechung, deshalb soweit zurückgenommen werden, dass sie die Aufgabenwahrnehmung des Dienstes nicht behindern2748. Damit wird ein Auskunftsanspruch, wenn überhaupt, nur rudimentäre Erkenntnisse für den Anspruchssteller enthalten, da der Bundesnachrichtendienst seine Quellen und Datenerhebungsmaßnahmen abschirmen muss und darf. Kompensiert werden muss die mangelnde behördliche Transparenz jedoch durch eine besonders schlagkräftige unabhängige Kontrolle, an die der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besonders intensive Anforderungen stellt2749. Gleiches gilt für den Wirksamkeitsausfall bzw. den Verzicht auf Benachrichtigungspflichten. Art. 10 I GG vermittelt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und im Umkehrschluss aus Abs. 2 S. 2 der Vorschrift grundsätzlich ein Recht auf nachträgliche Benachrichtigung, wenn Personen von heimlichen Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis betroffen sind, um einen effektiven ex-post Rechtsschutz zu ermöglichen2750. Schon von Anbeginn der Debatte um die Auslandsgeltung des Fernmeldegeheimnisses herrschte weitgehend Kon2746
BVerfGE 154, 152 (299, Rn. 298). Plädoyer für eine Trennung von politisch-parlamentarischer Aufsicht und operativer Rechtskontrolle, allerdings unter Ausklammerung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, welche primär außenpolitische Fragen aufwerfe, Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 133. Das BVerfG geht jetzt richtigerweise einen ganzheitlichen Weg unter Einschluss der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; affirmativ Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 723; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181. 2748 BVerfGE 154, 152 (287, Rn. 266); 141, 220 (283, Rn. 137); 133, 277 (367 f., Rn. 209 ff.); Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832; Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 7, nimmt sogar an, das BVerfG habe den Auskunftsansprüchen attestiert, im Grunde nicht zielführend und erfolgsversprechend zu sein. 2749 BVerfGE 133, 277 (396, Rn. 214). 2750 BVerfGE 154, 152 (287, Rn. 267); 143, 1 (11, Rn. 37); 141, 220 (283, Rn. 136); 125, 260 (336); 109, 279 (363 f.); grundlegend hierfür das dritte Abhörurteil BVerfGE 100, 313 (361); ferner das erste Abhörurteil BVerfGE 30, 1 (21 ff.); siehe kompakt Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 87 f.; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 74. 2747
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sens, dass bei Ausländern im Ausland von einer Benachrichtigung abgesehen werden kann, da diese den betroffenen Personen keine realistische Rechtsschutzoption eröffnet und zudem zu erheblichen Gefährdungen durch Stellen des jeweiligen Heimatstaates führen kann2751. Es wäre in der Tat befremdlich, wenn der Bundesnachrichtendienst in alle Welt – vor allem aber in repressive Regime – Benachrichtigungen verschicken müsste und damit die Empfänger gegebenenfalls höchster Gefahr für Leib, Leben und Freiheit aussetzen würde. Im Inland soll die Benachrichtigung jedoch weiterhin, vor allem in Fällen nicht herausgefilterter rein inländischer Telekommunikation, grundsätzlich von Verfassung wegen erforderlich sein2752. Freilich sehen sowohl Art. 10 II 2 GG – prominent und weiterhin umstritten – als auch Art. 10 II 1 GG sehr wohl die Möglichkeit vor, von der Benachrichtigung abzusehen2753. Die Benachrichtigung unterliegt demnach beiden Gesetzesvorbehalten. Dabei erscheint es auch verhältnismäßig, in Ausnahmefällen eine Benachrichtigung endgültig zu unterlassen, da andernfalls Daten über sehr lange Zeiträume gespeichert blieben und damit der Grundrechtseingriff durch die Speicherung gegenüber demjenigen durch die Nichtmitteilung überwiegen kann2754. Dies setzt freilich ebenfalls voraus, dass eine schlagkräftige Ersatzkontrolle besteht. Das Bundesverfassungsgericht zog den Anwendungsbereich des Art. 10 II 2 GG schon 1999 sehr eng und wollte ihn nur auf die Gefahr eines bewaffneten Angriffes auf die Bundesrepublik (heute § 5 I 3 Nr. 1 G 10) anwenden; alle anderen Fälle der Zurückstellung (§ 5 I 3 Nr. 2 G 10) einer Benachrichtigung aus Geheimschutzgründen, etwa zur Wahrung nachrichtendienstlicher Vorgehensweisen oder – jenseits des behördlichen Aufgabenzuschnitts – wegen übergreifender Nachteile zum Wohl des Bundes oder eines Landes, ergäben sich aus Art. 10 II 1 GG2755. Diese restriktive Lesart behält das Bundesverfassungsgericht weiterhin 2751 Siehe nur für die Vertreter eines ansonsten nicht strikt territorial beschränkten Fernmeldegeheimnisses Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 92 f., 252; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 227; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 10; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 10 f.; dahingehend auch schon ders., Erhebung (Fn. 12), S. 22; grundlegend schon Huber, Post (Fn. 589), S. 395. Dieser Position hat sich der Erste Senat wenig überraschend angeschlossen, BVerfGE 154, 152 (288, Rn. 269). 2752 BVerfGE 154, 152 (288, Rn. 268). 2753 Grundlegend BVerfGE 100, 313 (397 f.); Zusammenfassung auch bei BVerfGE 143, 1 (11 f., Rn. 37); Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 88 ff.; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 301 f., der die Aussage auf Art. 10 II 2 GG beschränkt und losgelöst von Art. 19 IV GG liest. 2754 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 93 f.; dahingehend auch Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 174 (57. Ergänzungslieferung 2010), der lediglich grundsätzlich eine dauerhafte Mitteilungsprüfungspflicht sieht; a. A. strikt Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 312; Huber, G 10-Gesetz (Fn. 536), S. 3300 f. 2755 BVerfGE 100, 313 (397 f.), seinerzeit freilich noch mit anders nummeriertem und beschränkterem Katalog des G 10; für eine restriktive Auslegung des Art. 10 II 2 GG auch Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 304 ff.
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bei2756. Selbst wenn Art. 10 II 2 GG zu beachten sein sollte, folgten hieraus keine strengen Organisationsanforderungen; allein die Schaffung des Kontrollorgans durch das Parlament unter Berücksichtigung seiner Mehrheiten sei vorgegeben2757. Die Kontrollinstanz könne – hier bewegt sich das Gericht auf gesichertem Terrain seiner bisherigen Rechtsprechung – auch im Funktionsbereich der Exekutive angesiedelt sein2758. Allerdings möchte das Bundesverfassungsgericht den Art. 10 II 2 GG wohl eher aus den weiteren Überlegungen einer objektiven unabhängigen Kontrolle heraushalten. Der kompensatorische Schutz der Kontrolle für die Abstriche beim individuellen Rechtsschutz als solche ergibt sich überzeugend vielmehr schon aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz selbst2759. Durch diese Herleitung entspannt sich zudem der fortwährenden Streit – der hier nicht entschieden werden soll und muss – um die Verfassungskonformität des Art. 10 II 2 GG, der aus heutiger Sicht zwar in die Zeit der Entstehung der Vorschrift passt, mittlerweile aber eher ritualisierte Züge trägt. Dass eine unabhängige objektive Kontrolle bei heimlichen Grundrechtseingriffen überhaupt erfolgt und die Normalsituation des sonst durch die Gerichte gewährleisteten Rechtsschutzes – der ohnehin auch ohne Rückgriff auf Art. 10 II 2 GG zurückgestellt werden kann – sicherstellt, erscheint für den spezifischen Grundrechtsschutz wichtiger als die Frage, auf welchen Satz des Art. 10 II GG dies, als Folge des Benachrichtigungsausschlusses, gestützt wird, zumal die Anforderungen an eine Bestellung durch die Volksvertretung keine großen Hürden aufstellt. Freilich bietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ungleich größere Möglichkeiten, die Kontrolle nach den Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts auszudifferenzieren – dies zieht naturgemäß Kritik auf sich. b) Gerichtsähnliche und administrative Kontrolle als umfassende operative Aufsicht Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die operative Nachrichtendienstkontrolle entstammen fast ausschließlich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wobei das erste Abhörurteil bisher die maßgeblichen Grundsätze – welche noch in Bezug auf Art. 10 II 2 GG ergangen waren – aufstellte2760. Die
2756 BVerfGE 154, 152 (289 f., Rn. 271); kritisch dazu Schwander, Antwort (Fn. 967), der befürchtet, dass die besondere Schranken-Schranke im Ausland außer Acht gelassen werden könnte. 2757 BVerfGE 154, 152 (289, Rn. 271); 30, 1 (23). 2758 BVerfGE 154, 152 (289 f., Rn. 271); 143, 1 (12, Rn. 39); 30, 1 (23); Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 63. 2759 BVerfGE 154, 152 (286 f., Rn. 265, 290 ff., Rn. 272 ff.); allgemein so auch schon BVerfGE 141, 220 (284 f., Rn. 140 f.); 133, 277 (369, Rn. 214); Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 721. 2760 BVerfGE 30, 1 (20 ff.); zu dessen Leitwirkung Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 63; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 299 ff.
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Aufsicht ist daher richterrechtlich geprägt. Es bedürfe demnach einer „materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle gleichwertig[en]“ Aufsicht, die „mindestens ebenso wirkungsvoll ist, auch wenn der Betroffene keine Gelegenheit hat, in diesem ,Ersatzverfahren‘ mitzuwirken“ 2761. Das Organ müsse in „richterlicher Unabhängigkeit und für alle an der Vorbereitung, verwaltungsmäßigen Entscheidung und Durchführung der Überwachung Beteiligten verbindlich über die Zulässigkeit der Überwachungsmaßnahme und über die Frage, ob der Betroffene zu benachrichtigen ist, entscheide[n] und die Überwachungsmaßnahme untersag[en], wenn es an den rechtlichen Voraussetzungen dazu fehlt“ 2762. Die Kontrollinstanz müsse zudem weisungsfrei, mit den notwendigen Sachkompetenz ausgestattet und auf feste Zeit berufen sein2763. Sie müsse sich ferner auf den gesamten Prozess der Überwachung und Verarbeitung der Daten beziehen2764. Die genauen Vorgaben, wie die Kontrolle auszugestalten sei, ergäben sich – so das Bundesverfassungsgericht noch vor 20 Jahren – jedoch nicht aus der Verfassung selbst2765. Von dieser Zurückhaltung hat sich der Erste Senat nunmehr weitgehend verabschiedet, indem er mit einem „atemberaubenden Grad an Detailliertheit“ 2766 die vorgenannten Anforderungen erheblich vertieft und im Ergebnis eine völlig neue Kontrolllandschaft einfordert2767. Die diesbezüglichen Ausführungen sind der innovativste Teil der Entscheidung zum BNDG. Gleichwohl bleibt das Gericht den grundlegenden Aussagen aus dem ersten Abhörurteil treu und bezieht sich auf diese2768; dann folgt jedoch eine Handlungsanweisung an den Gesetzgeber. Anders als in früheren Entscheidungen überantwortet das Gericht die genaue Ausgestaltung – entgegen seiner Behauptung2769 – eben nicht dem Gesetzgeber,
2761
Grundlegend BVerfGE 30, 1 (23). Erneut BVerfGE 30, 1 (23). 2763 BVerfGE 30, 1 (23); aus der Literatur in Bezug auf die Entscheidung etwa Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 99; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 63; Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 300. 2764 BVerfGE 100, 313 (361 f.); angelegt schon in BVerfGE 30, 1 (23). 2765 So noch ausdrücklich BVerfGE 100, 313 (361). 2766 Pointiert Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832. 2767 So unisono die ersten Einschätzungen des Urteils, freilich mit kritischem Einschlag bei Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832; Muckel, Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 634 f.; positiver Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 721 f.; Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 953; primär eine Weiterentwicklung sieht Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411 f. In Zukunft wird die Kontrolle durch einen „Unabhängigen Kontrollrat“ ausgeübt werden, der gerichtähnliche Kontrolle und administrative Rechtskontrolle verbinden soll, vgl. § 40 BNDG-E; siehe auch schon Fn. 21. 2768 BVerfGE 154, 152 (291 ff., Rn. 274 ff.). 2769 BVerfGE 154, 152 (291, Rn. 277) – „Die nähere Ausgestaltung des Ineinandergreifens der Kontrollkompetenzen mit Blick auf die unterschiedlichen Arten der Kontrolle obliegt dem Gesetzgeber.“ 2762
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sondern differenziert sehr detaillierte Einzelanforderungen aus2770. Zentrale Weichenstellung der von Verfassungs wegen erforderlichen Kontrolle der strategischen Überwachung sei einerseits eine „gerichtsähnlich ausgestaltete Stelle“, die mit verschiedenen Spruchkörpern ausgestattet den Richtervorbehalt ersetze und daher in einem formalisierten Verfahren schriftlich und letztverbindlich entscheide; zum anderen sei eine „unabhängige Rechtskontrolle administrativen Charakters“ notwendig, welche den gesamten technisch-tatsächlichen Prozess der strategischen Überwachung stichprobenartig auf dessen Rechtsmäßigkeit prüfe2771. Letztere Aufsicht müsse sich auf die Verfahrensabläufe, die „Gestaltung der Datenverarbeitung und der Filterprozesse“ sowie der „hierfür verwendeten technischen Hilfsmittel“ beziehen, wenngleich ein Beanstandungsrecht und ein Anrufungsrecht der gerichtsähnlichen Kontrolle ausreiche2772. Es ist mithin eine Rechts- und eine informationstechnische Tatsachenkontrolle vorzusehen. Die Institutionen, die vollkommen unabhängig sein müssen, können unter einem Dach zusammengefasst oder organisatorisch separat voneinander etabliert werden2773. Zwischen den beiden müsse aber ein unbeschränkter Informationsaustausch möglich sein sowie eine Beanstandungs- und Konsultationsmöglichkeit mit dem Bundesnachrichtendienst sowie dem aufsichtführenden Bundeskanzleramt ermöglicht werden, um Abhilfe in Problemlagen zu erreichen2774. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit wird vom Bundesverfassungsgericht als mögliche administrative Instanz ins Spiel gebracht, aber – ausnahmsweise – nicht zwingend festgelegt2775. Bei dem ohnehin enormen Detailgrad seiner Vorgaben hätte der Erste Senat aber auch noch diesen Schritt gehen können und die Behörde, die seit langem den Datenschutz der Nachrichtendienste – freilich mit normativ bedingten Beschränkungen – kontrolliert, direkt als Kontrollinstanz fest benennen können2776. Die dort bereits vorhandene Expertise sollte für die operative, administrative Datenschutzkontrolle, gegebenenfalls unterstützt durch Techniker des Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik, die in die Zertifizierung der Filtersysteme jedenfalls im Probebetrieb eingebunden sind, fruchtbar gemacht werden.
2770
Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833, sieht die Verweise auf den Gestaltungspielraum daher beinahe einen „satirischen Charakter“ annehmen; ebenfalls zweifelnd Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181. 2771 BVerfGE 154, 152 (291, Rn. 275 f.). 2772 BVerfGE 154, 152 (291, Rn. 276). 2773 BVerfGE 154, 152 (294, Rn. 282). 2774 BVerfGE 154, 152 (299, Rn. 297). 2775 BVerfGE 154, 152 (294, Rn. 282); Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411. 2776 Für eine Bestellung des BfDI zur administrativen Kontrollinstanz auch T. Wetzling/D. Moßbrucker, BND-Reform, die Zweite, 2020, S. 7, 15 f., Studie abrufbar unter https://www.stiftung-nv.de/de/publikation/bnd-reform-die-zweite (22.9.2020).
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Der Senat listet zusammenfassend auf, welche Schritte konkret der Kontrolle unterliegen müssten2777. Nach hiesiger Ansicht müssen ferner die Festlegung einer nachrichtendienstlichen Operation als Gefahrenfrüherkennung oder zu Zwecken der außen- und sicherheitspolitischen Information der Bundesregierung in Streitfällen, die Einordnung von ausländischen Journalisten und sonstigen Vertrauensbeziehungen in Zweifels- und Streitfällen, die Auslandsübermittlung von Daten von Journalisten und aus einer gezielten Erfassung von Ausländern im Ausland (ex-ante) sowie das Vorliegen von Gefahrenlagen zur Übermittlung von Daten innerhalb einer formalisierten Kooperation sowohl bei selektierten als auch unselektierten Metadaten der gerichtsähnlichen Kontrolle unterliegen. Die administrative Datenschutzkontrolle muss zudem die Details der Datenverwendung und -auswertung umfassen. Das Gericht betont ganz im Sinne seiner bisherigen Rechtsprechung, dass die gerichtsähnliche wie administrative Kontrolle „umfassend“ personell wie mit Sachmitteln hinreichend ausgestattet sein und den gesamten Prozess der strategischen Überwachung samt den Datenübermittlungen ins In- und Ausland sowie die formalisierten Kooperationen umfassen müsse2778. Dazu müssten beide Kontrollinstanzen mit den notwendigen rechtlichen Befugnissen (Auskunfts-, Betretungs- und Akteneinsichtsrechte) ausgestattet sein2779. Die genaue Ausgestaltung entlehnt der Erste Senat schlicht dem britischen Nachrichtendienstrecht und den dortigen Kontrollinstanzen, konkret dem Investigatory Powers Tribunal und dem Investigatory Powers Commissioner2780. Entsprechend 2777 Dies sei hier der Vollständigkeit halber im Original wiedergegeben, BVerfGE 154, 152 (292, Rn. 278) – „Hierzu gehören insbesondere, wie sich aus den oben dargelegten materiellen Anforderungen ergibt, die formalisierte Festlegung der verschiedenen Überwachungsmaßnahmen, auch im Bereich der Kooperationen, die konkreten Netzanordnungen, der Einsatz von Suchbegriffen, soweit diese gezielt auf Personen gerichtet sind, welche als mögliche Gefahrenquelle im unmittelbaren Interesse des Nachrichtendienstes stehen, der Einsatz von Suchbegriffen, die gezielt auf Personen gerichtet sind, deren Kommunikation einen besonderen Vertraulichkeitsschutz genießt, die zum Schutz solcher Vertraulichkeitsbeziehungen erforderlichen Abwägungsentscheidungen, der Umgang mit Daten, die möglicherweise dem Kernbereich privater Lebensgestaltung unterfallen, besonders kontrollbedürftige Übermittlungen, vor allem an ausländische Stellen, sowie die Voraussetzungen für die Festlegung einer Zusammenarbeit zur automatisierten Übermittlung von Verkehrsdaten zur bevorratenden Speicherung und Auswertung an ausländische Dienste. Einer gerichtsähnlichen Kontrolle bedarf weiter die ausnahmsweise Nutzung von Daten unter Berufung auf besondere Gefahrensituationen, obwohl es sich um – erst in der manuellen Auswertung erkannte – Daten aus Telekommunikation unter Beteiligung von Deutschen oder Inländern handelt oder die Daten aus Überwachungsmaßnahmen stammen, die sich nicht auf Zwecke der Gefahrenfrüherkennung stützten, sondern unabhängig davon allein zur politischen Information der Bundesregierung angeordnet waren.“ 2778 BVerfGE 154, 152 (292 f., Rn. 279, 294, Rn. 284). 2779 BVerfGE 154, 152 (296, Rn. 290). 2780 So die einhellige Meinung: Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833; Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 8; Benz, Konsequenzen (Fn. 998); vgl. zum britischen Nachrichtendienstrecht ausführlich die Beiträge von I. Leigh, Intelligence Law and Oversight in the UK, in: Diet-
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dem dortigen Kontrollmodell soll bestmöglich – hier beschränkt sich der Senat auf einen Prüfauftrag an den Gesetzgeber – eine Beschwerdemöglichkeit für potentiell Betroffene etabliert werden2781, mit denen diese eine unabhängige Kontrolle anstoßen könnten, allerdings soweit erforderlich unter Ausschluss des Betroffenen und im in camera Verfahren2782. Der normale verwaltungsgerichtliche Rechtsweg soll hiervon jedoch nicht dispensiert werden, sondern – ohne Benachrichtigung freilich eher theoretisch – weiterhin zur Verfügung stehen2783. Den entscheidenden Schritt hin zu einem kontradiktorisch ausgelegten Verfahren, bei dem ein Anwalt der Betroffenen die überwachten Personen und ihre Rechte an ihrer statt treuhänderisch vertritt, geht der Senat bedauerlicherweise dann aber nicht2784. Warum bleibt unklar. Eine wirklich gerichtsähnliche Kontrolle mit vergleichbarer Schlagkraft stützt sich jedoch nicht zuletzt darauf, dass der Kläger bzw. Beschwerdeführer seine Sicht der Sach- und Rechtslage treuhänderisch vertreten dezidiert und qualifiziert darlegen kann. Umso eingehender widmet sich das Bundesverfassungsgericht den Personalanforderungen der eingeforderten Kontrollinstanzen. Es bedürfe bei der gerichtsähnlichen Kontrolle ferner hauptamtlich tätiger2785, weisungsfreier, in richterlicher Unabhängigkeit wirkender, vom Bundesnachrichtendienst weit genug entfernter Kontrolleure – überwiegend Volljuristen bzw. Richter2786 – mit langjähriger richterlicher Erfahrung, freilich mit entsprechender Besoldungsstufe2787; ergänzend könnten auch Nichtjuristen, insbesondere Techniker, heranzuziehen sein oder anderweitiger technischer Sachverstand zur Verfügung gestellt
rich/Sule, Intelligence Law (Fn. 48), Part 5 Ch. 3, auf den auch das BVerfG verweist; ferner S. McKay/C. Walker, Legal regulation of intelligence services in the United Kingdom, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. IX § 2 Rn. 175 ff. Inwieweit diese Übernahme tatsächlich im Detail erfolgt ist, soll hier dahinstehen. Hier ergibt sich jedoch ergänzender Forschungsbedarf. 2781 Zur diesbezüglichen Möglichkeit im britischen Nachrichtendienstrecht siehe auch EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., zum Hintergrund Rn. 249 ff., zur Beschwerdemöglichkeit selbst Rn. 379 – Big Brother Watch u. a. 2782 BVerfGE 154, 152 (293, Rn. 280). 2783 BVerfGE 154, 152 (289, Rn. 270, 293, Rn. 280). 2784 Für einen kontradiktorischen Ansatz auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833 m. Fn. 160; siehe ferner etwa die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch die Ausschüsse Gefahrenabwehrrecht und Informationsrecht zum Entwurf eines Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes, Stellungnahme-Nr. 65/2016, S. 4, 17, abrufbar unter https://anwaltverein.de/de/newsroom? newscategories=3 (22.9.2020). 2785 Dies ist ein klarer Seitenhieb auf die G 10-Kommission, ähnlich auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833; a. A. Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 8, der eine ehrenamtliche G 10-Kommission in tatsächlicher Hinsicht für ausreichend hält. 2786 So schon Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 348 ff. 2787 Sehr kritisch hierzu Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833.
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werden2788. Für die gerichtsähnliche Kontrolle müssen insgesamt genug Stellen zur effektiven Aufgabenwahrnehmung geschaffen werden, und zudem ist der Kontrollinstanz eigene Budget- und Personalhoheit zuzugestehen2789. Im Bereich der administrativen Kontrolle müssen nach den verfassungsgerichtlichen Vorgaben ebenso ein hinreichender Mitarbeiterstab und die nötige Sachmittelausstattung zur Verfügung gestellt werden, die auch die Untersuchung der Filterprozesse erlaube und – was anspruchsvoll sein dürfte – gegebenenfalls auch die Entwicklung eigener „Dateien und Kontrollprogramme“; die personelle Ausstattung soll sich am Ständigen Bevollmächtigten und seinem Stab orientieren2790. Ob das Gericht auch soweit gehen würde, hier erforderlichenfalls eine den Bedingungen des freien Marktes entsprechende Vergütung von hochqualifizierten IT-Fachleuten zur operativ tätigen Datenschutzkontrolle einzufordern, bleibt offen2791. Zudem ist zu Recht fraglich, ob sich die Qualität richterlicher Kontrolle wirklich aus deren Seniorität ergibt2792 oder ob nicht – wenn überhaupt – die spezifische Sachkunde in nachrichtendienstrechtlichen Fällen, insbesondere aus dem Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit, einen bestmöglichen kompensatorischen, gerichtsähnlichen Rechtsschutz sicherstellt. Wollte man dem Senat in den Detailierungsgrad seiner Vorgaben folgen, hätte es nähergelegen, dieses Auswahlkriterium in die Wertung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzubeziehen, da gerade die Sachnähe und die langjährige Befassung mit dem Nachrichtendienstrecht – etwa im 6. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts oder bei den Verwaltungsgerichten, in deren Zuständigkeitsbereich Nachrichtendienste fallen – einen bestmöglichen Rechtsschutz gewährleistet; diesen Weg geht künftig der einfachrechtlich der Gesetzgeber2793. Wichtig und richtig ist hingegen die Forderung, die Kontrolle hauptamtlich vorzunehmen; ein Nachrichtendienst mit
2788
BVerfGE 154, 152 (295 f., Rn. 286 ff.). BVerfGE 154, 152 (293 f., Rn. 281, 295 f., Rn. 288); Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833. 2790 BVerfGE 154, 152 (295 f., Rn. 288). 2791 Zu Personalfindungsproblemen im IT-Bereich bei staatlichen Stellen, hier der Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (ZITIS), vgl. etwa R. Pinkert/J. Strozyk/H. Tanriverdi, Staatliche Hacker dringend gesucht, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/digital/it-sicherheitsbehoerde-zitis-staatliche-hacker-drin gend-gesucht-1.4017900 (22.9.2020). 2792 Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken im Lichte der Art. 92, 97 GG bei Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833, der die Anlegung britischer Maßstäbe insoweit entschieden ablehnt. 2793 Dahingehend auch Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 532; a. A. Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 41, die die Besetzung mit Strafrichtern bzw. „Ermittlungsrichter[n]“ beibehalten und gesetzlich verankern wollen. Einfachgesetzlich ist nunmehr auch eine Einbeziehung gerade auch von Richterinnen und Richtern am BVerwG vorgesehen, vgl. § 43 I BNDG-E; BT-Drs. 19/26103, S. 35 f., sah noch eine Beschränkung auf Richter am BGH und Bundesanwälte vor. Dies wurde im Lauf des parlamentarischen Prozesses angepasst. 2789
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ca. 6.000 Mitarbeitern lässt sich nicht mit halber Stundenzahl, neben einer höchstrichterlichen Tätigkeit in einem strafrechtlichen Revisionssenat, kontrollieren. Freilich begegnen besondere Qualifikationsanforderungen an Richter jenseits der allgemeinen Anforderungen Bedenken, da das Grundgesetz, außer in Art. 13 III 3 GG, und die Gerichtsverfassung solche eigentlich nicht kennen2794. Dieser Zweifel ist nur ein Teil der übergeordneten Frage, wie weit das Bundesverfassungsgericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strapazieren kann und darf, um im Ergebnis einen bestmöglichen Grundrechtsschutz zu erreichen. Bei den Anforderungen an die Kontrolle wird dies am deutlichsten, da sie ausschließlich auf Richterrecht beruhen und man dem Bundesverfassungsgericht bei seinen in der Sache überzeugenden Ideen, wo immer sie auch entlehnt seien, entweder folgen kann2795 oder eine überbordende Beschneidung des gesetzgeberischen Spielraumes und mithin der Gewaltenteilung beklagen muss2796. Das vom Erste Senat eingeforderte Kontrollregime stellt den Grundrechtsschutz durch kompensatorischen Rechtsschutz durch die gerichtsähnliche und administrative Kontrolle in den Mittelpunkt, gerade auch um die Einschränkungen des Individualrechtsschutzes durch die Geheimhaltung und die im Wesentlichen nur final angeleiteten Ermächtigungen zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung effektiv einzufangen und ein „Gegengewicht zu den weiten Handlungsmöglichkeiten des [ansonsten übermächtig wirkenden] Bundesnachrichtendienstes“ zu implementieren2797. Das Ziel erreicht der Erste Senat unbestritten – der Weg dorthin ist bisweilen fraglich. Ein Resümee soll jedoch erst am Ende gezogen werden. c) Third Party Rule: Anpassung des Verfassungsrechts an etablierte internationale Praktiken? Zugutezuhalten ist dem Bundesverfassungsgericht, dass die gerichtsähnliche und administrative Kontrolle wirklich umfassend ausgestaltet ist. Die im internationalen Austausch unter Nachrichtendiensten übliche, allerdings nicht rechtsver-
2794 So eindrücklich erneut Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833, der das Asylrecht als handfestes Beispiel anführt, in welchem selbst Proberichter nach kurzer Zeit über Sachverhalte mit potentiell enormen Folgen für den Einzelnen entscheiden können und dürfen. 2795 So etwa konkret zu den Ausführungen des Ersten Senats zur Nachrichtendienstkontrolle Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 8; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 721 f.; Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 953 f.; Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411 f.; Benz, Konsequenzen (Fn. 998). 2796 Für die Gegenposition maßgeblich Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181 f.; Muckel, Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 634 f., wobei nicht die Klugheit der Anforderungen des Senats als solche bezweifelt werden, sondern die Herleitung aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 2797 Pointierte Zusammenfassung des grundlegenden Konzeptes, von dem sich der Senat leiten lässt, in BVerfGE 154, 152 (290, Rn. 273).
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
bindliche Verwaltungspraxis2798 der sogenannten Third Party Rule untersagt die Weitergabe von Informationen ausländischer Geheim- und Nachrichtendienste an Dritte ohne deren Zustimmung2799. Bei einer Missachtung dieser Vertraulichkeitszusage droht ein Versiegen der Informationen von Partnerdiensten2800. Würde diese Regel auch bei der objektiven Kontrolle Anwendung finden, wäre der aufsichtliche Zugriff in einem ganz zentralen Bereich versperrt und könnte auch sonst recht leicht mit Verweis auf die Zusage der Bundesregierung blockiert werden2801. In Bezug auf den NSA-Untersuchungsausschuss hat der Zweite Senat eine solche Zusage an die Vereinigten Staaten zum Anlass genommen, dass parlamentarische Kontrollrecht zu beschneiden und die Weigerung der Herausgabe der Selektorenliste an den Untersuchungsausschuss aus im Staatswohl – das auch die Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste umfassen soll2802 – gründenden Geheimhaltungsinteressen letztlich akzeptiert2803. Diese Entscheidung ist zu Recht auf Kritik gestoßen2804. Der Zweite Senat hat seinerzeit die Third Party Rule in die Nähe einer völkerrechtlichen Norm gerückt, die amerikanische Weigerung zur Herausgabe wohl unterstellt und im Ergebnis den nicht „dokumentierten Hinweis auf den Unwillen eines ausländischen Staates“ höher gewichtet, als das parlamentarische Kontrollrecht des deutschen Bundestages2805. Der Erste Senat folgt diesem Ansatz bei der grundrechtlich angeleiteten Kontrolle zu Recht nicht, freilich ohne den direkten Konflikt mit dem Zweiten Senat zu suchen, indem er des2798 Zur „Rechtsnatur“ BVerfGE 154, 152 (297, Rn. 294); Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181; G. Warg, Die Grenzen parlamentarischer Kontrolle am Beispiel des Staatswohls, in: NVwZ 2014, S. 1263 (1268). 2799 BVerfGE 154, 152 (297, Rn. 293); 143, 101 (150, Rn. 162); C. Möllers, Von der Kernbereichsgarantie zur exekutiven Notstandsprägorative: zum BND-Selektoren-Beschluss des BVerfG, in: JZ 2017, S. 271 (275 f.). 2800 Dies betont Kahl, Rahmenbedingungen (Fn. 2660), S. 158, der gleichzeitig auf das hohe „Eigeninteresse“ der Bundesrepublik als zuverlässige Geheimniswahrerin verweist. 2801 Dabei ist schon fraglich, ob die Third Party Rule überhaupt auf die „äußeren Strukturen des Informationsaustauschs und damit auf den Rahmen der Kooperationsbeziehung“ Anwendung finden kann, kritisch dazu B. Schöndorf-Haubold, Auf dem Weg zum Sicherheitskooperationsrecht?, in: Dietrich/Gärditz/Graulich, Sicherheitsarchitektur (Fn. 38), S. 3 (26) m.w. N. 2802 BVerfGE 146, 1 (49 ff., Rn. 110 ff.); kritisch dazu J. v. Achenbach, Effektive Nachrichtendienste als Verfassungsgut, in: B.-I. Hoff/H. Kleffner/M. Pichl/M. Renner (Hrsg.), Rückhaltlose Aufklärung?, 2019, S. 155 (160 ff.). 2803 BVerfGE 143, 101 (152 ff., Rn. 167 ff.). 2804 Siehe etwa Möllers, Kernbereichsgarantie (Fn. 2799), S. 275 ff.; B. Rusteberg, Die Gewährleistung einer funktionsgerechten und organadäquaten Aufgabenwahrnehmung als Schranke des parlamentarischen Untersuchungsrechts, in: DÖV 2017, S. 319 (320 ff.); P. Glauben, Minderheitenrechte im Untersuchungsrecht und staatlicher Geheimnisschutz mit Verfassungsrang, in: NVwZ 2017, S. 129 (131). 2805 Siehe dazu eingehend erneut Möllers, Kernbereichsgarantie (Fn. 2799), S. 276 ff., 278 (mit Zitat), der zudem zu Recht bezweifelt, dass sich die Aufsichtsgremien des amerikanischen Kongresses hierdurch von ihrer Kontrolltätigkeit abhalten ließen.
III. Rechtfertigungsmöglichkeiten und Grenzen
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sen Rechtsprechung insoweit schlicht hinnimmt und seine Maßstäbe nur für die Zukunft anwenden will; bereits gegebene Zusagen der Bundesregierung bleiben somit bestehen2806. In allen anderen Fällen könne den strikt auf Geheimhaltung ausgerichteten Kontrollinstanzen, die gerade nicht in das Parlament und seine Informationsflüsse eingebunden seien, die Third Party Rule nicht entgegengehalten werden2807. In dieser Zurückweisung einer Beschränkung umfassender Aufsicht liegt auch der eigentliche Grund der anglophilen Sicht der Ersten Senats begründet, der ausdrücklich darauf verweist, dass eine Kontrolle ohne Third Party RuleHemmnis im britischen Recht sehr wohl möglich sei2808. Hierdurch könne jedoch auch die überragend wichtige Zusammenarbeit mit den Partnerdiensten aufrechterhalten werden2809. Man möchte ergänzen: Dann muss dies auch im deutschen Nachrichtendienstrecht möglich sein2810. Beides setzt der Erste Senat also als funktionale Einheit voraus, weswegen eine Auslegungen des Urteils hin zu einer Abwägung bzw. einer praktischen Konkordanz in Sonderfällen einer Gefährdung höchster Rechtsgüter, zum Beispiel wenn ein Partner eine Information ausdrücklich nur der Leitung des Bundesnachrichtendienstes zur Verfügung stellen wolle, Bedenken begegnet2811. Allenfalls ließe sich dies bei einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr für Leib, Leben und Freiheit oder dem Bestand des Bundes oder eines Landes hinnehmen2812. Ansonsten müssen Kontrolle und nachrichtendienstliche Effektivität schlicht in Einklang gebracht werden. Ob es hierfür zwingend der Anleihe an das Investigatory Powers Tribunal bedurft hätte oder ob 2806 BVerfGE 154, 152 (297 ff., Rn. 293 ff., 300, Rn. 300); zur Vermeidung eines offenen Konfliktes auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 722. 2807 BVerfGE 154, 152 (297 f., Rn. 294 f.). 2808 BVerfGE 154, 152 (298, Rn. 295), unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 250, 379; wie hier auch Huber, Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 9; Benz, Konsequenzen (Fn. 998); dahingehend auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 722. 2809 BVerfGE 154, 152 (298, Rn. 295) – „Es ist so zu gewährleisten, dass sich sowohl die verfassungsrechtlich gebotene Kontrolltätigkeit ungehindert von der ,Third Party Rule‘ auch auf den Umfang des Bundesnachrichtendienstes mit von ausländischen Diensten stammenden Informationen erstreckt, als auch die für die Wahrung der außen- und sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik besonders bedeutsame Zusammenarbeit des Bundesnachrichtendienstes mit anderen Nachrichtendiensten [. . .] weitergeführt werden kann.“ (Hervorhebung nur hier). 2810 Eine internationale Analyse verschiedener Kontrollsysteme (insb. Norwegen, Niederlande und Dänemark) und deren Umgang mit der Third Party Rule bieten T. Wetzling/C. Vieth, Massenüberwachung bändigen. Gute Rechtsnormen und innovative Kontrollpraxis im internationalen Vergleich, 2019, S. 71 ff., abrufbar unter https:// www.stiftung-nv.de/de/publikation/massenueberwachung-baendigen-gute-rechtsnormenund-innovative-kontrollpraxis-im (22.9.2020). 2811 Für einen Ausnahmevorbehalt allerdings Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 834; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 182. 2812 Jedenfalls wenn man die Wertung von BVerfGE 154, 152 (253, Rn. 174) heranzieht; zu einer solchen Bedrohungslage tendiert auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 182.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
nicht der umfassende kompensatorische Grundrechtsschutz – gewährleistet durch eine unabhängige Kontrolle, sei sie als gerichtsähnlich oder als Kommission ausgeflaggt – als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und im Lichte der Dimension der „Ausnahmebefugnis“ zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung aus dem Fernmeldegeheimnis selbst folgt, bleibt letztlich fraglich. In Rückbesinnung auf die offenen wie nachhaltigen verfassungsrechtlich deduzierten Anforderungen des ersten Abhörurteils fällt die Antwort eindeutig aus. Im Ergebnis aber ist dem Ersten Senat freilich zuzustimmen und die umfassende gerichtsähnliche wie administrative Nachrichtendienstkontrolle – die alle Informationen gleich welcher Provenienz zur Verfügung gestellt bekommt – als zentrale Verhältnismäßigkeitsanforderung zur Rechtfertigung einer strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung bzw. deren geltungserhaltender Reduktion als von Verfassung wegen unverzichtbar anzusehen. Nur mit einer solchen Aufsicht ist der besonders schwere Grundrechtseingriff durch die strategische Überwachung zu rechtfertigen. 7. Resümee: Effektiver Grundrechtsschutz durch einen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an der Belastungsgrenze – BKAG-Urteil reloaded für die technische Auslandsaufklärung Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung ist nach alledem mit dem Fernmeldegeheimnis, trotz eines Verzichts auf belastbare Einschreitschwellen als elementare rechtsstaatliche Sicherung von Informationseingriffen, nicht von vornherein unvereinbar. Dem Verdikt einer absoluten Unverhältnismäßigkeit entgeht die nachrichtendienstliche Befugnis dabei indes nur knapp. Das Bundesverfassungsgericht nutzt den Verweis auf eine „Ausnahmebefugnis“ 2813, um die strategische Überwachung noch zu rechtfertigen; nach hiesiger Ansicht sollte die Restriktion schon sprachlich im Vordergrund stehen, weswegen von einer „geltungserhaltenden Reduktion“ der Überwachung gesprochen wird. Aufgrund des Fehlens einer tradierten Einschreitschwelle und der besonders schweren Intensität des Grundrechtseingriffes kann dies nur mit weitreichenden, flankierenden Anforderungen an die Datenerhebung selbst, an die Datenübermittlungen, mit denen weitergehende Grundrechtseingriffe ins Werk gesetzt werden können, sowie an die Kontrolle erreicht werden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum BNDG setzt dabei Maßstäbe, die auch international ihresgleichen suchen2814, wenngleich dem Ersten Senat teilweise zu widersprechen ist. Dies gilt insbesondere für die Rücknahme des Grundrechtsschutzes von Ausländern im Ausland, wo der Senat bisweilen eine im Lichte von Art. 10 I GG in 2813
BVerfGE 154, 152 (250, Rn. 166). So auch die weit überwiegende Bewertung, siehe Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 835; Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 182; dahingehend auch Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 9; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 718, 724. 2814
III. Rechtfertigungsmöglichkeiten und Grenzen
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Verbindung mit Art. 3 I GG überschießende Ungleichbehandlung aufgrund zu pauschaler Differenzierungen der Eingriffsintensität von Inland-Ausland- und Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung annimmt. In weiten Teilen überzeugen die nunmehr im wesentlichen richterrechtlich geprägten Verhältnismäßigkeitsanforderungen – die häufig zumindest im Ansatz auf langjährige Rechtsprechung aufbauen können – aber. Es bleibt freilich am Ende ein Dilemma: Lassen sich die erheblichen Verhältnismäßigkeitsanforderungen, die das Bundesverfassungsgericht aufstellt – und die hier modifiziert gleichfalls postuliert werden –, wirklich aus Art. 10 I GG in Verbindung mit Art. 5 I 2 GG destillieren2815? Die Frage – die gleichsam eine Glaubensfrage ist – ist freilich nicht auf diese Auslegung des Grundgesetzes begrenzt, sondern stellt sich seit längerer Zeit im Sicherheitsrecht. Sie erinnert wegen der hoch detaillierten Verhältnismäßigkeitsanforderungen, die der Erste Senat dem Grundgesetz entnimmt, an die Debatte über das Grundsatzurteil zum Bundeskriminalamtgesetz 2816. Man mag kritisieren, das Bundesverfassungsgericht schwinge sich gleichsam zum Ersatzgesetzgeber auf. Stellt man jedoch die Gegenfrage, was wäre, wenn das Gericht es bei allgemeinen Aussagen beließe und Vorschriften nur für verfassungswidrig erklärte, ohne jedoch aufzuzeigen, wie eine verfassungskonforme Regelung getroffen werden könnte, stimmt das den Blick auf die Entscheidung zum BNDG, aber auch zum BKAG versöhnlicher2817. Hätte der Senat in seinen Entscheidungen keine detaillierten Maßstäbe aufgestellt, könnten durch den Gesetzgeber kaum in jedem Fall sicher verfassungskonforme Regelungen getroffen werden. Das Bundesverfassungsgericht muss grundsätzlich aufzeigen dürfen, welche Maßstäbe denn überhaupt geeignet wären, sicherheitsverfassungskonforme Normen zu formulieren2818, wobei über die Weite der richterlichen „Handreichungen“ für den Gesetzgeber freilich trefflich gestritten werden kann. Auch ist solchen Maßstäben das Risiko immanent, nicht alle Konstellationen abdecken zu können, hierauf mit einer Normflut zu reagieren und letztlich doch zu unflexibel zu sein2819. Bei den Verhältnismäßigkeitsanforderungen an die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung sind aber weitgehend ausgewogene Anforderungen aufgestellt worden2820, die so 2815 Zweifel bekanntlich bei Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 181; ebenso bei Muckel, Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 635; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 832, 834. 2816 Siehe dazu die Nachweise in Fn. 196, 197. 2817 Siehe zur Vereinfachung der Arbeit des Gesetzgebers durch den Entscheidungsstil des Gerichts auch Gusy, Reformperspektiven (Fn. 193), S. 22 f.; die „Orientierungssicherheit“ gesteht dem Gericht freilich auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 834, zu. 2818 Dahingehend auch Bäcker, Terrorismusbekämpfung (Fn. 120), S. 149 ff. 2819 So Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 834. 2820 So im Ergebnis auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 835; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 723 f.; Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 954; Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 9; Schwander, Antwort (Fn. 967); Schiffbauer, Würde (Fn. 937).
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
zuvor schon gar nicht existieren konnten, da die Befugnis in ihrer heutigen Dimension erstmals beleuchtet wurde; lediglich die Kontrollmaßstäbe mit der systemfremden Anleihe im britischen Recht2821 wirken zum Teil zu ausdifferenziert. Insgesamt gelangt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei diesem Detailgrad indes merklich an seine Grenze. Diese Grenze zwischen Perfektion des Grundrechtsschutzes durch immer ausgeklügeltere Verhältnismäßigkeitsanforderungen an Sicherheitsgesetze und einer nicht mehr handhabbaren Verästelung kleinster normativer Nuancen ist fließend. Im Fall der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung ist diese Linie (wohl) noch nicht überschritten, wovon der Grundrechtsschutz des Fernmeldegeheimnisses und der Pressefreiheit erheblich profitiert.
IV. Anwendung der Maßstäbe: Kontrolle einfachrechtlicher Vorschriften anhand der Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsparameter Nach alledem sollen die verfassungsrechtlichen Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsanforderungen – nach einer Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander (1.) – nunmehr an die einfachrechtlichen Vorschriften angelegt werden2822. Aufgrund der Vielzahl an Normen kann dies nur in komprimierter Form erfolgen, was aufgrund der teils evidenten Mängel dennoch einen eindeutigen Befund ermöglicht. Das BNDG in seiner bisherigen Fassung lit insgesamt an der verfehlten gesetzgeberischen Prämisse, dass das Fernmeldegeheimnis insoweit nicht einschlägig sei und konnte deshalb schon wesentliche verfassungsrechtliche Anforderungen nicht erfüllen (2.)2823. Im BNDG hat der Erste Senat einige, wenngleich nicht alle Mängel, schonungslos offengelegt. Im Folgenden seien die verfassungsrechtlichen Schwachpunkte aufgezeigt, wobei teilweise die sehr kurzen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, welches nur die „zentralen Defizite“ benennt, ergänzt werden sollen; dies erscheint sinnvoll, um hieraus Schlüsse für das G 10 und übergeordnete Reformimpulse bzw. deren künftige Berücksichtigung zu ziehen2824. Freilich ist in absehbarer Zeit mit einer gänzlichen Neuregelung der (Ausland-)Ausland-Fernmeldeaufklärung seitens des Gesetzge-
2821
Instruktiv dazu Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833. Die Nutzung dieser zunächst abstrakt, d. h. genuin verfassungsrechtlich entwickelten, Parameter ist entscheidend, um die Bewertung der Rechtslage de lege lata nicht in einer allgemeinen Abwägung aufgehen zu lassen, die sich gleichsam im „luftleeren Raum“ abspielt; eine recht allgemeine Abwägung – freilich nach Berücksichtigung des Eingriffsgewichts und von normativen Sicherungen – nimmt aber letztendlich vor Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 317 f., 344 ff. 2823 Stellvertretend BVerfGE 154, 152 (300 f., Rn. 301); gänzlich a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 336 ff. 2824 Pointiert erneut BVerfGE 154, 152 (300, Rn. 301). 2822
IV. Anwendung der Maßstäbe
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bers bzw. deren Inkrafttreten zu rechnen, weswegen das G 10 – was derzeit wohl nicht novelliert werden soll2825 – von besonderem Interesse ist (3.). Über dessen Verfassungsmäßigkeit ist unter den aktuellen verfassungsgerichtlichen Anforderungen noch nicht entschieden worden, und eine Verfassungsbeschwerde ist weiterhin in Karlsruhe anhängig; ebensowenig hat – soweit ersichtlich – bisher im Schrifttum eine Überprüfung des G 10 unter neuesten Erkenntnissen stattgefunden2826. Es stellt sich mithin die Frage, ob der Gesetzgeber auch das G 10 ändern müsste, um es einer verfassungskonformen Regelung – eine Weiterführung des einfachrechtlichen Dualismus der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung unterstellt – zuzuführen. Dabei gilt die hier vertretene Prämisse, dass die Ausführungen der Bundesverfassungsgerichts und die hiesigen Maßstäbe, sofern nicht explizit differenziert, für die strategische und die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung applikabel sind2827. 1. Beziehung des Bestimmtheitsgrundsatzes zur Verhältnismäßigkeitskontrolle Bevor die dargelegten Grundsätze auf die einfachgesetzlichen Vorschriften der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung angewendet werden können, muss noch in gebotener Kürze das Verhältnis des Gebots der Normenklarheit und Bestimmtheit zur allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgeleuchtet werden. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehen die Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes teils in der Verhältnismäßigkeit gleichsam auf 2828, teils trennt das Gericht zunächst zwischen dem Gebot der Normenklarheit und Bestimmtheit und den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des jeweils in Rede stehenden Grundrechtseingriffes2829; jedenfalls sprachlich lässt sich regelmäßig eine Trennung ausmachen2830. In der Prüfung 2825 Das Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts vom 5.6.2021 nimmt nur zaghafte Anpassungen vor, die das Instrument der strategischen Fernmeldeaufklärung nach §§ 5 ff. G 10 als solches nicht tangieren. 2826 Kürzlich allerdings zum G 10 noch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 287 ff., freilich vor der Entscheidung des BVerfG zum BNDG und ohne die Anlegung der Maßstäbe der BKAG-Entscheidung, die für einen besonders schweren Eingriff auch schon vor dem jüngsten Urteil des Ersten Senats richtigerweise anzulegen gewesen wären. 2827 Davon geht auch aus Durner, Schiffbruch (Fn. 915), S. 953 – „Diese bemerkenswert detaillierten Verfassungskonkretisierungen [des Ersten Senats] werden im Grundsatz für alle Formen der strategischen Aufklärung gelten“. 2828 Etwa tendenziell in BVerfGE 125, 260 (327 ff.); dazu Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 350. 2829 So aus der jüngeren Rechtsprechung BVerfGE 155, 119 (177, Rn. 123) – „Alle angegriffenen Befugnisse sind zudem am Grundsatz der Normenklarheit und Bestimmtheit zu messen“ – Hervorhebung nur hier; BVerfGE 154, 152 (237 ff., Rn. 137 ff., 239, Rn. 141); 141, 220 (265, Rn. 93 f.). 2830 Siehe Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 270.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
selbst ist der Bestimmtheitsgrundsatz mit dem Übermaßverbot eng verzahnt, da eine normenklare einfachrechtliche Befugnis letztlich eine notwendige Bedingung darstellt, um eine hinreichende, verhältnismäßige Begrenzung erst zu erreichen und mithin auch verfassungsrechtlich zu attestieren2831. Die Grenze, wann eine Norm einen Sachverhalt nicht mehr klar genug regelt und wann sie – auch deswegen – unverhältnismäßig ist, ist mithin fließend. Gleichwohl lässt sich eine gewisse vorgelagerte Funktion des Grundsatzes der Normenklarheit und Bestimmtheit schon dadurch ausmachen, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Subsumption unter die von ihm aufgestellten Anforderungen bisweilen feststellt, dass es Befugnissen „schon an der gebotenen Normenklarheit“ fehle2832. Das Adverb signalisiert, dass eine konkrete Norm bereits im Ansatz die Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffes – nämlich eine normenklare und hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage zunächst überhaupt bereitzustellen – verfehlt, weswegen ein Verstoß gegen Verhältnismäßigkeitsanforderungen „im Übrigen“ gegebenenfalls hinzutritt2833, jedoch nicht zwingend notwendig für das Verdikt der Verfassungswidrigkeit ist. Jedenfalls in der Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe im Einzelnen liegt somit eine Separierung zwischen dem Gebot der Normenklarheit und Bestimmtheit und der Verhältnismäßigkeitsprüfung deswegen nahe2834. Gleichwohl gibt es auch hier Überschneidungen, weswegen eine Trennung nicht immer randscharf möglich ist. 2. BNDG von durchgreifenden verfassungsrechtlichen Mängeln durchzogen Das BNDG – wie es dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlag – war in vielfacher Weise nicht verfassungskonform ausgestaltet. Sowohl die Anforderungen an die Normenklarheit und Bestimmtheit (a)) als auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (b)) an den besonders schweren Eingriff in das Fernmeldegeheimnis und die – gegebenenfalls ergänzend hinzutretende – Presseund Berufsfreiheit wurden weitestgehend verfehlt. a) Vielfache Mängel der Normenklarheit und Bestimmtheit im BNDG Neben den bereits dargelegten Defiziten einer schon von vornherein fehlenden Ermächtigungsgrundlage für die Filterkaskade und mithin für die Ausfilterung 2831 Teilweise prüft das BVerfG die Normenklarheit und Bestimmtheit gleichsam in Kombination mit der Verhältnismäßigkeit einer Norm im engeren Sinne, so etwa unlängst in BVerfGE 155, 119 (178 ff., Rn. 127 ff.); dahingehend auch BVerfGE 120, 378 (427); Tanneberger, Sicherheitsverfassung (Fn. 136), S. 350; Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 270 f. 2832 Exemplarisch zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung jeweils etwa BVerfGE 154, 152 (302, Rn. 308, 303 f., Rn. 311) – Hervorhebung nur hier. 2833 BVerfGE 154, 152 (303 f., Rn. 311). 2834 Für eine Differenzierung auch Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 270 f.
IV. Anwendung der Maßstäbe
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von deutscher bzw. inländischer Telekommunikation beinhaltete das BNDG auch keine normenklare Regelung, wie mit Daten, die nicht entsprechend § 10 IV 1 BNDG sofort gelöscht werden, weiter verfahren wird; ebensowenig war geregelt, ob und inwieweit diese weitergenutzt werden konnten2835. Dadurch blieb für betroffene Grundrechtsträger schon unklar, wie die Daten – die unstreitig niemals lückenlos aussortiert werden können – weiterverwendet wurden und welche rechtlichen Anforderungen und Sicherungen implementiert waren; dies muss in der parlamentarischen Diskussion geklärt werden und erfordert mithin eine dem Bestimmtheitsgebot entsprechende Regelung. An dieser mangelte es, weswegen die Norm die verfassungsrechtlichen Anforderungen insoweit verfehlte. aa) Keine normenklare Beschränkung auf differenzierte Datenerhebungszwecke Ein besonderes Augenmerk war bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auf die Datenerhebungszwecke des § 6 I 1 Nr. 1 bis 3 BNDG zu legen, die allenfalls eine vage Umschreibung erkennen ließen, wofür der Bundesnachrichtendienst auf das Mittel der strategischen Aufklärung von Ausland-Ausland-Telekommunikation überhaupt zurückgreifen dufte. Termini wie „frühzeitige Gefahren für die innere und äußere Sicherheit“ der Bundesrepublik zu erkennen, deren „Handlungsfähigkeit“ zu wahren oder gar ein pauschaler Verweis auf das politische Auftragsprofil der Bundesregierung in § 6 I 1 Nr. 3 BNDG waren derart offen gehalten, dass sie beinahe auf jede Gefahrenlage oder außenpolitische Situation applikabel waren und ermöglichten mithin schon keine normenklare und bestimmte Festlegung der Datenerhebungszwecke2836. In der Intention des Gesetzgebers sollte den Tatbestandsmerkmalen eine einschränkende Funktion auch von vornherein nicht zukommen2837. Durch die diffuse Umschreibung der Datenerhebungszwecke ließ sich für Betroffene nicht ansatzweise einschätzen, wann sie von der Überwachung betroffen sein könnten; eine solche, zumindest nach Gefahrenlagen differenzierte Umschreibung ist auch bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung regelungstechnisch durchaus möglich, wie 2835
BVerfGE 154, 152 (301, Rn. 304). Eine hinreichend normenklare und bestimmte Ausdifferenzierung der Datenerhebungszwecke bemängeln ebenfalls BVerfGE 154, 152 (253 f., Rn. 175 f., 301, Rn. 305); Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 275 f.; Deutsches Institut für Menschenrechte, Menschenrechtliche Anforderungen an die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung und ihre Kontrolle, AS-Drs. 18(4)653 E, S. 8 f.; Papier, Fernmeldeüberwachung (Fn. 26), S. 21 f.; dahingehend auch United Nations Office of the High Commissioner for Human Rights, Mandates of the Special Rapporteur on the promotion and protection of the rights of freedom of opinion and expression; the Special Rapporteur on the situation of human rights defenders and the Special Rapporteur on the independence of judges and lawyers, Ref. OL DEU 2/2016, S. 4 f.; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 13. 2837 BT-Drs. 18/9041, S. 22. 2836
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§ 5 I 3 G 10 illustriert2838. Deshalb ließ sich dem Vorwurf der mangelnden Normenklarheit und Bestimmtheit von § 6 I 1 BNDG auch nicht entgegenhalten, dass die Unbestimmtheit schlicht die Konsequenz des „außenpolitisch-strategischen Aufklärungsauftrags“ sei2839 und angesichts dieses Rechtsgebietes – anders als bei strafrechtlichen oder strafprozessualen Maßnahmen – eine Anwendung des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht derart streng gehandhabt werden müsse2840. Eine derartige Privilegierung nachrichtendienstlicher Ermächtigungsgrundlagen kann jedoch, wie dargelegt, weder aus außenpolitischen noch Geheimschutzgründen Bestand haben. Hinzukommt, dass die unbestimmten Überwachungszwecke eine ex-ante oder ex-post Kontrolle, die überdies durch Gerichte allenfalls in Ausnahmefällen erfolgen kann und beim Unabhängigen Gremium qualitativ erheblich beschränkt ist, nochmals erschweren2841. Die Tatbestandsmerkmale können sich mithin auch im Regelfall nicht im Wechselspiel zwischen behördlicher Kontrolle und gerichtlicher bzw. gerichtsähnlicher Kontrolle schrittweise konkretisieren und ausformen2842; erst recht nicht, wenn sie von vornherein besonders unbestimmt sind. Die Datenerhebungsvorschrift des § 6 I 1 BNDG verfehlte mithin schon die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Normenklarheit und Bestimmtheit2843. Etwas anderes würde freilich gelten, wenn es sich um Aufklärung ausschließlich zum Zweck der außenpolitischen Information der Bundesregierung handeln würde – eine solche war im BNDG naturgemäß aber noch nicht normiert. Das Bundesverfassungsgericht machte ferner auf eine eigentümliche Besonderheit des Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung unter Bestimmbarkeitsgesichtspunkten aufmerksam, wonach sonstige personenbezogene Daten von deutschen Staatsbürgern und Inländern, die nicht Art. 10 I GG unterfallen, auf Grundlage von § 6 BNDG erfasst werden können sollten2844. Die Norm ver2838 Insoweit lässt sich auch BVerfGE 100, 313 (372 f.) verstehen und bejahen. Damals wurde zwar eine weitergehende Bestimmung der Voraussetzungen der Überwachung aufgrund der spezifisch nachrichtendienstlichen Tätigkeit – entgegen der hiesigen Auffassung und der neueren Rechtsprechung – abgelehnt, allerdings war das G 10 mit seinen schon seinerzeit in § 3 I G 10 a. F. relativ konkret gefassten Gefahrbereichen der Bewertungsmaßstab. 2839 So aber Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526. 2840 Hiervon gehen jedoch aus Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 343; Brissa, Entwicklungen (Fn. 485), S. 771. 2841 Im Ergebnis so auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 275 f., der indes eine weitergehende Nutzung unbestimmter Rechtsbegriffe deshalb nicht tolerieren will, da schon keine hinreichende Kontrolle durch das Unabhängige Gremium implementiert sei. Die rechtstechnische Regelung mittels unbestimmter Rechtsbegriffe erfordere jedoch ebendiese Kontrolle. 2842 Allgemein auch BVerfGE 154, 152 (237 f., Rn. 137). 2843 A. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 343; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 526; Brissa, Entwicklungen (Fn. 485), S. 771. 2844 Zu dieser Zielrichtung von § 6 BNDG schon unter C. IV. 2. a).
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hielt sich hierzu jedoch schlechterdings überhaupt nicht und ohne die Gesetzesbegründung2845 wäre es unmöglich, eine derartige Intention – deren Sinn überdies apokryph bleibt – zur Datenerhebung in § 6 BNDG zu verorten. Damit fehlte es § 6 BNDG insoweit eklatant schon an der nötigen Normenklarheit und Bestimmtheit2846; recht eigentlich genügte die Norm auch schon dem Gesetzesvorbehalt an sich nicht, da der Gesetzgeber – entgegen seiner Zielrichtung –, wie auch bei der Filterkaskade und der Datenerhebung vom Ausland aus (§ 7 BNDG), gar keine diesbezügliche Regelung getroffen hatte. Jedenfalls ist die Befugnis zur Erfassung von Daten jenseits der Ausland-Ausland-Telekommunikation verfassungsrechtlich so nicht tragfähig. Zu unbestimmt war zudem die Regelung zur Datenauswertung in § 19 BNDG2847. Die Norm verwies auf die §§ 10, 11 BVerfSchG, die „Spannungslagen“ 2848 aus dem Bereich des inländischen Verfassungsschutzes bewältigen und mithin für den Aufgabenbereich des Bundesnachrichtendienstes keine sinnvolle Vorgaben für die Datenauswertung bereitstellen können2849. Für den spezifischen Bereich der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung enthielt weder die Ursprungsvorschrift des § 19 BNDG noch das Verweisungsziel im BVerfSchG qualifizierte Aussagen dazu, nach welchen Parametern die Daten ausgewertet werden durfte, wie und gegebenenfalls ob die Auswertungstiefe zu begrenzen war und welche Auswertungen aufgrund von verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverboten von vornherein ausscheiden mussten. Überdies führte die Nutzung der Verweisungstechnik zu einer weitergehenden Unklarheit der Norm2850. § 19 BNDG war somit schon zu unbestimmt um den verfassungsrechtlichen Vorgaben (noch) zu entsprechen. bb) Verweisungskaskaden statt normenklarer Übermittlungsbefugnisse Das Bundesverfassungsgericht legte zudem zu Recht ein verstärktes Augenmerk auf die Normenklarheit und Bestimmtheit der Datenübermittlungsvorschriften, die diesbezüglich bisher kaum im Fokus der Aufmerksamkeit des Schrifttums gestanden hatten. Damit ist ein durchgreifendes verfassungsrechtliches Defizit 2845
BT-Drs. 18/9041, S. 24. Vergleichbar harsche Bewertung auch in BVerfGE 154, 152 (302, Rn. 308); wie hier im Ansatz auch Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 15 f. 2847 Das BVerfG verhält sich zur Bestimmtheit der Norm und den in ihr vorgesehenen Verweise nicht, sondern beschränkt sich darauf, ihre Unverhältnismäßigkeit festzustellen, BVerfGE 154, 152 (302, Rn. 307). 2848 BVerfGE 154, 152 (266, Rn. 215). 2849 Instruktiv Kutzschbach (Fn. 490), § 6 Rn. 76 ff., der auf § 2 I BNDG zurückgreift, um die Vorschrift insoweit zu präzisieren. Hierauf verweist § 19 BNDG aber gerade nicht, was den verfehlten Regelungscharakter auch allgemein offenlegt; siehe zum Ganzen auch schon C. IV. 2. c). 2850 Dahingehend auch BVerfGE 154, 152 (302, Rn. 307). 2846
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angesprochen, was durch die bereits skizzierten und kritisierten2851 unzähligen Verweise in den nachrichtendienstlichen Fachgesetzen – weit über die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung und deren Übermittlungsnormen hinaus – dem gesamten Rechtsgebiet immanent ist2852. Konkret im Fall der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung war § 24 BNDG mit seinen verschiedensten (Ketten-)Verweisungen auf die §§ 19, 20 BVerfSchG Kulminationspunkt nicht hinreichend normenklarer und bestimmter Übermittlungsbefugnisse, die einer verfassungskonformen Ausgestaltung nicht entsprechen. § 24 I 1 BNDG war mit dem Gebot der Normenklarheit und Bestimmtheit schon nicht vereinbar, da er Datenübermittlungen pauschal erlaubte, wenn die Übermittlung zur Erfüllung der Aufgaben des Bundesnachrichtendienstes erforderlich war oder der Empfänger diese für „erhebliche Zwecke der öffentlichen Sicherheit“ benötigte2853. Zunächst lässt sich hieraus nicht ersehen, zu welchen Zwecken die Daten überhaupt übermittelt werden dürften, da das gesamte Aufgabengebiet des Bundesnachrichtendienstes in Bezug genommen wird; ferner ist nicht konkretisierbar, welche mit dem Ordnungsrecht befassten Behörden zu den Empfängern gehören, weswegen der Empfängerkreis zu unbestimmt ist2854. Im Ergebnis können Daten, die durch einen besonders schweren Grundrechtseingriff erhoben worden sind, damit ohne einen irgendwie konkretisierten Zweck und ohne eine Eingrenzung der potentiellen behördlichen Übermittlungsziele transferiert werden. Das Bundesverfassungsgericht verneinte deshalb zu Recht schon im Ansatz eine verfassungskonforme Ausgestaltung des § 24 I 1 BNDG, da sich aus der Norm schlechterdings nicht herauslesen ließ, warum und wohin Daten aus der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung bei Transfers an inländische öffent2851
Siehe B. III. 1. b); B. III. 2. b); B. III. 3. e). So auch Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 182. 2853 BVerfGE 154, 152 (303 f., Rn. 311). 2854 BVerfGE 154, 152 (304, Rn. 311); dahingehend auch schon in einem obiter dictum BVerfGE 133, 277 (330 f.; Rn. 126); tendenziell großzügiger noch BVerfGE 141, 220 (334, Rn. 306) in Bezug auf § 20v V 1 BKAG a. F., der eine Übermittlung an „sonstige öffentliche Stellen“ von Daten erlaubte, die das BKA mittels seiner Befugnisse zur Terrorismusbekämpfung erhoben hatte. Gleichwohl hielt der Erste Senat die Vorschrift nicht für zu unbestimmt, da sich die Adressaten der Übermittlung aus den Zuständigkeitsvorschriften ergäben; a. A. in Bezug auf § 19 I 2 BVerfSchG, wo das Tatbestandsmerkmal des „erheblichen Zwecks der öffentlichen Sicherheit“ ebenfalls Anwendung findet, wohl Bock (Fn. 866), § 19 BVerfSchG Rn. 18, der jedenfalls von einer hinreichenden Konkretisierung des Begriffs der „öffentlichen Sicherheit“ ausgeht. § 24 I 1 BNDG ist nach h. M. parallel zu § 24 III BNDG i.V. m. § 20 BVerfSchG auch für Übermittlungen an Polizei und Strafverfolgungsbehörden, in Fällen ohne Staatsschutzbezug, anwendbar, weswegen durchaus auch hier ein Datentransfer an operative Behörden jedenfalls denkbar ist, siehe dazu ausführlich Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 394 ff.; ebenso König, Trennung (Fn. 12), S. 272 f. In Bezug auf § 19 I 1 BVerfSchG a. F. (sinngemäß der heutige § 19 I 2 BVerfSchG) verneint die hinreichende Bestimmtheit des Tatbestandsmerkmals der „erheblichen Zwecke der öffentlichen Sicherheit“ mit Blick auf die präzise Festlegung der Empfängerbehörden auch Gazeas, ebda., S. 419 f. 2852
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liche Stellen überhaupt übermittelt werden sollen. Die Norm hat schlicht Blankettcharakter. Damit verfehlt sie grundlegend den Sinn des Gesetzesvorbehalts in Form des Gebots der Normenklarheit und Bestimmtheit2855. Die Empfängerbehörden ließen sich ferner auch bei Datenübermittlungen an ausländische öffentliche Stellen nicht hinreichend präzise ermitteln, da diese aus den offenen Übermittlungszwecken des § 24 II 1 BNDG in Verbindung mit § 19 III BVerfSchG nicht ersichtlich waren2856. Eine Beschränkung, etwa auf befreundete Nachrichtendienste, mag zwar in der Praxis weitgehend erfolgen2857, sie lässt sich jedoch der Norm nicht entnehmen. Mithin ist schon nicht erkennbar, an welche mannigfaltigen internationalen Empfänger Daten aus der AuslandAusland-Überwachung übermittelt werden können. Zudem verfehlte § 19 III 2 BVerfSchG deutlich die Anforderungen an eine normenklare Vergewisserung über den rechtsstaatlichen Umgang mit Daten, die durch den Bundesnachrichtendienst übermittelt werden und hierdurch aus dem Einwirkungsbereich deutscher Stellen und des deutschen Rechts de facto entlassen werden2858. Allein aus der Formulierung, dass die Übermittlung unterbleibt, wenn auswärtige Belange der Bundesrepublik oder überwiegend schutzwürdige Interessen der Betroffenen entgegenstehen, lässt sich das umfangreiche Prüfungsprogramm für Datenübermittlungen ins Ausland nicht im Ansatz hinreichend klar verorten2859. Bei Zugrundelegung dieser Verhältnismäßigkeitsanforderungen ist offensichtlich, dass sich etwa die Vergewisserung über datenschutzrechtliche Mindeststandards im Empfängerstaat, Protokollierungspflichten und der besondere Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen § 19 III 2 BVerfSchG nicht entnehmen lassen. § 24 II 1 BNDG in Verbindung mit § 19 II BVerfSchG mit seinem weiteren Verweis auf Art. 3 des NATO-Truppenstatut-Zusatzabkommens ist ferner schon bei reiner Gesetzeslektüre ein Sinnbild für unüberschaubar gewordene Verweisungskaskaden geworden. Eine sichere Bestimmung, zu welchen Zwecken auf dieser Grundlage Daten an die NATO-Stationierungsstreitkräfte übermittelt werden dürfen, war durch die dreigliederige Verweisung auf eine kaum bestimmte völkervertragliche Norm, die „ihrerseits weit ausladend und offen einen allge2855 Bestimmtheitsprobleme nicht adressiert in der einschlägigen Kommentierung von Gusy (Fn. 229), § 24 BNDG Rn. 3. 2856 BVerfGE 154, 152 (306, Rn. 316); allgemein für eine verfassungswidrige Unbestimmtheit der Datenübermittlungsnorm an ausländische Empfänger auch Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 144 f., wobei allerdings nicht recht klar wird, ob sich die Kritik auf die Erhebungsbefugnisse oder nur auf die Übermittlungsnorm bezieht. 2857 Beispiel bei Bock (Fn. 866), § 19 BVerfSchG Rn. 28; siehe hingegen die Einschränkung in § 7a I 1 G 10. 2858 BVerfGE 154, 152 (306, Rn. 317); kritisch wie instruktiv zur unbestimmten, lediglich allgemeinen Umschreibung in § 19 III 2 BVerfSchG Siems (Fn. 248), § 7 Rn. 70; ders., Folgewirkungen (Fn. 98), S. 6. 2859 So auch in Bezug auf § 19 III 2 BVerfSchG im Lichte des Bestimmtheitsgebots erneut Siems (Fn. 248), § 7 Rn. 70.
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meinen Rahmen der Zusammenarbeit regelt“, schlechterdings nicht möglich, weswegen die Anforderungen an die Normenklarheit und Bestimmtheit auch hier evident verfehlt wurden2860. Nimmt man das Bestimmtheitsgebot ernst, wird man schwerlich zu einer anderen Einschätzung gelangen können, als dass derartige Verweisungsketten eine grundrechtskonforme, präzise Auslegung von Übermittlungszwecken aus dem Gesetzestext heraus generell weitgehend unmöglich machen. Große verfassungsrechtliche Zweifel aufgrund einer mehrgliederigen Verweisungskette wirft auch § 24 II 1 BNDG in Verbindung mit § 19 IV BVerfSchG auf. Das Bundesverfassungsgericht hat dies letztlich jedoch offengelassen und die Vorschrift (erst) materiell an der fehlenden Übermittlungsschwelle scheitern lassen2861. Es erscheint jedoch nur konsequent, die gleichermaßen grundrechtswie anwenderunfreundliche Rechtstechnik der Verweisungsketten auch insoweit als Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot zu werten. Im besten Sinne normenklar sind diese nämlich keinesfalls; sie erschweren letztlich den bedrohungsadäquaten Grundrechtsschutz durch die Inbezugnahme von Vorschriften, die gerade auf die Spezifika der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nicht ausgerichtet sind. Die Nutzung von Verweisungskaskaden führt auch hier zur Unbestimmtheit der Übermittlungsbefugnis. Aus demselben Grund ist letztlich auch die Übermittlungspflicht aus § 24 III BNDG in Verbindung mit § 20 I 1, 2 BVerfSchG verfassungsrechtlich nicht haltbar. Erneut nutzt das Gesetz eine Verweisungskaskade auf § 20 I 2 BVerfSchG und von dort weiter in die §§ 74a, 120 GVG und Art. 73 I Nr. 10 lit. b und c GG. Sofern man derartige Verweisungsketten – wie hier – aufgrund des grundrechtlichen Bestimmtheitsgebots ablehnt, kann auch diese Normenkette die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht wahren. Dies gilt insbesondere in Fällen der Übermittlung von Daten an Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, die aus einem besonders schweren Grundrechtseingriff stammen. Gerade für die potentiell durchgreifende Grundrechtsgefährdung durch die Einschaltung operativer Stellen bedarf es klarer Normen, die ohne kaum mehr nachvollziehbare Kaskadenverweisungen auskommen2862. Zu unbestimmt war nach Ansicht des Bundesverfassungsgericht das Verweisungsziel des § 20 I 2 BVerfSchG auch, wenn es „sonstige Straftaten“ als Übermittlungszweck anerkennt, die von der verfassungs2860 BVerfGE 154, 152 (306, Rn. 314); dezidiert kritisch zur Normenklarheit der Übermittlungszwecke im NATO-Truppenstatut und insbesondere in Art. 3 ZA-NTS auch schon D. Deiseroth, Alles legal? – Zu den rechtlichen Befugnissen und Grenzen der US-Nachrichtendienste in Deutschland, in: DVBl. 2015, S. 197 (201); a. A. Siems (Fn. 248), § 7 Rn. 66; Bock (Fn. 866), § 19 BVerfSchG Rn. 24, jeweils direkt zu § 19 II BVerfSchG. 2861 BVerfGE 154, 152 (305, Rn. 313). 2862 Verfassungsverstoß insoweit angedeutet, jedoch letztlich offengelassen und anderweitig begründet in BVerfGE 154, 152 (304 f., Rn. 312).
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feindlichen Zielsetzung, der Motivlage des Täters oder seiner Verbindung zu einer derartigen Organisation abhängen2863. Insgesamt verfehlten und verfehlen damit ausnahmslos alle Übermittlungsvarianten des § 24 BNDG schon die Anforderungen an eine hinreichend normenklare und bestimmte Übermittlungsschwelle für Daten, die aus einem besonders schweren Grundrechtseingriff herrühren. cc) Unbestimmtheit des Kooperationsrechts Die §§ 13 ff. BNDG bilden ein eigenes Datenerhebungsregime innerhalb der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, weswegen sich Bestimmtheitsmängel spiegelbildlich zu § 6 BNDG auch hier zeigen. §§ 13 IV, 14 BNDG litten nach richtiger Ansicht der Ersten Senats – analog zu § 6 BNDG – schon an einer viel zu unbestimmten Zwecksetzung der nachrichtendienstlichen Kooperation, die nicht an normenklare Erkenntnisziele gebunden ist2864. Die Befugnis zur automatisierten Datenübermittlung nach § 15 BNDG verfügte ebenfalls nicht über eine bestimmte Regelung zur Aussonderung der Inlandstelekommunikation sowie derjenigen aus besonderen Vertrauensbeziehungen2865. Analog zu den Bestimmtheitsmängeln bei Datenübermittlungen an ausländische öffentliche Stellen in Einzelfällen verfehlte auch § 15 BNDG die Anforderungen an eine hinreichend normenklare Rechtsstaatlichkeitsversicherung im Empfängerland deutlich und ließ darüber hinaus Regelungen zum Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen und Beschränkungen für etwaige Weiterleitungen an Drittempfänger vermissen2866. Gerade bei formalisierten Kooperationen, die nach hiesigem Verständnis an die Grenze des grundrechtlich Erlaubten gehen, bedarf es aber besonders bestimmter Regelungen, um das Eingriffsgewicht gerade noch grundrechtskonform zu begrenzen. dd) Teilweise unzureichende Normenklarheit der Eignungsprüfung Eine weitere, sehr intensive Ermächtigungsgrundlage zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis war nicht Gegenstand der jüngsten Überprüfung des BNDG durch das Bundesverfassungsgericht2867. Sie führt in der rechtswissenschaftlichen 2863 BVerfGE 154, 152 (305, Rn. 312); zur extrem weiten und zu unbestimmten Öffnung für sonstige Straftaten in § 20 I 2 BVerfSchG instruktiv schon früh Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 336 f. 2864 So erneut BVerfGE 154, 152 (281 f., Rn. 253, 307, Rn. 321); so auch Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 18; siehe ferner unter C. IV. 2. g). 2865 BVerfGE 154, 152 (308, Rn. 323). 2866 BVerfGE 154, 152 (308, Rn. 323). 2867 Warum die Vorschrift durch die Beschwerdeführer nicht angegriffen wurde, ist nicht bekannt. Angesichts ihrer extremen Streubreite und Eingriffsintensität überrascht dies jedoch. Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 9, betont zu Recht, dass es auch jenseits der vom BVerfG verworfenen Normen verfassungsrechtlichen Änderungsbedarf im BNDG geben könne. Hier zeigt er sich ganz offen.
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Diskussion zu Unrecht ein Schattendasein2868, da sie potentiell einen beinahe unbeschränkten Zugriff auf Telekommunikationsnetze erlaubt. Die Eignungsprüfung nach § 12 BNDG dient im Wesentlichen zur Bestimmung von Selektoren oder zur Überwachung geeigneten Telekommunikationsnetzten 2869. Gegen ihre Normenklarheit und Bestimmtheit ist ebenfalls verfassungsrechtlich Einiges zu erinnern. Zwar begegnet die eigentliche Erhebungsbefugnis in § 12 I BNDG2870 keinen verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsbedenken, da sie eindeutig genug den Zweck zur Auffindung geeigneter Suchbegriffe und Telekommunikationsnetze für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung heraushebt. Auch die Verfahrensvorschriften des Abs. 2 lassen sich hinreichend klar aus dem Normtext entnehmen. Eine mit dem Gebot der Normenklarheit und Bestimmtheit – insbesondere im Lichte der BNDG-Entscheidung – unvereinbare Verweisungskette enthält indes § 12 III 2 BNDG, der § 5 VII 2 bis 8 BSIG entsprechend für anwendbar erklärt. Hiermit wird auf Regelungen zum Kernbereichsschutz Bezug genommen, die schon aufgrund ihrer überragenden Bedeutung zum Schutz der Menschenwürde nicht durch einen Verweis in ein gänzlich anderes Gesetz geregelt sein sollten2871. Eine normenklare Begrenzung einer Zweckänderung von Daten, die aus der Eignungsprüfung stammen, lässt § 12 V BNDG überdies vermissen. Die Zweckänderung in Nr. 1 der Vorschrift ist noch hinreichend normenklar bestimmt, da das Tatbestandsmerkmal „Leib, Leben oder Freiheit einer Person“ schon aus dem Wortlaut selbst eindeutig ist und zudem denjenigen besonders wichtigen Rechtsgütern entspricht, für die das Bundesverfassungsgericht regelmäßig schwerste Grundrechtseingriffe zulässt; insoweit kann auch eine Klärung durch langjährige Rechtsprechung angenommen werden kann2872. Dies wird man jedoch nicht für den pauschalen Verweis in § 12 V Nr. 2 BNDG annehmen können, der eine Zweckänderung auch bei einer erheblichen Gefahr pauschal für die „Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ erlaubt2873. Hiermit kann zunächst entsprechend der Aufgabenstellung des Bundesnachrichtendienstes nur die äußere Sicherheit gemeint sein, was dennoch eine sehr weite Auslegung er-
2868 Zur Vorschrift aber etwa Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 164; Dietrich (Fn. 771), § 12 BNDG Rn. 1 ff. 2869 Siehe zu ihrer Funktionsweise schon F. II. 2. a) bb) (2) (a). 2870 Zur Qualifikation als eigenständige Eingriffsnorm siehe nur Dietrich (Fn. 771), § 12 BNDG Rn. 1, 3. 2871 Eine jedenfalls dysfunktionale Regelung des Kernbereichsschutzes sieht auch Dietrich (Fn. 771), § 12 BNDG Rn. 8, freilich ohne gezielt verfassungsrechtliche Bedenken anzumelden. 2872 Zu diesem Tatbestandsmerkmal etwa BVerfGE 154, 152 (253, Rn. 174, 277 f., Rn. 242); 141, 220 (270 f., Rn. 108); 125, 260 (330); 120, 274 (326 ff.). 2873 Kritisch zu diesem Tatbestandsmerkmal des Rechtsgüterkataloges der Übermittlungsgründe auch BfDI, Stellungnahme (Fn. 1175), S. 7.
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möglicht2874. Eine hinreichend normenklare Beschränkung auf ein überragend wichtiges Rechtsgut, wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes – im Sinne der tradierten Tatbestandsmerkmale höchster Rechtsgüter –, ist hiermit aber nicht verbunden2875. Dies gilt auch angesichts der sprachlichen Nähe, da das Tatbestandsmerkmal der „Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ nicht in gleicher Weise als besonders wichtiges Rechtsgut durch Rechtsprechung und Literatur ausgeformt ist und mithin zu unbestimmt bleibt. ee) Fazit: Bestimmtheitsmängel determinieren und reduzieren Verhältnismäßigkeitsprüfung Zahlreiche Vorschriften des BNDG scheiterten in Karlsruhe schon am Grundsatz der Normenklarheit und Bestimmtheit; teils gehen die Defizite auch über die in der Entscheidung aufgezeigten noch hinaus2876. In Ansehung der unpräzisen Beschreibung der Datenerhebungszwecke, der Verweisungskaskaden in den Übermittlungsvorschriften und der fehlenden Bestimmbarkeit von Datenempfängern sowie der nicht in dezidierten Anforderungskatalogen niederlegten verfahrensrechtlichen Sicherungen bei Datentransfers ins Ausland sind fast alle entscheidenden Normen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung schon insoweit mit dem Fernmeldegeheimnis und der ergänzend hinzutretenden Pressefreiheit unvereinbar. Für die Prüfung anhand der Verhältnismäßigkeitsanforderungen verbleibt mithin nur noch ein eingeschränkter Raum. Zugleich wird offensichtlich, welch wesentliche Bedeutung dem Bestimmtheitsgrundsatz bei der verfassungsrechtlichen Evaluation sicherheitsrechtlicher Normen zukommt. b) Vielfache Mängel in Ansehung der Verhältnismäßigkeitsanforderungen aa) Datenerhebungs- und Verarbeitungsvorschriften unangemessen ausgestaltet Die Datenerhebungsvorschriften der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ließen unter Zugrundelegung der hier vertretenen Verhältnismäßigkeitsanforde2874 Dietrich (Fn. 771), § 12 BNDG Rn. 12, zeigt auf, dass hiervon auch der internationale Drogen- und Waffenhandel und die Proliferation als allgemeine Gefahren für die äußere Sicherheit umfasst sein können. 2875 Zu dieser Rechtsgutschwelle für Zweckänderungen instruktiv BVerfGE 154, 152 (253, Rn. 174, 277 f., Rn. 242); zum Unterschied zwischen Bestand des Staates oder „nur“ seiner Sicherheit als Rechtsgut siehe Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 232, der in Bezug auf BVerfGE 120, 274 (328) insoweit eine nochmalige Steigerung der überragend wichtigen Rechtsgüter, die eine Online-Durchsuchung rechtfertigen, erblickt. Legte man dieses plausible Verständnis zu Grunde, wäre eine Reduktion auf den „Bestand des Staates“ im Rahmen der normenklaren Bestimmung von Rechtsgütern auch hier angezeigt, um die Beschränkung einer Übermittlungsmöglichkeit zum Schutz überragend wichtiger Rechtsgüter hinreichend klar zu adressieren. 2876 Gänzlich a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 342 f.
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rungen zahlreiche Begrenzungsfaktoren vermissen bzw. gestalteten diese nicht hinreichend aus. Zunächst fehlt es an einer Regelung, die die strategische Überwachung quantitativ begrenzt und damit eine absolut unverhältnismäßige totale und globale Überwachung rechtlich verhindert2877. Ohne eine solche Begrenzung können schon unverhältnismäßig große Datenmengen initial erfasst und ausgewertet werden. Zudem sind in den §§ 6 ff. BNDG keine strukturierenden Verfahrensregelungen getroffen worden, die die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung an vordefinierte Erkenntnisziele binden, geographische Überwachungsregionen ausweisen, Selektoren dementsprechend ausrichten und hierdurch die „weitere Verarbeitung und Nutzung“ erlangter Daten einem überprüfbaren datenschutzrechtlichen Zweck zuführen2878. Die Tatsache, dass die Selektoren nicht in der Anordnung selbst vorab benannt werden müssen, ist nach hiesiger Ansicht für den Bereich der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung indes hinnehmbar. Unverhältnismäßig ist demgegenüber die Möglichkeit in § 9 III BNDG, Anordnungen theoretisch unbegrenzt zu verlängern2879. Problematisch erscheint ferner der normative Rahmen zum Einsatz von Selektoren, die zur gezielten Steuerung von einzelnen Telekommunikationsteilnehmern genutzt werden sollen2880. Entsprechend der hiesigen Ansicht bedarf es eines Ausschlusses einer gezielten Steuerung von Deutschen und Inländern im weiten Sinne, eines ultima ratio-Vorbehaltes sowie einer normativen Begrenzung auf Fälle, bei denen die Grenze zu einer echten Individualmaßnahme im Sinne des § 3 G 10 noch nicht überschritten ist2881. Zudem muss der Einsatz dieses Instrumentes an eine schwerwiegende Gefahr oder eine besonders schwere Straftat als Einschreitschwellen gekoppelt sein. All dies findet sich in den §§ 6 ff. BNDG nicht. Überhaupt fehlt es an einer unmittelbaren gesetzlichen Regelung für Fälle, in denen positiv eine gezielte Erfassung von Ausländern im Ausland erlaubt wird. Auch die negative Abgrenzung durch die Sonderregelung für Unionsbürger in § 6 III BNDG, die eine partielle Beschränkung des ansonsten schlicht unterstellten, omnipräsenten Einsatzes von gezielten Überwachungen vorsieht, bietet – vorbehaltlich ihrer Unionsrechtskonformität – keine hinreichende Begrenzung der gezielten Erfassung auf Personen, die Gefahrverursacher, „Nachrichtenmittler“ oder als sonstige Informanten von gezielt personenbezogenem Interesse sind2882.
2877 Zur Notwendigkeit BVerfGE 154, 152 (250 f., Rn. 168); 100, 313 (376); so auch schon Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 11; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 184; Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 164; siehe auch C. IV. 2. e); a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 341 f. 2878 BVerfGE 154, 152 (302, Rn. 306). 2879 Siehe dazu schon C. IV. 2. e); a. A. BVerfGE 154, 152 (255, Rn. 179). 2880 Sehr allgemein auch BVerfGE 154, 152 (302, Rn. 306). 2881 F. III. 4. d) cc) (2) (c). 2882 BVerfGE 154, 152 (257, Rn. 187); zu dieser Anforderung ausführlich unter F. III. 4. d) cc) (2) (b).
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Bedenklich ausgestaltet ist zudem die Erfassung und gesamthaft bevorratende Speicherung von Metadaten, die in § 6 II, IV BNDG nur anklingt. Eine positive Regelung, die die Speicherung von Metadaten jenseits einer rein zeitlichen Limitierung – welche insoweit verfassungskonform ausgestaltet ist2883 – begrenzt, fehlt für die gesamte Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Theoretisch können Metadaten somit quantitativ unbegrenzt gespeichert werden, was jedenfalls an eine verfassungsrechtlich absolut unzulässige globale und pauschale (Meta-) Datenüberwachung heranreichen könnte, ohne dass normative Sicherungen greifen. Dies ist mit Art. 10 I GG unvereinbar. Überdies begegnet die gesamte Datenauswertungsebene im BNDG erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. § 19 BNDG in Verbindung mit §§ 10, 11 BVerfSchG genügt – neben seiner schon verfassungswidrigen Unbestimmtheit – auch den Verhältnismäßigkeitsanforderungen nicht, da eine Datenauswertung durch die allgemeine und unspezifische Norm pauschal bei der Erforderlichkeit für den Bundesnachrichtendienst erlaubt wird2884. Ferner werden keine Verhältnismäßigkeitsabwägungen für Selektoren vorgesehen, Diskriminierungsverbote implementiert und erst recht keine Begrenzungen der Datenauswertungsebenen, der technischen Mittel und Softwareanwendungen oder der eingesetzten Algorithmen normiert2885. Ein Datenverwendungsrecht sieht das BNDG damit nicht einmal in Grundzügen vor. Im Ergebnis ist damit auch § 19 BNDG mit Art. 10 I GG unvereinbar. Letztlich verfehlen die §§ 6 ff. BNDG die Verhältnismäßigkeitsanforderungen an den besonderen Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen und des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung bei einer strategischen Überwachung. Vertraulichkeitsbeziehungen sind überhaupt nicht besonders geschützt, weswegen die Vorschriften schon insoweit unverhältnismäßig im engeren Sinne sind2886. Sie sehen weder Einschreitschwellen für die gezielte Erfassung von Journalisten und Rechtsanwälten vor, noch nachträgliche Auswertungsregelungen, wenn die Schutzbedürftigkeit erst ex-post erkannt wird2887. Ebensowenig sind die nach hiesiger Ansicht notwendigen Zweifelsregelungen und eine Kontrolle bei der Einordnung von ausländischen Journalisten und Rechtsanwälten hinsichtlich ihrer Schutzbedürftigkeit vorgesehen. Damit verstößt die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung auch insoweit gegen Art. 10 I GG in Verbindung mit Art. 5 I 2 GG bzw. Art. 12 I GG. Der Kernbereichsschutz ist zwar allgemein in § 11 BNDG implementiert, jedoch fehlt es an einer Regelung, die bei Kernbereichsverdacht nur noch eine 2883 A. A. Dietrich, Anmerkung (Fn. 166), S. 178, der zumindest an der nachrichtendienstlichen Zweckmäßigkeit zweifelt. 2884 BVerfGE 154, 152 (302, Rn. 307); Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 15 f. 2885 Zu diesen Anforderungen F. III. 4. d) cc) (3). 2886 So auch BVerfGE 154, 152 (302, Rn. 306). 2887 Zu den diesbezüglichen Anforderungen F. III. 4. d) cc) (4).
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
Aufzeichnung erlaubt und diese vor der Auswertung einer unabhängigen Kontrolle zuführt2888. Da hier Verstöße gegen Art. 1 I GG in Verbindung mit Art. 10 I GG drohen, ist die Regelung von vornherein nichtig. Zuletzt sind auch die Löschvorschriften im BNDG unverhältnismäßig im engeren Sinne ausgestaltet. Die allgemeine Norm des § 20 BNDG in Verbindung mit § 12 BVerfSchG erlaubt Speicherungen undifferenziert bis zu zehn (!) Jahren2889. Die Vorschrift enthält keine Regelung zur sofortigen Auswertung der Daten und Löschung nicht mehr benötigter Daten auf jeder Auswertungsstufe und keine sich wiederholenden Prüfungspflichten, ob die Daten weiterhin benötigt werden2890. Bei einem gestuften Auswertungsprozess, wie der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, ist dies jedoch für die verfassungskonforme Begrenzung des Datenbestandes unverzichtbar2891. bb) Übermittlungsbefugnisse ohne belastbare Einschreitschwellen und Rechtsgüterkataloge Die Übermittlungsbefugnisse für Daten, die durch die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung gewonnen werden, litten – neben ihren Bestimmtheitsmängeln – (fast) alle unter demselben verfassungsrechtlichen Defizit, weswegen sie gemeinsam beurteilt werden können. § 24 BNDG in Verbindung mit §§ 19 II, III, IV, 20 I 1, 2 BVerfSchG2892 sieht in keiner Fallvariante die von Verfassung wegen notwendige Übermittlungsschwelle der hinreichend konkretisierten Gefahr bzw. der konkreten Gefahr für Übermittlungen von Daten vor, die aus einer gezielten Erfassung von Ausländern im Ausland stammen; ebensowenig werden bestimmte Tatsachen für einen erhärteten Tatverdacht bei Übermittlungen zu Strafverfolgungszwecken vorgesehen2893. Gleiches gilt für die Anforderungen an einen qualifizierten Rechtsgüterschutz. Die Übermittlungsvorschriften sehen – außer in 2888 Siehe zu diesen Bedenken schon C. IV. 2. d); allgemein zur Unverhältnismäßigkeit auch BVerfGE 154, 152 (302, Rn. 306), jedoch ohne weitere Begründung. 2889 Zu den Löschvorschriften C. IV. 2. c); kritisch zur Verhältnismäßigkeit des § 20 BNDG auch Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 198. 2890 Zu diesen Anforderungen F. III. 4. d) cc) (5). 2891 Das Bundesverfassungsgericht hat sich hierzu, wohl auch aufgrund der Vielzahl an verfassungsrechtlichen Mängeln in den §§ 6 ff. BNDG, schon nicht mehr verhalten. 2892 Siehe zu durchgreifenden verfassungsrechtlichen Zweifeln bei einer Übermittlung von Nachrichtendiensten an Strafverfolgungsbehörden in Bezug auf § 20 I 1, 2 BVerfSchG in Verbindung mit § 9 III BNDG a. F. schon ausführlich Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 337 ff., 357, zu § 19 I 1 BVerfSchG und somit auch zu § 9 I BNDG a. F. ebenfalls S. 409 ff., 420. Dort freilich noch ohne die Annahme eines besonders schweren Grundrechtseingriffes und den hieraus resultierenden, nochmals weitergehenden Anforderungen bei Anwendung des Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung; zu § 19 I 1 BVerfSchG aus neuester Warte nunmehr auch Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 14 f. 2893 Pointiert B BVerfGE 154, 152 (303, Rn. 310).
IV. Anwendung der Maßstäbe
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§ 19 IV BVerfSchG – ausnahmslos keine Begrenzung der Übermittlung von Daten zu Gefahrenabwehrzwecken zum Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter vor bzw. bei Zwecken der Strafverfolgung zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten. Damit genügen sie den Verhältnismäßigkeitsanforderungen, konkret dem hier streng anzuwendenden Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung2894, nicht. Das besonders hohe Eingriffsgewicht der anlasslosen, allein final angeleiteten Datenerhebung wird auf Übermittlungsebene durch die Vorschriften nicht ansatzweise hinreichend kongruent abgebildet2895. Zudem fehlen Protokollierungspflichten und Verpflichtungen zur Angabe der konkret in Anspruch genommenen Übermittlungsnorm2896. Die Berichtspflicht an die Bundesregierung gemäß § 33 BNDG ist gleichfalls verfassungsrechtlich bedenklich. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass § 33 BNDG als Übermittlungsgrundlage für personenbezogene Daten ausgelegt ist, da § 7 I G 10 auf § 33 BNDG für Übermittlungen an die Bundesregierung verweist. Damit muss dies im Umkehrschluss auch für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung der Fall sein. Die Regelung sieht aber keine besondere Beschränkung der Daten auf die außenpolitische Regierungstätigkeit der Bundesregierung mit flankierendem Schutz bei eventuellen Weiterübermittlungen vor. Weder ist eine zweckändernde Weiterübermittlung geregelt noch sind für die Fälle, in denen Daten initial zur ausschließlichen Information der Bundesregierung über außen- und sicherheitspolitische Vorgänge erhoben wurden, Zweckänderungen grundsätzlich ausgeschlossen. cc) Kooperationsrecht mit äquivalenten Mängeln Die §§ 13 ff. BNDG sind bereits aufgrund der Vielzahl der Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot mit Art. 10 I GG unvereinbar. Die dort beschriebenen Mängel umfassen bereits einen Großteil der verfassungsrechtlichen Defizite. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten im engeren Sinne war aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts vor allem ergänzend zu bemängeln, dass §§ 14 und 15 BNDG auf technische wie nachträgliche, manuelle Schutzvorrichtungen für besondere Vertraulichkeitsbeziehungen sowie eine Prüfpflicht für fremde Selektoren hinsichtlich deren Zielrichtung und Wirkweise zumindest anhand von Stichprobenkontrollen verzichten2897. Damit kann eine unverhältnismäßige strategische 2894 Zur strikten Anwendung des Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung in Fällen besonders schwerer Grundrechtseingriffe instruktiv Zöller, Rechtsrahmen (Fn. 240), S. 192; zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen schon B. II. 5. sowie F. III. 5. a). 2895 Zur „Kongruenz“ zwischen Datenerhebung- und Übermittlung als Kernstück der hypothetischen Datenneuerhebung stellvertretend Siems, Folgewirkungen (Fn. 98), S. 2. 2896 BVerfGE 154, 152 (307, Rn. 319). 2897 BVerfGE 154, 152 (308, Rn. 322); zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen F. III. 5. b) cc).
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
Auslandstelekommunikationsüberwachung bei etwaigen Verstößen der Partnerdienste gegen Absprachen aber schon vor vornherein nicht unterbunden werden. Überdies fehlt die tatbestandliche Beschreibung der Gefahrenlagen, die nach hiesiger Ansicht – entgegen dem Bundesverfassungsgericht – eine automatisierte Übermittlung von selektierten und unselektierten Metadaten an Partnerdienste überhaupt erst als gefahrerforschungsähnliche Einschreitschwelle legitimieren könnten. dd) Unabhängiges Gremium und administrativer Datenschutz grundlegend unzureichend Am offensichtlichsten waren die verfassungsrechtlichen Mängel indes auf Ebene der unabhängigen Kontrolle der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Freilich wurde das Unabhängige Gremium seit seiner Schaffung von durchgreifenden Zweifeln begleitet2898. Die spektakuläre Neuausrichtung der Kontrollstruktur wie -intensität durch das Bundesverfassungsgericht entzieht der Institution jedoch schon im Ansatz ihre Berechtigung2899. Selbst den frühen Anforderungen aus dem ersten Abhörurteil des Bundesverfassungsgerichts hätte das Unabhängige Gremium indes schon nicht entsprochen. Eine verhältnismäßige Nachrichtendienstkontrolle konnte durch das Gremium nie ansatzweise sichergestellt werden. Die sehr beschränkten Kontrollmöglichkeiten, die Tätigkeit seiner Mitglieder im Nebenamt zur fordernden strafrichterlichen Position am Bundesgerichtshof, seine organisatorische Abhängigkeit vom Präsidium des Gerichtshofes ohne eigene Budget- und Personalhoheit, das Fehlen informationstechnischen Sachverstandes sowie die Möglichkeit, ihm gegenüber Informationen aufgrund der Third Party Rule zurückzuhalten, offenbartem bereits im ersten Zugriff die verfassungsrechtliche Unzulänglichkeit2900. Fraglich und umstritten ist ferner, ob schon die Berufung der Mitglieder des Unabhängigen Gremiums durch das Bundeskabinett gemäß § 16 II BNDG gegen Art. 10 II 2 GG verstößt und damit die §§ 6 ff. gegen den qualifizierten Gesetzesvorbehalt, wie vielfach behauptet wurde2901. Dabei kommt es allerdings nicht auf den Benachrichtigungs- und Rechtswegausschluss, wie er etwa in § 13 in Verbindung mit § 5 I 3 Nr. 1 G 10 vorgesehen ist, als solchen an2902, sondern vielmehr auf die Frage, ob der Anwendungsbereich des Art. 10 II 2 GG mit seinen engen 2898
Siehe C. IV. 2. h). Von einem „Ende“ des Unabhängigen Gremiums geht in Ansehung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu Recht aus Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833. 2900 Sehr knapp auch BVerfGE 154, 152 (309 f., Rn. 324), wobei der Senat lediglich festhält, dass die Kontrolle durch das Unabhängige Gremium „von vornherein“ nicht in verfassungskonformer Weise sichergestellt werden könne. 2901 Davon gehen aus Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 7; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 274 f.; Papier, Fernmeldeüberwachung (Fn. 26), S. 22 f. 2902 So aber Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 322; Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 7; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 273 ff. 2899
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Voraussetzungen des „Schutz[es] der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ und dem „Bestand oder Sicherung des Bundes oder eines Landes“ überhaupt eröffnet ist, oder ob nicht Art. 10 II 1 GG die Grundlage für den Benachrichtigungsausschluss liefert2903. Allenfalls ließe sich § 6 I 1 Nr. 1 BNDG unter die engen Voraussetzungen des Art. 10 II 2 GG subsumieren2904. Nach hiesiger Ansicht ist der Bezug auf die innere Sicherheit schon kompetenzwidrig; die äußere Sicherheit hingegen kann auch in einem militärisch-verteidigungspolitischen Kontext analog § 5 I 3 Nr. 1 G 10 verstanden werden, für den das Bundesverfassungsgericht die Organisationsvorgaben des Art. 10 II 2 GG anwendet2905. Für § 6 I 1 Nr. 1 BNDG erscheint es daher folgerichtig, insoweit den qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Art. 10 II 2 GG anzuwenden. Daher verfehlt das Unabhängige Gremium die verfassungsrechtlichen Vorgaben auch durch seine Bestellung seitens des Bundeskabinetts2906. Die Datenschutzkontrolle durch den Bundesbeauftragten für Datenschutz und die Informationsfreiheit kann ebenfalls die Verhältnismäßigkeitsanforderungen an die administrative Kontrolle des gesamten Datenerhebungs- und Auswertungsvorganges im engeren Sinne nicht erfüllen2907. Die Möglichkeit, Informationen seitens der Bundesregierung zurückzuhalten, die fehlende Kooperationsbasis mit dem Unabhängigen Gremium sowie die begrenzbaren Zugangsberechtigungen des Bundesbeauftragten2908 verfehlen die Anforderungen an eine schlagkräftige operativ-datenschutzrechtliche Nachrichtendienstkontrolle. Überdies kann dieser administrativen Kontrolle die Third Party Rule entgegengehalten werden, was mit Art. 10 I GG bei einer strategischen Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst gleichfalls unvereinbar ist, wenn man die Maßstäbe des Ersten Senats anlegt. ee) Eignungsprüfung unzureichend begrenzt Die Eignungsprüfung in § 12 BNDG ist selbst innerhalb der Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung eine nochmals in ihrer Intensität gesteigerte Eingriffsbefugnis, da aus einem Telekommunikationsnetz praktisch unbegrenzt Daten ausgeleitet werden können, um Selektoren zu gewinnen und Streckenauswahl zu betreiben. Obschon sie gleichsam unter dem Radar der rechtswissenschaftlichen Aufmerksamkeit segelt, verstößt sie massiv gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne. Es fehlen gänzlich Regelungen, die eine Erfassung 2903 Wie hier BVerfGE 154, 152 (289, Rn. 271); BVerfGE 100, 313 (397 f.); siehe schon F. III. 6. a). 2904 Insoweit wie hier auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 274. 2905 BVerfGE 100, 313 (397 f.). 2906 Im Ergebnis wie hier freilich auch Dietrich (Fn. 771), § 16 BNDG Rn. 7; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 274 f.; Papier, Fernmeldeüberwachung (Fn. 26), S. 22 f.; a. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 322. 2907 Kurz, ohne weitere Begründung, BVerfGE 154, 152 (308 f., Rn. 324). 2908 Siehe bei B. III. 4.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
rein inländischer oder deutscher Telekommunikation von vornherein untersagen und deren Aussonderung regeln2909. Der Einsatz von Filtersystemen ist bei der Eignungsprüfung nicht vorgesehen. Aufgrund des absoluten Ausschlusses reiner Inlandstelekommunikation aus der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung2910 muss aber auch hier die Erfassung von vornherein unterbleiben. Dies gilt selbst dann, wenn die Maßnahme schon im Ansatz „nur“ der Streckenauswahl und der Selektorenbestimmung dient. Gegen die Speicherpflicht von zwei Wochen für Daten sowie die Lösch- und Protokollpflichten (§ 12 IV BNDG) ist verfassungsrechtlich nichts zu erinnern, da sie, zusammen mit der Zweckbindung in § 12 III BNDG, die Begrenzung der Datennutzung sicherstellen2911. Unverhältnismäßig ist aber die Tatsache, dass die Eignungsprüfung keinerlei unabhängiger gerichtsähnlicher oder administrativer Kontrolle unterliegt. Zudem sieht die Übermittlungsbefugnis in § 12 V BNDG eine Zweckänderungsmöglichkeit vor, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, „dass dadurch eine erhebliche Gefahr abgewendet werden kann“. Diese Übermittlungsschwelle genügt dem strikten Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung bei besonders schweren Grundrechtseingriffen nicht2912. Zwar soll die „erhebliche Gefahr“, als konkrete Gefahr im polizeirechtlichen Sinne zu verstehen sein2913, womit eigentlich eine hinreichend hohe Hürde für die Übermittlungsschwelle besteht. Die Eignungsprüfung hat jedoch von vornherein nicht den Zweck, Gefahrenfrüherkennung oder außen- und sicherheitspolitische Aufklärung für die Bundesregierung zu leisten, sondern dient deren technischer Vorbereitung. Aufgrund des Sondercharakters und der ansonsten unbegrenzten Zugriffsweite dürfen die Daten daher nur zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut genutzt werden, wie dies allgemein auch für rein inländische Kommunikation oder bei Daten, die rein zur außenpolitischen Information der Bundesregierung erhoben wurden, gilt. Diese verfassungsrechtlich zwingende Restriktion fehlt in der Vorschrift. 3. Veraltete G 10-Regelungsstrukturen verfassungsrechtlich nicht mehr tragbar Von besonderem aktuellem Interesse ist daneben, wie die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit der §§ 5 ff. G 10 im engeren Sinne angesichts der allgemeinen Anforderungen an die Normenklarheit und Bestimmtheit sowie der strengen 2909
Dahingehend auch BfDI, Stellungnahme (Fn. 1175), S. 7. Stellvertretend wie rekapitulierend BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 171). 2911 So auch Huber, BND-Gesetzesreform (Fn. 797), S. 164, der indes Zweifel an der Effektivität der spurenlosen Löschung der Daten anmeldet. 2912 Dahingehend auch schon BfDI, Stellungnahme (Fn. 1175), S. 7. 2913 So jedenfalls die Auslegung bei Dietrich (Fn. 771), § 12 BNDG Rn. 12. Die Gefahr soll ferner hinsichtlich ihrer Schadensintensität qualifiziert sein, nicht jedoch auch in zeitlicher Hinsicht, was hier aber ebenfalls verfassungsrechtlich unabdingbar ist. 2910
IV. Anwendung der Maßstäbe
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Maßstäbe für eine verfassungskonforme Ausgestaltung durch die jüngste Rechtsprechung und die hiesigen Anforderungen zu bewerten ist. Die letztmalige verfassungsgerichtliche Überprüfung des G 10 durch das dritte Abhörurteil 1999 kann insoweit nicht ohne Weiteres als belastbarer Maßstab herangezogen werden, da die einfachrechtliche Ausgestaltung seither entschieden modifiziert wurde – insbesondere mit Blick auf die Übermittlungsbefugnisse –, nach heutigen Maßstäben und aktueller verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung das Geheimhaltungsinteresse nachrichtendienstlicher Tätigkeit in Bezug auf die Anforderungen der Normenklarheit und Bestimmtheit überbetont wurde, sowie die Verhältnismäßigkeitsanforderungen nicht auf einen besonders schweren Grundrechtseingriff in der heutigen Dimension der strategischen Fernmeldeaufklärung abgestimmt waren2914. Das G 10 ist darüber hinaus partiell bereits auf den ersten Blick veraltet, wie § 11 III 2 G 10 mit seinem Verweis auf „Telegramme“, die dem Postverkehr nicht entzogen werden dürfen, exemplarisch illustriert: Die Blütezeit dieser eiligen Kommunikations- und Informationsform dürfte mittlerweile länger zurückliegen2915 – heutzutage versteht eine Vielzahl von Telekommunikationsteilnehmern unter „Telegram“ instinktiv einen verschlüsselten Instant-Messenger-Dienst (mit teils fragwürdigen „Channels“) statt die Überbringung einer Nachricht durch einen Postboten in persona. Trotz zahlreicher Veränderungen ist das G 10 im Kern noch vom Geist des Kalten Krieges mit seinen Telekommunikationsformen durchdrungen. a) Graduelle Bestimmtheitsmängel im G 10 de lege lata aa) Datenerhebungsebene mit Verstößen gegen das Gebot einer normenklaren Aussonderung rein inländischer Telekommunikation Vergleicht man die in § 5 I 3 G 10 benannten Gefahrbereiche mit der beinahe schrankenlosen Weite des § 6 I 1 BNDG, sind die Zwecke der strategischen Fernmeldeaufklärung wesentlich bestimmter gefasst und ermöglichen aus dem Normtext heraus eine wenigstens einigermaßen konkrete Bestimmung, zu welchen Zwecken der Bundesnachrichtendienst die Inland-Ausland-Telekommunikation
2914 Allgemein zur Überholung der Rechtsprechung im dritten Abhörurteil unter heutigen technisch-faktischen wie rechtlichen Parametern Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 886), S. 130 ff.; Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 9. Im Schrifttum hat die Bestimmtheit und Normenklarheit der §§ 5 ff. G 10 – im Gegensatz zu deren Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – in jüngerer Zeit, soweit ersichtlich, überraschenderweise keine große Rolle gespielt; speziell für die Übermittlungsbefugnisse an Strafverfolgungsbehörden im G 10 allerdings instruktiv die grundlegende Studie von Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 441 f. Zu den derzeit anhängigen Verfassungsbeschwerden siehe schon unter Fn. 623, 624. 2915 Einen praktischen Bedeutungsverlust der Norm konstatiert insoweit auch Huber (Fn. 511), § 11 G 10 Rn. 6 f.
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
strategisch überwacht. Deshalb wird man insoweit weiterhin dem früheren Befund des Bundesverfassungsgerichts folgen können, dass die Erhebungsvorschrift normenklar und hinreichend bestimmt ist2916; freilich nur im Ergebnis, nicht jedoch aber in der Begründung, die seinerzeit zu einer Überprivilegierung nachrichtendienstlicher Geheimhaltungsinteressen tendierte2917. Die Umschreibung der Gefahrbereiche in § 5 I 3 G 10 ist an sich hinreichend bestimmt; einen noch höheren Konkretisierungsgrad wird man auch unter Zugrundelegung der neuesten Rechtsprechung nicht für verfassungsrechtlich geboten halten müssen, da die vom Bundesverfassungsgericht zu Recht eingeforderte hinreichende, normenklare Begrenzung auf differenzierte Zwecke zum Schutz hochrangiger Gemeinschaftsgüter2918 durch die Skizzierung der Gefahrbereiche § 5 I 2 Nr. 1 bis 8 G 10 jedenfalls unter Bestimmtheitsgesichtspunkten gewährleistet wird. Allerdings lässt das G 10 normenklare Vorschriften vermissen, die eine Ausfilterung von rein inländischer bzw. deutscher Telekommunikation aus der strategischen Fernmeldeaufklärung vorsehen sowie spezifische Anforderungen an die Funktionsweise der Filter stellen. Damit wiederholen sich dieselben verfassungsrechtlichen Unzulänglichkeiten wie im BNDG. Das G 10 lässt jedoch noch nicht einmal erkennen, dass Kommunikation allein unter Inländern und Deutschen von vornherein nicht erfasst und ausgewertet werden darf. Allenfalls der Terminus der „internationalen“ Telekommunikationsbeziehungen in § 5 I 1 G 10 deutet hierauf hin. Für das Verständnis der Norm muss jedoch die langjährige Auslegung durch die Staatspraxis als Hintergrundwissen präsent sein2919. Ein Verständnis der Regelung kann mithin nur durch normexternes Zusatzwissen gelingen, was den Anforderungen an eine in sich bestimmte Vorschrift nicht genügen kann. Nicht vereinbar mit dem Grundsatz der Normenklarheit und Bestimmtheit ist aus ähnlichen Gründen § 5 II 3 G 10, zumindest insoweit die Vorschrift eine Erfassung deutscher Staatsbürger nur bei Nutzung von „Telekommunikationsanschlüssen“ verbietet2920. Das Tatbestandsmerkmal stellt nicht hinreichend eindeutig sicher, dass sämtliche Telekommunikation deutscher und inländischer Telekommunikationsteilnehmer im weiteren Sinne, über welche technische Vorrichtung oder Anwendung sie auch übermittelt wird, aus der gezielten Erfassung ausgeschlossen ist. Aufgrund der absoluten Unverhältnismäßigkeit einer gezielten Erfassung deutscher Staatsbürger und von Inländern im weiteren Sinne mit
2916 Im Ergebnis BVerfGE 100, 313 (372 f.); insoweit wie hier auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 311. 2917 A. A. Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 311, der dem früheren Verständnis des Bundesverfassungsgerichts aus dem dritten Abhörurteil folgt. 2918 BVerfGE 154, 152 (253 f., Rn. 176). 2919 Zur Auslegung von § 5 I 1 G 10 durch die ständige Staatspraxis C. III. 2. b). 2920 Siehe zur Ungenauigkeit von § 5 II 3 G 10, die letztlich zur verfassungswidrigen Unbestimmtheit führt, schon unter C. III. 2. d); maßgeblich dazu Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 14; ders., Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 559.
IV. Anwendung der Maßstäbe
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Mitteln der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung muss ein derartiges Verbot aber gesichert aus der Norm selbst hervorgehen und darf nicht einer (etwaigen verfassungskonformen) Auslegung durch die Praxis überantwortet werden; § 5 II 3 G 10 verstößt mithin auch gegen das Bestimmtheitsgebot. Gleiches wird man für die Kapazitätsbegrenzung des § 10 IV 4 G 10 annehmen müssen, da durch die Norm nicht eindeutig sicher geregelt wird, wie die Datenhöchstmenge zu bestimmen ist2921. Ohne ebenjene Normenklarheit verliert die Vorschrift aber ihre verfassungsrechtlich unabdingbare quantitative Begrenzungsfunktion. bb) Datenübermittlungen nach §§ 7, 7a G 10 in Teilen zu unbestimmt Die Übermittlungsvorschriften des BNDG waren in besonderem Maße unbestimmt und wurden deswegen vom Bundesverfassungsgericht in weiten Teilen bereits deshalb für mit dem Fernmeldegeheimnis und – soweit einschlägig – der Pressefreiheit unvereinbar erklärt. Das Regelungsregime für Datentransfers im Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung stellt sich aus Sicht des Gebots der Normenklarheit und Bestimmtheit differenzierter dar: § 7 I, III, IVa G 10 nutzen keine bzw. eine klare Verweisung auf das BNDG, lassen die Empfängerbehörden klar erkennen und sind daher insgesamt hinreichend normenklar ausgestaltet. § 7 II G 10 Nr. 1 und 3 nutzen Verweisungen auf Normen des Nachrichtendienstrechts, die primär – aber nicht nur – „Spannungslagen“ des Inlandsnachrichtendienstes bewältigen, wobei der Zusammenhang zu Bedrohungslagen, die auch durch den Bundesnachrichtendienst aufgeklärt werden, noch besteht; die Beschränkung auf einen moderaten Umfang dieser Rechtstechnik wird den Anforderungen an die Normenklarheit und Bestimmtheit mithin noch entsprechen2922. Im Sinne einer verfassungsrechtlich sicheren Lösung sollten diese Verweise jedoch bei einer Neuregelung durch Aufnahme der Tatbestände in die Norm selbst ersetzt werden. Gravierende Mängel der Normenklarheit und Bestimmtheit weist jedoch die Übermittlungsvorschrift an Polizei- und Strafverfolgungsbehörden in § 7 IV G 10 auf. Beide Nummern des § 7 IV 1 G 10 verweisen in breitem Umfang und in nicht mehr hinreichend bestimmter Weise auf eine Vielzahl von Strafnormen oder ganze Kataloge in verschiedenen Zielgesetze2923. Angesichts der hier geteil2921 Zu den Auslegungsproblemen der Kapazitätsgrenze des § 10 IV 4 G 10 siehe die Ausführungen im Rahmen der Streubreitenvermessung der strategischen Fernmeldeaufklärung unter F. II. 2. a) bb) (1). 2922 Dies wird man im Lichte der grundlegenden Skepsis des Ersten Senats bei der Nutzung von „Verweisungsketten“, insbesondere bei den Datenübermittlungsvorschriften im BNDG, freilich auch sehr gut anders sehen können; Zitat in BVerfGE 154, 152 (266, Rn. 215). 2923 Siehe zur Struktur von § 7 IV G 10 unter C. III. 2. e) aa).
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
ten Zweifel des Bundesverfassungsgerichts an der Normenklarheit der Übermittlungsvorschriften an präventiv-polizeiliche Behörden und die Staatsanwaltschaften im BNDG kann auch die Regelung des G 10 insoweit keinen verfassungsrechtlichen Bestand haben. Insbesondere bei besonders grundrechtssensiblen Datenübermittlungen an operative Behörden ist für Verweisungskaskaden kein Platz. § 7 IV G 10 genügt daher dem Bestimmtheitsgebot schon nicht2924. § 7a II G 10 legitimiert als Sondervorschrift analog § 24 II 1 BNDG in Verbindung mit § 19 II BVerfSchG die Übermittlung von Daten an die Stationierungsstreitkräfte des Nordatlantikvertrags und verweist hierzu pauschal – wie auch das Verfassungsschutzrecht des Bundes – auf Art. 3 ZA-NTS. Die gravierenden Bestimmtheitsmängel einer Verweisungskaskade auf eine völkervertragsrechtliche Norm, die mit enormer Weite einen lediglich allgemeinen Rahmen verteidigungspolitischer Zusammenarbeit regelt2925, zeigen sich eindeutig auch bei der Übermittlungsbefugnis für Daten aus der strategischen Fernmeldeaufklärung im G 10. Abgesehen davon ist 7a G 10 insgesamt datenschutzfreundlicher ausgestaltet, was die besonderen Anforderungen bei Datenübermittlungen an ausländische öffentliche Stellen betrifft. Die Empfängerbehörden sind mit ausländischen Nachrichtendiensten bzw. bei mit diesen Aufgaben betrauten Behörden gemäß § 7a I 1 G 10 – in Ländern, die eine Trennung von präventiv-polizeilichen Aufgaben deutscher Provenienz nicht kennen – wohl hinreichend klar bestimmt2926. § 7a G 10 sieht überdies die Vergewisserung über ein adäquates Datenschutzniveau im Empfängerstaat sowie eine Sicherung elementarer Menschenrechtsstandards normenklar vor (Abs. 1), flankiert diese mit hinreichend bestimmten Auskunfts- und Zusicherungsrechten des Bundesnachrichtendienstes (Abs. 4) und implementiert klare Protokollierungspflichten (Abs. 3). Insoweit erfüllt die Norm die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot bei Datenübermittlungen ins Ausland2927. Allerdings fehlt es an einer klaren Regelung zum Schutz von besonderen Vertrauensbeziehungen und von gezielt erhobenen Daten von Ausländern im Ausland bei Datenübermittlungen an ausländische öffentliche Stellen, die den spezifischen Bedrohungen dieser Gruppe gerecht wird und eine externe ex-ante-Kontrolle für die Übermittlungen einfordert2928. 2924 Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 441 f., hält den Katalog trotz der Verweisungen für noch hinreichend bestimmt, kritisiert aber gleichwohl, dass die langen Verweisungsketten der Normenklarheit nicht zuträglich seien. 2925 Siehe die Wertung zu § 24 II 1 BNDG i.V. m. § 19 II BVerfSchG in BVerfGE 154, 152 (305 f., Rn. 314). 2926 § 7a I 1 G 10 ist in Bezug auf potentielle Empfängerbehörden jedenfalls wesentlich bestimmter als die insoweit gleichsam als Blankett ausgestaltete Vorschrift des § 19 III BVerfSchG, auf die § 24 II 1 BNDG verweist. 2927 Zu diesen Anforderungen allgemein für strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung BVerfGE 154, 152 (273 ff., Rn. 233 ff., 306, Rn. 317). 2928 Siehe zu den Maßstäben an die Normenklarheit erneut BVerfGE 154, 152 (276 f., Rn. 240, 306, Rn. 317).
IV. Anwendung der Maßstäbe
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Insgesamt zeigen sich im Lichte streng verstandener Bestimmtheitsanforderungen als wichtiges verfassungsrechtliches Begrenzungsinstrument im Sicherheitsrecht auch im G 10 Mängel, die schon insoweit zu Verfassungswidrigkeit von einzelnen Datenerhebungsbegrenzungen und Übermittlungstatbeständen führen; die Normierung entspricht schlechterdings nicht mehr dem aktuellen Stand verfassungsrechtlicher Anforderungen der Normbestimmtheit an das Handeln von Nachrichtendiensten. Es besteht mithin gesetzgeberischer Handlungsbedarf, auch bevor das Bundesverfassungsgericht erneut einschreitet. b) Partielle Verstöße gegen Verhältnismäßigkeitsanforderungen im engeren Sinne aa) Gezielte Erfassung von Inländern im weiteren Sinne rechtswidrig Die Datenerhebung der strategischen Fernmeldeaufklärung ist schon aufgrund der Prämisse, dass in das Fernmeldegeheimnis eingegriffen wird, „verhältnismäßiger“ im engeren Sinne ausgestaltet als die bisherige Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. Dabei werden durchaus auch einige Erhebungsgründe des § 5 I 3 G 10 im Schrifttum kritisch bewertet2929, was hier aber bereits aufgrund übergeordneter Mängel dahinstehen kann. Einzelne Vorschriften bzw. Teilregelungen verstoßen, teilweise deutlich, gegen Art. 10 I GG in Verbindung mit Art. 5 I 2 GG oder sogar gegen Art. 1 I GG in Verbindung mit Art. 10 I GG. Die strategische Fernmeldeaufklärung ist in § 10 G 10 zunächst an verhältnismäßige Verfahrensregelungen gebunden, die die Dauer, die Erkenntnisziele sowie die geographische Beschränkung der Maßnahme und die Selektoren formalisiert festlegen2930. Auch ist die politische Ebene durch das Bundesministerium des Innern und allgemein auch das Parlamentarische Kontrollgremium in den Anordnungsprozesses eingebunden und somit eine politische Verantwortlichkeit hergestellt, §§ 5 I 2, 10 I G 102931. Die Maßnahme wird durch den Behördenleitervorbehalt in § 9 II G 10 zusätzlich verfahrensrechtlich abgesichert2932. Allerdings ist dies für den Bundesnachrichtendienst zumindest dysfunktional, da das Bundeskanzleramt die Fachaufsicht über den Dienst führt und demgemäß auch die Anordnungen einer strategischen Fernmeldeaufklärung überwachen und autorisieren sollte. Hieraus wird man zwar nicht unmittelbar die Unverhältnismäßigkeit der verfahrensrechtlichen Anforderungen folgern können, dennoch zeigt das G 10 hier eine Schwäche; durch die kompetenzielle Aufsplitterung droht eine unangemessene Entkopplung von Beschränkungsanordnung, tatsächlicher Aufsicht über 2929
Dies betrifft vor allem § 5 I 3 Nr. 8 G 10, siehe dazu C. III. 2. a) mit Fn. 643. Zu diesen Anforderungen erneut F. III. 4. d) cc); dahingehend auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 313 f. 2931 Siehe auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 314 f. 2932 Insoweit wie hier erneut Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 314 f. 2930
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
den Bundesnachrichtendienst und politscher Letztverantwortlichkeit. Allerdings können auch die Anordnungen nach § 10 V 2 G 10 theoretisch unbegrenzt verlängert werden, ohne dass eine explizite vertiefte Prüfung für das Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen oder eine Neuprüfung erfolgt2933. Dies ist nach hiesiger Ansicht mit der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne unvereinbar2934. Gravierende verfassungsrechtliche Mängel weist allerdings die Regelung zur gezielten Erfassung von Telekommunikationsverkehren in § 5 II 3 G 10 auf. Die seit jeher umstrittene Norm sieht kein generelles Verbot der gezielten Erfassung von Inländern im weiteren Sinne vor, was nach hiesigem Verständnis für eine verhältnismäßige Ausgestaltung der strategischen Überwachung jedoch schlechterdings unabdingbar ist2935. Die Annahme, der Schutz des Fernmeldegeheimnisses reiche für Deutsche insoweit weiter als für Inländer im weiteren Sinne findet bei einer verständigen Würdigung der äquivalenten grundrechtlichen Gefährdungslage der Telekommunikationsteilnehmer keine Stütze. Zwar schließt § 5 II 3 G 10 die Erfassung von Anschlüssen (was schon zu unbestimmt ist) im Ausland aus, wenn deren Inhaber oder regelmäßige Nutzer deutsche Staatsbürger sind. Wenn aber ein Anschluss im Ausland von einem Inländer mit permanentem Wohnsitz in Deutschland genutzt wird, dann greift die Regelung nicht, obschon die grundrechtliche Gefährdungslage nach hiesiger Ansicht insoweit für Deutsche und Inländer äquivalent ist2936. Damit ist § 5 II 3 G 10, wie von einem Großteil der Literatur seit langem, wenngleich in Bezug auf die Schlechterstellung aller Ausländer vertreten, mit Art. 10 I GG in Verbindung mit Art. 3 I GG unvereinbar2937. bb) Datenauswertungsrecht ohne besondere Qualifikation Die Datenauswertungsvorschrift des § 6 I 1 G 10, die eine sofortige Auswertung der initial erfassten Daten verlangt, ist mit dem Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform anzusehen2938. Ebenso enthält § 5 II 1 G 10 die Vorgabe, dass die Selektoren für die Aufklärungszwecke bestimmt und geeignet sein müss-
2933
Eine solche Möglichkeit sieht auch Huber (Fn. 511), § 10 G 10 Rn. 12. A. A. freilich BVerfGE 154, 152 (254 f., Rn. 179), jedenfalls in Bezug auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung. 2935 Siehe F. III. 4. d) cc) (3); a. A. BVerfGE 154, 152 (257, Rn. 186). 2936 Diesen Gedanken verfolgt allgemein auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827. 2937 Im Ergebnis daher etwa auch Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 221; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1076 f.; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 7; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 559; Caspar, Auslandsüberwachung (Fn. 529), S. 5; Becker, Grenzen (Fn. 672), S. 1339; grundlegend Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 40 ff.; siehe ebenso die Nachweise in Fn. 673; a. A. etwa weiterhin Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 295 ff., 318; Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 146; früh schon Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 129. 2938 Ausdrücklich als Referenz herangezogen in BVerfGE 154, 152 (259, Rn. 192). 2934
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ten, worin jedenfalls eine „deklaratorische Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ liegt2939. Damit müssen die Selektoren wenigstens dahingehend geprüft werden, bevor eine Steuerung legal vorgenommen werden kann. Allerdings fehlt es an einer Regelung, die sicherstellt, dass keine diskriminierenden Selektoren gesteuert werden und somit in zusätzlich grundrechtsgeschützte Räume (Art. 3 III GG und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 III WRV) unverhältnismäßig eingegriffen wird2940. Das G 10 kennt noch keine weitergehenden Auswertungsmöglichkeiten etwa mittels der Erfassung und Speicherung von Metadatensätzen und deren Analyse mittels „komplexer Formen des Datenabgleiches“ 2941. Der Gesetzgeber ist von Verfassung wegen nicht grundsätzlich gehindert, solche Regelungen zu implementieren, nach der gegenwärtigen Rechtslage kann eine solche Auswertung jedoch nicht rechtmäßig erfolgen, wie das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die Datei VERAS eindeutig und zu Recht klargestellt hat2942. Künftig sind aber zusätzlichen Anforderungen an die Auswertungsregelungen erforderlich, da dann Metadaten – über den reinen Abgleich der Telekommunikation mit den Selektoren zur Erkenntnisgewinnung über die Gefahrbereiche des § 5 I 3 G 10 hinaus – verarbeitet werden dürfen (§ 6 IV, V G 10 n. F.)2943. cc) Durchgreifende Defizite beim Schutz von Vertrauensbeziehungen und des Kernbereichs Das G 10 verzichtet vollständig auf Normen, die besondere Vertrauensbeziehungen schützen. Damit setzen sich die bereits beim BNDG adressierten verfassungsrechtlichen Defizite bei der strategischen Fernmeldeaufklärung fort. Ohne solche Regelungen ist die strategische Überwachung jedoch schlechterdings unangemessen2944, da besondere Grundrechtsrisiken nur aufgrund der Berufsausübung drohen. Damit verstoßen die §§ 5 ff. G 10 insoweit gegen Art. 10 I GG in Verbindung mit Art. 5 I 2 GG bzw. Art. 12 I GG. Dieser Verfassungsverstoß besteht schon seit langer Zeit, was ihn besonders gravierend macht. Spätestens seit dem dritten Abhörurteil des Bundesverfassungsgerichts 1999 war offenkundig, dass es gesonderter Sicherungen für Telekommunikation von Berufsgeheimnis-
2939
So pointiert Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 146. Zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit eines Diskriminierungsverbotes F. III. 4. d) cc) (3). 2941 BVerfGE 154, 152 (259, Rn. 192). 2942 BVerwGE 161, 76; siehe ausführlich F. II. 2. a) aa) (1). 2943 Zu ersten Ansätzen eines Datenverwendungsrechts bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung siehe H. II. 3. 2944 So auch schon früh Huber (Fn. 511), § 5a G 10 Rn. 7 f.; siehe ferner F. III. 4. d) cc) (4) (b); a. A. Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 149; so wohl auch Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 17, der lediglich eine Einzelfallabwägung einfordert. 2940
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trägern und bei besonderen Vertrauensbeziehungen bedarf 2945. Gerade die Telekommunikation mit Inlandsbezug ist besonders vulnerabel, wenn etwa Mandanten, die sich im unmittelbaren Zugriffsbereich deutscher staatlicher Stellen befinden, mit einem Rechtsanwalt oder gar Strafverteidiger kommunizieren. Der Schutz des Kernbereiches privater Lebensgestaltung ist in § 5a G 10 in Verbindung mit § 3a S. 2–7 G 10 zudem sowohl auf Ebene der Datenerfassung als auch der Auswertung zunächst grundsätzlich verfassungskonform geregelt, da in beiden Fällen Erhebungs- bzw. ausdifferenzierte Auswertungsverbote existieren. Insbesondere ist die Auswertung bei Kernbereichsverdacht zu unterbrechen und eine Aufzeichnung der G 10-Kommission zur Kontrolle vorzulegen. Allerdings bezieht sich § 5a S. 1 ausdrücklich nicht auf den Gefahrbereich eines bewaffneten Angriffes auf die Bundesrepublik, da explizit nur auf § 1 I Nr. 2 G 10 in Verbindung mit § 5 I 3 Nr. 2 bis 8 G 10 verwiesen wird, nicht aber auf § 5 I 3 Nr. 1 G 102946. Gleichfalls erlaubt § 5 II 2 Nr. 2 G 10 die Steuerung von Selektoren, die den Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung betreffen, ausdrücklich, sofern keine deutschen Staatsbürger betroffen sind. Diese Ausnahmen können aufgrund des absoluten Schutzes der Menschenwürde keinen Bestand haben. Sie sind mit Art. 10 I GG in Verbindung mit Art. 1 I GG von vornherein unvereinbar2947. Dies gilt auch dann, wenn man etwa in Bezug auf § 5 II Nr. 2 G 10 im Lichte von § 5a G 10 nur ein „missglückt anmutende[s] Zusammenspiel“ der Vorschriften erblicken wollte, die dennoch umfassend den Kernbereich sicherten2948. Zweifel darf es – unbesehen von dann greifenden Bestimmtheitsmängeln – bei der Sicherung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung als Ausdruck der Menschenwürde schlechterdings nicht geben. Die Vorschriften lassen sich daher nicht verfassungskonform auslegen, sondern sind dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit ausgesetzt. Insgesamt zeigen sich einige verfassungsrechtliche Mängel bei den Datenerhebungsvorschriften strategischen Fernmeldeaufklärung, die in der Gesamtschau dazu führen, dass die Anforderungen an eine verhältnismäßige Überwachung im engeren Sinne verfehlt werden2949. Das G 10 entspricht insoweit schlicht nicht mehr den aktuellen verfassungsrechtlichen Anforderungen bzw. verstößt beim Kernbereichsschutz und der Sicherung besonderer Vertrauensbeziehungen schon seit langem gegen die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 2945 Siehe mit im Ergebnis selbiger Wertung erneut instruktiv Huber (Fn. 511), § 5a G 10 Rn. 7 f. 2946 Siehe zu diesem Normverständnis eindrücklich Huber (Fn. 511), § 5a G 10 Rn. 2. 2947 Erhebliche Bedenken zumindest bezüglich § 5 II Nr. 2 G 10 auch bei Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 147; Huber (Fn. 511), § 5 G 10 Rn. 41. 2948 So Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 298. 2949 A. A. im Ergebnis einer Gesamtschau der Datenerhebungsvorschriften des G 10 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 311.
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zum Schutz des (letzten) Rückzugsbereichs der Privatheit bei der Nutzung von Telekommunikation. Allerdings wird seine grundlegende Struktur einem Eingriff in das Fernmeldegeheimnis gerecht, nicht jedoch einem besonders schweren, wie er durch die strategische Fernmeldeaufklärung heute ins Werk gesetzt ist. dd) Übermittlungsschwellen als zentrales verfassungsrechtliches Defizit auch im G 10 Besondere Bedeutung kommt auch bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung den Übermittlungsschwellen gleichsam als äquivalent zu den initialen Einschreitschwellen bei der Datenerhebung zu2950. Legt man die verfassungsrechtlichen Maßstäbe an, verfehlen die §§ 7, 7a G 10 vielfach auch die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne2951. Die Übermittlungsschwellen der strategischen Fernmeldeaufklärung müssen den strengen Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung zur zweckändernden Weiternutzung wahren, also bei Datenübermittlungen zur Gefahrenabwehr zumindest eine hinreichend konkretisierte Gefahr für ein besonders wichtiges Rechtsgut vorsehen bzw. bei einer gezielten Erfassung von Ausländern im Ausland eine konkrete Gefahr im hergebrachten Sinne2952. Bei Datenübermittlungen zur Strafverfolgung bedarf es eines bestimmten Verdachts im Sinne des § 100c StPO für eine besonders schweren Straftat. Bei Datenübermittlungen an die Bundesregierung zur Information zwecks außenpolitischer Regierungsentscheidungen gemäß § 7 I G 10 in Verbindung mit § 33 BNDG gelten diese Anforderungen freilich nicht, wenngleich die erforderlichen besonderen Sicherungen in § 33 BNDG verfehlt werden; insoweit sei auf die dortigen Ausführungen verwiesen2953 Besonders relevant, da potentiell besonders grundrechtsinvasiv2954, ist § 7 IV G 10, der Übermittlungen an operativ tätige Behörden erlaubt. Datenübermittlungen zu Strafverfolgungszwecken (§ 7 IV 2 G 10) setzen nach der Norm zwar bestimmte Tatsachen für einen (strafprozessualen) Verdacht als Übermittlungsschwelle voraus, sehen aber in dem Straftatenkatalog des Satzes 1 eine Vielzahl von Delikten vor, die keinesfalls alle die Schwelle einer besonders schweren Straftat erreichen2955. Besonders deutlich wird dies beim Verweis auf § 100a II StPO in § 7 IV 1 Nr. 2 G 10, der, im Gegensatz zu § 100b II StPO, „nur“ schwere, aber eben keine besonders schweren Straftaten enthält. Teilweise han2950
Ausführlich schon unter F. III. 5. Siehe zu den verfassungsrechtlichen Defiziten einer Übermittlung bei Individualmaßnahmen nach § 4 IV G 10 Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 15. 2952 Dahingehend allgemein auch schon Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 47 ff. 2953 F. IV. 2. b) bb). 2954 Hier sei erneut auch auf die Entscheidung zur Antiterrordatei verwiesen, BVerfGE 133, 277 (329, Rn. 123). 2955 Siehe dazu schon C. III. 2. e) aa). 2951
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delt es sich bei den weiteren in Bezug genommenen Delikten sogar um Bagatellen oder solche der allenfalls mittleren Kriminalität2956. Exemplarisch sei hier der Verstoß gegen § 20 Nr. 1 bis 4 VereinsG mit seinem Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr genannt, der gemäß § 7 IV 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 3 I 1 Nr. 2 G 10 zur Übermittlung berechtigt2957. Damit sind die Straftaten, zu deren Verfolgung eine Übermittlung aus Daten der strategischen Fernmeldeaufklärung vorgenommen werden kann, nicht hinreichend gewichtig, um den besonders schweren Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. § 7 IV 2 G 10 ist insoweit mit Art. 10 I GG unvereinbar2958. Datenübermittlungen zu präventiv-polizeilichen Zwecken nach § 7 IV 1 G 10 werden deshalb gleichfalls zum Schutze von Rechtsgütern zugelassen, die nicht hinreichend gewichtig sind2959. Zudem droht durch die in Bezugnahme von Straftatenkatalogen anstatt der unmittelbaren Nennung von Rechtsgütern, dass auch Fälle, in denen die Strafbarkeit bereits weit ins Vorfeld verlagert wird, erfasst werden2960; dies ist etwa bei § 7 IV 1 Nr. 1 G 10 teilweise der Fall. Mit dem Bundesverfassungsgericht ist diese Regelungstechnik jedenfalls im Ergebnis abzulehnen, da sie Datenübermittlungen zu Gefahrenabwehrzwecken nicht immer sicher an eine zumindest hinreichend konkretisierte Gefahr bindet2961. Daher verfehlt § 7 IV 1 G 10 ebenfalls die verfassungsrechtlichen Anforderungen für Datenübermittlungen an präventiv-polizeiliche Behörden. § 7 II G 10 als Übermittlungsnorm an inländische Nachrichtendienste begegnet ebenfalls verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Anforderung der Nr. 1, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Daten erforderlich sind zur Sammlung und Auswertung von Informationen über Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen gegen die in § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes genannten Schutzgüter gerichtet sind, setzt nicht in jedem Fall eine hinreichend konkretisierte Gefahr voraus2962. An die Gewalttaten sind keine besonderen Konkretisierungsanforderungen gestellt, und die Vorberei2956 Ausführlich wie grundlegend hierzu die Studie von Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 442 ff., der freilich noch eine ältere Version des Straftatenkataloges bearbeitet. An der grundsätzlichen Aussage ändert dies jedoch auch unter heutigen Bedingungen nichts. Aus aktueller Sicht nunmehr ders., Stellungnahme (Fn. 336), S. 15. 2957 Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 442, wertet die Aufnahme des Delikts in den Übermittlungskatalog als „evident verfassungswidrig“ unter den Prämissen der ATDG IEntscheidung des BVerfG. An dieser Einschätzung ändert sich auch bei Anlegung des streng anzuwendenden Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung nichts. 2958 So auch Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 49 ff. 2959 Siehe erneut Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 55. 2960 Siehe dazu schon F. III. 5. a) aa). 2961 BVerfGE 154, 152 (269, Rn. 221); im Ergebnis wohl auch Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 55 ff. 2962 Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 58.
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tungshandlungen können weit ins Vorfeld hineinreichen2963. Damit wahrt die Vorschrift nicht sicher die Anforderungen an die hypothetische Datenneuerhebung. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, es handele sich schon nicht um eine Zweckänderung, da § 5 I 3 Nr. 2 G 10 auf die Erfassung von Gefahren des internationalen Terrorismus abziele und damit auf den Übermittlungszweck des § 7 II Nr. 1 G 10, was die niedrige Schwelle der tatsächlichen Anhaltspunkte letztlich rechtfertige2964. Der initiale Erhebungszweck ist aber die Gefahrenfrüherkennung zur Information der Bundesregierung, die Daten werden nach § 7 II Nr. 1 G 10 jedoch an den Inlandsnachrichtendienst, also eine Behörde mit anderen Aufgaben übermittelt2965; es handelt sich mithin sehr wohl um eine Zweckänderung. § 7 II Nr. 2 G 10 begegnet indes zunächst keinen Bedenken, da bestimmte Tatsachen für den Verdacht einer ausländischen Geheimdiensttätigkeit vorausgesetzt werden und die Umstände damit näher konkretisiert sein müssen2966. Problematisch ist aber, dass von diesen fremden nachrichtendienstlichen Tätigkeiten nicht zwangsläufig Gefahren für besonders gewichtige Rechtsgüter ausgehen müssen2967, weswegen die Vorschrift insoweit verfassungsrechtlich bedenklich ist. Die fremde nachrichtendienstliche Tätigkeit muss nicht zwingend die Sicherheit oder den Bestand des Bundes oder eines Landes berühren. § 7 II Nr. 3 G 10 wird ebenfalls kritisch gesehen, da die Vorschrift zumindest nicht ausdrücklich voraussetze, dass konkrete Angriffe auf informationstechnische Systeme festgestellt sein bzw. diese hinreichend konkretisiert sein müssten2968. Dieses Verständnis ist aber nicht zwingend, weswegen die Norm die Anforderungen wohl noch wahrt. § 7 III G 10 erlaubt eine Übermittlung an das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Kenntnis der Daten notwendig zur Sensibilisierung von Wirtschaftsteilnehmern im Vorfeld einer Straftat gegen Außenwirtschaftsgesetze ist2969. Damit wird auch hier keine hinreichend konkretisierte Gefahr verlangt, die verfassungsrechtlich erforderlich ist, sofern man von einer präventiven Zielrichtung der Vorschrift ausgeht. Die Anforderungen sind vielmehr sehr niedrig angesetzt2970, was die Verhältnismäßigkeitsanforderungen nicht wahrt2971. Selbst wenn eine rein präventive Sensibilisierung mit der Übermittlung intendiert ist, kann dies verfassungsrecht2963
Ähnlich Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 58. So aber Günther (Fn. 642), § 7 G 10 Rn. 8. 2965 Siehe auch im Ergebnis wie hier Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 47; ähnlich Roggan (Fn. 510), § 7 G 10 Rn. 6. 2966 Siehe auch Huber (Fn. 511), § 7 G 10 Rn. 6. 2967 Instruktiv Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 59. 2968 So Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 59. 2969 Huber (Fn. 511), § 7 G 10 Rn. 8 ff.; Roggan (Fn. 510), § 7 G 10 Rn. 9 ff. 2970 So auch Huber (Fn. 511), § 7 G 10 Rn. 10. 2971 So im Ergebnis auch Roggan (Fn. 510), § 7 G 10 Rn. 13. 2964
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lich erforderliche Einschreit- bzw. Übermittlungsschwellen nicht obsolet machen. Wenn eine hinreichend konkretisierte oder konkrete Gefahr vorliegt, wird eine Warnung zudem im Regelfall immer noch möglich sein. § 7 IVa G 10 begrenzt die Datenübermittlung im 2. Halbsatz eindeutig nicht und im 1. Halbsatz nicht hinreichend klar auf die Abwehr einer zumindest hinreichend konkretisierten Gefahr2972, wenn Daten an das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik übermittelt werden sollen. Damit ist auch dieser Absatz schon aufgrund des Unterschreitens der verfassungsrechtlich erforderlichen Konkretisierungsanforderungen mit dem Fernmeldegeheimnis nicht vereinbar2973. § 7a I 1 Nr. 1, II G 10 sieht als Übermittlungsschwelle an ausländische Nachrichtendienste nur eine Erforderlichkeitsschwelle vor2974 und verfehlt damit ebenfalls die verfassungsrechtlichen Anforderungen der hypothetischen Datenneuerhebung deutlich, da nicht im Ansatz ein näher konkretisiertes Gefahrgeschehen geschweige denn eine hinreichend konkretisierte bzw. konkrete Gefahr eingefordert wird2975. Ebenso sind die Rechtsgüter mit dem Tatbestandsmerkmal der „außen- oder sicherheitspolitische[n] Belange der Bundesrepublik Deutschland“ oder „erheblicher Sicherheitsinteressen eines ausländischen Staates“ nicht auf besonders wichtige Rechtsgüter begrenzt, da sie eine relativ freie Auslegung zulassen, wann ein Fall erheblich ist, bzw. pauschal die gesamten außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik als Übermittlungsgrund vorsehen2976; dies steht mit den Anforderungen des Art. 10 I GG gleichfalls nicht im Einklang. Damit ist die Norm ebenfalls in ihrer derzeitigen Ausgestaltung verfassungswidrig. ee) G 10-Kommission statt umfassender gerichtsähnlicher und administrativer Kontrolle? Zuletzt ist noch die Kontrolle durch die G 10-Kommission in den Blick zu nehmen. Dabei steht weniger die konkrete Normierung in § 15 G 10 im Fokus, 2972
Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 59 f. A. A. Roggan (Fn. 510), § 7 G 10, Rn. 21, der davon ausgeht, dass hier nicht in die Rechte von Betroffenen eingegriffen werde. Warum dies indes nicht der Fall sein soll, bleibt unklar. Die Norm bezieht sich auf personenbezogene Daten und nicht etwa auch auf reine Maschine-zu-Maschine-Datentransfers, ungeachtet der Tatsache, dass diese ohne einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis regelmäßig schon gar nicht ausgefiltert werden können. Daher handelt es sich sehr wohl um einen Grundrechtseingriff, weswegen der Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung Anwendung finden muss. 2974 C. III. 2. e) bb). 2975 So auch Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 60 ff.; dahingehend in Bezug auf den ähnlichen § 19 III BVerfSchG auch schon Siems (Fn. 248), § 7 Rn. 61, 69 f. 2976 Ähnlich Bäcker, Verfassungsbeschwerde G 10 (Fn. 526), S. 60 ff.; von einer in erheblichem Maße politisch determinierten Entscheidung der Exekutive spricht auch Huber (Fn. 511), § 7a G 10 Rn. 5. 2973
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sondern gleichsam ein faktisch-funktionaler Vergleich zwischen der tradierten Kontrolle der strategischen Fernmeldeaufklärung und der nunmehr als verfassungsrechtlicher Goldstandard – jedenfalls für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – ausgeflaggten gerichtsähnlichen und administrativen Kontrolle. Schon die organisatorischen Unterschiede sind frappierend. Die G 10-Kommission vereint beide Arten der Nachrichtendienstkontrolle, wogegen nach hiesiger Ansicht und mit dem Bundesverfassungsgerichts zunächst nichts zu erinnern ist2977. Eine erster Seitenhieb auf die G 10-Kommission ist hingegen die Prämisse, dass die Kontrollinstanz hauptamtlich tätig sein muss2978. Dagegen mag man einwenden, dass die Kontrolle der strategischen Fernmeldeaufklärung schon von ihrem Umfang her eine Kontrolle auch im Ehrenamt ermögliche2979. Dies ist freilich für Außenstehende nicht überprüfbar. Fraglich ist aber, ob nicht eine dauerhafte und institutionalisierte, hauptamtliche Kontrolle nicht automatisch auch eine höhere Kontrollintensität nach sich zieht2980. Wenn mehr Zeit verfügbar ist als in einer monatlichen Sitzung, kann Kontrolle ritualisiert und mithin effektiviert werden. Jedenfalls lassen sich genuine Praktikabilitätserwägungen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht pauschal entgegenhalten. Ferner lässt § 15 I G 10 eine Festlegung dahingehend vermissen, dass mehrheitlich Juristen mit richterlicher – nach hiesiger Ansicht spezifisch verwaltungsrechtlicher – Erfahrung der Kommission angehören müssen2981 sowie, dass ehemalige oder gar aktive Mitglieder der Nachrichtendienste von der Tätigkeit ausgeschlossen sind2982. Ebenso verfügt die G 10-Kommission trotz Unterstützung durch ihr Sekretariat wohl kaum über die Schlagkraft der administrativen Kontrolle analog zum Ständigen Bevollmächtigten des Parlamentarischen Kontrollgremiums, wie sie das Bundesverfassungsgericht zu Recht – wenngleich sehr detailliert – einfordert2983. Eine solche Struktur wird aber erforderlich sein, um derart umfangreiche Kontrollen wie die der Filtersysteme oder von Algorithmen des Bundesnachrichtendienstes durchzuführen. Die Kompetenzabgrenzungen zum Bundesbeauftragten für Datenschutz und die Informationsfreiheit behindern hier dessen Kontrollmöglichkeiten, sodass hierauf nicht zurückgegriffen werden kann2984. Die wohl gravierendsten Bedenken wirft aber die begrenzte „rechtliche Durchsetzungsmacht“ der G 10-Kommission auf 2985. Gerade die G 10-Kommission ist 2977
BVerfGE 154, 152 (294, Rn. 282); siehe ausführlich F. III. 6. b). BVerfGE 154, 152 (295, Rn. 287); so auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833. 2979 So Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 8. 2980 An der aktuellen Schlagkraft der administrativen Datenschutzkontrolle der G 10Kommission zweifeln auch Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 16. 2981 Kritisch schon Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 348 ff. 2982 Siehe zu dieser Kritik schon C. III. 2. g). 2983 BVerfGE 154, 152 (295 f., Rn. 288). 2984 Siehe zu den Kompetenzabgrenzungen B. III. 4. 2985 Pointiert Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833. 2978
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F. Verfassungsrechtliche Anforderungen
bei dem Versuch gescheitert, Daten, die unter Verweis auf die Third Party Rule zurückgehalten wurden, einzusehen, was freilich an ihrer mangelnden Parteifähigkeit im Organstreitverfahren lag2986. Zwar ist die G 10-Kommission auch im Bereich der Exekutive angesiedelt2987, allerdings hat dies zumindest in der Vergangenheit nicht sicher dazu geführt, dass die Bundesregierung alle Daten tatsächlich zugänglich gemacht hat, weshalb anzunehmen ist, dass die Third Party Rule der Kommission jedenfalls früher entgegengehalten wurde2988. Darüber kann auch die Tatsache, dass § 15 G 10 keine Regelung analog § 6 PKGr enthält, nicht hinwegtäuschen, da verfassungsrechtliche Weigerungsrechte – hier das Staatswohl – theoretisch doch geltend gemacht werden könnten2989. Bedenken begegnet letztendlich auch die Praxis, die Informationen seitens der Bundesregierung präsentiert zu bekommen – oder eben auch nicht – und zumindest keine tiefergehenden Eigenermittlungen anzustellen2990. Dies kann – muss aber nicht – ein Hemmnis bei einer effektiv gleichwertigen Kontrolle2991 im Vergleich mit einer richterlichen Kontrolle darstellen2992. Insgesamt sprechen vor allem die organisatorischen Erwägungen zur Nachrichtendienstkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht sowie die potentielle Rechtsdurchsetzungsschwäche dafür, dass die G 10-Kommission in ihrer gegenwärtigen Ausprägung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr in Gänze genügt. Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere nicht zu erkennen gegeben, dass es für die strategische Fernmeldeaufklärung eine anders strukturierte Kontrolle als diejenige durch eine gerichtsähnlich und die administrative Instanz vorsehen wollte. Im Gegenteil spricht alles dafür, die Differenzierungen der Schutzintensität des Fernmeldegeheimnisses – hier konkret vermittelt durch die Nachrichtendienstkontrolle – von Deutschen, Inländern im weiteren Sinne und Ausländern auf diejenigen Bereiche zu begrenzen, die aus situativen Unterschieden, herrühren. Die Kontrolle der strategischen Fernmeldeaufklärung zählt nicht dazu. Vielmehr bedarf es gerade bei der Überwachung von Deutschen und Inländern im weiteren Sinne einer besonders effektiven wie intensiven Kontrolle, die insbesondere nicht in kompetenzieller Konkurrenz mit anderen Aufsichtsinstitutionen stehen darf. 2986
Siehe erneut C. III. 2. g). BVerfGE 143, 1 (18, Rn. 54). 2988 A. A. wohl Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 9, der in der Third Party Rule kein rechtliches Hemmnis gegenüber der G 10-Kommission sieht. 2989 So auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 305 f.; Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 113 m. Fn. 321. 2990 Instruktiv Kornblum, Rechtsschutz (Fn. 43), S. 194 ff., 309. 2991 Stellvertretend BVerfGE 30, 1 (23). 2992 Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 9, betont demgegenüber die effektive Entscheidungspraxis, die die G 10-Kommission in den letzten Jahren gerade im Dialog mit der Bundesregierung und den Spitzen der Nachrichtendienste etabliert habe. Dies soll hier indes auch nicht in Abrede gestellt werden. 2987
IV. Anwendung der Maßstäbe
573
4. Fazit: Erheblicher gesetzgeberischer Handlungsbedarf Die Analyse zeichnet ein eindeutiges Bild. Die Vorschriften im BNDG und dem G 10 sind durch vielfache verfassungsrechtliche Mängel gekennzeichnet und entsprechen schlicht nicht (mehr) den aktuellen Anforderungen an eine normenklare und verhältnismäßige strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung2993. Es besteht daher erheblicher Änderungsbedarf für den Gesetzgeber, um das nachrichtendienstliche Mittel grundgesetzkonform auszugestalten und gleichzeitig effektiv wie hinreichend eingehegt bzw. geltungserhaltend reduziert zu etablieren. Ein gänzlicher Verzicht auf eine Auslandsaufklärung mit Mitteln der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung kann in Zeiten globaler Bedrohungslagen sicherlich keine realistische Option sein. Erste Impulse für eine Neuregelung sollen daher am Ende der Untersuchung zusammenfassend präsentiert werden.
2993 A. A. unlängst – wenngleich vor dem Urteil des Ersten Senats zum BNDG – noch entschlossen Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 318, 347.
G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen an eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung Das Grundgesetz ist bekanntermaßen in das vielbeschworene „Mehrebenensystem“ der Rechtsordnungen auf internationaler und europäischer Ebene eingebettet2994, weswegen die Maßstabsbildung für eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung nicht beim nationalen Recht halt machen kann – sie wäre unvollständig. Dies gilt insbesondere im Falle der technischen Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst: Der Einsatzrahmen des Bundesnachrichtendienstes als Auslandsnachrichtendienst im Allgemeinen und der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung im Besonderen ist der internationale Telekommunikationsraum auch jenseits der deutschen Staatsgrenzen, wo der Dienst mit völker-, menschen- und unionsrechtlichen Regeln in Berührung kommt und gegebenenfalls auch in Konflikt geraten kann. Völkerrechtlich verankert ist ein Vertraulichkeitsschutz für Kommunikation über Entfernungen bereits in Art. 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, wonach niemand willkürlich Eingriffen in sein Privatleben und seinen Schriftverkehr ausgesetzt sein darf; die Bestimmung wird weit ausgelegt und auf unkörperliche Kommunikationsbeziehungen übertragen2995. Die Regelung hat weitgehend gleichlautend Eingang in Art. 17 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte gefunden, der die Bundesrepublik völkerrechtlich bindet2996. Die Gewährleistung in Art. 17 IPbpR ist indes eher „schwach ausgestaltet“, da die Vorschrift lediglich vor „willkürlichen und rechtswidrigen“ Eingriffen schützt, wobei diese Kriterien ihrerseits – wenig überraschend – reichlich um2994 Statt aller Petersen, Verfassungsrecht II (Fn. 1190), § 10 Rn. 2 unter Verweis auf den grundlegenden und wohl begriffsprägenden Beitrag von I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 148 (148 ff.). 2995 Zur völkerrechtlichen Verankerung des Fernmeldegeheimnisses etwa Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 33 f.; Hermes (Fn. 551), Art. 10 Rn. 6; allgemeiner zum Schutz des Privatlebens durch völkerrechtliche Garantien, unter Einbeziehung von Art. 12 AEMR, W. Kälin/J. Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 3. Aufl. 2013, Rn. 1119, 1123. 2996 Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 34; Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 11; zur Übereinstimmung des Bedeutungsgehalts von AEMR und IPbpR M. Nowak, CCPR Commentary, 1993, Art. 17 Rn. 15; auf Art. 12 AEMR und Art. 17 IPbpR verweist auch das BVerfG, wenn es eine Beschränkung der Grundrechte auf das Inland ablehnt, da dann der Anspruch des Grundgesetzes, im Einklang mit den Konventionen, die Rechte aller Menschen vor Überwachung zu schützen, konterkariert würde, BVerfGE 154, 152 (220, Rn. 96); zur Frage der extraterritorialen Geltung des IPbpR instruktiv Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2223 m.w. N.
G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
575
stritten sind2997. Eine besondere Schwäche aus Sicht des Individualschutzes stellt zudem das Rechtsschutzsystem des Menschenrechtspaktes dar: Zwar können Einzelpersonen eine schriftliche Mitteilung über eine behauptete Rechtsverletzung zur Prüfung gegen Staaten einreichen, die, wie die Bundesrepublik, Vertragsstaaten des Fakultativprotokolls zum IPbpR sind2998. Die Beschlüsse des Menschenrechtsausschusses sind jedoch rechtlich nicht bindend, auch wenn der Ausschuss selbst bei Missachtung seiner „Auffassung“ von einer schweren Missachtung des Fakultativprotokolls ausgeht2999. Auf politischer Ebene kommt den Auffassungen gleichwohl eine hohes Gewicht zu3000. Im Ergebnis mangelt es jedoch an einem durchsetzungsstarken, verbindlichen Individualrechtsschutz im Rahmen des IPbpR. Eine weitere rein objektiv-rechtliche Verpflichtung ergibt sich für die Bundesrepublik aus Art. 22 des Internationalen Fernmeldevertrages, wonach die Vertragsstaaten alle möglichen Maßnahmen dafür zu treffen haben, um die Vertraulichkeit der Telekommunikation im internationalen Fernmeldeverkehr zu wahren3001. Subjektive Rechte lassen sich aus dem zwischenstaatlichen Vertragswerk indes nicht ableiten3002. Die vorgenannten völkerrechtlichen Vereinbarungen schützen das Fernmeldegeheimnis damit entweder nur rein objektiv-rechtlich oder stellen Individualschutzmöglichkeiten bereit, die im Ergebnis aber keine rechtlich verbindlichen Entscheidungen herbeiführen können. Sie sind hier der Vollständigkeit halber erwähnt, sollen jedoch im Folgenden nicht weiter Gegenstand der Untersuchung sein, da sie gerade keine (rechtsverbindliche) individuelle Rechtsposition vermitteln3003. Das bedeutet indes keinesfalls, dass diese menschenrechtlichen Gewährleistungen unbedeutend für die nationale Rechtsordnung wären, wie die ausführliche Darlegung der Einbettung des Grundgesetzes in die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte nach Art. 1 II GG und deren Funktion als Auslegungshilfe für die Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht, zuletzt in
2997
Zu dieser Einschätzung etwa Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 11 m. Fn. 66. Zur Individualbeschwerde vor dem Menschenrechtsausschuss und dem Fakultativprotokoll zum IPbpR T. Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 3. Aufl. 2016, Rn. 872 ff.; Talmon, Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 37 f. 2999 Schilling, ebda., Rn. 876; Kälin/Künzli, Menschenrechtsschutz (Fn. 2995), Rn. 647. 3000 So die Wertung von Talmon, Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 38; Kälin/Künzli, Menschenrechtsschutz (Fn. 2995), Rn. 647. 3001 Zum internationalen Fernmeldevertrag Gusy (Fn. 1184), Art. 10 Rn. 12; Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 32. 3002 Siehe nur erneut Durner (Fn. 544), Art. 10 Rn. 32 m.w. N.; ferner Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 45. 3003 Vgl. zum Schutz der Privatsphäre unter dem IPbpR, mit besonderem Blick auf extraterritoriale, nachrichtendienstliche Überwachung M. Weiler, The Right to Privacy in the Digital Age: The Commitment to Human Rights Online, in: GYIL 57 (2014), S. 651 ff. 2998
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G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
der Entscheidung zum BNDG, eindrücklich illustriert3004. Für die konkrete Einhegung staatlicher Überwachungsmaßnahmen sind sie jedoch aufgrund des eingeschränkten subjektiv-rechtlichen Charakters oder der schwach ausgestalteten Sanktionsmöglichkeiten bei Rechtsverstößen weniger relevant. In den Blick zu nehmen sind vielmehr die beiden Regime im Mehrebenensystem, die einen starken Menschenrechtsschutz in völkerrechtlicher Hinsicht bzw. eingebettet in das effiziente System des Rechtsschutzes der Europäischen Union gewähren3005: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta der Europäischen Union bzw. das sonstige Unionsrecht.
I. Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention Die Europäische Menschenrechtskonvention leidet nicht unter den vorgenannten Schwächen der völkerrechtlichen Vereinbarungen zum Individualrechtsschutz. Im Unterschied zu den menschenrechtlichen Rechtsschutzregimen sind Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gemäß Art. 46 I EMRK für die Mitgliedstaaten der Konvention und damit für die Bundesrepublik Deutschland rechtsverbindlich3006. Welche Stellung aber kommt der Konvention als völkerrechtlichem Vertrag unter dem Grundgesetz zu und wie ist ihr Einfluss auf das nationale Verfassungsrecht zu bewerten? Mit anderen Worten: Warum kann die menschenrechtliche Dimension bei der technischen Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst nicht einfach außer Acht bleiben? Diese Frage ist – in gebührender Knappheit – vorauszuschicken (1.), bevor der materielle Gehalt der Konvention in Bezug auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung in den Fokus genommen werden kann (2.). 1. Rang und Bedeutung der EMRK in der nationalen Rechtsordnung Die Konvention und ihre für die Bundesrepublik relevanten Zusatzprotokolle gelten als völkerrechtliche Verträge nach der ständigen Rechtsprechung des Bun3004 BVerfGE 154, 152 (218 ff., Rn. 93 ff.); zur Notwendigkeit, die Grundrechte im Lichte der internationalen Menschenrechtsverträge auszulegen, siehe auch explizit zu einer Menschenrechtsverbürgung jenseits der EMRK BVerfGE 142, 313 (345, Rn. 88). 3005 Die Bedeutung der EMRK und des Unionsrechts wird auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung deutlich, wo das Gericht an verschiedenen Stellen – freilich zu unterschiedlichsten Rechtsfragen – auf die Regelungen eingeht, etwa BVerfGE 154, 152 (206 f., Rn. 63 ff., 215, Rn. 85, 220 ff., Rn. 97 ff.); siehe hierzu auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 91, der freilich für seinen Untersuchungsgegenstand auch auf den IPbpR eingeht; Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 13 ff., 18 ff., betont indes zu Recht, dass dies keinesfalls eine grundsätzliche Entsprechung des grundrechtlichen Schutzniveaus in allen Fällen bedeutet – der Individualrechtsschutz unter dem Grundgesetz sucht vielmehr seinesgleichen im internationalen Vergleich. 3006 Siehe nur M. Breuer, in: U. Karpenstein/F. C. Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2021, Art. 46 Rn. 1.
I. Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention
577
desverfassungsgerichts gemäß Art. 59 II GG innerstaatlich nur im Range eines einfachen Gesetzes3007. Über die inter partes-Wirkung der Entscheidungen des Gerichtshofes hinaus ist die Konvention aber aufgrund der „jedenfalls faktischen Orientierungs- und Leitfunktion“ des Gerichtshofes bei der Auslegung der Konvention, allerdings auch bei der Bestimmung der Reichweite und des Inhalts der Grundrechte, zu berücksichtigen3008. Zur Begründung bemüht das Bundesverfassungsgericht neben Art. 1 II GG den bereits aus der Debatte um die extraterritoriale Geltung der Grundrechte geläufigen Gedanken der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, welcher „Ausdruck eines Souveränitätsverständnisses [sei], das einer Einbindung in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht nur nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet“ 3009. Die Heranziehung der Konvention als „Auslegungshilfe auf der Ebene des Verfassungsrechts“ diene dazu, den Garantien der Menschenrechte in Deutschland möglichst umfassende Geltung zu verschaffen und gleichzeitig einen Völkerrechtsverstoß sowie eine Verurteilung der Bundesrepublik – auch hier werden die Parallelen der Diskussion zum räumlichen Schutzbereich von Art. 10 GG deutlich – zu vermeiden3010. Aufgrund des Bekenntnisses des Grundgesetzes zu den Menschenrechten in Art. 1 II GG komme der Konvention bei der Auslegung des Grundgesetzes besondere Bedeutung zu; sie besitze zwar keinen unmittelbaren Verfassungsrang, sei jedoch bei der Auslegung der Grundrechte, die „als Ausprägung der allgemeinen Menschenrechte“ deren Mindeststandard in sich aufgenommen hätten, als Auslegungshilfe zur Interpretation heranzuziehen3011. Dies wird in der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung besonders deutlich, wenn das Bundesverfassungsgericht sich ausdrücklich auf die Konvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs bezieht, um die extraterritoriale Grundrechtsgeltung zu begründen, welche auch durch das Verständnis der räumlichen Reichweite der Konvention nahegelegt werde3012.
3007 Ausführlich zuletzt zum Streikverbot für beamtete Lehrer BVerfGE 148, 296 (350 f., Rn. 127); ferner zur Sicherungsverwahrung BVerfGE 128, 326 (367); grundlegend zuvor BVerfGE 111, 307 (315 ff.) – Görgülü; für die Literatur Daiber, Einfluss (Fn. 1636), S. 957 f.; sowie das Standardlehrwerk von C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 3 Rn. 8. 3008 So BVerfGE 148, 296 (351 f., Rn. 128 f.); siehe ferner M. Jacobs/M. Payandeh, Das beamtenrechtliche Streikverbot: Konventionsrechtliche Immunisierung durch verfassungsgerichtliche Petrifizierung, in: JZ 2019, S. 19 (22). 3009 BVerfGE 148, 296 (352, Rn. 129); Jacobs/Payandeh, ebda., S. 22. 3010 BVerfGE 148, 296 (352, Rn. 129 f.). 3011 Ständige Rechtsprechung, siehe nur BVerfGE 154, 152 (220 f., Rn. 97); BVerfGE 152, 152 (176, Rn. 58); 148, 296 (351 ff., Rn. 128 ff.) mit hiesigem Zitat; BVerfGE 142, 313 (345, Rn. 88); 128, 329 (367 f.); 128, 282 (306 f.); 111, 307 (317 f.); v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 525; T. Giegerich, in: O. Dörr/R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, Bd. I, 3. Aufl. 2022, Kap. 2 Rn. 71 ff. 3012 BVerfGE 154, 152 (220 f., Rn. 97 f.).
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G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
Praktisch fordert das Bundesverfassungsgericht vom Rechtsanwender dafür – wie allgemein bei völkerrechtlichen Verträgen3013 – einen „aktiven (Rezeptions-) Vorgang [. . .]“, da zwischen der Konvention und den Grundrechten keine „schematische Parallelisierung“ erfolgen solle, sondern die Konventionsrechte vielmehr in den Kontext der nationalen Verfassungsordnung unter dem Grundgesetz „,umgedacht‘“ werden müssten3014. Dabei ist zu beachten, dass die Konvention gemäß Art. 53 einen Mindeststandard des Menschenrechtschutzes völkerrechtlich etabliert; sofern innerstaatliche Grundrechte weitergehende Garantien beinhalten, gilt das Günstigkeitsprinzip3015. Eine Einschränkung des Grundrechtsschutzes unter dem Grundgesetz durch die Konvention ist mithin ausgeschlossen3016. Bei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, bei denen die Bundesrepublik nicht Partei ist, müssten im Sinne einer „Kontextualisierung“ der konkrete Sachverhalt des entschiedenen Falles sowie der „(rechtskulturelle) Hintergrund“ ebenso berücksichtigt werden wie die spezifischen Besonderheiten der deutschen Rechtsordnung3017. Das Bundesverfassungsgericht zieht damit Grenzen einer völker- und konventionsrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes, die dann erreicht seien, wenn eine konventionsfreundliche Auslegung mit den anerkannten Methoden der Rechtsauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr möglich sei oder die Verfassungsidentität – insoweit verweist das Bundesverfassungsgericht auf seine in der Lissabon-Entscheidung begründete Rechtsprechung zu den europäischen Verträgen – der Bundesrepublik berührt sei3018. Insgesamt weist das Bundesverfassungsgericht der Europäischen Menschenrechtskonvention einen herausgehobenen Rang unter dem Grundgesetz zu, der weit über die Stellung eines einfachen Gesetzes bzw. „normalen“ völkerrechtlichen Vertrages hinausgeht; zugleich zieht es Grenzen der Harmonisierung
3013
Dazu auch schon unter F. I. 3. h) bb). BVerfGE 148, 296 (353, Rn. 131); 128, 326 (370 ff.); siehe auch instruktiv Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 3 Rn. 10. 3015 BVerfGE 154, 152 (221 f., Rn. 99); siehe ferner nur Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 148; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1075 f. 3016 BVerfGE 148, 296 (355, Rn. 134); 111, 307 (317); im Ergebnis anders Proelß/ Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 388 f., die die EMRK als „Auslegungshilfe“ (Hervorhebung im Original) nutzen wollen, um eine territoriale Begrenzung des Grundgesetzes zu begründen, worin aber gerade keine Beschränkung des Grundrechtsschutzes liegen soll. Genau dies ist aber das Ergebnis eines solchen Verständnisses, weswegen eine derartige Auslegung bzw. Beschränkung der Grundrechte des Grundgesetzes durch die Konvention abzulehnen ist. 3017 BVerfGE 148, 296 (354, Rn. 132); kritisch zur hiermit einhergehenden teilweisen Relativierung in Bezug auf das Streikrecht für Beamte Jacobs/Payandeh, Streikverbot (Fn. 3008), S. 22 f. 3018 BVerfGE 148, 296 (355, Rn. 133); zu den Grenzen einer konventionsfreundlichen Auslegung auch v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 527 f.; ausführlich hierzu und zum Verhältnis von BVerfG und EGMR sowie den Parallelen zur Debatte um die Beziehung von BVerfG und EuGH Jacobs/Payandeh, Streikverbot (Fn. 3008), S. 24 ff. 3014
I. Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention
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ein, um dem Grundgesetz – und mithin sich selbst – das „,letzte Wort‘“ 3019 bei der Interpretation der Grundrechte im Mehrebenensystem zu geben. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner dritten Abhörentscheidung betont, dass der Schutz des Fernmeldegeheimnisses durch Art. 10 GG mit seinem Schutzzweck einer freien und unbefangenen Kommunikation in Einklang mit Art. 8 EMRK stehe und dazu auch auf ein Urteil des Gerichtshofes verwiesen3020. Im aktuellen Urteil zum BNDG nimmt der Erste Senat – neben der territorialen Auslegung der Grundrechte – ebenso vielfach Bezug auf die Konvention und auf spezifische Rechtsprechung des Gerichtshofes zu nachrichtendienstlicher Massendatenüberwachung3021. Der Senat betont hiermit, dass die Konvention eine wichtige Rechtsquelle bei der Formulierung von völker- aber auch verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung darstellt und geht zugleich davon aus, dass die grundsätzliche Schutzrichtung von Grundgesetz und Menschenrechtskonvention in Bezug auf das Fernmeldegeheimnis und die Rechtfertigung von Eingriffen hierin übereinstimmen. Dem entspricht die allgemeine Stellung der Konvention in der nationalen Rechtsordnung: Zwar gilt die Konvention rein formal als einfaches Bundesgesetz, de facto entfaltet sie jedoch eine nicht unerhebliche verfassungsrechtliche Orientierungsfunktion. Dies gilt insbesondere in international geprägten Sachverhalten, wie der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung. Hier ist der Blick in den Rechtsraum des Europarats fast zwingend. Deswegen ist zu untersuchen, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung konventionskonform realisiert werden kann – auch auf konventionsrechtlicher Ebene findet diesbezüglich eine intensive Debatte statt. 2. Art. 1 und 8 EMRK als konventionsrechtliche Maßstäbe nachrichtendienstlichen Handelns a) Schutz des Privatlebens und der Korrespondenz als Oberbegriff Ein spezieller Schutz des Fernmeldegeheimnisses ist der EMRK fremd3022. Art. 8 EMRK enthält allerdings vier unterschiedliche Gewährleistungen, von denen bei der hier in Rede stehenden technischen Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst der Schutz des Privatlebens sowie der Korrespondenz relevant
3019
BVerfGE 148, 296 (352, Rn. 129). BVerfGE 100, 313 (363). 3021 BVerfGE 154, 152 (227 f., Rn. 111, 237 f., Rn. 137, 246, Rn. 159, 259 f., Rn. 192, 280 f., Rn. 250, 293, Rn. 280, 298, Rn. 295). 3022 Siehe nur B. Huber, Nachrichtendienste und EMRK, in: Dietrich/Gärditz, Sicherheitsverfassung (Fn. 521), S. 191 (193). 3020
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G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
sind3023. Daneben enthält Art. 8 EMRK ein besonderes Recht zum Schutz personenbezogener Daten, welches in der Konvention nicht als eigenständige Gewährleistung ausgestaltet ist3024. Insgesamt bietet die Vorschrift einen „Schutz vor staatlicher Beobachtung, Überwachung und Ausforschung“ 3025. Individualkommunikation ist unter dem weit auszulegenden Begriff der Korrespondenz bzw. des Briefverkehrs insbesondere vor staatlicher Kommunikationsüberwachung geschützt; der Terminus umfasst sowohl Telefongespräche – wie der Gerichtshof schon zur Urfassung des G 10 ausführte3026 – als auch sonstige Formen elektronischer Telekommunikation3027. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zur nachrichtendienstlichen Massendatenüberwachung des britischen Government Communications Headquarters die Konvention an heutige Herausforderungen des Daten- und Vertraulichkeitsschutzes angepasst, indem er ausführt, dass Verkehrs- bzw. Metadaten („related communications data“) ein intimes Persönlichkeitsprofil einer Person ermöglichen könnten und deren Erhebung und Auswertung deshalb nicht weniger einschränkend sei als bei Inhaltsdaten3028. Eine Ungleichbehandlung von Inhalts- und Verkehrs- bzw. Metadaten ist somit nach Auffassung des Gerichtshofes nicht (mehr) überzeugend3029. Der Schutzbereich 3023 Zur Relevanz von Art. 8 EMRK in Bezug auf nachrichtendienstliche Aufklärung J. v. Bernstorff/J. Asche, Nachrichtendienste und Menschenrechte, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. 2 § 1 Rn. 6 ff. 3024 Statt vieler Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 22 Rn. 2, 10. 3025 A.-M. Böhringer/T. Marauhn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG (Fn. 3011), Kap. 16 Rn. 27. 3026 EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 48 ff. – Klass u. a. (Alle Entscheidungen des EGMR sind nach der offiziellen Datenbank „HUDOC“ des Europarats zitiert; die Datenbank ist abrufbar unter https://www.echr.coe.int/Pages/ home.aspx?p=caselaw/HUDOC&c); zur Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf die deutsche G 10 Überwachung in den Rechtssachen Klass u. a. sowie Weber u. Savaria siehe die chronologische Zusammenfassung mit Ausblick auf aktuelle Entscheidungen bei Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 192 ff. 3027 Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 22 Rn. 25; J. Meyer-Ladewig/M. Nettesheim, in: dies./S. v. Raumer (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2017, Art. 8 Rn. 35; J. Pätzold, in: Karpenstein/Mayer, EMRK (Fn. 3006), Art. 8 Rn. 60. 3028 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 353 ff. – Big Brother Watch u. a.; zur Bedeutung von Metadaten nach Ansicht des Gerichtshofes im selbigen Urteil auch Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 202; äußerst positive Aufnahme dieses erweiterten Ansatzes des Gerichtshofes bei M. Tzanou, Big Brother Watch and others v. the United Kingdom: A Victory of Human Rights over Modern Digital Surveillance, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/big-brother-watch-and-others-v-the-uni ted-kingdom-a-victory-of-human-rights-over-modern-digital-surveillance/ (22.12.2019); zum Verfahrenshintergrund siehe B. van der Sloot/E. Kosta, Big Brother Watch and Others v UK: Lessons from the Latest Strasbourg Ruling on Bulk Surveillance, S. 2 ff., abrufbar unter https://www.bartvandersloot.com/About/publications.html (15.1. 2020). 3029 Hierzu auch M. Milanovic, ECtHR Judgment in Big Brother Watch v. UK, abrufbar unter https://www.ejiltalk.org/ecthr-judgment-in-big-brother-watch-v-uk/ (22.12. 2019).
I. Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention
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von Art. 8 EMRK ähnelt damit dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses unter dem Grundgesetz, die Wertungen des Gerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts sind bezüglich des sachlichen Schutzbereiches vergleichbar – auch in Bezug auf Verkehrs- bzw. Metadaten3030. In Bezug auf journalistische Telekommunikation und den Kontakt mit Informanten ist zudem noch Art. 10 EMRK einschlägig, der als Oberbegriff das Recht auf freie Meinungsäußerung schützt3031. b) Grundrechtsberechtigte nach der Konvention Art. 1 EMRK stellt alle Personen unter den Schutz der Konvention, die der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten unterstehen. Damit müssen zwei Merkmale erfüllt sein: Die natürliche oder juristische Person muss zunächst Subjekt der Rechte der Konvention sein können und ferner der Hoheitsgewalt bzw. jurisdiction – im Sinne der verbindlichen, englischen Fassung der Konvention – eines Vertragsstaates unterstehen3032. Im Folgenden sei einheitlich als deutsche Übersetzung von jurisdiction der Terminus der Hoheitsgewalt verwendet. Das Kriterium der Hoheitsgewalt wirkt als „Anwendungsschwelle“ („threshold criterion“) der Konvention – fehlt es hieran, ist die Konvention aufgrund ihres personenbezogenen Anknüpfungspunktes schon ratione personae unanwendbar3033. Liegt der Mangel an Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates in der Extraterritorialität des staatlichen Handelns begründet, ist die Konvention zudem ratione loci unanwendbar3034. Aufgrund der fehlenden räumlichen Anwendbarkeit der Konvention ist diese in extraterritorialen Sachverhalten in der Folge dann auch in personeller Hinsicht nicht applikabel3035. Die Frage, ob Hoheitsgewalt über eine Person („everyone“) besteht, ist mithin entscheidend dafür, ob die Konvention überhaupt Anwendung 3030
So die Wertung von Böhringer/Marauhn (Fn. 3025), Kap. 16 Rn. 28, 60 ff., unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 50/29/71, Rn. 48 ff. – Klass u. a. 3031 Hierzu stellvertretend im Kontext nachrichtendienstlicher Überwachung EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 490 ff. – Big Brother Watch u. a.; siehe auch BVerfGE 154, 152 (228, Rn. 111); B. Daiber, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/ v. Raumer, EMRK (Fn. 3027), Art. 10 Rn. 19, 67. 3032 Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 17 Rn. 1; V. Röben, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG (Fn. 3011), Kap. 5 Rn. 14. 3033 Monographisch dazu A. Bleier, Die extraterritoriale Anwendbarkeit der EMRK, 2019, S. 163; aus der Kommentarliteratur konzise C. Johann, in: Karpenstein/Mayer, EMRK (Fn. 3006), Art. 1 Rn. 18 m.w. N. aus der Rechtsprechung des EGMR; siehe ebenfalls S. Talmon, Der Begriff der „Hoheitsgewalt“ in Zeiten der Überwachung des Internet- und Telekommunikationsverkehrs durch ausländische Nachrichtendienste, in: JZ 2014, S. 783 (783 f.); der Gerichtshof spricht davon, dass die Ausübung von Hoheitsgewalt über eine Person „conditio sine qua non“ für die Anwendung der Konvention sei, dazu unlängst etwa nur EGMR, Urteil vom 5.5.2020 (GK), No. 3599/18, Rn. 97 – M. N. u. a. (Hervorhebung im Original). 3034 Erneut Johann, ebda., Art. 1 Rn. 18. 3035 So die einleuchtende Schlussfolgerung von Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 18.
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G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
findet3036. Aus prozessualer Sicht ist ferner zu beachten, dass der Einwand, Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 1 EMRK bestehe im konkreten Fall nicht, aktiv erhoben werden muss; dies lässt sich jedenfalls daraus ableiten, dass der Gerichtshof auch in Fällen, in denen sich Extraterritorialität förmlich aufdrängt, das Problem dann nicht thematisiert, wenn die Hoheitsgewalt von den Parteien nicht bestritten wird3037 – er prüft das Merkmal mithin nicht von Amts wegen. aa) Ratione loci bei grenzüberschreitenden und extraterritorialen Sachverhalten Die Frage, wann ein Staat Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 1 EMRK ausübt, ist analog der Bestimmung des räumlichen Schutzbereiches des Grundgesetzes äußerst komplex und noch nicht in allen Aspekten abschließend geklärt3038. Bei der Diskussion ergeben sich Ähnlichkeiten mit der nationalen Debatte, aber auch deutliche Unterschiede. Hinsichtlich der allgemeinen territorialen Geltung von Normen im völkerrechtlichen Sinne – grundsätzlich bei Territorialhoheit, Personal- und Flaggenhoheit, genuine link –, die dem Grunde nach auch für die EMRK Gültigkeit beanspruchen und mithin auch den Geltungsbereich der Konvention vorgeben können, sei auf die Ausführungen zum Grundgesetz verwiesen3039. Demnach gilt die Konvention entsprechend allgemeiner Grundsätze umfassend im Territorium eines Staates, da dieser in selbigem souverän seine Herrschaftsgewalt ausübt3040. Es handelt sich, wie auch bei dem räumlichen Schutzbereich der Grundrechte des Grundgesetzes, um den Regelfall der Geltungsreichweite des Konventionsrechts. 3036 Instruktiv hierzu die Ausführungen von Talmon, Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 7 ff. 3037 Ausdrücklich als „objection“ nach Art. 1 EMRK kürzlich betitelt in EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 271 – Big Brother Watch u. a.; nicht näher beleuchtet in EGMR, Beschluss vom 28.6.2007, No. 60167/00, Rn. 52 ff. – Pad u. a., wo es um den Beschuss von sieben Iranern im türkisch-iranischen Grenzgebiet durch türkische Helikopter ging; wie hier auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 105. 3038 A. A. etwa Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2223, die davon ausgeht, dass über die extraterritoriale Geltung von internationalen Menschenrechtsverträgen „weitgehend Einigkeit“ herrsche. Dies erscheint – ebenso wie pauschale Aussagen vor dem Grundsatzurteil des BVerfG zur Grundrechtsgeltung im Ausland – jedenfalls mit Blick auf die EMRK und in Sonderheit die technische Aufklärung durch Nachrichtendienste zu kurz gegriffen. 3039 Zur völkerrechtskonformen, extraterritorialen Normsetzung schon unter F. I. 3. 3040 Hierzu etwa EGMR, Urteil vom 5.5.2020 (GK), No. 3599/18, Rn. 98 – M. N. u. a.; EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 131 – Al Skeini; EGMR, Urteil vom 16.11. 2004, No. 31821/96, Rn. 67 – Issa; EGMR, Urteil vom 8.7.2004 (GK), No. 48787/99, Rn. 312 – Ilas¸cu; grundlegend hierzu vor allem EGMR, Urteil vom 12.12.2001 (GK), No. 52207/99, Rn. 59 ff. – Bankovic´ u. a.; statt aller zur primären Geltung der Konvention bei Territorialhoheit aus der Literatur v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 642; Röben (Fn. 3032), Kap. 5 Rn. 101 ff., mit weiteren, dem Staatsgebiet gleichgestellten Fällen.
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(1) Abriss des allgemeinen case law zu extraterritorialem Handeln Aufgrund der Vielzahl der Vertragsstaaten und der vor den Gerichtshof gebrachten Streitfälle existieren in dessen case law, im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, zahlreiche Ausführungen dazu, wann bei extraterritorialem Handeln von Vertragsstaaten Hoheitsgewalt ausgeübt wird3041. Als Arbeitsdefinition soll ein extraterritorialer Sachverhalt dadurch gekennzeichnet sein, dass entweder Rechtsakte durch Organe der Vertragsstaaten außerhalb des eigenen Staatsgebietes vorgenommen werden (rein extraterritoriales Handeln) oder dort eine dem Staat zurechenbare Wirkung entfalten, die ihren Ursprung aber im Inland hat (grenzüberschreitendes Handeln)3042. Eine rein extraterritoriale Geltung der Konvention kommt nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes nur in Ausnahmefällen – die im Einklang mit dem allgemeinen Völkerrecht zu bestimmen sind – in Betracht3043. Diese Ausnahmefälle lassen sich – trotz der einzelfallbezogenen und nicht immer kohärenten Rechtsprechung des Gerichtshofes3044 – grob wie folgt kategorisieren: Herr-
3041 Hierzu detailliert mit chronologischer Rechtsprechungsauswertung Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 96 ff.; eine Zusammenstellung der Rechtsprechung des EGMR findet sich ferner bei Bleier, Anwendbarkeit (Fn. 3033), S. 163 ff.; v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 642 ff.; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 51 ff.; T. R. Salomon, Die internationale Strafverfolgungsstrategie gegenüber somalischen Piraten, 2017, S. 279 ff.; C. Johann, Menschenrechte im internationalen bewaffneten Konflikt, 2012, S. 70 ff.; Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 8 ff. Im Rahmen dieser Untersuchung soll es genügen, die wichtigsten Aussagen und Entscheidungen zu komprimieren, da keine abstrakte Darstellung der Rechtsprechung angestrebt wird – siehe hierzu bereits ausführlich und hilfreich die vorgenannte Literatur –, sondern die konkrete Fallfrage der Anwendbarkeit der Konvention auf die strategische und die AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung im Zentrum steht. 3042 Hiesige Definition angelehnt an Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 17 Rn. 14. 3043 So etwa in EGMR, Urteil vom 5.5.2020 (GK), No. 3599/18, Rn. 102 – M. N. u. a.; EGMR, Urteil vom 20.11.2014 (GK), No. 47708/08, Rn. 139 ff. – Jaloud; EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 130 ff. – Al Skeini; EGMR, Urteil vom 29.3.2010 (GK), No. 3394/03, Rn. 64 – Medvedyev u. a.; EGMR, Urteil vom 30.6.2009, No. 61498/08, Rn. 85 – Al Saadoon; EGMR, Urteil vom 8.7.2004 (GK), No. 48787/99, Rn. 314 – Ilas¸cu; besonders strikter Ansatz im Grundsatzurteil EGMR, Urteil vom 12.12.2001 (GK), No. 52207/99, Rn. 67 – Bankovic´ u. a.; ferner Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 20. 3044 Siehe die conclusio zur EGMR-Rechtsprechung bei Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 111; Schmalenbach, Anstöße (Fn. 13), S. 266, spricht von Einzelfalljudikatur, der „jede Gradlinigkeit“ abgehe; ähnlich Menzel, Recht (Fn. 1365), S. 547, „schwankende Judikatur“. Der EGMR betont selber, dass eine extraterritoriale Jurisdiktion eines Vertragsstaates stets nach den besonderen Umständen des Einzelfalles entschieden werden müsse, so etwa in EGMR, Urteil vom 19.10.2012, No. 43370/04 u. a., Rn. 105 – Catan u. a.; EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 132 – Al Skeini; siehe auch Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 20.
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schaft über ein Territorium oder Herrschaft über Personen3045. Zunächst nimmt der Gerichtshof Hoheitsgewalt bei der Ausübung von effektiver Kontrolle („effective overall control“) über ein Territorium an, was regelmäßig durch Streitkräfte des kontrollierenden Staates oder durch eine untergeordnete lokale Verwaltung gegeben ist3046. Die Rechtmäßigkeit der Besatzung nach dem Völkerrecht ist für die Annahme von Hoheitsgewalt im Sinne der Konvention irrelevant3047. Ob eine effektive Kontrolle über ein Territorium im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes besteht, hängt von der tatsächlichen, einzelfallabhängigen Stärke der militärischen Präsens – vulgo „boots on the ground“ 3048 – 3045 Lehrbuchartig ausgeführt in EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 130 ff. – Al Skeini; so auch Schmalenbach, Anstöße (Fn. 13), S. 267; komprimierte und übersichtliche Zusammenfassung bei B. Çali, Has ,Control over rights doctrine‘ for extra-territorial jurisdiction come of age? Karlsruhe, too, has spoken, now it’s Strasbourg’s turn, abrufbar unter https://www.ejiltalk.org/has-control-over-rights-doc trine-for-extra-territorial-jurisdiction-come-of-age-karlsruhe-too-has-spoken-now-its-stras bourgs-turn/ (21.7.2020). Zum Sonderfall der Eröffnung des Anwendungsbereiches der Konvention bei der strafrechtlichen Untersuchung von Todesfällen außerhalb des Territoriums eines Vertragsstaates vgl. EGMR, Urteil vom 29.1.2019 (GK), No. 36925/07, Rn. 188 ff. – Güzelyurtlu and Others; zum jurisdictional link in Fällen einer völkerrechtlichen wie nationalstaatlichen Verpflichtung zur Untersuchung tödlicher militärischer Gewaltanwendung im Rahmen eines UN-mandatierten Einsatzes – Stichwort: Tanklaster in Kunduz – vgl. unlängst EGMR, Urteil vom 16.2.2021 (GK), No. 4871/16, Rn. 134 ff. – Hanan sowie die abweichende Meinung der Richter Grozev, Ranzoni und Eicke; zuvor zu der Hanan-Entscheidung schon I. Beck, Die Kunduz-Affaire [sic] vor dem EGMR: Grundsatzentscheidung zur extraterritorialen Anwendung des Rechts auf Leben erwartet, abrufbar unter https://www.juwiss.de/36-2020/ (26.3.2020). Eine mögliche Übertragung der Rechtsprechung des EGMR auf die Diskussion um die extraterritoriale Geltung unter dem Grundgesetz prüft und verneint im Ergebnis Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 142 ff.; ferner Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 189 ff.; zu derartigen Ansätzen im deutschen Schrifttum auch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 90 ff., die gleichfalls eine Adaption der völkerrechtlichen Parameter zur Bestimmung der territorialen Reichweite der Grundrechte und mithin einen Gleichlauf der Systeme ablehnt, da das Grundgesetz – anders als die EMRK – gerade nicht durch die Tatbestandsvoraussetzung der jurisdiction begrenzt werde (S. 96). Diesem Befund ist schon mit Blick auf das Fernmeldegeheimnis und seinen grundrechtsimmanenten extraterritorialen Schutzbereich zuzustimmen. 3046 Etwa EGMR, Urteil vom 5.5.2020 (GK), No. 3599/18, Rn. 103 – M. N. u. a.; EGMR, Urteil vom 16.6.2015 (GK), No. 13216/05, Rn. 168 ff. – Chiragov u. a.; EGMR, Urteil vom 16.11. 2004, No. 31821/96, Rn. 66 ff. – Issa; EGMR, Urteil vom 8.7.2004 (GK), No. 48787/99, Rn. 312 ff. – Ilas¸cu; grundlegend EGMR, Urteil vom 23.3.1995 (GK), No. 15318/89, Rn. 56 ff. – Loizidou (Preliminary Objections); dazu Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 17 Rn. 15; zum Ganzen auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 96 ff., der die „Zypernfälle“ mit der Beteiligung der Türkischen Republik Zypern im Einzelnen darstellt; zur territorial bestimmten Hoheitsgewalt in der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch BVerfGE 154, 152 (220 f., Rn. 97); Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 54 ff.; Johann, Menschenrechte (Fn. 3041), S. 74 ff. 3047 Siehe nur Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 23; Kälin/Künzli, Menschenrechtsschutz (Fn. 2995), Rn. 370. 3048 Plastische Beschreibung in EGMR, Urteil vom 16.6.2015 (GK), No. 13216/05, Rn. 96 – Chiragov u. a.
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und deren Einflussmöglichkeit sowie davon ab, inwieweit die Besatzungsmacht aufgrund von militärischer, wirtschaftlicher und politischer Unterstützung durch lokale Strukturen Einfluss über eine Region ausübt3049. Ebenso kann Hoheitsgewalt bei der tatsächlichen Ausübung von hoheitlichen Funktionen mit Zustimmung bzw. auf Einladung eines anderen Staates ausgeübt werden3050. In seiner wohl spektakulärsten – wie umstrittensten – Entscheidung zu extraterritorialem Handeln, in der Rechtssache Bankovic´, hat der Gerichtshof in sehr strikter territorialer Auslegung der Konvention festgehalten, dass die Bombardierung eines serbischen Radiosenders durch Vertragsstaaten im Rahmen einer NATO-Mission gerade nicht ausreiche, um Hoheitsgewalt dieser Staaten über die Betroffenen anzunehmen3051. Der Gerichtshof lehnt den Gedanken entschieden ab, dass ein allein aus Ursache und Wirkung bestehender Kausalzusammenhang („cause-and-effect“) ausreichen könne, um Hoheitsgewalt über Personen zu begründen3052. Andernfalls verlöre der Art. 1 der Konvention seine Bedeutung3053. Die travaux préparatoires der Konvention zeigten deutlich, dass die Vertragsparteien von einer primär territorialen Geltung ausgegangen seien, die überdies vor allem regional, in einem durch die Territorien der Vertragsstaaten definierten Rechtsraum („espace juridique“), Anwendung finden solle3054. Von der Rechtsfigur des espace juridique hat sich der Gerichtshof jedoch später wieder insoweit distanziert, als dass er festhielt, diese sei nicht dahingehend zu verstehen, dass
3049 Zusammenfassung der Position des EGMR bei Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 17 Rn. 15; Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 54 ff.; Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 25. 3050 EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 135 – Al Skeini. 3051 EGMR, Urteil vom 12.12.2001 (GK), No. 52207/99, Rn. 59 ff. – Bankovic ´ u. a.; zur Kritik an Bankovic´ siehe stellvertretend die Literaturstellungnahmen und Zusammenfassungen bei Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 112 ff.; Bleier, Anwendbarkeit (Fn. 3033), S. 192 ff.; Kälin/Künzli, Menschenrechtsschutz (Fn. 2995), Rn. 371; Johann, Menschenrechte (Fn. 3041), S. 72 m. Fn. 7; Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 62 ff. 3052 Grundlegend EGMR, Urteil vom 12.12.2001 (GK), No. 52207/99, Rn. 74 ff. – Bankovic´ u. a.; wiederholt und bestätigt in EGMR, Urteil vom 29.3.2010 (GK), No. 3394/03, Rn. 64 – Medvedyev u. a.; dahingehend nunmehr auch erneut EGMR, Urteil vom 5.5.2020 (GK), No. 3599/18, Rn. 112 – M. N. u. a.; siehe zum cause-and-effectGedanken auch die Ausführungen von Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 29. 3053 EGMR, Urteil vom 12.12.2001 (GK), No. 52207/99, Rn. 75 – Bankovic ´ u. a.; zur drohenden Aushöhlung des Kriteriums von Art. 1 EMRK insbesondere auch Talmon, Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 9 f. 3054 EGMR, Urteil vom 12.12.2001 (GK), No. 52207/99, Rn. 59 ff., 80 ff. – Bankovic ´ u. a.; Zusammenfassung des Bankovic´-Urteils etwa bei Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 99 ff.; Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 29; kritisch zur weitreichenden historischen Auslegung der Konvention mittels der travaux préparatoires Lorenz, Anwendungsbereich (Fn. 1377), S. 86 ff., der davon ausgeht, dass der EGMR diese Auslegungsmethode überbetone.
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niemals Hoheitsgewalt außerhalb des Rechtsraumes des Gebietes des Europarates – etwa fallgegenständlich im Irak – bestehen könne3055. Als zweite große Fallgruppe erkennt der Gerichtshof – unter Aufweichung, jedoch ohne explizite Aufgabe der strikt territorialen Linie seiner Bankovic´Rechtsprechung3056 – Hoheitsgewalt in solchen Fällen an, in denen ein Vertragsstaat unmittelbare physische Gewalt und Kontrolle über Individuen („physical power and control“) etwa durch deren Entführung, Verhaftung, Inhaftierung oder die Kontrollübernahme auf einem Schiff unter fremder Flagge in internationalen Gewässern ausübt3057. Gerade die etablierte physische Kontrolle über eine Person ist in diesen Fällen, nach der Wertung des Gerichtshofes, entscheidend3058. Es muss also zunächst ein gleichsam gesicherter Gewahrsam über Personen begründet worden sein, damit Folgeeingriffe an den Konventionsrechten zu messen sind3059. Bei lediglich grenzüberschreitenden Handlungen eines Vertragsstaates kommt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes auf einen jurisdictional link zwischen Handlungs- und Erfolgsort an, da Handlungen von Staaten, die Effekte jenseits der Grenzen hervorriefen, nur im Ausnahmefall eine Ausübung von Hoheitsgewalt darstellen könnten3060. Im Falle der sogenannten Mohammed-Karikaturen, die in der dänischen Zeitung Morgenavisen Jyllands-Posten erschienen, hat der Gerichtshof die Beschwerde eines Marokkaners sowie zweier marokkanischer Organisationen gegen Dänemark abgewiesen, da den Beschwerdeführern mit Aufenthalt in Marokko der jurisdictional link zu den Vorkommnissen auf dänischem Staatsgebiet fehle, da diese sich nicht physisch in Dänemark aufhielten3061. Damit stellt der Gerichtshof, jedenfalls im konkreten Fall, auf den Er3055
EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 142 – Al Skeini. So die Wertung bei v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 643; dazu auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 107. 3057 Aus der neuesten Rechtsprechung prägnant EGMR, Urteil vom 5.5.2020 (GK), No. 3599/18, Rn. 105 – M. N. u. a.; Zusammenfassung der Kriterien in der grundsätzlichen Entscheidung Al Skeini, zeitlich nach dem Bankovic´-Urteil, EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 136 – Al Skeini, unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 29.3.2010 (GK), No. 3394/03, Rn. 62 ff. – Medvedyev u. a.; EGMR, Urteil vom 30.6.2009, No. 61498/08, Rn. 86 ff. – Al Saadoon; grundlegend bereits EGMR, Urteil vom 12.5.2005 (GK), No. 46221/99, Rn. 91 – Öcalan; für die Literatur v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 643, der in diesen Fällen zu Recht eine eigene Kategorie sieht. 3058 EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 136 – Al Skeini; Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 28; Kälin/Künzli, Menschenrechtsschutz (Fn. 2995), Rn. 384. 3059 Dazu anschaulich Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 57 ff.; ebenso Salomon, Strafverfolgungsstrategie (Fn. 3041), S. 281, allerdings in Bezug auf die Bankovic´-Entscheidung. 3060 EGMR, Beschluss vom 11.12.2006, No. 5853/06 (ohne Rn.) – Ben El Mahi u. a.; Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 393; Übersicht bei Kälin/Künzli, Menschenrechtsschutz (Fn. 2995), Rn. 388 f. 3061 EGMR, Beschluss vom 11.12.2006, No. 5853/06 (ohne Rn.) – Ben El Mahi u.a. „The Court has found clear confirmation of this essentially territorial notion of jurisdiction in the travaux préparatoires, given that the Expert Intergovernmental Committee 3056
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folgs- und nicht auf den Handlungsort ab, wenn er bestimmt, ob Personen der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates im Sinne des Art. 1 EMRK unterstehen3062. Im Falle des Beschusses von Personen auf Zypern, bei denen sich zwar die Schützen, nicht aber die Betroffenen auf türkisch-zypriotisch kontrolliertem Gebiet aufhielten, hat der Gerichtshof dennoch Hoheitsgewalt bejaht, da die Schüsse aus nächster Nähe abgefeuert wurden3063. Der Schuss über die Grenze als Anknüpfungspunkt für Schutzbereichs- bzw. Konventionseröffnung erinnert stark an das Konzept Isensees vom finalen Staatshandeln, welches dem Betroffenen aufgedrängt werde. Bei der Entscheidung des Gerichtshofes wird man die Begründung aber nicht in einem dogmatischen Konzept suchen müssen, sondern vielmehr in den besonderen Umständen des Einzelfalles, sprich in den Wirren des Zypernkonfliktes. (2) Keine Festlegung des Gerichtshofes bezüglich extraterritorialer Überwachung durch Nachrichtendienste Unklar ist in der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofe geblieben, wie Fälle von extraterritorialer bzw. ausländische Personen im Ausland betreffende Telekommunikations- und Internetüberwachung mit strategischem Ausmaß konventionsrechtlich, in Bezug auf Art. 1 EMRK, zu bewerten sind. Hinsichtlich der deutschen strategischen Fernmeldeaufklärung unter dem G 10, in der Fassung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes von 1994 und im Nachgang des dritten Abhörurteils des Bundesverfassungsgerichts, hat sich der Gerichtshof nicht zur Frage der Hoheitsgewalt geäußert bzw. äußern müssen, da die Beschwerde bereits aus anderen Gründen als unzulässig verworfen wurde3064. Die Bundesregierung hatte replaced the words ,all persons residing within their territories‘ with a reference to persons ,within their jurisdiction‘ with a view to expanding the Convention’s application to others who may not reside, in a legal sense, but who are, nevertheless, on the territory of the Contracting States.“; Jurisdiktion von Malta nahm der Gerichtshof hingegen im Fall einer Person an, die aufgrund des Ersuchens Maltas mittels eines europäischen Haftbefehls in Spanien von spanischen Behörden festgenommen wurde, EGMR, Urteil vom 21.4.2009, No. 11956/07, Rn. 50 ff. – Stephens; zur Unsicherheit dieses Kriteriums bei der Anwendung im Einzelfall daher auch Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 30. 3062 So auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 104; Talmon, Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 10 f. 3063 EGMR, Beschluss vom 3.6.2008, No. 45653/99 (ohne Rn.) – Andreou u. a. „In these circumstances, even though the applicant sustained her injuries in territory over which Turkey exercised no control, the opening of fire on the crowd from close range, which was the direct and immediate cause of those injuries, was such that the applicant must be regarded as ,within [the] jurisdiction‘ of Turkey within the meaning of Article 1 and that the responsibility of the respondent State under the Convention is in consequence engaged.“ 3064 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 72 – Weber u. Savaria; dies betont auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828, der zudem zu Recht darauf hinweist, dass das BVerfG in seinem BNDG-Urteil auf diesen Beschluss des EGMR gerade nicht eingehe.
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in dem Verfahren den Standpunkt eingenommen, dass die beiden Beschwerdeführer mit ihrem Wohnsitz in Uruguay nicht der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik unterfielen, da die strategische Überwachung des vom Ausland aus geführten Fernmeldeverkehrs eine extraterritoriale Handlung sei, die Konvention aber – nach der Bankovic´-Rechtsprechung – im Wesentlichen territorial zu verstehen sei3065. In Bezug auf britische SIGINT, bei der Telekommunikationsverbindungen ausländischen Ursprunges auf britischem Territorium an Knotenpunkten abgefangen wurden, hat der Gerichtshof auf die Beschwerde zweier irischer Nichtregierungsorganisationen die Anwendbarkeit der Konvention einfach angenommen, ohne auf Fragen ratione loci einzugehen3066. Talmon mutmaßt plausibel, dass dies daran gelegen habe, dass auch britische Nichtregierungsorganisationen unter den Klägern waren, die ohnehin unzweifelhaft britischer Jurisdiktion unterstanden hätten3067. Demgegenüber wird an anderer Stelle angenommen, dass aufgrund der auf britischem Territorium belegenen Überwachungseinrichtungen Hoheitsgewalt auf dem eigenen Territorium ausgeübt wurde, welche sich dann bei der Erfassung der Organisationen auch in Irland extraterritorial ausgewirkt habe3068. Deswegen sei die Konvention, dem Regelfall der Geltung auf originärem staatlichen Territorium entsprechend, auch in diesem grenzüberschreitenden Sachverhalt anwendbar gewesen; der Gerichtshof habe sich deshalb zur Frage des Bestehens von Hoheitsgewalt gar nicht verhalten müssen3069. In seiner Entscheidung bezüglich der durch Edward Snowden aufgedeckten Überwachungsprogramme des Government Communications Headquarters, wie etwa der Mission TEMPORA, hat der Gerichtshof ebenfalls die Geltung der Konvention schlicht unterstellt3070. Unter den Beschwerdeführern waren dabei auch solche mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die sich nicht permanent im Vereinigten Königreich aufhielten oder dort ihren Wohnsitz hatten3071. Aus der Tatsache, dass es 3065 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 66 – Weber u. Savaria (zitiert nach der nichtamtlichen, deutschen Übersetzung des damaligen Bundesministeriums für Justiz). 3066 EGMR, Urteil vom 1.7.2008, No. 58243/00, Rn. 55 – Liberty u. a. 3067 Wertung bei Talmon, Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 11 m. Fn. 52. 3068 So die Auslegung des Liberty-Urteils des EGMR durch Aust, Stellungnahme (Fn. 549), S. 11. 3069 Aust, Stellungnahme (Fn. 549), S. 11; differenzierter ders., Spionage (Fn. 1342), S. 392 ff.; mit gleicher Stoßrichtung wie im erstgenannten Beitrag Schmahl, Völkerrechtsordnung (Fn. 1345), S. 34 f.; zweifelnd Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 117, die zu Recht darlegt, dass sich eine endgültige Antwort dem Urteil schlicht nicht entnehmen lasse. 3070 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 271 – Big Brother Watch u. a.; ähnlich in EGMR, Urteil vom 19.6.2018, No. 35252/08 – Centrum För Rättvisa, wo die auslandsbezogene Überwachung nach schwedischem Recht ohne weitere Thematisierung des Bestehens von Hoheitsgewalt an den Konventionsrechten gemessen wurde; siehe dazu auch BVerfGE 154, 152 (221, Rn. 98). 3071 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Appendix – Big Brother Watch u. a.; dazu auch BVerfGE 154, 152 (221, Rn. 98).
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hier teilweise um Personen ging, die ihren Aufenthalt außerhalb Großbritanniens hatten, die Überwachung aber auf britischem Territorium erfolgte, wird teilweise ebenfalls gefolgert, der Gerichtshof habe für diese grenzüberschreitenden Fälle signalisieren wollen, dass Hoheitsgewalt ausgeübt werde und die Konvention mithin anwendbar sei3072. In seiner Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung legt auch das Bundesverfassungsgericht nahe, dass der Gerichtshof exakt aufgrund dieser Konstellation die Konvention für anwendbar erachtet habe und die britischen Regelungen sodann an dieser gemessen habe3073. Recht offensichtlich gibt der Erste Senat hier einen Fingerzeig bzw. ein „Nudging“ in Richtung Straßburg, die extraterritoriale Konventionsgeltung bei nachrichtendienstlicher Aufklärung jedenfalls noch einmal intensiv zu überdenken, wenngleich das Gericht für eine anderweitige Entscheidung durch seinen Verweis auf Art. 53 EMRK potentiellen Verwerfungen vorbaut3074. Folgte man dieser Auslegung, würde die Konvention jedenfalls bei grenzüberschreitenden Sachverhalten gelten, bei denen die Überwachung selbst im Inland stattfindet, deren Folgen sich aber außerhalb des Staatsgebietes bei den aufgeklärten Personen realisieren. Die Konventionsgeltung hat der Gerichtshof indes vor allem angenommen, weil die britische Regierung den Einwand nicht bestehender Hoheitsgewalt – wohlweislich um eine etwaig ungünstige Entscheidung für den eigenen Überwachungsapparat von vornherein zu verhindern3075 – gerade nicht erhoben hatte3076. Dies wäre nach hiesigem Verständnis jedoch notwendig, um eine Entscheidung des Gerichtshofes diesbezüglich herbeizuführen. 3072 Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2223; Milanovic, Big Brother Watch (Fn. 3029). 3073 Mit eindeutiger Tendenz für eine Anwendbarkeit der Konvention auch angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes BVerfGE 154, 152 (221, Rn. 98). 3074 Çali, Strasbourg’s turn (Fn. 3045), sieht in der Aussage des BVerfG eben jenes „nudging“ aus Karlsruhe in Richtung Straßburg, wenngleich die Autorin richtigerweise skeptisch ist, ob der Gerichtshof insoweit die Auffassung des BVerfG teilt bzw. den Hinweis des nationalen Verfassungsgerichts wie gewünscht aufgreift; für einen Einfluss des BVerfG auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 718, 724; Huber, AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 9, sieht die Vorgaben des BVerfG als „handlungsanleitend“; Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 834, sieht eine „Wegmarke des Globalisierungsverfassungsrechts“, bei der das Gericht auch „eine internationale Rezeptionsgemeinschaft im Blick“ gehabt habe. 3075 Zu prozesstaktischen Überlegungen der britischen Regierung auch Milanovic, Big Brother Watch (Fn. 3029). 3076 Dies hebt der Gerichtshof ausdrücklich hervor, EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 271 – Big Brother Watch u. a. – „The Government contested that argument. They did not, however, raise any objection under Article 1 of the Convention; nor did they suggest that the interception of communications under the section 8(4) regime was taking place outside the United Kingdom’s territorial jurisdiction. The Court will therefore proceed on the assumption that the matters complained of fall within the jurisdictional competence of the United Kingdom.“; hierauf weist ebenfalls hin Gärditz, Grenzen (Fn. 132), der allerdings von einem Versäumnis der britischen Regierung ausgeht.
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Aus dem Vorgehen des Gerichtshofes in der Rechtssache Big Brother Watch eine Konventionsgeltung abzuleiten, erscheint deswegen zu weitgehend und berücksichtigt die prozessuale Besonderheit des zu erhebenden Einwands fehlender Hoheitsgewalt nicht hinreichend. Zudem müsste der Gerichtshof dann einen Weg finden – und finden wollen – seine bisherige Rechtsprechung in weiten Teilen mit einer derart neuen Position zu harmonisieren oder ihr, jedenfalls insoweit, gar zu widersprechen. Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht kann sich der Gerichthof aufgrund seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung zum Bestehen von jurisdiction in konkreten Streitfällen nicht auf den Ausgangspunkt zurückziehen, die Frage sei in der bisherigen Judikatur offengeblieben3077. Nach hiesigem Verständnis ist der Auslegung der Rechtsprechung des Gerichtshofes durch Teile der Literatur und durch das Bundesverfassungsgericht deshalb entgegenzutreten. Ausdrücklich entschieden hat der Gerichtshof die Frage aber bisher freilich nicht3078; seine Rechtsprechung lässt sich allenfalls – wohl mehr oder minder durch die jeweilige dogmatische Grundposition beeinflusst – in die eine oder andere Richtung deuten, bietet jedoch keine finale Antwort. Teilweise wird sogar angenommen, die bisherigen Lösungen des Gerichtshofes ließen sich insgesamt auf die technische Fernmeldeaufklärung in den Realitäten des digitalisierten 21. Jahrhunderts nicht sinnvoll übertragen – der Gerichtshof müsse vielmehr einen fortschrittlicheren Ansatz zur sicheren Beherrschung von Fällen datenspezifischer Extraterritorialität erst noch entwickeln3079. Die Ansätze der Rechtsprechung mit ihrem Fokus auf territoriale Herrschaft über Gebiete und physische Kontrolle über Individuen seien angesichts heutiger Herausforderungen durch die Entterritorialisierung hoheitlichen Handelns veraltet3080. Andere nachrichtendienstrechtliche Beiträge blenden die entscheidende Vorfrage der Ausübung von Hoheitsgewalt bei der konventionsrechtlichen Beurteilung von nachrichtendienstlicher Fernmeldeaufklärung und die diesbezügliche Rechtsprechung des Gerichtshofes gänzlich aus3081. 3077 Allerdings geht hiermit auch die Verpflichtung einher die Rechtsprechung nicht aus dem Kontext oder nur in Form einzelner Entscheidungen anzuführen, wie Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 828, zu Recht betont. 3078 Dies gesteht freilich auch das BVerfGE 154, 152 (221, Rn. 97) ein, wenn der Erste Senat feststellt, dass in der Frage zum Schutz vor Überwachungsmaßnahmen durch die Konvention noch „keine letztverbindliche Klärung“ vorliege; dies betont ebenso erneut Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827. 3079 So die Bilanz und der Appell von Schmalenbach, Anstöße (Fn. 13), S. 266 ff. 3080 S. Schmahl, Intelligence and Human Rights, in: Dietrich/Sule, Intelligence Law (Fn. 48), Part 4 Ch. 1, Rn. 21; unter Verweis auf v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 644, der jedenfalls in Bezug auf Bankovic´ von einer „anachronistischen“ Sichtweise des EGMR spricht. 3081 Nicht thematisiert in den nachrichtendienstspezifischen Beiträgen von Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), der die Anwendbarkeit der Konvention auf die AuslandAusland-Fernmeldeaufklärung schlicht unterstellt, ohne auf das entscheidende Problem
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(3) Übertragung der allgemeinen judiziellen Parameter auf die nationale Überwachungspraxis Zu beurteilen sind nach alledem, mit Blick auf die Überwachungspraxis des Bundesnachrichtendienstes und die nationale Rechtslage, folgende drei Konstellationen: Erstens die grenzüberschreitende strategische inländische Erfassung von Telekommunikation mittels in der Bundesrepublik belegener Abhöreinrichtungen, bei der sich einer der Telekommunikationsteilnehmer physisch im Bundesgebiet aufhält (G 10-Fälle). Zweitens die grenzüberschreitende strategische Überwachung von nicht-deutscher Telekommunikation mit physischem Aufenthaltsort der Teilnehmer im Ausland vom Inland aus (Fälle des § 6 BNDG). Drittens das rein extraterritoriale Handeln in Form der strategischen Erfassung von AuslandAusland-Telekommunikation von im Ausland befindlichen Personen mittels im Ausland befindlicher Überwachungseinrichtungen (Fälle des § 7 BNDG). (a) Grenzüberschreitende Überwachung vom Inland aus – physischer Aufenthalt als konstitutive Anwendbarkeitsvoraussetzung der Konvention Weitgehende Ansätze gehen davon aus, dass Personen bei extraterritorialen Überwachungsmaßnahmen in allen möglichen Sachverhaltskonstellationen der Hoheitsgewalt des aufklärenden Staates unterstehen3082. Dabei ist eine genaue Differenzierung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes nötig3083. Unproblematisch wird man von einer effektiven Kontrolle im territorial-räumlichen Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes ausgehen können, wenn Überwachungseinrichtungen genutzt werden, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik belegen sind, wie die Radome zur Satellitenüberwachung in Bad Aibling oder der Internetknotenpunkt DE-CIX3084. Auf die Belegenheit der Überwachungseinrichtungen allein kann es aber für die Konventionsgeltung bei grenzübergreifenden Sachverhalten nicht ankommen, da nicht die Ausübung von Hoheitsgewalt per se relevant ist, sondern gemäß Art. 1 EMRK, ob eine Person der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates „untersteht“ 3085. Ansonsten wäre der einder Ausübung von Hoheitsgewalt einzugehen; ebenfalls unberücksichtigt bleibt diese Vorfrage bei den Ausführungen von v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1. 3082 So im Ergebnis etwa M. Milanovic, Human Rights Treaties and Foreign Surveillance: Privacy in the Digital Age, in: Harvard International Law Journal 56 (2015), S. 81 (87); C. Nyst, Interference-Based Jurisdiction Over Violations of the Right to Privacy, abrufbar unter https://www.ejiltalk.org/interference-based-jurisdiction-over-viola tions-of-the-right-to-privacy/ (22.12.2019). 3083 Diese nimmt freilich auch Milanovic, ebda., S. 124 ff., in seinem Beitrag vor. 3084 Insoweit besteht Einigkeit, siehe Schmahl, Völkerrechtsordnung (Fn. 1345), S. 34 f.; Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 392; Talmon, Begriff (Fn. 3033), S. 785; ders., Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 10. 3085 So instruktiv Talmon, Begriff (Fn. 3033), S. 785; zur Notwendigkeit dieser Differenzierung auch Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 392; Milanovic, Surveillance (Fn. 3082), S. 124 f.; Schmahl (Fn. 3080), Ch. 1 Part 4, Rn. 21 m. Fn. 92, verweist für eine Konven-
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zige Anknüpfungspunkt die „Rechtsverletzung durch einen Hoheitsakt im Gebiet einer Vertragspartei“ 3086. Es muss aber auf den Aufenthaltsort des Betroffenen, ergo den Erfolgsort, und nicht auf den Handlungsort der Überwachung abgestellt werden3087. Einen Sonderfall, wie den grenzüberschreitenden Beschuss aus nächster Nähe und damit die Ausübung von Hoheitsgewalt im Sinne der Konvention in der Rechtssache Andreou3088, wird man in der vom Inland ausgehenden Überwachung, die sich im Ausland realisiert, nicht erblicken können. Die datenspezifische Verbindung von Personen im Ausland, deren Telekommunikation etwa von Satellitenempfangsstationen in der Bundesrepublik erfasst wird, ist mit der unmittelbaren Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit, noch dazu in einer unübersichtlichen Grenzsituation, qualitativ schon nicht vergleichbar. Dies liegt auch an der mangelnden physischen Beeinträchtigung der Betroffenen, schließlich hat der Gerichtshof auf dieses Merkmal – sowohl in grenzüberschreitenden als auch rein extraterritorialen Fällen – stets besonderen Wert gelegt. Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Konvention bei grenzübergreifender Überwachung ist daher, dass sich eine Person tatsächlich physisch auf dem Gebiet des Vertragsstaates aufhält, da sie nur dann der Hoheitsgewalt eines Staates „unterstehen“ kann3089. Bezugspunkt kann mithin nicht das zu überwachende Datum bzw. die erhebende Überwachungseinrichtung sein3090. Ein solches Konventionsverständnis wäre zwar rechtspolitisch und aus Sicht eines weitreichenden Menschenrechtsschutzes im digitalen Zeitalter durchaus erstrebenswert3091, es findet jedoch im Konventionstext und in der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes keinen Halt. Der Wortlaut der Konvention ist mit Blick auf die Formulie-
tionsgeltung in Fällen grenzüberschreitender Überwachung pauschal auf das Liberty-Urteil des EGMR, welches aber nach hiesiger Ansicht eine derartige Auslegung nicht zweifelsfrei zulässt. 3086 Talmon, Begriff (Fn. 3033), S. 786. 3087 EGMR, Beschluss vom 11.12.2006, No. 5853/06 (ohne Rn.) – Ben El Mahi u. a.; Talmon, Begriff (Fn. 3033), S. 785; auf dieses Urteil verweist richtigerweise ebenfalls mit gleicher Stoßrichtung ders., Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 10 f. 3088 EGMR, Beschluss vom 3.6.2008, No. 45653/99 (ohne Rn.) – Andreou u. a. 3089 EGMR, Beschluss vom 11.12.2006, No. 5853/06 (ohne Rn.) – Ben El Mahi u. a.; wie hier auch Talmon, Begriff (Fn. 3033), S. 786; ders., Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 11; Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 479 f.; a. A. Schmahl, Völkerrechtsordnung (Fn. 1345), S. 35; Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 394; Milanovic, Surveillance (Fn. 3082), S. 125; Nyst, Jurisdiction (Fn. 3082). 3090 A. A. Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 119 f.; Schmahl, Völkerrechtsordnung (Fn. 1345), S. 35, die allein die physische Kontrolle über die Daten im Inland in Fällen grenzüberschreitenden Handelns zur Eröffnung des Schutzes der Konvention ausreichen lässt; vorsichtig dahingehend auch Ewer/Thienel, Aspekte (Fn. 1345), S. 32 f. 3091 Zu einem extensiveren Verständnis des Menschenrechtsschutzes de lege ferenda Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2223; insbesondere mit Blick auf die Überwachungstätigkeiten der Nachrichtendienste, Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 119 f., 159 ff.
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rung „unterstehen“ eindeutig, anderenfalls ließe man die reine Betroffenheit einer Person von Hoheitsakten ausreichen3092. Diesen cause-and-effect Gedanken hat der Gerichtshof aber ausdrücklich zurückgewiesen3093. Die Menschenrechtskonvention und ihre Auslegung durch den Gerichtshof, die wirkungsbezogene Elemente ausblendet, führt in Bezug auf ihre territoriale Geltung damit zu anderen Ergebnissen als das Grundgesetz. Hierbei wird man auch zu berücksichtigen haben, dass der Menschengerichtshof – anders als das Bundesverfassungsgericht als originärer Wächter einer in sich verfassten Staatsordnung – bei seinen Entscheidungen, jedenfalls mit Blick auf die Rechtsfolgen, auf die „Grenzen des vertraglichen Bindungswillens heterogener Mitgliedstaaten“ der Konvention Rücksicht nehmen muss3094. Eine allzu extensive Auslegung der Konvention stößt hier auch an Grenzen politischer Bereitschaft zur Subordination, was in der Rechtsnatur der Konvention als völkerrechtlichem Vertrag begründet liegt. Für die G 10-Fälle ergibt sich somit, dass die Konvention Anwendung findet, da sich zumindest ein Kommunikationspartner physisch auf dem Gebiet der Bundesrepublik befindet und mithin ihrer Hoheitsgewalt untersteht3095. Der Telekommunikationsvorgang zwischen zwei Personen stellt rechtlich eine untrennbare Einheit dar, weswegen auch der im Ausland befindliche Gesprächspartner dem Konventionsschutz unterfallen muss. Anderenfalls wäre der Schutz für den im Inland befindlichen Teilnehmer durch den Zugriff auf den extraterritorialen Kommunikationspartner ausgehebelt. Somit unterstehen die Beteiligten in den Fällen des § 5 I G 10 der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik; die Konvention findet ratione loci Anwendung. Bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Inland aus kann die Konvention nach hiesiger Ansicht hingegen keine Anwendung finden, da die Überwachung grenzüberschreitend erfolgt, die Betroffenen sich aber eben nicht physisch auf dem Gebiet der Bundesrepublik befinden. Der tatsächliche Aufenthalt der aufzuklärenden Personen im Ausland ist für § 6 I 1 BNDG aber konstitutive Voraussetzung. Die Betroffenen der Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung vom Inland aus unterstehen somit nicht der Hoheitsgewalt Deutschlands im Sinne des Art. 1 EMRK, da es an einem jurisdictional link mangelt. 3092 Richtigerweise diese Kausalität als konventionseröffnend abgelehnt bei Talmon, Begriff (Fn. 3033), S. 786. 3093 EGMR, Urteil vom 12.12.2001 (GK), No. 52207/99, Rn. 74 ff. – Bankovic ´ u. a.; wiederholt und bestätigt in EGMR, Urteil vom 29.3.2010 (GK), No. 3394/03, Rn. 64 – Medvedyev u. a.; dazu auch erneut Talmon, Begriff (Fn. 3033), S. 786; ders., Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 10 f. 3094 So die überzeugende Einschätzung der rechtspolitischen Dimension der Bestimmung von Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 1 EMRK im völkerrechtlichen Kontext durch Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 479 f. 3095 So letztlich auch im Ergebnis die richtige Annahme einer Konventionsanwendbarkeit bei der Überwachung internationaler Telekommunikation im Sinne des § 5 G 10 in EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 72 – Weber u. Savaria.
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(b) Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus jenseits deutscher Hoheitsgewalt Bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Ausland aus handelt es sich um einen rein extraterritorialen Akt, der nach der Rechtsprechung des Gerichts grundsätzlich eine der Fallgruppen von effektiver Kontrolle über Territorium oder Personen voraussetzt. Eine territoriale Kontrolle im klassischen, meist militärischen Besatzungssinne wird man bei der Kooperation mit Partnerdiensten an Überwachungseinrichtungen im Ausland oder durch mobile Satellitenempfangsanlagen schon von vornherein nicht annehmen können3096. Die Fallgruppen sind zu unterschiedlich, um sie direkt vergleichen und analog behandeln zu können. Stimmen in der Literatur versuchen indes, die Kriterien des Gerichtshofes dahingehend auszulegen, dass je genereller die Kontrolle eines Mitgliedsstaates über den Telekommunikations- und Datenverkehr eines anderen Landes werde, desto eher könne eine effektive Kontrolle durch Hoheitsausübung, die sonst der fremde Staat innehabe, gegeben sein3097. Selbst wenn man dem folgen wollte, wird die Datenerhebung durch den Bundesnachrichtendienst im Ausland einen solch bestimmenden Grad regelmäßig nicht erreichen. Bei der strategischen Überwachung geht es schließlich um das Ausleiten einzelner Datenströme, nicht aber um eine flächendeckende Kontrolle des Netzes, wie sie etwa autoritäre Regierungssysteme, z. B. in China, implementiert haben. Eine solche Bestimmungsmacht über das Telekommunikationssystem eines ganzen Landes oder einer Region würde erhebliche nachrichtendienstlich kontrollierte Infrastruktur bzw. Durchgriffsmöglichkeiten auf private Telekommunikationsanbieter, die in der Praxis die Datennetze betreiben, voraussetzen. Diese hat der Bundesnachrichtendienst im Ausland schon faktisch nicht; zudem würden ausländische Staaten im Regelfall hiergegen wohl vorgehen. Demnach bliebe lediglich der juristische Ansatz, eine effektive Gewalt und Kontrolle über ein Individuum anzunehmen3098. Der Gerichtshof fordert allerdings in diesen Fällen – in der Regel unmittelbare Freiheitsbeschränkungen –, dass diese Kontrolle, wie in seiner gesamten Rechtsprechung angelegt, wiederum physischer Natur sein muss3099. Dies ist bei nach3096 Von einem Mangel an territorialer Kontrolle im Sinne der Rechtsprechung des EGMR gehen ebenfalls aus Çali, Strasbourg’s turn (Fn. 3045); Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 157; Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 16. 3097 Für diese Überlegung etwa Schmahl (Fn. 3080), Ch. 1 Part 4, Rn. 21; dies., Völkerrechtsordnung (Fn. 1345), S. 36; dahingehend auch Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 35; Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 396 f., jeweils unter Verweis auf die Ansätze in EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 132 ff. – Al Skeini. 3098 Dazu eingehend Milanovic, Surveillance (Fn. 3082), S. 128 ff., der diverse Szenarien entwirft mit dem Ergebnis, dass Hoheitsgewalt in den meisten, wenn nicht sogar allen Fällen extraterritorialen Handelns bestehe. 3099 EGMR, Urteil vom 7.7.2011 (GK), No. 55721/07, Rn. 136 – Al Skeini „What is decisive in such cases is the exercise of physical power and control over the person in question.“; in Bezug auf extraterritoriale Überwachungsmaßnahmen ebenfalls so der
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richtendienstlicher Überwachung von Telekommunikation jedoch offensichtlich nicht der Fall. Angedacht wird im Schrifttum deshalb, ob nicht eine virtuelle Kontrolle über Individuen ausreichen könne, um Hoheitsgewalt im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes anzunehmen, jedenfalls dann, wenn diese an die Formen physischer Beeinträchtigung qualitativ heranreiche3100. So soll ein umfassender Menschenrechtsschutz auch gegen extraterritoriale Abhörmaßnahmen erreicht werden, um menschenrechtlich ungeschützte Räume, die dem Telos von deren Universalgeltung widersprächen, zu verhindern3101. Selbst wenn man auch diesem Ansatz folgte – der im Widerspruch zur klar physisch-orientierten Judikatur steht – ließe sich die strategische Aufklärung hierunter wiederum nicht subsumieren. Diese zielt eben gerade nicht auf eine individuelle Überwachung, sondern per definitionem auf eine möglichst breite, anlasslose Erfassung von Telekommunikation3102. Eine an physische Dimensionen heranreichende Überwachung Einzelner ist damit schon im Ansatz nicht gegeben. Selbst bei einer gezielten Steuerung von Telekommunikationsteilnehmern im Rahmen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung kann deren Telekommunikation aufgrund der wechselnden Routingwege und der Nutzung unterschiedlicher Telekommunikationsmedien und -anwendungen nicht vollumfänglich wie bei Individualmaßnahmen erfasst werden3103, weswegen auch hier eine virtuelle Kontrolle qualitativ nicht ausreicht. Insgesamt sprechen die besseren Argumente dafür, dass bei rein extraterritorialen Datenerhebungen vom Ausland aus keine Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 1 EMRK besteht. Die Konvention ist damit auch insoweit unanwendbar.
Befürworter eines restriktiven Ansatzes Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827; Talmon, Begriff (Fn. 3033), S. 784 f.; ders., Sachverständigengutachten (Fn. 1342), S. 9; a. A. Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 157 f. 3100 Für diese Überlegung plädieren Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 157 f.; Schmahl, Völkerrechtsordnung (Fn. 1345), S. 36 f.; Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 397 f.; ebenso schon P. Margulies, The NSA in Global Perspective: Surveillance, Human Rights, and International Counterterrorism, in: Fordham Law Review 82 (2014), S. 2137 (2150 ff.); A. Peters, Surveillance without Borders: The Unlawfulness of the NSA Panopticon, Part II, abrufbar unter https://www.ejiltalk.org/surveillance-withoutborders-the-unlawfulness-of-the-nsa-panopticon-part-ii/ (22.12.2019); dagegen Talmon, Begriff (Fn. 3033), S. 784 f., der am Erfordernis physischer Kontrolle festhält. 3101 Teleologischer Ansatz bei Schmahl, Grundrechtsbindung (Fn. 915), S. 2223; ausführlicher dies., Völkerrechtsordnung (Fn. 1345), S. 37; dahingehend auch schon Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 96 f. 3102 Dies sehen freilich auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 158; Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 397 f. 3103 Jedenfalls so der Vortrag zur nachrichtendienstlichen Praxis durch den BND in der mündlichen Verhandlung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung am 14. Januar 2020 im Verfahren 1 BvR 2835/17.
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(4) Zwischenergebnis: Territoriale Zersplitterung des Konventionsschutzes Die Europäische Menschenrechtskonvention ist nach der geltenden Rechtsprechung (noch) ein primär territorial radizierter Rechtsrahmen, der nur in Ausnahmefällen grenzüberschreitendes oder rein extraterritoriales Handeln erfasst. Bei der technischen Aufklärung durch den Bundesnachrichtendienst fällt lediglich die strategische Fernmeldeaufklärung nach dem G 10 in den Anwendungsbereich der Konvention, da hier Hoheitsgewalt jedenfalls über eine Person auf dem Territorium der Bundesrepublik ausgeübt wird, was den Schutz der im Ausland befindlichen Person aufgrund der Besonderheit des Fernmeldegeheimnisses sodann mitumfasst. Die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Inland und vom Ausland aus fällt nicht in den Anwendungsbereich der Konvention, da in beiden Fällen nach hiesiger Ansicht die betroffenen Personen – und nur darauf kommt es an – nicht der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik im Sinne des Art. 1 EMRK unterstehen. Mithin können sich für den Bereich der Ausland-Ausland-Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst keine konventionsrechtlichen Anforderungen ergeben. Dieser Befund ist aus rechtspolitischer Sicht durchaus unbefriedigend, da ein umfassender Menschenrechtsschutz durch die Konvention im Bereich der technischen Aufklärung durch Nachrichtendienste de lege lata nicht gewährleistet ist. Die langjährige Rechtsprechung des Gerichtshofes mit ihrem Fokus auf physische Kontrollszenarien über Gebiete oder Personen sowie der eindeutige Wortlaut der Konvention, wonach Personen der Hoheitsgewalt von Vertragsstaaten unterstehen und nicht lediglich von dieser betroffen sein müssen, lässt jedoch gegenwärtig eine weitergehende Auslegung des territorialen Anwendungsbereiches nicht belastbar zu. Wie der Gerichtshof in Zukunft entscheiden wird, bleibt letztlich abzuwarten. bb) Ratione personae In persönlicher Hinsicht sind gemäß Art. 1 EMRK „alle [. . .] Personen“ erfasst, weswegen eine Differenzierung anhand der Staatsangehörigkeit, bis auf wenige aufenthaltsrechtliche Ausnahmen, nicht statthaft ist3104. Berechtigt sind nach der Konvention natürliche und laut Art. 34 EMRK auch nichtstaatliche juristische Personen3105. Das Recht aus Art. 8 EMRK hat der Gerichtshof etwa im Fall Liberty ohne weitere Ausführungen auf juristische Personen des Privatrechts angewandt3106. Aus Art. 34 EMRK ergibt sich ferner eindeutig, dass, analog zum 3104
Statt aller Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 17
Rn. 2. 3105
Johann (Fn. 3033), Art. 1 Rn. 17; Röben (Fn. 3032), Kap. 5 Rn. 15 ff., 40 ff. EGMR, Urteil vom 1.7.2008, No. 58243/00, Rn. 57 – Liberty u. a.; Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 22 Rn. 4; für eine Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK auf juristische Personen auch unter Verweis auf Art. 10 GG Böhringer/Marauhn (Fn. 3025), Kap. 16 Rn. 69. 3106
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Grundgesetz, staatliche Organisationen keinen Konventionsschutz genießen3107. Mit Bezug auf die Konvention wurde die im Rahmen des personellen Schutzbereiches bereits dargelegte „Funktionsträgertheorie“ des Bundesnachrichtendienstes3108 bisher – soweit ersichtlich – nicht thematisiert. Auch auf menschenrechtlicher Ebene stellt sich aber dieselbe Problemlage: Wie ist die Grundrechtsträgerschaft von Personen zu bewerten, die als Organwalter für juristische Personen tätig werden? In Bezug auf nichtstaatliche Organisationen und Personengesamtheiten spricht viel dafür, von einem kumulativen Konventionsschutz sowohl der natürlichen als auch der juristischen Person auszugehen, da die Anerkennung der Konventionsberechtigung juristischer Personen letztlich die Folge der kollektiven Ausübung der Freiheiten ist; schließlich sind die Rechte der EMRK grundsätzlich als individuelle Menschenrechte ausgestaltet3109. Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Konventionsrechte der natürlichen Person gleichsam in der juristischen Person aufgehen sollten, wenn als Organwalter für diese gehandelt wird. Insofern ergibt sich derselbe Befund wie im nationalen Verfassungsrecht: Die „Funktionsträgertheorie“ ist auf juristische Personen des Privatrechts und ihre Organwalter nicht anwendbar. Im schwierigeren Fall der Organwalterschaft für juristische Personen des öffentlichen Rechts wird man ebenfalls zu einem Gleichlauf von Grund- und Menschenrechtsschutz gelangen3110. Auch unter der Konvention hebt die Eigenschaft als „öffentlicher Funktionsträger“ die hiervon unabhängige private Grundrechtsberechtigung der natürlichen Person nicht auf 3111. Personen, die als Organwalter für den Staat handeln, müssen im Rahmen ihrer Tätigkeit indes Einschränkungen hinnehmen3112. Wenn und soweit natürliche Personen direkt als Träger von Staatsgewalt handeln, können sie sich nicht auf die Konventionsrechte berufen3113. Somit ergibt sich auch in Bezug auf Organwalter ausländischer Staaten bzw. öffentlich-rechtlicher juristischer Personen eine Konventionsgeltung nur insoweit, als der Organwalter in seiner Eigenschaft als Privatmann kommuniziert. Bei dienstlicher Telekommunikation kommt die Gewährleistung des Art. 8 EMRK ratione personae nicht zum Tragen. Die insoweit notwendige inhaltliche Differenzierung ist aufgrund der besonderen Stellung als staatlicher Organwalter bzw. Hoheitsträger hinzunehmen. Insoweit kann also eine 3107
Siehe nur D. Ehlers, Allgemeine Lehren der EMRK, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 2 Rn. 45. 3108 Siehe dazu bereits oben unter E. I. 2. 3109 Dahingehend Röben (Fn. 3032), Kap. 5 Rn. 42, der ebenfalls von einem Nebeneinander der Gewährleistung für natürliche und juristische Personen ausgeht, jedenfalls dann, wenn diese kollektiv die Konventionsfreiheiten ausüben. 3110 Konkret zu Organwaltern ausländischer öffentlicher juristischer Personen unter dem GG siehe bereits oben unter E. I. 2. c). 3111 So Röben (Fn. 3032), Kap. 5 Rn. 31 unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 12.7. 2001 (GK), No. 42527/98 – Prinz Hans Adam II von Liechtenstein. 3112 Erneut Röben (Fn. 3032), Kap. 5 Rn. 34 m.w. N. 3113 So auch Ehlers (Fn. 3107), § 2 Rn. 45.
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Rechtsbeschränkung im Sinne der „Funktionsträgertheorie“ auch für die Menschenrechtskonvention angenommen werden. 3. Konventionseingriff durch bloße Existenz von Befugnisnormen Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in Verfahren, die die G 10-Aufklärung des Bundesnachrichtendienstes betrafen, eine sehr weitgehende Auslegung des Eingriffsbegriffes in Bezug auf heimliche (nachrichtendienstliche) Überwachung vorgenommen und bejaht diesen bereits bei der bloßen Existenz von Gesetzen, die eine Überwachung ermöglichen bzw. bei der Existenz des Überwachungssystems an sich3114. Voraussetzung ist dann nur, dass der Betroffene plausibel geltend machen kann, in den Anwendungsbereich der Überwachungsnorm zu fallen3115; es handelt sich letztlich um eine prozessuale Erleichterung für den Beschwerdeführer, der in Fällen heimlicher Überwachung keinen konkreten Nachweis – was ihm im Regelfall auch nicht gelingen dürfte – für hoheitliche Überwachungsmaßnahmen vortragen muss3116. Damit stellen sich für den Gerichtshof bundesverfassungsgerichtlich-materielle Abgrenzungsprobleme des Eingriffes, wie Nichttreffer-Fälle und spurenlose sofortige Löschungen – mithin die gesamte fein ziselierte Eingriffsdogmatik in Bezug auf automatisierte Massendatenabgleiche – schlechterdings nicht. Ebenso muss keine Staffelung der einzelnen Eingriffsschritte erfolgen oder eine Abschichtung danach, ob und wenn ja in welchem Umfang eine Individualisierbarkeit gegeben ist. Der Stand der rechtsdogmatischen Durchdringung von Massendatenerhebungen und Abgleichen bleibt somit erheblich hinter der sehr ausdifferenzierten Bewertung im nationalen Recht zurück. Dies liegt aber nicht zwangsläufig in einer allgemeinen dogmatischen Schwäche begründet, sondern vielmehr in der weiten Auslegung des Eingriffsbegriffes bei heimlichen Überwachungsmaßnahmen, was manches Folgeproblem, welches die nationale Rechtsordnung kennzeichnet, von vornherein ausschließt; einem effektiven Menschenrechtsschutz gereicht dies freilich nicht zum Nachteil. Ganz im Gegenteil wird hierdurch der Schutz wesentlich erweitert und von technischen Datenverarbeitungsschritten entkoppelt. Dem entspricht auch der 3114 So schon EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 77 f. – Weber u. Savaria; EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 41 – Klass u. a.; aus der Literatur Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 193; Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 399; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 137 f. 3115 Zu den konsolidierten Anforderungen aus der Rechtsprechung des EGMR siehe die Zusammenfassung in EGMR, Urteil vom 12.1.2016, No. 37138/14, Rn. 33 ff. – Szabó u. Vissy. 3116 Zur prozessualen Dimension dieser weiten Auslegung des Eingriffsbegriffs durch den Gerichtshof Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 194, der betont, dass das BVerwG erheblich höhere Anforderungen an den Individualrechtsschutz stellt; ferner Schmahl (Fn. 3080), Ch. 1 Part 4, Rn. 33; v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 19.
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hiesige Ansatz, im nationalen Verfassungsrecht in jeder Datenerfassung einen Eingriff zu sehen, unabhängig von den Folgeschritten. Angeschlossen hat sich der Gerichtshof indes der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die weitere Verarbeitung und Übermittlung von Daten einen weiteren Eingriff in Art. 8 EMRK darstellt, da sie Grundlage für anschließende hoheitliche Maßnahmen sind3117. Demnach ist bereits die Rechtsgrundlage in § 5 I G 10 ausreichend, um einen Eingriff in Art. 8 EMRK anzunehmen. Dasselbe gilt freilich für die tatsächliche Erhebung, Speicherung und Auswertung der Daten3118. 4. Anforderungen an die Rechtfertigung einer strategischen Fernmeldeaufklärung Selbstredend stellt nicht jeder Eingriff in Art. 8 EMRK einen Konventionsbruch dar. Der Gerichtshof bedient sich einer Negativabgrenzung, um das Verhältnis zwischen Eingriff und Rechtfertigung pauschal zu umreißen. Demnach verstößt ein Eingriff in Art. 8 EMRK gegen die Konvention, es sei denn er ist gesetzlich vorgesehen, verfolgt eines der in Art. 8 II EMRK genannten Ziele und ist in einer „demokratischen Gesellschaft notwendig“, um diese Ziele zu erreichen3119. Die in Art. 8 II EMRK aufgeführten Ziele sind in der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes indes wenig relevant, da sie keiner festen Definition zugeführt wurden und demgemäß eine Subsumption vieler staatlicher Zwecke für Überwachungsmaßnahmen gelingt3120. Schon früh hat der Gerichtshof ohnehin anerkannt, dass (strategische) Telekommunikations- und Postüberwachung zum Schutz der nationalen Sicherheit sowie zur Verhütung von Straftaten notwendig sein kann3121. a) Formelle Anforderungen an eine „gesetzlich vorgesehene“ Überwachung Die geforderte gesetzlich vorgesehene Grundlage im Sinne der Konvention – deren Notwendigkeit sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt – muss für die potentiell Betroffenen öffentlich zugänglich sein, damit diese hieraus grundsätzlich erkennen können, welche Anforderungen an hoheitliche Überwachung und einhergehende Folgen sich aus dem nationalen Gesetz ergeben3122. Dies gelte 3117 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 79 – Weber u. Savaria; Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 196. 3118 Siehe etwa EGMR, Urteil vom 2.9.2010, No. 35623/05, Rn. 46 – Uzun; v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 9. 3119 Stellvertretend Meyer-Ladewig/Nettesheim (Fn. 3027), Art. 8 Rn. 101 m.w. N.; Pätzold (Fn. 3027), Art. 8 Rn. 90. 3120 So die Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofes bei v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 21. 3121 So bereits in EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 48 – Klass u. a. 3122 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 306 – Big Brother Watch u. a.; EGMR, Urteil vom 4.12.2015 (GK), No. 47143/06, Rn. 243 – Zakharov; EGMR,
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umso mehr bei heimlicher Überwachung und in einer Zeit, in der die zur Verfügung stehenden Überwachungstechnologien immer ausgefeilter würden3123. Die formelle Anforderung an eine öffentlich zugängliche, hinreichend klare gesetzliche Grundlage stellt jedenfalls beim G 10 grundsätzlich kein Problem dar, da die wesentlichen Fragen durch den Gesetzgeber geregelt wurden und überdies – wie alle formellen Gesetze in der nationalen Rechtsordnung – öffentlich für Bürger zugänglich sind3124. Allerdings bedeutet die konventionsrechtliche Anforderung zur Vorhersehbarkeit heimlicher Überwachung anhand einer gesetzlichen Regelung freilich nicht, dass der Bürger – was für die Überwachung offensichtlich sicherheitspolitisch abträglich wäre – jede potentielle Maßnahme gegen ihn aus dem Gesetz ableiten können muss3125. b) „Weber“-Katalog der materiell-rechtlichen Mindestanforderungen – kein substantielles update Der Gerichtshof hat in einer langen Reihe von Rechtsprechung – zusammengefasst in seinem Weber-Urteil – sechs Mindestanforderungen für die Ausgestaltung der materiell-rechtlichen Gesetzesgrundlage bei heimlicher Überwachung aufgestellt3126. Demnach müssen in der gesetzlichen Grundlage folgende „GaBeschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 84 – Weber u. Savaria; v. Bernstorff/ Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 21; Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 399; auf die Konventionsanforderung verweist auch das BVerfG, wenn es normenklare und dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechende Ermächtigungsgrundlagen auch für Nachrichtendienste einfordert BVerfGE 154, 152 (238, Rn. 137). 3123 Ausdrücklich zum technischen Fortschritt im Lichte der Anforderungen an eine gesetzliche Grundlage für Konventionseingriffe in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 306 – Big Brother Watch u. a. 3124 So auch in Bezug auf das G 10 in der Fassung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes von 1994 noch EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 92 ff. – Weber u. Savaria. In anderen Vertragsstaaten war dies hingegen häufig nicht der Fall, hier wurde aufgrund exekutiver Regelungsregime oder Anordnungen überwacht, was der Gerichtshof regelmäßig beanstandete, EGMR, Urteil vom 2.8.1984, No. 8691/79 (Plenum), Rn. 66 ff. – Malone; EGMR, Urteil vom 21.6.2011, No. 30194/09, Rn. 67 ff. – Shimovolos; zum Ganzen mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 22 f. 3125 Zu dieser Beschränkung der „foreseeability“ einer gesetzlich bestimmten Maßnahme Schmahl (Fn. 3080), Ch. 1 Part 4, Rn. 36; v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 27; Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 719 sieht in der Sache Parallelen zu den Anforderungen an die Normenklarheit und Bestimmtheit nachrichtendienstlicher Ermächtigungsgrundlagen in der BNDG-Rechtsprechung des BVerfG. 3126 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 307 – Big Brother Watch u. a.; grundlegend EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 95 – Weber u. Savaria, m.w. N.; zuvor bereits EGMR, Urteil vom 16.2.2000, No. 7798/95, Rn. 76 – Amann; EGMR, Urteil vom 24.4.1990, No. 11105/84, Rn. 34 – Huvig. Der Gerichtshof verweist – ähnlich wie das BVerfG – auf die lange Reihe seiner Rechtsprechung, um die konsequente Rechtsprechungslinie herauszustreichen. Dies gilt für den Gerichtshof umso mehr, als er klassisches case law entwickelt, welchem der Selbstbezug freilich
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rantien“ kodifiziert sein: „Die Art der Straftaten, die eine Überwachungsanordnung rechtfertigen können; eine Beschreibung der Personengruppen, bei denen Telefongespräche abgehört werden können; die Begrenzung der Dauer der Abhörmaßnahme; das Verfahren für die Auswertung, Verwendung und Speicherung der erlangten Daten; die bei der Übermittlung der Daten an andere Parteien zu beachtenden Vorsichtsmaßnahmen und die Umstände, unter denen die Aufzeichnungen gelöscht und die Bänder vernichtet werden müssen oder dürfen“ 3127. Die sechs Mindeststandards aus Weber gelten auch für Überwachungsmaßnahmen aus Gründen der nationalen Sicherheit3128. Der Gerichtshof fügte in der Zakharov-Entscheidung noch hinzu, dass ebenso Benachrichtigungspflichten, nationale Rechtsschutzmöglichkeiten und Vorkehrungen für die Kontrolle der Durchführung von geheimer Massendatenüberwachung gesetzlich dargestellt sein müssten3129. Die Schutzmechanismen diskutiert der Gerichtshof dann noch eingehender im Rahmen der Verhältnismäßigkeit3130, wo sie auch das Bundesverfassungsgericht auf nationaler Ebene verortet. Die Kombination der Weber-Prüfelemente mit den Erweiterungen in Zakharov werden auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu der britischen Massendatenerfassung („bulk interception“) in Big Brother Watch als Grundlage herangezogen3131. Eine weitergehende Anpassung durch Aufnahme gänzlich neuer Parameter – wie sie die Beschwerdeführer in Form eines juristischen „update“ gefordert hatten – lehnt der Gerichtshof indes ab3132. Die Big Brother WatchEntscheidung ist auf ein kontroverses Echo gestoßen und hinsichtlich ihres Prüfungsmaßstabs – sowohl auf Ebene der gesetzlichen Grundlage als auch hinsichtlich der Verhältnismäßigkeitsabwägung – schon als „archaisch“ bezeichnet worden, da die technischen Möglichkeiten zur Big Data-Analyse und die schiere Dimension heutiger Massenüberwachungsprogramme keine hinreichende Würdiimmanent ist. Zusammenfassung der Parameter des Gerichtshofes in der Literatur etwa bei Schmahl (Fn. 3080), Ch. 1 Part 4, Rn. 37; Institut für Menschenrechte, Anforderungen (Fn. 2836), S. 9; zur Lage vor der Weber-Entscheidung Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 138 ff. 3127 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 95 – Weber u. Savaria (zitiert nach der nichtamtlichen, deutschen Übersetzung des damaligen Bundesministeriums für Justiz). 3128 So die Selbsteinschätzung des Gerichtshofes in EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 307 – Big Brother Watch u. a., unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 4.12.2015 (GK), No. 47143/06, Rn. 231 – Zakharov. 3129 EGMR, Urteil vom 4.12.2015 (GK), No. 47143/06, Rn. 238 – Zakharov. 3130 Auf diesen Dualismus in der Prüfung des EGMR machen v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 28, aufmerksam. 3131 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 307, 320 – Big Brother Watch u. a.; so auch die prägnante Zusammenfassung des Prüfungsumfangs bei Tzanou, Big Brother Watch (Fn. 3028). 3132 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 316 – Big Brother Watch u. a.
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gung fänden3133. Der Gerichtshof sieht die rasante (überwachungs-)technische Entwicklung zwar und betont auch ihre potentiell immer stärker werdende freiheitseinschränkende Dimension aufgrund der gesteigerten Erfassungs- und Analysemöglichkeiten einerseits, andererseits aber auch die Bedrohungspotentiale durch die verbesserten, getarnten Kommunikationsmöglichkeiten von Terroristen und Kriminellen im Internet3134. Die Weber-Anforderungen erweitert der Gerichtshof so denn auch behutsam: Die Regelungen für die Auswertung von Daten müssten sich etwa auch auf die Metadaten beziehen und nicht lediglich Bedingungen für die Inhaltsdaten aufstellen3135. Dieses Erfordernis ist die logische Konsequenz der bereits skizzierten Anerkennung der besonderen Aussagekraft von Metadaten in Big Brother Watch. Ebenso spezifiziert der Gerichtshof die Anforderungen an die Datenübermittlung an ausländische öffentliche Stellen – hierzu musste er in Weber noch keine Stellung beziehen3136. Im Empfängerstaat müsse ein angemessener Datenschutz existieren und beibehalten werden, und die übermittelnde Behörde müsse angemessene Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Daten nur im Rahmen des Erforderlichen verarbeitet werden3137. Ferner müsse sichergestellt sein, dass die Daten nicht ohne Autorisierung der übermittelnden Behörde an einen Drittstaat weitergegeben würden, sowie eine Pflicht zur Rückgabe bzw. rückstandlosen Löschung nicht mehr benötigter Daten im Empfängerstaat implementiert werden3138. Den letzteren Aspekt formuliert der Gerichtshof sogar als explizites Ver- bzw. Gebot3139. Das geforderte große update durch die Aufnahme von verdachtsbegründenden Anhaltspunkten gegen Individuen als überwachungsbeschränkendes Tatbestandsmerkmal lehnt der Gerichtshof aber ausdrücklich ab3140. Eine Massenüberwachung sei nicht von vornherein weniger beeinträchtigend für die Privatsphäre als eine gezielte Überwachung, da letztere schließlich von ihrem Ansatz her schon 3133
Prononcierte Kritik bei Tzanou, Big Brother Watch (Fn. 3028). EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 314 ff. – Big Brother Watch u. a. 3135 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 348 ff. – Big Brother Watch u. a. An diesem Mangel scheiterte das britische Recht denn auch maßgeblich. 3136 Siehe hierzu Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 203 m. Fn. 58. 3137 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 367 – Big Brother Watch u. a.; hierzu auch Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 204, der jedenfalls von einer impliziten Voraussetzung eines angemessenen Schutzniveaus durch den Gerichtshof ausgeht. 3138 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 367 – Big Brother Watch u. a. 3139 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 367 – Big Brother Watch u. a. –„The intercepted material must not be further disclosed to the authorities of a third country or territory unless explicitly agreed with the issuing agency, and must be returned to the issuing agency or securely destroyed when no longer needed.“ 3140 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 316 – Big Brother Watch u. a.; dazu auch van der Sloot/Kosta, Lessons (Fn. 3028), S. 8. 3134
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eine erhebliche Menge an Daten und Telekommunikation des Einzelnen erfasse3141. Vor allem aber sei die Massendatenerfassung schon per definitionem ungezielt und die Implementierung eines begründeten Verdachts als Tatbestandsvoraussetzung mache die Durchführung dieser Form der Überwachung schlechterdings unmöglich3142. Damit gelangt der Gerichtshof auf konventionsspezifische Weise zum Kern des dogmatischen Dilemmas, welches der anlasslosen Erfassung von Telekommunikationsdaten eigen ist: Die Erfassung kann schlicht nicht an konkretisierte, begründete Verdachtsmomente – oder wie im nationalen Recht – an einen wie auch immer definierten Gefahr- oder Verdachtsbegriff als Einschreitschwelle gekoppelt werden, da der Verdacht bzw. die Gefahr erst ermittelt werden muss, ein Anlass also noch gar nicht feststehen kann3143. Konventionsrechtlich ergeben sich somit dieselben Probleme wie im nationalen Verfassungsrecht, die in der Logik der anlasslosen Überwachung begründet sind und ihrer normativen Einhegung auf Tatbestandsebene Grenzen setzen. Kompensationsmöglichkeiten sucht der Gerichtshof deshalb richtigerweise auch auf anderem Wege, nämlich durch die Sicherung von begleitenden normativen Mindestanforderungen und im Rahmen der Verhältnismäßigkeitskontrolle. Die Vorgängervorschrift der Regelungen in §§ 5 ff. G 10 prägten die WeberKriterien erst und können somit als Standard der konventionsrechtlichen materiellen Mindestanforderungen an heimliche Überwachungssysteme angesehen werden, weswegen der Gerichtshof die Normierung der strategischen Fernmeldeaufklärung mit ihren ausführlichen Erhebungs-, Verwendungs-, Verarbeitungs-, Übermittlungs- und Löschungsregelungen als, im Sinne seiner sechs Kriterien, gesetzlich hinreichend vorgesehen einstufte3144. Diese Einschätzung wird angesichts der weiterhin gültigen Weber-Rechtsprechung und der ausdrücklich ausgebliebenen, grundlegenden Neuausrichtung der Parameter durch den Gerichtshof in Big Brother Watch grundsätzlich weiterhin Geltung beanspruchen dürfen, da seither keine datenschutzrechtliche Reduktion im G 10 erfolgt ist. Die Regelungen des G 10 beschränken sich etwa nicht auf Inhaltsdaten, sondern umfassen schon aufgrund des weiten sachlichen Schutzbereiches von Art. 10 I GG auch Metadaten. Gleichwohl lassen sich konventionsrechtswidrige Lücken – auf die im Folgenden jeweils punktuell hingewiesen werden soll – hinsichtlich der gesetzlich vorgesehenen Regelung im nationalen Rechtsrahmen ausmachen: Der
3141
EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 316 – Big Brother Watch
u. a. 3142 So ausdrücklich die entscheidende Passage in EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 317 – Big Brother Watch u. a. 3143 Instruktiv zum Konflikt zwischen dem Gefahrbegriff als Eingriffsschwelle und der Gefahrerkennung als Ziel aus nationaler Verfassungsperspektive siehe nur F. III. 4. d) bb); stellvertretend für das nationale Schrifttum an dieser Stelle Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 401 f. 3144 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 96 ff. – Weber u. Savaria.
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G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
Gerichtshof hat in Big Brother Watch die auch nach dem britischen Recht in seiner zum Zeitpunkt der Entscheidung gültigen Fassung verankerte Notwendigkeit beschrieben, zwischen Kommunikation innerhalb und außerhalb der britischen Inseln anhand von Metadaten zu differenzieren3145. Aufgrund der technischen Grenzen von Filtersystemen, die ebenfalls hoch potente Partnerdienste betreffen, erfasst auch die britische Fernmeldeaufklärung Beifang aus rein nationaler Telekommunikation3146. Nach den Weber-Kriterien muss die Personengruppe, die von den Überwachungsmaßnahmen betroffen ist, in der gesetzlichen Regelung aufgeführt werden. Rein nationale Telekommunikationsteilnehmer werden aber für die Geolokalisation der Verkehre durch den Bundesnachrichtendienst faktisch ebenso erfasst wie die internationale Telekommunikation, was jedoch aus der gegenwärtigen nationalen Rechtslage nicht erkennbar ist. Die Herkunfts- und Zielbestimmung und der damit verbundene Eingriff in die Metadaten aller erfassten Telekommunikationsverkehre findet – wie in Bezug auf das nationale Verfassungsrecht bereits ausgeführt – keine einfachrechtliche Abbildung im G 10. Zwar hat der Gerichtshof in Big Brother Watch mit Blick auf die britische Rechtslage diesbezüglich keine Bedenken zu erkennen gegeben und die nicht weiter reglementierte Nutzung von Metadaten nur zur Standortbestimmung von Telekommunikationsteilnehmern jedenfalls insoweit hingenommen3147. Bei strenger Auslegung der Weber-Kriterien erscheint es aber nur folgerichtig, auch die Eingriffe in die nationalen Telekommunikationsverkehre normativ abzubilden, da nur so die Konventionsbeschränkung für den Bürger aus dem Gesetz wirklich ersichtlich wird und mithin gesetzlich vorgesehen ist im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes. Dies gilt umso mehr, als der Gerichtshof selbst ausdrücklich betont, dass jedes Abfangen und Filtern von Telekommunikation einen Konventionseingriff darstellt, selbst wenn die Daten danach beinahe in Echtzeit wieder ausgesondert werden3148. Richtigerweise müssen die Mindestanforderungen an heimliche Massendatenüberwachung aber so ausgelegt werden, dass alle potentiellen Konventionseingriffe gesetzlich vorgesehen sind. Insoweit ist die deutsche Rechtslage defizitär und mit den Anforderungen der Konvention nicht vereinbar, wenn diese in ihrer hergebrachten Auslegung konsequent angewendet wird.
3145 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 336, 354, 514 ff. – Big Brother Watch u. a. 3146 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 348 – Big Brother Watch u. a. 3147 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 348 ff., insb. Rn. 357, 514 ff. – Big Brother Watch u. a., macht für die Feststellung, ob sich ein Telekommunikationsteilnehmer inner- oder außerhalb der britischen Inseln befindet, sogar eine Ausnahme von der Anforderung, dass auch für Metadaten rechtliche Sicherungen hinsichtlich deren Auswertungen von Konventions wegen bestehen müssten. 3148 Dies stellt der Gerichthof eindeutig klar, EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 338 – Big Brother Watch u. a.
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Hinsichtlich der Garantien, die eine Übermittlung von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen aus der strategischen Fernmeldeaufklärung an ausländische öffentliche Stellen gemäß § 7a G 10 rechtlich absichern sollen, besteht ebenfalls geringfügiger, aber im Ergebnis wichtiger Änderungsbedarf. Die grundsätzlich ausdifferenzierte Norm legt fest, dass eine Datenübermittlung nur erfolgen darf, wenn sie erforderlich ist, um außen- und sicherheitspolitische Belange der Bundesrepublik oder erhebliche Sicherheitsinteressen eines ausländischen Staates zu wahren; im Empfangsstaat muss ferner ein angemessenes Datenschutzniveau gewährleistet und das Prinzip der Gegenseitigkeit des Austausches von nachrichtendienstlichen Informationen gesichert sein. Verfahrensrechtlich wird die Übermittlungsbefugnis durch zahlreiche Anforderungen flankiert. So bedarf es in jedem Einzelfall einer Zustimmung des Kanzleramtes wodurch, sowohl eine fachaufsichtsrechtliche Prüfung als auch eine Hochzonung der politischen Verantwortung erreicht wird3149. Ebenso stellt § 7a IV Nr. 1 und 3 G 10 sicher, dass die Daten nur zweckbezogen genutzt werden dürfen und dem Bundesnachrichtendienst Auskunft über die Verwendung beim ausländischen Partner gewährt wird3150. Somit ist der Empfänger zumindest rechtlich verpflichtet, die Daten nicht einfach an einen Drittstaat weiterzugeben, wie es der Gerichtshof in Big Brother Watch einfordert3151. Was das nationale Recht jedoch vermissen lässt, ist eine Verpflichtung des Empfängers, nicht mehr benötigte Daten aus der deutschen Fernmeldeaufklärung zurückzugeben oder – was praktikabler sein dürfte – rückstandslos zu löschen. Dieses ausdrückliche Gebot des Gerichtshofes bildet das deutsche Recht derzeit nicht ab, weswegen Daten aus der Fernmeldeaufklärung theoretisch unbegrenzt bei ausländischen Partnerdiensten genutzt werden könnten3152. Das nationale Recht ist deswegen insoweit mit der Konvention nicht vereinbar, da es bereits an einer gesetzlich vorgesehenen Regelung zu Sicherung der Datenübermittlungsbedingungen an ausländische öffentliche Stellen mangelt.
3149
Zur Fachaufsicht Huber (Fn. 511), § 7a G 10 Rn. 17; ebenso BT-Drs. 16/905,
S. 10. 3150 Zur Regelung siehe auch die knappe Einschätzung von Huber (Fn. 511), § 7a G 10 Rn. 20. 3151 Insoweit geht auch Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 203, davon aus, dass § 7a G 10 die derzeitigen Anforderungen des Gerichtshofes einhält. Er kritisiert jedoch die mangelnde Sicherung eines angemessenen Datenschutzniveaus sowie der notwendigen Zweckbindung bei der Übermittlung von Daten aus – hier nicht interessierenden – Individualmaßnahmen in § 4 IV 2, VI G 10 sowie bei der Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung, auf die die Konvention jedoch nach hiesiger Ansicht schon nicht anwendbar ist. 3152 Dietrich (Fn. 771), § 13 BNDG Rn. 10, macht ebenfalls richtigerweise darauf aufmerksam, dass die Absichtserklärung einer nachrichtendienstlichen Kooperation nach § 13 III BNDG eine Zusicherung des Partnerdienstes enthalten müsse, einer Löschungsaufforderung des BND nachzukommen, was über die Anforderungen des § 7a G 10 hinausgehe. Dies bestätigt den Konventionsverstoß jedenfalls auch einfachrechtlich.
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G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
c) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft – kontrollierte margin of appreciation Ein Eingriff ist nach der Konvention in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn er einem „dringenden sozialen Bedürfnis“ zur berechtigten Zielerreichung entspricht und die angewandten Mittel verhältnismäßig sind3153. Den legitimen Zweck – um im heimischen Prüfungsduktus zu bleiben3154 – der nationalen Sicherheit als Ziel nachrichtendienstlicher Überwachung erkennt der Gerichtshof, wie bereits ausgeführt, seit Beginn seiner Rechtsprechung hierzu an. Hinsichtlich der Frage, welche Dimension von Telekommunikationsüberwachung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, gewährt der Gerichtshof aufgrund der sicherheitspolitischen Aufladung der Austarierung von Befugnissen den Vertragsstaaten bekanntermaßen einen gesetzgeberischen Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“)3155. Die Einräumung dieser margin gegenüber den Mitgliedstaaten ist nicht zuletzt dem völkerrechtlichen Charakter der Konvention geschuldet, die viele Mitgliedstaaten umfasst, in denen unterschiedliche sicherheitspolitische Herausforderungen verschiedene rechtliche Regularien erfordern können. Zugleich handelt es sich um die Einräumung einer gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative, wie sie auch das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber zugesteht3156. In Weber sprach der Gerichtshof hinsichtlich der strategischen Fernmeldeaufklärung nach § 5 I G 10 noch von einem relativ weiten Beurteilungsspielraum3157, neuerdings soll den Vertragsstaaten nur noch ein gewisses Ermessen verbleiben3158. Unabhängig davon hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung festgehalten, dass die Vertragsstaaten nicht alle Maßnahmen treffen könnten, die ihnen zur Verteidigung der nationalen Sicherheit angemessen erschienen, da die Gefahr drohe, dass „ein System der geheimen Überwachung zum Schutz der nationalen Sicherheit unter dem Vorwand, die Demokratie zu verteidigen, diese unterminieren oder sogar zerstören könnte“ 3159. Zwar erkennt 3153
Statt aller Meyer-Ladewig/Nettesheim (Fn. 3027), Art. 8 Rn. 110. Zu den dogmatischen Eigenheiten der Prüfungsschritte des EGMR konkret in Bezug auf den nachrichtendienstlichen Kontext v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 29; allgemein Pätzold (Fn. 3027), Art. 8 Rn. 96 ff. 3155 Statt aller EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 106 – Weber u. Savaria; EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 49 – Klass u. a.; v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 33 m. Fn. 110, die auch die dogmatische Kritik an der margin of appreciation-Rechtsprechung abbilden. 3156 Vgl. dazu monographisch C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014. 3157 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 106 – Weber u. Savaria – „national authorities enjoy a fairly wide margin of appreciation“. 3158 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 316 – Big Brother Watch u. a. – „national authorities enjoy a certain margin of appreciation“. 3159 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 308 – Big Brother Watch u. a.; EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 106 – Weber u. Savaria (zitiert nach der nichtamtlichen, deutschen Übersetzung des damaligen Bundesministe3154
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der Gerichtshof an, dass in einer demokratischen Gesellschaft auch Nachrichtendienste existieren3160; Befugnisse zur heimlichen Überwachung, wie sie für Polizeistaaten typisch seien, könnten nach der Konvention indes nur insoweit hingenommen werden, „als sie zur Erhaltung der demokratischen Einrichtungen unbedingt notwendig“ seien3161. Als besonders problematisch stuft der Gerichtshof anlasslose, strategische Massenüberwachung ein3162. Die strategische Fernmeldeaufklärung als anlasslose Massenüberwachung ist nach der Auffassung des Gerichtshofes dennoch nicht „per se“ außerhalb dessen, was die Mitgliedstaaten in ihrem Beurteilungsspielraum als notwendige Überwachung annehmen dürfen3163. An dieser Auffassung hält der Gerichtshof, wie bereits erwähnt, auch unter den heutigen technologischen Möglichkeiten fest. Er weist vielmehr das Begehren der Beschwerdeführer auf eine Verschärfung der Anforderungen an Massenüberwachung durch Implementierung verdachtsbezogener Einschreitschwellen ausdrücklich auch mit Blick auf seine bisherige Rechtsprechungslinie, die strategische Aufklärung dem Grunde nach gestattet, ab3164. Andernfalls hätte der Gerichtshof eine Kehrtwende hinlegen müssen, da eine vorsichtige Anpassung an seine bisher ständige Rechtsprechung kaum möglich gewesen wäre. Damit bleibt es im Rahmen der Konvention dabei, dass auch technisch äußerst fortgeschrittene und umfassende strategische Überwachungsregime – wie das britische3165 – dem Grunde nach zulässig sind3166. Substanzielle Verschiebungen seiner Parameter nimmt der Gerichtshof nicht vor, weswegen die strategische Fernmeldeaufklärung nach dem G 10 weiterhin innerhalb der margin of appreciation der Bundesrepublik liegt und von der Konvention nicht von vornherein untersagt ist.
riums für Justiz); EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 49 – Klass u. a.; wie hier auch Schmahl (Fn. 3080), Ch. 1 Part 4, Rn. 35. 3160 Aust, Spionage (Fn. 1342), S. 400. 3161 So schon die Maßstabsbestimmung in EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 42 – Klass u. a. (zitiert nach der nichtamtlichen deutschen Übersetzung). 3162 Maßgeblich zu den Fällen der strategischen Fernmeldeaufklärung als anlasslose Massendatenerfassung EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 106 – Weber u. Savaria; EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 49 ff. – Klass u. a.; aus der Literatur hierzu Schmahl (Fn. 3080), Ch. 1 Part 4, Rn. 36; v. Bernstorff/ Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 31. 3163 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 314 – Big Brother Watch u. a. (Hervorhebung im Original); ebenso in Bezug auf schwedische Massendatenerfassung EGMR, Urteil vom 19.6.2018, No. 35252/08, Rn. 112 – Centrum För Rättvisa, jeweils unter pauschalem Verweis auf EGMR, Urteil vom 1.7.2008, No. 58243/00 – Liberty u. a.; EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00 – Weber u. Savaria. 3164 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 317 – Big Brother Watch u. a. 3165 Vgl. zu den Details des britischen Nachrichtendienstrecht die ausführlichen Beiträge von Leigh (Fn. 2780), Part 5 Ch. 3; McKay/Walker (Fn. 2780), Kap. IX § 2. 3166 Dies würde freilich auch für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung gelten, wenn die Konvention auf diese Konstellation anwendbar wäre.
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aa) Garantien gegen staatlichen Missbrauch im nationalen Recht weitgehend implementiert Eine bulk interception kann aber grundsätzlich nur dann konventionskonform sein, wenn zur Überzeugung des Gerichtshofes angemessene und wirksame Garantien gegen den Missbrauch des Überwachungsinstrumentes vorgesehen sind3167. Zur Prüfung nimmt der Gerichtshof eine Gesamtbetrachtung vor: „Diese Einschätzung hängt von den gesamten Sachverhaltsumständen ab, d.h. von der Art, dem Umfang und der Dauer der möglichen Maßnahmen, den Gründen, aus denen solche Maßnahmen angeordnet werden dürfen, den für die Genehmigung, Durchführung und Überwachung solcher Maßnahmen zuständigen Behörden und der Art des nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Rechtsbehelfs“ 3168. In seiner Entscheidung von 2006 attestierte der Gerichtshof – eng angelehnt an die Sachverhaltsbeschreibung des Bundesverfassungsgerichts – der deutschen strategischen Fernmeldeaufklärung, dass sie in Art und Umfang zwar auf Felder der organisierten Kriminalität ausgeweitet und auch die Identifikation von Teilnehmern möglich geworden war; gleichwohl hielte sie sich im Rahmen des in einer demokratischen Gesellschaft Notwendigen3169. Zur Begründung verwies der Gerichtshof maßgeblich auf Verfahrenssicherungen und persönliche Verantwortlichkeiten bezüglich der Anordnung sowie die unabhängigen Kontrollinstanzen, die das Überwachungsinstrument hinreichend rechtsstaatlich einhegten3170. Mit der faktisch-technischen Beschränkungen setzte er sich hingegen nicht eingehend auseinander3171. Hier unterschieden sich die Herangehensweise des Bundesverfassungsgerichts und die des Konventionsorgans deutlich. Während Karlsruhe die aus seiner Sicht eingriffsintensivierenden und mildernden Faktoren in extenso behandelte3172, verzichtete der Straßburger Gerichtshof hierauf gänzlich und beließ es bei einer gleichsam kursorischen Prüfung der Gesamtumstände der Überwachung. In seiner Entscheidung zur britischen strategischen Überwachung in Big Brother Watch widmet sich die Kammer dem Umfang und der Art der heimlichen Telekommunikationsdatenerfassung nunmehr hingegen intensiver3173. So 3167
EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 106 – Weber u. Savaria. EGMR, Urteil vom 4.12.2015 (GK), No. 47143/06, Rn. 238 – Zakharov; EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 106 – Weber u. Savaria (zitiert nach der nichtamtlichen deutschen Übersetzung des damaligen Bundesministeriums für Justiz). 3169 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 114 ff. – Weber u. Savaria. 3170 So das Ergebnis der Gesamtschau des Gerichtshofs in EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 115 ff. – Weber u. Savaria. 3171 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 115 ff. – Weber u. Savaria. 3172 Siehe die Darstellung unter C. II. 1. c). 3173 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 328–347 – Big Brother Watch u. a. 3168
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untersucht der Gerichtshof die Erfassungsbreite, die anschließende Ausfilterung nachrichtendienstlich irrelevanter Verkehre in beinahe Echtzeit und die Datenanalyse mittels „simpler“ und „komplexer“ Suchkriterien3174. Das deutsche Recht erlaubt in § 5 I 3 G 10 derzeit jedoch nur die Anwendung simpler Selektoren (E-Mail-Adresse, Telefon und Handynummer, Schlüsselwörter etc.), die zur Aufklärung der Gefahrbereiche geeignet und in der Beschränkungsanordnung aufgeführt sind, um mit diesen den Datenstrom zu filtern, was der Gerichthof im direkten Vergleich mit der britischen Rechtslage darlegt3175. Dabei betont er gerade die Unterschiede der beiden Systeme und lehnt die Vergleichbarkeit der deutschen und britischen Rechtslage ab3176, da letztere schlicht weitergehende Auswertungen der Datenströme zulässt – so jedenfalls wird man die „komplexen“ Suchkriterien zu verstehen haben – und die Suchbegriffe darüber hinaus nicht durch die Überwachungsanordnungen festgelegt sein müssen3177. Angesichts der insoweit unbeanstandeten britischen Rechtslage wird die deutsche strategische Fernmeldeaufklärung hinsichtlich Art und Umfang konventionsrechtlich erforderlichen Sicherungen auch unter den heutigen Bedingungen erst Recht entsprechen. Gleiches gilt hinsichtlich der Dauer der Überwachungsmaßnahmen, die im britischen Recht bei Aufklärung von Gefahren für die nationale Sicherheit sechs Monate betragen und um weitere sechs verlängert werden können, was mit der Konvention für vereinbar erklärt wurde3178; gemäß § 10 V G 10 ist die Beschränkungsanordnung für eine strategische Fernmeldeaufklärung lediglich auf drei Monate befristet, wobei eine gleichlange Verlängerung möglich ist. Problematisch erscheint jedoch die Möglichkeit, dass kein Limit der Verlängerungen vorgesehen ist. Jedenfalls im nationalen Kontext ist eine solche zeitlich unbegrenzte Verlängerungsmöglichkeit unverhältnismäßig; es spricht vieles dafür, dies auch auf konventionsrechtlicher Ebene anzunehmen, wenngleich eine letzt-
3174 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 339, 341 – Big Brother Watch u. a.; unter „komplexen“ Suchkriterien dürften automatische Analysen zu verstehen sein, die nachrichtendienstlich relevante Informationen aus der Datenmasse extrahieren; dahingehend mit Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs auch BVerfGE 154, 152 (259 f., Rn. 192). 3175 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 339 – Big Brother Watch u. a. 3176 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 339 – Big Brother Watch u. a.; anders noch EGMR, Urteil vom 1.7.2008, No. 58243/00, Rn. 68 – Liberty u. a., was der Gerichtshof in Big Brother Watch nunmehr als „unvorteilhaften“ Vergleich einstuft. 3177 Eine konventionsrechtliche Verpflichtung zur Aufzählung der Selektoren in den Überwachungsanordnungen statuiert der Gerichtshof hingegen nicht: EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 340 – Big Brother Watch u. a. Andernfalls geriete die Rechtsprechung des BVerfG – die Konventionsgeltung für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung unterstellt – hiermit in Konflikt. 3178 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 358 – Big Brother Watch u. a.; siehe dazu auch Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 201.
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endliche Antwort des Gerichtshofes hierzu freilich aussteht. Somit entspricht zwar die Anordnungsdauer der strategischen Fernmeldeaufklärung unschwer den Konventionsanforderungen, nicht aber die unbegrenzte Anzahl potentieller Verlängerungen. Die Gründe für die Anordnung sind im Katalog des § 5 I 3 G 10 zwar allgemein definiert, was jedoch den Konventionsanforderungen noch genügen dürfte, obschon der Gerichtshof eine präzise Bestimmung der Überwachungsgründe für „höchst erstrebenswert“ erklärt3179. Die Überwachung muss ferner durch ein unabhängiges Organ genehmigt werden. Dabei müssen effektive Kontrollmechanismen implementiert sein, die greifen, wenn die Überwachung durchgeführt wird bzw. jedenfalls nach deren Ende3180. Hinsichtlich der Anordnung der Überwachung akzeptiert der Gerichtshof einen Zeitraum von bis zu 72 Stunden in Fällen „höchster Dringlichkeit“, in dem auch ohne die notwendige gerichtliche oder gremienbasierte ex-ante-Kontrolle Überwachungsmaßnahmen bereits durchgeführt werden dürfen3181. Dabei präferiert er eine gerichtliche Anordnung sowie nachträgliche Kontrolle durch unabhängige Richter als best practice, lässt aber auch – wie anhand der G 10Kommission entschieden – parlamentarische bzw. im dortigen Raum angesiedelte Kontrollgremien eigener Art (noch) genügen3182. In Klass sah der Gerichtshof die Grenze dessen, was in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein kann, jedoch nur knapp nicht überschritten, unter anderem weil das Parlamentarische Kontrollgremium und die G 10-Kommission stark ausgestaltet seien und bei der politischen Kontrolle auch die Opposition im Gremium vertreten sei3183. Diese Ansicht bestätigte er in der Weber-Entscheidung, da insbesondere auch die Übermittlung von aus der strategischen Fernmeldeaufklärung gewonnenen Daten seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1999 der Kommissionsaufsicht unterliege3184. An dieser Ausgestaltung und mithin am Ergebnis hat sich 3179 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 342 – Big Brother Watch u. a.; in EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 115 – Weber u. Savaria, sprach der Gerichtshof ebenfalls schon von sehr weit gefassten Anordnungsgründen der strategischen Fernmeldeaufklärung, was er jedoch durch das Anordnungsverfahren und die Überwachungsinstitutionen im G 10 als hinreichend kompensiert ansah. 3180 EGMR, Urteil vom 4.12.2015 (GK), No. 47143/06, Rn. 233 f. – Zakharov; Zusammenfassung bei Schmahl (Fn. 3080), Ch. 1 Part 4, Rn. 37. 3181 EGMR, Urteil vom 12.1.2016, No. 37138/14, Rn. 81 – Szabó u. Vissy; zur konventionskonformen Behandlung von Eilfällen unter Bezugnahme auf die vorgenannte Entscheidung siehe maßgeblich B. Huber, Geheime Überwachung von Mitarbeitern einer NGO ohne richterliche Genehmigung, in: NVwZ 2017, S. 1513 (1514). 3182 EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 55 f. – Klass u. a.; siehe zu den Vorgaben auch v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 35; Hochreiter, Überwachung (Fn. 15), S. 216; a. A. in Bezug auf die G 10-Kommission Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 353. 3183 EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 56 – Klass u. a.; siehe ebenso Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 195. 3184 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 117, 128, 132 – Weber u. Savaria; a. A. Schwabenbauer, Grundrechtseingriffe (Fn. 68), S. 353.
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seither nichts Grundlegendes geändert. Die zwischenzeitlich jedoch verschärften Anforderungen an eine Kontrolle auch in Eilfällen lassen die bisherige nationale Rechtslage in einem ungünstigen Licht erscheinen. Maßgeblich Huber hat darauf hingewiesen, dass nach deutscher Rechtslage Situationen entstehen können, in denen eine Überwachung im Eilfall gemäß § 15 VI 2 G 10 schon vor der Befassung der Kommission mit dem Antrag durchgeführt werden kann, diese jedoch erst in der folgenden monatlichen Sitzung rückwirkend genehmigt wird3185. Dadurch kann sich aber die ex-post Kontrolle der Kommission im Extremfall bis zu einem Monat verzögern3186. Eine solch lange Dauer rein durch die Exekutive autorisierter nachrichtendienstlicher Überwachung ist mit der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht mehr vereinbar und stellt einen klaren Konventionsverstoß dar3187. Hinsichtlich der erforderlichen Dringlichkeit für die Annahme eines Eilfalles, dürfte die deutsche Regelung, die gemäß § 15 VI 2 G 10 Gefahr im Verzug voraussetzt, den strengen Anforderungen der Gerichtshofes indes genügen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man das Tatbestandsmerkmal im strafprozessualen Sinne eng auslegt3188. Der Gesetzgeber behebt diesen Mangel – gleichsam unaufgefordert – künftig mit der Einführung des § 15a G 10 n. F.3189 Nach Abs. 2 der neuen Vorschrift muss die G 10-Kommission eine Eilanordnung dann binnen drei Tagen bestätigen, womit die konventionsrechtlichen Anforderungen erfüllt werden. Hinsichtlich der strategischen Massendatenüberwachung macht der Gerichtshof in seiner jüngsten Rechtsprechung nunmehr auch sehr präzise Vorgaben, was genau die Kontrollinstanzen begutachten können müssen. Insbesondere müssen die Selektoren als Schlüsselelement der strategischen Aufklärung richtigerweise einer unabhängigen Kontrolle unterliegen3190. Ohne eine solche Kontrolle könnte die Exekutive schlicht alles erdenklich Mögliche erfassen lassen, da die Selektoren das bestimmende Element der strategischen Aufklärungsmethoden sind und determinieren, welche Ergebnisse in welcher Menge produziert werden. Die Selektoren, die in Deutschland bei der Inland-Ausland-Überwachung überdies in
3185 So vor allem Huber, Kontrolle (Fn. 727), S. 15 f.; ferner Bartodziej (Fn. 479), § 2 Rn. 106 m. Fn. 306. 3186 Erneut Huber, Kontrolle (Fn. 727), S. 16. 3187 So auch erneut Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 198; ders., Genehmigung (Fn. 3181), S. 1514. 3188 Für eine solche Auslegung des Merkmals der Gefahr im Verzug Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 57. 3189 Gem. § 22 G 10 n. F. greift die Regelung erst nach der Neubestellung der G 10Kommission nach Beginn der nächsten Wahlperiode des Deutschen Bundestages, siehe dazu Gitter/Marscholleck, Anpassung (Fn. 55), S. 194. 3190 So der Gerichtshof jüngst in EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 340, 346 f. – Big Brother Watch u. a., wo er maßgeblich auch aufgrund der fehlenden unabhängigen Kontrolle der gesteuerten Selektoren einen Konventionsverstoß des Vereinigten Königreichs feststellte.
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den Überwachungsanordnungen enthalten sein müssen, unterfallen jedoch unzweifelhaft der Kontrolle der G 10-Kommission3191. Insoweit ist die nationale Rechtslage konventionskonform ausgestaltet; sie war es freilich auch schon vor der Verschärfung der Anforderungen in der Rechtssache Big Brother Watch. Um dem Einzelnen eine nachträgliche Kontrolle von ihm unbekannten Überwachungsmaßnahmen überhaupt zu ermöglichen, muss zudem grundsätzlich eine Benachrichtigung nach deren Abschluss erfolgen3192. Der Gerichtshof erkennt jedoch an, dass eine solche Benachrichtigung des Betroffenen dann unterbleiben kann, wenn das staatliche Interesse an der Geheimhaltung der operativen Fähigkeiten des Nachrichtendienstes überwiegt3193. Sobald eine Mitteilung ohne diese Gefährdung möglich erscheint, „sollten die Betroffenen jedoch davon unterrichtet werden“ 3194. Ob der Gerichtshof hierin lediglich eine best practice erkennt oder aber von einer konventionsrechtlich zwingenden Verpflichtung ausgeht, bleibt bei der weichen Formulierung allerdings offen. Die Benachrichtigungspflichten aus dem G 10 und die Kontrolle der G 10-Kommission darüber, wann eine Benachrichtigung endgültig unterbleibt, wird diesen Anforderungen jedenfalls in ihrer Ausgestaltung, die seit der letzten Entscheidung des Gerichtshofes keine wesentliche Änderung erfahren haben, gerecht, da das Urteil in Weber insoweit weiter Gültigkeit beanspruchen kann3195. Gleiches gilt für die Rechtsschutzmöglichkeiten, die in der Praxis maßgeblich durch die Antragsmöglichkeit an die G 10-Kommission gemäß § 15 V 1 2. Alt. G 10 realisiert werden3196. Hierfür muss keine substantiierte Beschwerde vorgebracht werden, es reicht – insofern konventionsfreundlich – bereits ein „vage[r] Verdacht“ 3197. In Bezug auf die britische Rechtslage hat der Gerichtshof diese Beschwerdebefugnis ebenfalls als effektive Rechts-
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Dazu vor allem Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 200. Stellvertretend EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 135 – Weber u. Savaria. 3193 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 135 – Weber u. Savaria; EGMR, Urteil vom 6.9.1978 (Plenum), No. 5029/71, Rn. 58 – Klass u. a. 3194 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 135 – Weber u. Savaria (nach der nichtamtlichen deutschen Übersetzung des damaligen Bundesministeriums für Justiz). 3195 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 135 f. – Weber u. Savaria; ferner wie hier Huber, Nachrichtendienste (Fn. 3022), S. 197. 3196 Zum Tätigwerden der G 10-Kommission aufgrund von Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern, die den Verdacht haben, durch den Bundesnachrichtendienst (oder andere Nachrichtendienste des Bundes) überwacht zu werden, mit Beispielen und Zahlen zum effektiven Aufkommen in der Praxis instruktiv Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 36 ff. 3197 Hierzu erneut Huber (Fn. 511), § 15 G 10 Rn. 37, der zudem ausführt, dass hinsichtlich der Beschwerdeeigenschaft i. S. d. § 15 V 1 2. Alt. G 10 in der Praxis „großzügig“ verfahren werde. Dies unterstreicht die Effektivität der Beschwerdemöglichkeit bei der G 10-Kommission als geeignete Rechtsschutzmaßnahme im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes. 3192
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schutzmaßnahme hervorgehoben3198. Allerdings betonte er in diesem Zuge auch die Möglichkeit, einen Anwalt der Betroffenen zum Kontrollverfahren hinzuzuziehen, da die Beschwerdeführer sich nicht selbst vertreten können3199 – eine konventionsrechtliche Pflicht zu dessen Implementierung wird man hieraus aber nicht ableiten können. Wollte man dies – was keinesfalls ausgeschlossen ist – anders sehen, wäre die deutsche Rechtslage insoweit defizitär. bb) Mangelhafter Schutz besonderer Vertraulichkeitsbeziehungen im G 10 Der Gerichtshof hat in seiner bisherigen Rechtsprechung keine ausdifferenzierte Kernbereichslehre, wie sie das Bundesverfassungsgericht in richterlicher Rechtsfortbildung als einen zentralen grundrechtlichen Schutzmechanismus bei Überwachungsmaßnahmen etabliert hat, entwickelt3200. Vertrauliche Kommunikationsbeziehungen, etwa zwischen einem Rechtsanwalt und der Mandantschaft, sieht der Gerichtshof jedoch ebenfalls als besonders schutzbedürftig an; gleiches gilt für Eingriffe in intime Bereiche des Privatlebens3201. Mit dem Schutz journalistischer Telekommunikation und insbesondere deren Quellen durch Art. 10 EMRK , hat sich der Gerichtshof maßgeblich in der Weber-Entscheidung, als zusätzlichem Eingriff in ein Konventionsrecht, befasst, da sich eine Journalistin unter den Beschwerdeführern befand3202. Der Quellenschutz ist für den Gerichtshof ein Eckpfeiler der Pressefreiheit, da die Presse ihre öffentliche Wächterrolle (der Gerichtshof spricht tatsächlich von einer „public-watchdog role“) nicht mehr erfüllen könne, wenn Informanten abgeschreckt würden, sich mit brisanten Informationen an Medien zu wenden3203. Deswegen findet die staatliche margin of appreciation im Bereich der Pressefreiheit engere Grenzen3204. In Bezug auf die strategische Fernmeldeaufklärung sah der Gerichtshof die Erfassung von journalistischer Telekommunikation, sowie insbesondere deren Quellen, nicht als Ziel der Maßnahme – was zweifelsfrei zutrifft –, sondern als bloßen möglichen Bei3198 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., zum Hintergrund Rn. 249 ff., zur Beschwerdemöglichkeit Rn. 379 – Big Brother Watch u. a.; hierauf verweist auch BVerfGE 154, 152 (293, Rn. 280). 3199 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 379 – Big Brother Watch u. a. 3200 So der Befund bei v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 32. 3201 Erneut v. Bernstorff/Asche (Fn. 3023), § 1 Rn. 32, m.w. N. 3202 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 139 ff. – Weber u. Savaria. 3203 EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 143 – Weber u. Savaria; ausführlich zum Schutz von Informanten und zur Wahrung des Redaktionsgeheimnisses in der weiteren Rechtsprechung des Gerichtshofes sowie zur public-watchdog role Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 23 Rn. 44 ff.; C. Mensching, in: Karpenstein/Mayer, EMRK (Fn. 3006), Art. 10 Rn. 13 ff.; 3204 So die Zusammenfassung der Verhältnismäßigkeitswertung durch den Gerichtshof in Bezug auf die Pressefreiheit erneut bei Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention (Fn. 3007), § 23 Rn. 28.
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fang, der ferner erst durch die Überprüfung der Daten durch Beamte sichtbar werde, weswegen es sich nicht um einen schwerwiegenden Eingriff handele3205. Dass die Regelungen des damaligen G 10 keine gesonderten Schutz- und Verfahrensvorschriften für nachträglich erkannte journalistische Telekommunikation bereithielt, nahm der Gerichthof somit auch nicht zum Anlass, einen Konventionsverstoß festzustellen, da die Regelungen jedenfalls im Allgemeinen den Anforderungen an hinreichende Sicherungen gegen Missbrauch genügten3206. Angesichts der nunmehrigen Ausführungen in der Rechtssache Big Brother Watch sind erhebliche Zweifel angebracht, ob der Gerichtshof an dieser früheren Einschätzung festhalten würde: Zwar setzt sich die Kammer ausführlich mit der Weber-Entscheidung auseinander und präsentiert die dargelegten Argumente als weiterhin gültig3207. Dann stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass angemessene Sicherungen existieren müssen, um eine absichtliche oder sonstige Untersuchung der Daten zu flankieren3208. Insbesondere wegen drohender Einschüchterungseffekte auf Informanten müssten erkennbare Regelungen vorhanden sein, die die Möglichkeit des Nachrichtendienstes beschränken, nach journalistischer Telekommunikation entweder direkt zu suchen oder diese auszuwerten, die über die Erfordernisse eines übergeordneten öffentlichen Interesses hinausgehen3209. Damit verschärft der Gerichtshof die Anforderungen an gesetzliche Bestimmungen, die eine Einhegung der Datenauswertung und mithin den Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen sicherstellen sollen, signifikant. Das deutsche Recht sieht im G 10 nur für den Kernbereichsschutz Verwertungsverbote in § 5a G 10 vor, verzichtet darüber hinaus aber gänzlich auf den Schutz der Telekommunikation von Berufsgeheimnisträgern und Journalisten durch differenzierte Auswertungs- und Löschungsregeln3210. Es existieren schlicht keine normativen Sicherungen, die der Gerichtshof in Big Brother Watch einfordert. Diese werden teils wegen des strategischen, vom Einzelfall gelösten, Überwachungsansatzes schon aus faktischen Gründen für obsolet gehalten3211 oder allenfalls im Einzelfall in Form einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bei ausnahmsweiser Auswertung erlangter be-
3205
EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 151 – Weber u. Savaria. EGMR, Beschluss vom 29.6.2006, No. 54934/00, Rn. 152 – Weber u. Savaria. 3207 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 487 ff. – Big Brother Watch u. a. 3208 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 492 – Big Brother Watch u. a. 3209 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 495 – Big Brother Watch u. a. 3210 Dazu aus rein nationaler Sicht in Bezug auf die Pressefreiheit kritisch Huber (Fn. 511), § 5a G 10 Rn. 7 f. 3211 So Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 149, der überdies keinen generellen Vorrang von Belangen der Berufsgeheimnisträger gegenüber der nachrichtendienstlichen Überwachung anerkennen will. 3206
I. Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention
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rufsbezogener Erkenntnisse zugebilligt3212. Einschüchterungseffekte auf Journalisten sind somit aber zumindest möglich. Nur am Rande sei noch bemerkt, dass der Gerichtshof, wie das Bundesverfassungsgericht, bezüglich möglicher Abschreckungseffekte auf Informanten ganz selbstverständlich mit der Figur des chilling effects argumentiert3213 – ein weiterer Indikator dafür, dass es sich nicht um einen US-amerikanisch inspirierten Karlsruher Sonderweg handelt, sondern um einen gleichfalls im europäischen Rechtsraum verankerten Gedanken. Die aufgezeigte Schutzlücke im deutschen Recht ist mit den heutigen Anforderungen der Konvention an den Schutz von journalistischer Arbeit und deren Quellen nicht (mehr) vereinbar. Insoweit geht der Eingriff über das hinaus, was in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Gleiches dürfte für die Korrespondenz weiterer besonders schutzbedürftiger Berufsgruppen bzw. von Berufsgeheimnisträgern gelten. 5. Ergebnis: G 10-Regime mit partiellen konventionsrechtlichen Defiziten Im Ergebnis zeigt sich, dass der Gerichtshof einen durchaus ausdifferenzierten, abstrakten Anforderungskatalog an heimliche Massendatenerfassungen und Überwachungen herausgebildet hat. Dieser gilt nach hiesigem Verständnis indes nur für Überwachungsmaßnahmen, die vom Inland ausgehen und bei der sich mindestens ein Telekommunikationsteilnehmer ebenfalls physisch im Inland aufhält. In allen anderen Konstellationen grenzüberschreitender oder rein extraterritorialer technischer Aufklärung unterstehen die Betroffenen richtigerweise hingegen nicht der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik, weswegen die Konvention auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ratione loci und personae unanwendbar ist. Insbesondere kann aus der Tatsache, dass der Gerichtshof einen Sachverhalt mit Auslandsberührung, etwa durch Überwachung von Ausländern im Ausland wie in den Rechtssachen Big Brother Watch und Centrum För Rättvisa, an der Konvention misst, nicht pauschal auf deren grundsätzliche Anwendbarkeit geschlossen werden. Der Einwand, es bestehe keine Hoheitsgewalt, muss durch die Prozessbeteiligten aktiv erhoben werden, was in den vorgenannten Fällen gerade nicht der Fall war. Der Gerichtshof legt – wenn die Konvention anwendbar ist – den Prüfungsschwerpunkt nicht auf die Ausarbeitung und Spezifizierung von Eingriffsschwellen auf Tatbestandsebene – mit ihren dogmatischen Fallstricken –, sondern formuliert Mindeststandards für die Datenverarbeitungsvorschriften und insbesondere die
3212 Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 17, der grundsätzlich keinen ausdifferenzierten Schutz von Berufsgeheimnisträgern im Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung für notwendig hält. 3213 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 495 – Big Brother Watch u. a.
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G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
unabhängigen Kontrollmöglichkeiten. Der Gerichtshof versucht mithin – unter Berücksichtigung des politischen Beurteilungsspielraumes der Mitgliedstaaten, der auf völkerrechtlicher Ebene freilich großzügiger ausfallen kann und muss als im nationalen Rahmen – die erhebliche Breite und Intensität des Eingriffes strategischer Telekommunikationsüberwachung auf der Datenverwendungs- und Nutzungsseite einzuhegen. Seine Anforderungen bleiben dabei hinter den sehr spezifischen des Bundesverfassungsgerichts in Teilen zurück3214. Nichtsdestotrotz zeigen sich im nationalen Recht, konkret dem G 10, punktuelle Mängel, die jeweils insoweit den konventionsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht werden. Hier besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
II. Anforderungen der EU-Grundrechtecharta und des sonstigen Unionsrechts Zuletzt muss der Blick auch Richtung Brüssel und Luxemburg geweitet werden: Neben der EMRK ist im internationalen Rahmen vor allem das Unionsrecht als supranationale Rechtsordnung ein wichtiger Fixpunkt, der bedeutenden Auswirkungen auf nationaler Ebene haben kann. Die Grundrechtecharta der Europäischen Union schützt in Art. 7 das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung sowie explizit der Kommunikation. Hierunter fällt, wie bei Art. 8 EMRK, die an bestimmte Adressaten gerichtete Kommunikation unter Abwesenden, die durch einen Dritten vermittelt wird und dabei einem spezifischen Übermittlungsrisiko ausgesetzt ist; die Technik der Übermittlung spielt, analog Art. 10 I GG, keine Rolle3215. Art. 8 GRCh statuiert darüber hinaus den Schutz personenbezogener Daten3216; dieser ist zudem übereinstimmend primärrechtlich in Art. 16 AEUV abgesichert3217.
3214 Allgemein so auch Wolff, Staatlichkeit (Fn. 16), S. 18 ff.; a. A. wohl Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 721, der vielmehr in der Entscheidung des BVerfG zum BNDG eine Anpassung der nationalen Rechtspflichten an konventionsrechtliche Standards erblickt. Eine Harmonisierung ist freilich mit der grundsätzlichen Parallelisierung der grundgesetzlichen und völkerrechtrechtlichen Anforderungen durchaus gegeben, es bleiben jedoch Unterschiede mit Blick auf den Detaillierungsgrad der jeweils zu erfüllenden Vorgaben. Dies mag freilich auch partiell in den divergierenden Rechtstraditionen begründet sein. 3215 Zum Begriff der Kommunikation im Sinne des Art. 7 GRCh H. D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2021, Art. 7 GRCh Rn. 25; A. Weber, in: K. Stern/M. Sachs (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta, 2016, Art. 7 GRCh Rn. 49 ff. 3216 Hierzu statt aller Jarass, ebda., Art. 8 GRCh Rn. 1 ff. 3217 Zu den Einzelheiten des primärrechtlichen Datenschutzes in Art. 16 AUEV und dessen Grundrechtsgehalt siehe nur C. Sobotta, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU (Fn. 1354), Art. 16 AEUV (2019), Rn. 5 ff.; Schmahl, Völkerrechtsordnung (Fn. 1345), S. 29.
II. Anforderungen der EU-Grundrechtecharta und des sonstigen Unionsrechts 617
1. Strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung als Durchführung bzw. im Anwendungsbereich des Unionsrechts? Um Anforderungen an eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung aus der Grundrechtecharta ableiten zu können, müsste das Regelwerk sowie das sonstige Primärrecht, wie etwa das Diskriminierungsverbot des Art. 18 I AEUV3218, das aufgrund der Ungleichbehandlung von Unions- und Bundesbürgern in § 6 III BNDG und der Privilegierung von ausländischen juristischen Personen mit Sitz in der Union erhebliche Relevanz entfalten könnte, zunächst überhaupt anwendbar sein3219. Art. 51 I 1 GRCh stellt die Geltung der Charta für die Mitgliedstaaten ausdrücklich unter den Vorbehalt der „Durchführung von Unionsrecht“. Art. 18 I AEUV setzt in ähnlicher Weise die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge voraus. Beide Normen werfen demnach die – im allgemeinen äußerst komplexe und von jeher im Fluss befindliche – vorgelagerte Frage auf, ob EU-Recht im Bereich der nachrichtendienstlichen Fernmeldeaufklärung durchgeführt wird bzw. kompetenzrechtlich eröffnet ist, oder ob es sich um einen unter nationalstaatlichem Vorbehalt stehenden Regelungskomplex handelt: Führt die Bundesrepublik also Unionsrecht im Sinne des Art. 51 I 1 GRCh durch, wenn der Bundesnachrichtendienst strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung betreibt, und ist der Anwendungsbereich der Verträge – vor allem angesichts von Art. 18 I AEUV – insgesamt eröffnet? a) Durchführung von Unionsrecht im Sinne des Art. 51 I 1 GRCh Wann eine Durchführung von Unionsrecht im Sinne des Art. 51 I 1 GRCh im Einzelnen vorliegt ist reichlich umstritten und bekanntlich immer wieder Anstoß für Auseinandersetzungen zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht gewesen3220. Der Gerichtshof stellt bei der Auslegung von Art. 51 I 1 GRCh in ständiger Rechtsprechung auf den Anwendungsbereich des Unionsrechts ab und vertritt dabei grundsätzlich einen extensiven Ansatz, wonach keine Fallgestaltungen denkbar seien, die vom Unionsrecht erfasst wür-
3218 Zur Qualifikation des Diskriminierungsverbots des Art. 18 I AEUV als „Grundrecht“ in den europäischen Verträgen H. D. Jarass/M. Kment, EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2019, § 2 Rn. 7. 3219 Für eine Anwendbarkeit, jedenfalls von Art. 18 AEUV, auf die nachrichtendienstliche Fernmeldeaufklärung durch den BND aus dem Schrifttum Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 212 ff., 277 f.; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 156; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 3 f. 3220 Zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach Art. 51 I 1 GRCh und der Genese des Streits zwischen dem EuGH und dem BVerfG um die Auslegung, wann Unionsrecht durchgeführt wird, stellvertretend A. Schwerdtfeger, in: J. Meyer/S. Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 51 GRCh Rn. 36 ff.; E. Pache, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Bd. I, 2017, Art. 51 GRCh Rn. 19 ff.
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G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
den, ohne dass die Charta auf diese anwendbar sei3221. Insbesondere in der Rechtssache Åkerberg Franson legte der Gerichtshof Art. 51 I 1 GRCh sehr weit aus und ließ bereits „allgemein-sachbezogene Handlungspflichten“ aus dem EURecht ausreichen, weil das nationale Recht jedenfalls „objektiv zu deren Erfüllung beitrage“ 3222. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Lesart in seinem Urteil zur Antiterrordatei I in einem obiter dictum ausdrücklich und scharf zurückgewiesen: Der Entscheidung des Gerichtshofes dürfe keine Lesart zugrunde gelegt werden, nach der das Urteil offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder die an der Verfassungsidentität der Bundesrepublik rühren würde3223; diese ablehnende Haltung wurde unlängst in der Entscheidung zum Recht auf Vergessen I für nicht vollständig durch EU-Recht determinierte Sachverhalte er3221 EuGH, Urteil vom 30.4.2014 (Große Kammer) – C-390/12, Rn. 34 – Pfleger u. a.; EuGH Urteil vom 26.2.2013 (Große Kammer) – C-617/10, Rn. 18 ff. – Åkerberg Franson; Einordnung und weitere ausführliche Nachweise aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes bei Schwerdtfeger, ebda., Art. 51 GRCh Rn. 40 m. Fn. 104, 105. 3222 EuGH, Urteil vom 26.2.2013 (Große Kammer) – C-617/10, Rn. 24 ff. – Åkerberg Franson; Schwerdtfeger (Fn. 3220), Art. 51 GRCh Rn. 44; zur besonders hohen Reichweite dieser Formel auch D. Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, in: NVwZ 2013, S. 889 (890). 3223 BVerfGE 133, 277 (316, Rn. 91); hiermit drohte das BVerfG recht unverhohlen eine Nichtbefolgung des EU-Rechts und der Rechtsprechung des EuGH an, dazu Thym, ebda., S. 891; siehe zur Diskussion um die Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Nationalstaaten und der hiermit assoziierten Rechtsprechung des BVerfG zur Ultra-vires- und Identitätskontrolle des übertragungsfesten Kerns des Grundgesetzes allgemein statt vieler R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV Kommentar, 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV Rn. 19 ff.; vgl. allgemein zum Verhältnis von nationalem und Unionsrecht und zum Kooperationsverhältnis zwischen dem EuGH und dem BVerfG mit den jeweiligen Leitentscheidungen ferner G. Sydow/F. Wittreck, Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht I, 2. Aufl. 2020, Kap. 4; v. Arnauld, Völkerrecht (Fn. 1366), Rn. 543 ff. Dass die Ultra-vires-Kontrolle kein stumpfes Schwert verfassungstheoretischer Natur, welches in der Realität niemals zum Einsatz gelangt, ist, hat das BVerfG mit seinem Paukenschlag-Urteil zum PSPP-Programm der EZB eindrücklich unter Beweis gestellt, BVerfGE 154, 17 (88 ff., Rn. 105 ff.) – der Senat macht unmissverständlich klar, dass er in seltenen Ausnahmefällen sehr wohl bereit ist, dem EuGH – nach vorherigem Vorabentscheidungsverfahren – die Gefolgschaft zu verweigern. Die Entscheidung hat eine wahre Flut von – vielfach kritischen – Anmerkungen und Stellungnahmen hervorgerufen, vgl. nur stellvertretend die gutachterlichen Einschätzungen für den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Bundestages von C. Walter, Schriftliche Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Anhörung zu den Folgen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 (2 BvR 859/15 u. a.), abrufbar https:// www.bundestag.de/r source/blob/697524/89551bb27b81da991fd9538c480afccd/walter 2-data.pdf (25.5.2020); zu den Staatsanleiheankäufen der Europäischen Zentralbank, AS.-Drs. 19(21)97 NEU sowie F. C. Mayer, Das PSPP-Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020, A.-Drs. 19(21)103, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/ 697586/cdf8025132586d197288f57569776bff/mayer-data.pdf (25.5.2020); aus der Aufsatzliteratur im ersten Zugriff M. Nettesheim, Das PSPP-Urteil des BVerfG – ein Angriff auf die EU?, in: NJW 2020, S. 1631 ff.; vgl. für eine mögliche Auflösung des Konflikts zwischen BVerfG, EZB und EuGH durch eine demokratisch legitimierte Anpassung der Verträge prospektiv P. Kirchhof, Die Rechtsarchitektur der Europäischen Union, in: NJW 2020, S. 2057 ff.
II. Anforderungen der EU-Grundrechtecharta und des sonstigen Unionsrechts 619
neut zitiert3224. Damit bleibt das Bundesverfassungsgericht dem Grunde nach bei seiner bisherigen Linie, wonach es unionsrechtlich nicht vollvereinheitlichtes innerstaatliches Recht grundsätzlich auch dann am Maßstab des Grundgesetzes prüft, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt3225; freilich erkennt der Erste Senat nunmehr, in Abkehr von der sogenannten Trennungsthese der Grundrechtsräume, Konstellationen an, in denen die Charta zu den Grundrechten des Grundgesetzes hinzutritt3226. Dennoch hält der Senat daran fest, dass durch Art. 51 I 1 GRCh der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte bewusst begrenzt gehalten und der Grundrechtsschutz den Mitgliedstaaten mit ihren „innerstaatlichen Grundrechtsverbürgungen“ überlassen werde3227. Insgesamt zeigt sich hier jedoch eine erst in Entwicklung befindliche Neuordnung des Verhältnisses der Grundrechte des Grundgesetzes und der Charta. Der Europäische Gerichtshof hat im Nachgang der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Antiterrordateigesetz I seinerzeit seine Rechtsprechung vorsichtig modifiziert und in Teilen abgemildert3228. Der Gerichtshof erklärte in der Rechtssache Siragusa ausdrücklich, dass die Durchführung von Unionsrecht „einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad verlangt, der darüber hinausgeht, dass 3224
Grundlegend BVerfGE 152, 152 (169, Rn. 43). Zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung BVerfGE 154, 152 (214 f., Rn. 84 f., 309, Rn. 326); allgemein BVerfGE 152, 152 (168, Rn. 39). 3226 BVerfGE 152, 152 (169 ff., Rn. 42 ff.); zu den Ausnahmen, bei denen eine Anwendung der Grundrechtecharta nach Ansicht des Senats nunmehr gleichwohl denkbar ist, S. 179 ff., Rn. 63 ff.; bei der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung liegt keine mögliche Ausnahme im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung vor, siehe BVerfGE 154, 152 (309 f., Rn. 326); zur Einordnung der Entscheidung und zur Aufgabe der Trennungsthese als Konzession an den EuGH etwa W. Michl, In Vielfalt geeinte Grundrechte, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/in-vielfalt-geeinte-grundrechte (1.12. 2019). Eine spektakuläre Änderung der Rechtsprechung vollzieht der Erste Senat hingegen mit dem am selben Tag veröffentlichten Beschluss zum Recht auf Vergessen II, wonach der Senat nunmehr bei unionsrechtlich vollständig determinierten Sachverhalten die Grundrechte der Charta als Prüfungsmaßstab heranzieht, BVerfGE 152, 216 (229 ff., Rn. 32 ff.); zu dieser weitreichenden Rechtsprechungsänderung positiv in einer ersten Reaktion T. Kleinlein, Neue starke Stimme in der europäischen Grundrechts-Polyphonie, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/neue-starke-stimme-in-der-europaei schen-grundrechts-polyphonie (1.12.2019); Konfliktpotenzial mit dem EuGH sieht hingegen etwa K.-N. Pfeifer, Das Recht auf Vergessenwerden – ein neuer Klassiker vom Karlsruher Schlossplatz, in: GRUR 2020, S. 34 (35 f.); vgl. ausführlich zur Einordnung der neuen Rechtsprechung mit Blick auf das Verhältnis zwischen EuGH, BVerfG und den Fachgerichten auch stellvertretend für die zahlreichen Reaktionen aus dem Schrifttum J. Kühling, Das „Recht auf Vergessenwerden“ vor dem BVerfG – November(r)evolution für die Grundrechtsarchitektur im Mehrebenensystem, in: NJW 2020, S. 275 ff.; M. Wendel, Das Bundesverfassungsgericht als Garant der Unionsgrundrechte, in: JZ 2020, S. 157 ff. 3227 Klarstellend und jedenfalls insoweit das Grundgesetz priorisierend BVerfGE 152, 152 (169, Rn. 43). 3228 So Schwerdtfeger (Fn. 3220), Art. 51 GRCh Rn. 46; selbige Wertung auch bei S. Sule, National Security and EU law restraints on Intelligence Activities, in: Dietrich/ ders., Intelligence Law (Fn. 48), Part 4 Ch. 2 Rn. 128. 3225
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G. Menschen- und unionsrechtliche Anforderungen
die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf andere hat“ 3229. Darüber hinaus sind die Unionsgrundrechte unanwendbar, wenn das Gemeinschaftsrecht in dem betroffenen Sachbereich keine bestimmten Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten im Hinblick auf den nationalen Sachverhalt statuiert3230. Eine Chartabindung entfällt auch dann, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts schon nicht eröffnet ist, also spezifische Verpflichtungen und Regelungen aus dem Unionsrecht fehlen3231. In ihrem verbliebenen nationalen Kompetenzrahmen agieren die Mitgliedstaaten schließlich ohne unionsrechtliche Grundrechtsbindung3232. Die Charta findet nach wohl überwiegender Meinung allerdings – was freilich nicht unumstritten ist3233 – Anwendung, wenn die Mitgliedstaaten Grundfreiheiten der Verträge beschränken3234. b) Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbotes Art. 18 I AEUV verbietet im Anwendungsbereich der Verträge – aber eben auch nur in diesem – jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit3235. Der Europäische Gerichtshof versteht die Tatbestandsvoraussetzung des Anwendungsbereichs der Verträge – wenig überraschend – dahingehend weit, dass der Sachverhalt schlicht nicht „außerhalb des Gemeinschaftsrechts“ stehen dürfe3236. 3229
EuGH, Urteil vom 6.3.2014 – C-206/13, Rn. 24 – Siragusa. Schwerdtfeger (Fn. 3220), Art. 51 GRCh Rn. 46 m. Fn. 132, mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 3231 EuGH, Beschluss vom 7.9.2017 – C-177/17, Rn. 25 – Dermachi Gino; hierauf verweist Schwerdtfeger (Fn. 3220), Art. 51 GRCh Rn. 51 m. Fn. 157; siehe auch allgemein Thym, Reichweite (Fn. 3222), S. 893. 3232 Statt aller Jarass (Fn. 3215), Art. 51 GRCh Rn. 22. 3233 Ablehnung etwa bei T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV Kommentar, 6. Aufl. 2022, Art. 51 GRCh Rn. 19 ff., 22 f.; P. M. Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, in: NJW 2011, S. 2385 (2386 f.). 3234 Grundlegend EuGH, Urteil vom 18.6.1991 – C-260/89, Rn. 41 ff. – ERT; siehe für die wohl überwiegende Meinung in der (Kommentar-)Literatur Jarass (Fn. 3215), Art. 51 GRCh Rn. 32 f.; Schwerdtfeger (Fn. 3220), Art. 51 GRCh Rn. 39; Petersen, Verfassungsrecht II (Fn. 1190) § 10 Rn. 36 f.; Pache (Fn. 3220), Art. 51 GRCh Rn. 24; J. P. Terhechte, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Bd. I, 7. Aufl. 2015, Art. 51 GRCh Rn. 10; zum allgemeinen Verhältnis von EU-Grundrechten und Grundfreiheiten vgl. ferner E. Pache, in: S. M. Heselhaus/ C. Nowak (Hrsg.), Handbuch der europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 45 ff. 3235 Statt aller BVerfGE 129, 78 (98); unklar insoweit Huber (Fn. 1278), Art. 19 III Rn. 307, der in Bezug auf das Merkmal „inländisch“ in Art. 19 III GG dahingehend verstanden werden könnte, dass alle in der Union ansässigen juristischen Personen stets gleich zu behandeln wären, unabhängig von der Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge – so jedenfalls die Auslegung bei Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 145 m. Fn. 541. 3236 Grundlegend EuGH, Urteil vom 13.2.1985 – C-293/83, Rn. 19 – Gravier; Streinz (Fn. 3223), Art. 18 AEUV Rn. 19; A. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU (Fn. 1354), Art. 18 AEUV (2010), Rn. 34. 3230
II. Anforderungen der EU-Grundrechtecharta und des sonstigen Unionsrechts 621
Im Endeffekt reicht es danach aus, dass ein Sachverhalt mit Bezug zum Unionsrecht vorliegt, eine positive Unionszuständigkeit für diesen ist nicht erforderlich3237. Dies ist unproblematisch der Fall, wenn Unionsrecht vollzogen oder durchgeführt wird3238. Ebenso ist das Diskriminierungsverbot nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofes anwendbar, wenn ein Sachverhalt oder eine Frage durch sekundärrechtliche Regelungen adressiert wird3239. Insbesondere ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinne des Art. 18 AEUV darüber hinaus aber bei der auch nur mittelbaren Ausübung oder Verwirklichung von Grundfreiheiten eröffnet3240. Damit reicht im Rahmen des Art. 18 AEUV bereits eine Berührung mit den Grundfreiheiten bzw. ein Gebrauchmachen hiervon grundsätzlich aus, um das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot zur Anwendung gelangen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung in einem obiter dictum im Kontext der möglichen Erweiterung von Art. 19 III GG auf juristische Personen mit Sitz in der Union signalisiert, dass der Anwendungsbereich des Unionsrechts „durch die Entgegennahme grenzüberschreitender Dienstleistungen“, als Ausübung der „durch Art. 56 AEUV gewährleisteten passiven Dienstleistungsfreiheit“, ein Gebrauchmachen von „primärrechtlich gewährleisteten Grundfreiheiten“ darstellen könne3241. Zudem bestehen im Bereich des Datenschutzes sekundärrechtliche Regelungen, die ebenfalls eine unionsrechtliche Dimension der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung eröffnen könnten.
3237 M. Holoubek, in: U. Becker/A. Hatje/J. Schoo/J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 18 AEUV Rn. 25; Streinz (Fn. 3223), Art. 18 AEUV Rn. 19; W. Michl, in: M. Pechstein/C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Bd. II, 2017, Art. 18 AEUV Rn. 36; U. Rust, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, EU (Fn. 3234), Art. 18 AEUV Rn. 48 f.; ferner auch aus dem nachrichtendienstrechtlichen Schrifttum Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 148. 3238 Siehe nur EuGH, Urteil vom 6.10.2009 – C-123/08, Rn. 42 ff. – Wolzenburg. 3239 A. Epiney, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV (Fn. 3233), Art. 18 AEUV Rn. 17 m.w. N. 3240 Holoubek (Fn. 3237), Art. 18 AEUV Rn. 26; Streinz (Fn. 3223), Art. 18 AEUV Rn. 22; Michl (Fn. 3237), Art. 18 AEUV Rn. 39; Epiney (Fn. 3237), Art. 18 AEUV Rn. 18 zumindest unter Wiedergabe der Rechtsprechung des EuGH. 3241 Dies lässt der Erste Senat mehr oder weniger offen durchscheinen, siehe BVerfGE 154, 152 (206 f., Rn. 65); zur Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit Streinz (Fn. 3223), Art. 56 AEUV Rn. 37 ff.; für eine Anwendbarkeit von Art. 18 AEUV auf die nachrichtendienstliche Fernmeldeaufklärung durch den BND aus dem Schrifttum, mit mehr oder weniger ausführlicher Begründung, warum der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet sein sollte, auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 215; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 156; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 3 f.
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2. Keine unionsrechtliche Determinierung technischer Aufklärung durch Nachrichtendienste Damit ist die ganz grundlegende Fragestellung der Zuständigkeit der Union im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten in Fällen technischer Aufklärung durch Nachrichtendienste aufgeworfen, die an wesentlichen Kompetenz-Abgrenzungsproblemen rührt – diese können im hiesigen Rahmen nur bereichsspezifisch skizziert werden3242. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung im Sinne des Art. 5 II EUV darf die Union bekanntermaßen nur aufgrund einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung tätig werden, also ausschließlich in den Fällen, in denen ihr die Zuständigkeit von den Mitgliedstaaten übertragen worden ist3243. Art. 4 II 2 EUV statuiert eine Achtungspflicht der Union für die grundlegenden Funktionen der Mitgliedstaaten, insbesondere den Schutz der „nationalen Sicherheit“; Satz 3 betont dann noch einmal ausdrücklich, dass die nationale Sicherheit weiterhin in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten verbleibt, was insbesondere die Tätigkeit der Nachrichtendienste beinhalten soll3244. Dieser dritte Satz wurde durch den Vertrag von Lissabon extra hinzugefügt, um den nationalstaatlichen Vorbehalt in diesem Feld zu unterstreichen3245. Gestützt wird die Aus3242 Zur Frage der Kompetenzabgrenzung statt vieler R. Geiger, in: ders./D.-E. Kahn/ M. Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV Kommentar, 6. Aufl. 2017, Art. 4 EUV Rn. 20 ff.; konkret zur nachrichtendienstlichen Aufklärung knapp Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 527; ders., Gesetzentwürfe (Fn. 804), S. 11, der von davon ausgeht, dass nachrichtendienstliche Aufklärung von vornherein nicht von den Kompetenzen der Union erfasst ist. 3243 Zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung siehe im ersten Zugriff statt vieler S. Hobe/M. L. Fremuth Europarecht, 10. Aufl. 2020, § 7 Rn. 28 ff. 3244 Konkret in Bezug zu nachrichtendienstlicher Tätigkeit mit einem Definitionsversuch der „nationalen Sicherheit“ ausführlich Sule (Fn. 3228), Part 4 Ch. 2 Rn. 19 ff.; den nationalstaatlichen Vorbehalt im Bereich der Nachrichtendienste betonen Kahl, Rahmenbedingungen (Fn. 2660), S. 159 f.; G. Conrad, Europäische Nachrichtendienstkooperation – Entwicklungen, Erwartungen und Perspektiven, in: Dietrich/Gärditz/ Graulich, Vergesetzlichung (Fn. 148), S. 161 (162); ebenso Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 151 f.; O. Rüß, Internationale nachrichtendienstliche Zusammenarbeit, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch (Fn. 70), Kap. IV § 4 Rn. 7 Fn. 13 m.w. N.; zur Staatsfunktionsgarantie des Art. 4 EUV allgemein etwa W. Obwexer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), EU (Fn. 3234), Art. 4 EUV Rn. 38 ff. Insgesamt fehlt es im Unionsrecht jedoch schon an einer klaren Definition des Begriffs der nationalen Sicherheit, siehe dazu ausführlich I. Spieker gen. Döhmann/S. Bretthauer, Dokumentation zum Datenschutz, G 2.1.18 (2021), Unterpunkt 4.1.1. Art. 4 II EUV umfasst indes nur Mitgliedstaaten der Union und kann etwaig einschlägige Datenschutzregeln – konkret die DSG-VO – bei der Übermittlung in Drittstaaten auch beim Zugriff von Sicherheitsbehörden nicht vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnehmen, EuGH, Urteil vom 16.7.2020 – C-311/18, Rn. 81 – Schrems II. 3245 Instruktiv zur Genese der Vorschrift U. Karpenstein/R. Sangi, Nationale Sicherheit im Unionsrecht: Zur Bedeutung von Art. 4 II 3 EUV, in: GSZ 2020, S. 162 (163, 165); dies betonen ferner Rüß, ebda., § 4 Rn. 7; A. Puttler, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV Kommentar, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV Rn. 21; Obwexer, ebda., Art. 4 EUV Rn. 46.
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klammerung der Nachrichtendienste aus der Regelungskompetenz der Union zudem auf Art. 72, 73 AEUV, welche diese aus dem weiten Feld der Zusammenarbeit in Justiz und Innenpolitik „vollständig“ ausnähmen, zugleich aber „formelle wie informelle“ Kooperation außerhalb des Anwendungsbereiches der Verträge ermöglichten3246. Der Begriff der nationalen Sicherheit in Art. 4 II, 2, 3 EUV wird indes weitgehend restriktiv ausgelegt und soll auf „existenzielle Sicherheitsbelange der Mitgliedstaaten“ beschränkt sein3247. Diese fundamentalen Interessen des Staates sollen – dies sei erneut betont – analog Art. 10 II EMRK die Existenz und Operationsweise von Nachrichtendiensten umfassen3248. Die Gefahrbereiche, in denen § 5 I 3 G 10 strategische Fernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst zulässt, wird man jedenfalls größtenteils unter existenzielle Sicherheitsbelange fassen können3249; die Ziele des § 6 I 1 BNDG sind hingegen sehr weit formuliert und lassen allenfalls in § 6 I 1 Nr. 1 BNDG Anknüpfungspunkte an derart gewichtige Sicherheitsbelange erkennen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass das Auftragsprofil der Bundesregierung die Aufklärungsziele des Bundesnachrichtendienstes maßgeblich mitbestimmt; der Fokus der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung lässt sich – die Zweifel an der Bestimmtheit der Norm unter dem Grundgesetz bleiben hiervon freilich unberührt – also nicht zwangsläufig aus dem Gesetzestext selbst ableiten. Dass mit der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung insgesamt vor allem die Bundesregierung in die Lage versetzt werden soll, auf mannigfaltige Bedrohungen – auch ausgehend von anderen Staaten – aus dem Ausland zu reagieren, spricht indes für eine Ausrichtung auf existenzielle Sicherheitsbelange eines souveränen Nationalstaats. Diese Informationen dienen letztlich – wie auch das Bundesverfassungsgericht bei den zu schützenden Rechtsgütern betont – dazu, dass sich die Bundesrepublik „im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehun-
3246
Hierauf verweist Rüß (Fn. 3244), § 4 Rn. 7. Zitat bei Hatje, in: Becker/ders./Schoo/Schwarze, EU (Fn. 3237), Art. 4 EUV Rn. 19; ferner Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 166 m.w. N.; Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 159 f.; Obwexer (Fn. 3244), Art. 4 EUV Rn. 45; ähnlich auch S. Schill/C. Krenn, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU (Fn. 1354), Art. 4 EUV (2018), Rn. 42; a. A. in Bezug zur nachrichtendienstlichen Fernmeldeaufklärung M. Schlikker, Anwendung des Europarechts auf das britische TEMPORA-Programm, in: NJOZ 2014, S. 1281 (1282 ff.), der aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 III EUV folgert, dass Art. 4 II EUV nicht dahingehend ausgelegt werden könne, dass die Mitgliedstaaten sich der Chartabindung entziehen könnten; hiergegen überzeugend Karpenstein/Sangi, ebda., S. 165; ebenso Schwander, ebda., S. 160, der die Quelle ebenfalls präsentiert. 3248 So jedenfalls die Auslegung bei Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 167, unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 9.2.1995 – No. 16616/90, Rn. 35 – Vereniging Weekblad Bluf!; allgemein dafür auch Kahl, Rahmenbedingungen (Fn. 2660), S. 15. 3249 Für „einige Bereiche der Fernmeldeaufklärung“ nimmt dies auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 160, an. 3247
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gen behaupten“ kann3250. Damit geht es um ein „gesamtstaatliches Interesse, das über das Interesse an der Gewährleistung der inneren Sicherheit als solcher deutlich hinausgeht“ – es geht vielmehr um die „Bewahrung demokratischer Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung“ 3251. Zudem werden sie unter strengster Geheimhaltung gerade mit nachrichtendienstlichen Mitteln gewonnen. Dieser überragende Zweck der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung spricht schon für die Annahme eines existenziellen – insoweit bei den Mitgliedstaaten verbleibenden – Sicherheitsbelanges3252. Aus dem Achtungsanspruch des Art. 4 II 2, 3 EUV folgt allerdings nach überwiegender Ansicht keine absolute Grenze, sondern eine auf Grundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorzunehmende Ausbalancierung zwischen dem Vorrang des Unionsrechts und der besonders geschützten Staatsfunktionsgarantie, insbesondere bei Eingriffen in deren Kernbereich3253. Selbst wenn also Bereiche der existenziellen Sicherheitsbelange der Bundesrepublik betroffen sein sollten – wofür vieles spricht – wird die Möglichkeit einer unionsrechtlichen Determinierung nach dieser Lesart nicht von vornherein ausgeschlossen. Dabei handelt es sich freilich um eine Abwägungsfrage, bei der die Tätigkeit der nachrichtendienstlichen Fernmeldeaufklärung in concreto noch nicht adressiert ist. Diese notwendige Ausbalancierung steht mit anderen Worten einer hinreichenden Berücksichtigung nachrichtendienstlicher Auslandstelekommunikationsüberwachung als potentieller Kernbereich nationaler Sicherheit auch nicht grundsätzlich entgegen. Es handelt sich – wie bei allen Verhältnismäßigkeitsüberlegungen – letztlich um eine Gewichtung. Nach anderer Ansicht sieht gerade Art. 4 II 3 EUV sehr wohl eine „äußerste Grenze“ der Zuständigkeitserweiterung für die Union vor, die allerdings in ihrer beschränkenden Funktion auf den Kerngehalt der Verfassung – im Sinne der Lissabon-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – begrenzt bleiben müsse3254. Für eine absolute Grenze der Unionszuständigkeit spricht zunächst schon der Wortlaut des Art. 4 II 3 EUV, der ausdrücklich und in Ergänzung von Satz 2 3250
BVerfGE 154, 152 (248, Rn. 162). BVerfGE 154, 152 (248, Rn. 162). 3252 Für die Subsumption von „nachrichtendienstlichen Maßnahmen“ unter die Kerninteressen nationaler Sicherheit im Sinne des Art. 4 II 3 EUV im Ergebnis auch Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 167. 3253 So die allgemeine Auslegung von Art. 4 II 2, 3 EUV durch Hatje (Fn. 3247), Art. 4 EUV Rn. 18; Schill/Krenn (Fn. 3247), Art. 4 EUV Rn. 43 ff.; Schmahl, Völkerrechtsordnung (Fn. 1345), S. 29 f. m. Fn. 56, 57, unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 4.6.2013 – C-300/11, Rn. 38, 51 ff. – ZZ/Secretary of State for the Home Department; Obwexer (Fn. 3244), Art. 4 EUV Rn. 49; differenziert C. Franzius, in: Pechstein/Nowak/Häde, FK EU I (Fn. 3220), Art. 4 EUV Rn. 55 ff. 3254 Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 160, unter Verweis auf Puttler (Fn. 3245), Art. 4 EUV Rn. 22 (mit hiesigem Zitat), die sich wiederum auf BVerfGE 123, 267 (353) bezieht. 3251
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betont, dass die nationale Sicherheit und mithin vor allem die Tätigkeit der Nachrichtendienste in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten verbleibt3255. Insbesondere die sprachliche Hervorhebung der „alleinigen“ Verantwortung der Mitgliedstaaten streitet für einen absoluten Ausschluss der Unionskompetenz, da Art. 4 II 1 und 2 EUV lediglich von „achten“ sprechen und insoweit Spielräume lassen; Satz 3 tut dies gerade nicht3256. Wenn die Wortlautgrenze der Verträge bei der Auslegung der Kompetenzsphären schlicht beiseitegelassen wird, droht eine Verschiebung der Zuständigkeiten, die mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Konflikt geraten kann. Art. 4 I EUV stellt deshalb auch noch einmal ausdrücklich klar, dass alle nicht in den Verträgen an die Union übertragenen Kompetenzen in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten entsprechend Art. 5 EUV verbleiben3257. Ebenso streitet die Aufnahme von Art. 4 II 3 EUV durch den Vertrag von Lissabon und die Entstehungsgeschichte in Form der vorherigen Überlegungen der Kompetenzbegrenzung der Union für einen europäischen Verfassungsvertrag für die Annahme einer insoweit strikten Kompetenzbegrenzung3258. Es sollte durch Art. 4 II EUV gerade einer „extensiven Kompetenzausweitung“ der Union in bestimmten, besonders sensiblen Feldern entgegengetreten werden3259. Im Ergebnis handelt sich bei Art. 4 II 3 EUV richtigerweise um eine allgemeine Bereichsausnahme3260. Nur am Rande sei überdies bemerkt, dass auch verfassungsrechtliche Bedenken angesichts des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsatzes der Sicherung der Souveränität der Bundesrepublik und der durch das Demokratiegebot bestehenden Integrationsschranken aufgeworfen werden3261. Der Zweite Senat hat bereits in seinem Lissabon-Urteil in Bezug auf das polizeiliche Gewaltmonopol auf die besondere Sensibilität „für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates“ hingewiesen3262. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die besonders grundrechts-
3255 Pointierte Wortlautauslegung insbesondere bei Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 163 f.; hierfür auch spezifisch auf die Nachrichtendienste bezogen Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 151; Conrad, Nachrichtendienstkooperation (Fn. 3244), S. 162, der auch die Perspektive aus der Praxis mit einbringt; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 26; Rüß (Fn. 3244), § 4 Rn. 7; Gärditz, Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 527. 3256 Siehe erneut Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 164. 3257 Siehe etwa Schill/Krenn (Fn. 3247), Art. 4 EUV Rn. 2; siehe zu systematischen Überlegungen der Kompetenzabgrenzung durch Art. 4 II 3 EUV auch Karpenstein/ Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 164 f. 3258 Zur Grundlage im Entwurf zum Europäischen Verfassungsvertrag, wo dieser Bereich bereits aus dem Kompetenzbereich der Union ausgeklammert werden sollte, erneut instruktiv Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 165. 3259 Zu den travaux préparatoires mit hiesiger Lesart Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 165. 3260 So auch überzeugend Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 166. 3261 BVerfGE 123, 267 (356 ff.). 3262 BVerfGE 123, 267 (359).
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invasive Tätigkeit der Nachrichtendienste und ihre Aufgabe der Information politischer Entscheidungsträger nicht an den Kernbereich staatlicher Souveränität jedenfalls heranreichen können3263. Eine Begrenzung des Übertragbaren in diesem sensiblen Feld erscheint jedenfalls in Teilen auch aus nationalen, verfassungsrechtlichen Gründen denkbar. Eine absolut eindeutige Lösung – nicht nur hinsichtlich der Tätigkeit der Nachrichtendienste, sondern auch der sonstigen sicherheitsrechtlichen Handlungsfelder auf EU-Ebene – wird sich letztlich nur durch eine Vertragsänderung bzw. Klarstellung des Art. 4 II 2, 3 EUV erreichen lassen3264. Insgesamt sprechen jedoch der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung dafür, jedenfalls in Bezug auf die nachrichtendienstliche Auslandstelekommunikationsüberwachung und deren herausgehobene Stellung zur Wahrung der nationalen Sicherheit durch Sicherstellung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung den Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht als eröffnet anzusehen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage der Reichweite der Achtungsverpflichtung – freilich auch mangels Prüfungskompetenz – im BNDG-Urteil offengelassen und eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof mangels Entscheidungserheblichkeit letztlich abgelehnt3265. Der Erste Senat lässt in einem obiter dictum jedoch durchscheinen, dass nach seiner Lesart „jedenfalls im Hinblick auf Teile des Aufgabenprofils“ des Bundesnachrichtendienstes eine Anwendbarkeit des Unionsrechts ausgeschlossen sein könnte, was im Umkehrschluss aber bedeutet, dass es (Teil-)Bereiche der nachrichtendienstlichen Telekommunikationsaufklärung geben könnte, auf die das Unionsrecht trotz Art. 4 II 3 EUV sehr wohl anwendbar ist3266. Selbst wenn aber auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit in Gestalt der nachrichtendienstlichen Fernmeldeaufklärung – entgegen der hiesigen Ansicht – überhaupt Unionsrecht existieren können sollte3267, ist der Bereich der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst sekundärrechtlich nicht umfasst (a)) und die Grundfreiheiten werden hierdurch nicht beschränkt (b)).
3263 Diese Frage wirft auch Rüß (Fn. 3244), § 4 Rn. 83 auf, der im Ergebnis von einer verfassungsrechtlichen Begrenzung der Kompetenzübertragungsmöglichkeiten auf die Union in Bezug auf Nachrichtendienste ausgeht. 3264 Siehe hierzu auch mit einer Darstellung der Entwicklung des europäischen Sicherheitsrechts F. Krämer, Europäische Sicherheitsarchitektur. Ambivalenzen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Brings-Wiesen/Ferreau, „Deutscher Herbst“ (Fn. 67), S. 39 (55 f.) et passim. Dazu bedarf es freilich eines mehrheitsfähigen politischen Willens. 3265 BVerfGE 154, 152 (206 f., Rn. 65 f., 228 f., Rn. 112, 310 f., Rn. 328). 3266 So jedenfalls BVerfGE 154, 152 (206, Rn. 65). 3267 Dafür etwa Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 160 f.; ferner im Ergebnis auch Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 156; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 3.
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a) Keine sekundärrechtliche Öffnung im Kernbereich nationaler Sicherheit Die Union hat keine direkten sekundärrechtlichen Regelungen zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung durch Nachrichtendienste der Mitgliedstaaten erlassen3268. Dies wäre auch bereits rechtspolitisch wohl nur schwer vorstellbar3269; die Mitgliedstaaten dürften ihre Nachrichtendienste, insbesondere im Feld der besonders gehüteten technisch-strategischen Auslandsaufklärung, richtigerweise als domaine réservé betrachten3270. Eine höchstrichterliche Befassung mit der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung oder einem vergleichbaren Instrument in den Mitgliedstaaten existierte auf europäischer Ebene lange Zeit nicht. Der Europäischen Gerichtshof hat sich aber nunmehr in sekundärrechtlichem Kontext zur Frage der Anwendbarkeit des Unionsrechts auf die technische Aufklärung durch Nachrichtendienste verhalten3271. Das – vom Bundesverfassungsgericht augenscheinlich hochgeschätzte – britische Investigatory Powers Tribunal hatte die Vorlagefrage an den Gerichtshof gerichtet, ob in Anbetracht von Art. 4 EUV und Art. 1 III der Richtlinie 2002/58/EG über die Privatsphäre und elektronische Kommunikation (e-Datenschutzrichtlinie) 3272 3268 Dahingehend BVerfGE 154, 152 (214 f., Rn. 84 f.); so auch der Befund bei Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 11. 3269 Hierzu gibt es gegenwärtig keinerlei rechtspolitische Bestrebungen, siehe dazu Conrad, Nachrichtendienstkooperation (Fn. 3244), S. 162 ff., der weitergehend die bereits bestehenden, freiwilligen nachrichtendienstlichen Kooperationsstrukturen auf europäischer Ebene darlegt. Die freiwillige Möglichkeit eines Austausches nachrichtendienstlicher Informationen abseits unionsrechtlicher Verpflichtungen betonen auch Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 167; instruktiv dazu auch Kahl, Rahmenbedingungen (Fn. 2660), S. 155 ff.; eine stärkere Kooperationstendenz der Nachrichtendienste auf EU-Ebene macht derweil aus Schöndorf-Haubold, Sicherheitskooperationsrecht (Fn. 2801), S. 15 ff., die hierfür ausführlich und nachdrücklich eine intensivere Verrechtlichung einfordert. 3270 Allgemein nutzen diese Formulierung völkerrechtlicher Provenienz auch Karpenstein/Sangi, Sicherheit (Fn. 3245), S. 165. 3271 EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17 – Privacy International; parallel EuGH, Urteil vom 6.10.2020, C-511/18 – La Quadrature du Net u. a.; affirmativ zur Entscheidung des EuGH in der Sache Privacy International im ersten Zugriff E. Tuchtfeld, Towards a European Court of Fundamental Rights, abrufbar unter https:// verfassungsblog.de/towards-a-european-court-of-fundamental-rights/ (19.10.2020); präzise wie kritische Zusammenfassung bei A. Baumgartner, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 6.10.2020, C-623/17 – Privacy International, in: GSZ 2021, S. 42 (42 ff.); siehe auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Auswirkungen der neuen EuGH-Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung auf Geheimdienste, WD 3 – 3000 – 240/20, S. 5 ff.; auf das – damals noch laufende – Verfahren vor dem EuGH verweist auch BVerfGE 154, 152 (206 f., Rn. 65, 228, Rn. 112); ebenso Mallmann (Fn. 322), § 9 BVerfSchG Rn. 2; vgl. hierzu ebenfalls den Schlussantrag des Generalanwalts SánchezBordona, vom 15.1.2020, in der Rechtssache C-623/17 (Dokument Nr. 62017CC0623), Rn. 28 ff. 3272 RL 2002/58/EG (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation); hierzu Sachstand der Unterabteilung Europa des Bundestages, PE 6 – 3000 – 99/16, S. 5; die Richtlinie soll in Zukunft durch die e-privacy-Verordnung abgelöst werden,
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eine Verpflichtung durch eine Anweisung des Secretary of State an einen Betreiber eines elektronischen Kommunikationsnetzwerks, Massen-Telekommunikationsdaten an die Sicherheits- und Nachrichtendienste eines Mitgliedstaats zur Verfügung zu stellen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und der e-Datenschutzrichtlinie falle3273. Der jüngst bejahende Entscheidung des Gerichtshofes auf die britische (pre Brexit) Vorlagefrage3274 ist indes entgegenzutreten. Sekundärrechtlich sieht zunächst die DSG-VO vor, dass – wie bei der Vorstellung der Dienste und der Frage einer Individualisierungsmöglichkeit von Teilnehmern bereits ausgeführt – gemäß Art. 2 Nr. 2 lit. d) DSG-VO, die Verarbeitung von personenbezogenen Daten im Bereich der öffentlichen Sicherheit nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt3275. Die Bereichsausnahme in der Vorläufer-Richtlinie (RL 95/46/EG) hatte das Bundesverfassungsgericht im ATDG I-Urteil ausdrücklich dahingehend ausgelegt, dass „die Datenverarbeitung betreffend die öffentliche Sicherheit, die Sicherheit des Staates und die Tätigkeit im strafrechtlichen Bereich“ vom Geltungsumfang der RL 95/46/EG ausgenommen sei3276. Diese Wertung lässt sich auf die nachrichtendienstliche Aufklärung übertragen3277, zumal das Gericht in Bezug auf die Antiterrordatei I selbst die Tätigkeit der Nachrichtendienste erwähnt und eine Durchführung von Unionsrecht im diesem Kontext ablehnt3278. Eine mit der DSG-VO und der vorherigen RL 95/46/EG vergleichbare Bereichsausnahme enthält auch Art. 1 III RL 2002/58/EG, welche in den Art. 5, 6, 8 I–IV sowie 9 Rechte Einzelner gegenüber den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Vertraulichkeit von elektronischer Kommunikation und der Speicherung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten aufstellt. Der Europäische Gerichtshof
die jedoch noch nicht abschließend ausgearbeitet, geschweige denn verabschiedet ist; zum Stand vgl. https://www.computerundrecht.de/45742.htm (17.12.2019). 3273 EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17, Rn. 29 – Privacy International. 3274 EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17, Rn. 30 ff. – Privacy International. 3275 Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 151 f.; hierzu auch schon B. III. 1. b) sowie F. II. 1. c); zur Vorgänger-Datenschutzrichtlinie 95/46/EG mit gleichem Befund Ewer/Thienel, Aspekte (Fn. 1345), S. 33 f.; hierzu auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 161. 3276 BVerfGE 133, 277 (315, Rn. 90). 3277 So auch Aust, Stellungnahme (Fn. 549), S. 24; a. A. nunmehr wohl in einem obiter dictum EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17, Rn. 44 – Privacy International; siehe dazu vertieft Tuchtfeld, Court (Fn. 3271). 3278 BVerfGE 133, 277 (315, Rn. 90) – „Gleichwohl ist unzweifelhaft und – im Übrigen auch nach den Maßstäben der Acte-claire-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs [. . .] – keiner weiteren Klärung bedürftig, dass das Antiterrordateigesetz und die auf seiner Grundlage erfolgende Tätigkeit der Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste keine Durchführung des Rechts der Union im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EuGRCh darstellen.“
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hat trotz des ausdrücklichen Wortlauts in Art. 1 III RL 2002/58/EG in Bezug auf die Ausnahmeklausel der Richtlinie in Art. 15 I jedoch angenommen, dass Maßgaben zur flächendeckenden anlasslosen Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat durch private Telekommunikationsdienstleister auf staatliche Anordnung vom Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst würden, da ansonsten die spezifischen Anforderungen der Ausnahme wirkungslos seien3279. Insoweit scheint der Gerichtshof einen hinreichenden Zusammenhang zur Durchführung des Unionsrechts im Sinne seiner Rechtsprechung zu erkennen, was sodann konsequenterweise zur Anwendbarkeit der Grundrechtecharta führt. In einem weiteren Verfahren hat der Gerichtshof Art. 1 III RL 2002/58/EG dahingehend ausgelegte, dass die vom Umfang der Richtlinie ausgenommenen Tätigkeiten solche des Staates seien, also nur in Fällen anzunehmen seien, in denen Private mit diesen Handlungen nichts zu tun hätten3280. Aus der Entscheidung des Gerichtshofes zur Vorratsdatenspeicherung durch private Telekommunikationsdienstleister in den Mitgliedstaaten in der Rechtssache Tele2 Sverige wurde abgeleitet, dass die Richtlinie 2002/58/EG und damit die Grundrechtecharta dann auch auf die nachrichtendienstliche Fernmeldeaufklärung anwendbar seien müssten3281. Art. 5 I RL 2002/58/EG stelle einen ausreichenden Anknüpfungspunkt für jede Art von Telekommunikationserfassung dar, weswegen die „Fernmeldeüberwachung und vergleichbare Eingriffe“ gemäß Art. 51 I 1 GRCh an der Grundrechtecharta der Union zu messen seien3282. Gegen die Auslegung der Richtlinie 2002/58/EG durch den Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Tele2 Sverige spricht jedoch schon der Wortlaut des Art. 1 III, der unmissverständlich Sachverhalte der nationalen Sicherheit vom Anwendungsbereich ausnimmt3283. Hier stellt sich erneut die Frage, welchen Wert man dem Wortlaut bei der Auslegung des Primär- und Sekundärrechts der
3279 EuGH, Urteil vom 21.12.2016 (Große Kammer) – C-203/15, Rn. 73 ff. – Tele2 Sverige; dazu auch Sule (Fn. 3228), Part 4 Ch. 2 Rn. 53; Zustimmung zu der Entscheidung bei Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 161, der auf den Blogbeitrag von N. Marsch, Do(n’t) think twice, it’s all right: der EuGH beerdigt die Vorratsdatenspeicherung, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/dont-think-twice-its-all-right-dereugh-beerdigt-die-vorratsdatenspeicherung/ (17.12.2019) verweist. 3280 EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17, Rn. 35 – Privacy International unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 2.10.2018 (Große Kammer), C-207/ 16, Rn. 32 – Ministerio Fiscal. 3281 So Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 161; ebenfalls wohl Sachstand der Unterabteilung Europa des Bundestages, PE 6 – 3000 – 99/16, S. 6 f.; auf die potentielle Einschlägigkeit der RL 2002/58/EG auch für die nachrichtendienstliche Fernmeldeaufklärung weist ebenfalls das BVerfG hin, BVerfGE 154, 152 (207, Rn. 65, 215, Rn. 85, 309, Rn. 326). 3282 So die Schlussfolgerung aus der Tele2 Sverige Entscheidung durch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 161. 3283 Dies gesteht auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 161 ein, der sich jedoch dann, im Gleichklang mit dem EuGH, hierüber hinwegsetzt.
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Union ganz grundsätzlich beimessen möchte. Ferner legt Erwägungsgrund 11 der Richtlinie 2002/58/EG nahe, den Art. 15 I selbiger Richtlinie lediglich als Öffnungsklausel zu Gunsten der Mitgliedstaaten zu werten3284. Eine derart extensive Auslegung der Richtlinie über den Wortlaut hinaus mit Verweis auf systematische Überlegungen überzeugt mithin nicht. Schon die Entscheidung Tele2 Sverige ist insoweit abzulehnen3285. Eine Antwort des Bundesverfassungsgerichts auf die Sichtweise des Gerichtshofs steht derzeit noch aus – sie darf mit Spannung erwartet werden3286. In seiner jüngsten Entscheidung in der Rechtssache Privacy International setzt der Gerichtshof seine sehr extensive Rechtsprechung wenig überraschend fort und sieht auch in Fällen, in denen nationale Regelungen (mithin wohl auch §§ 2 G 10, 8 BNDG) private Telekommunikationsdienstleister dazu verpflichten, Massendaten an die Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste auszuleiten, den Anwendungsbereich der Richtlinie 2002/58/EG auch im Lichte des Art. 4 II EUV als eröffnet an3287. Danach reicht die bloße Mitwirkungspflicht der Telekommunikationsanbieter und Netzbetreiber letztlich wohl aus3288. Die Bundesregierung geht indes, konkret in Bezug auf die Richtlinie aber auch verallgemeinerbar, richtigerweise davon aus, dass die Arbeit der Nachrichtendienste in den „Kernbereich“ der nationalen Sicherheit falle und warnte in ihrer Stellungnahme in dem Verfahren gleichzeitig, dass die Mitgliedstaaten eine extensive Auslegung der Richtlinie 2002/58/EG auf die Speicherung von Telekommunikationsdaten durch Nachrichtendienste als „Angriff auf den Kernbereich ihrer Eigenstaatlichkeit“ werten könnten; zudem könne eine solches Verständnis der Richtlinie seitens des Gerichtshofes durchgreifende „ultra-vires-Fragen“ aufwerfen3289. Hier schwelt ein möglicher weiterer Konfliktherd zwischen Bundes3284 So überzeugend F. Wollenschläger/L. Krönke, Telekommunikationsüberwachung und Verkehrsdatenspeicherung – eine Frage des EU-Grundrechtsschutzes?, in: NJW 2016, S. 906 (908). 3285 Aus allgemeiner grundrechtlicher Warte ist die rechtsstaatliche Einhegung der Vorratsdatenspeicherung freilich höchst begrüßenswert. Sie kann jedoch nicht soweit gehen, ausdrückliche Ausnahmen des Anwendungsbereiches der Richtlinie 2002/58/EG zu übergehen, insbesondere nicht im Lichte des Art. 4 II 3 EUV. 3286 Das deutsche Verfahren zur Vorratsdatenspeicherung ist unter den Aktenzeichen 1 BvR 141/16, 1 BvR 229/16, 1 BvR 2023/16 und 1 BvR 2683/16 beim BVerfG anhängig; Tuchtfeld, Court (Fn. 3271), sieht den EuGH auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Grundrechtsgericht und eine generelle Zustimmung zu dieser Entwicklung, jedenfalls im Bereich des Grundrechtsschutzes, durch den Ersten Senat in der Entscheidung zum Recht auf Vergessen II. Demnach müsste das BVerfG der Auslegung durch den EuGH wohl grundsätzlich offen gegenüberstehen. Das Ergebnis bleibt letztlich abzuwarten. 3287 Zusammengefasst in EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17, Rn. 49 – Privacy International. 3288 Siehe Baumgartner, Anmerkung (Fn. 3271), S. 43; Wissenschaftliche Dienste, Auswirkungen (Fn. 3271), S. 10 f. 3289 Plädoyer der Bundesregierung in den Rechtssachen C-623/17, C-511/18, C-512/ 18 und C-520/18 in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof der Europäi-
II. Anforderungen der EU-Grundrechtecharta und des sonstigen Unionsrechts 631
verfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof 3290. Allerdings zeigt sich zumindest der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung im Ton konziliant und schließt eine Erstreckung der Richtlinie RL 2002/58/EG auf Nachrichtendienste wohl jedenfalls nicht rundweg aus3291. Dessen ungeachtet ist auch die neueste Entscheidung des Gerichtshofes richtigerweise abzulehnen3292, da sie wiederum partiell den Wortlaut des Art. 1 III RL 2002/58/EG missachtet. Gefolgt werden kann dem Europäischen Gerichtshof nur bei seiner Wertung, dass Datenerhebungen und Nutzungen durch den Staat bzw. den Bundesnachrichtendienst selbst nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie und mithin des Unionsrechts fallen3293. Damit sind die Situationen, in denen der Bundesnachrichtendienst die Telekommunikation selbst erfasst, auch nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgenommen3294. In den Fällen einer Ausleitung von Daten an den Bundesnachrichtendienst wäre hingegen der Anwendungsbe-
schen Union in Luxemburg (Große Kammer) am 9. September 2019, S. 4, abrufbar unter https://fragdenstaat.de/anfrage/vorratsdatenspeicherung-deutsche-position-vordem-eugh-am-9-und-1092019/460349/anhang/bundesregierung-vds-eugh-6-9-2019-p_ge schwaerzt.pdf (12.2.2020); für eine ausreichende Würdigung des Art. 4 II EUV zum Schutze der nationalen Sicherheit plädierten auch weitere an den Verfahren beteiligte Mitgliedstaaten, EuGH, Urteil vom 6.10.2020, C-511/18, Rn. 89 – La Quadrature du Net u. a.; siehe auch Wissenschaftliche Dienste, Auswirkungen (Fn. 3271), S. 6. 3290 Die „Reservevorbehalte“ der Ultra-vires- und Identitätskontrolle bleiben von der Änderung der Rechtsprechung durch die Entscheidungen zum Recht auf Vergessen schließlich unberührt, wie Wendel, Garant (Fn. 3226), S. 167, unter Bezug auf die Entscheidungen darlegt. Ob indes eine Entscheidung des EuGH die hohen Anforderungen einer Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG – in Form eines qualifizierten Verstoßes gegen die Kompetenzordnung in einer „das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art“ darstellen würde, die sich nicht mehr mit anerkannten methodischen Grundsätzen der Rechtsauslegung erreichen ließe und schlechterdings willkürlich erschiene – lässt sich freilich nicht perspektivisch beantworten; zu den Anforderungen an die Ultra-vires-Kontrolle BVerfGE 152, 17 (90 ff., Rn. 110 ff.), mit hiesigem Zitat in Rn. 110; 142, 123 (198 ff., Rn. 143 ff.); 134, 366 (382 ff., Rn. 22 ff.). 3291 Zumindest tendenziell kann der Erste Senat nicht dahingehend verstanden werden, dass er sich einer Erstreckung der RL 2002/58/EG a priori verweigern würde, siehe jedenfalls im Ansatz dazu BVerfGE 154, 152 (206 f., Rn. 65, 228 f., Rn. 112, 309 f., Rn. 326) – freilich konnte der Senat hierzu keine letztverbindliche Aussage treffen. Noch offener nunmehr formuliert in BVerfGE 156, 11 (36 f., Rn. 67): „Unabhängig von der Frage ihrer generellen Anwendbarkeit auf Sicherheits- und Nachrichtendienste im Lichte von Art. 4 Abs. 2 Satz 3 EUV [. . .]“. 3292 A. A. wohl Tuchtfeld, Court (Fn. 3271). 3293 Insoweit anschlussfähig EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/ 17, Rn. 35 – Privacy International unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 2.10.2018 (Große Kammer), C-207/16, Rn. 32 – Ministerio Fiscal; diese Differenzierung betonen auch BVerfGE 156, 11 (36 f., Rn. 67); Baumgartner, Anmerkung (Fn. 3271), S. 43; Wissenschaftliche Dienste, Auswirkungen (Fn. 3271), S. 7. 3294 EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17, Rn. 48 – Privacy International; so auch die Deutung bei Wissenschaftliche Dienste, Auswirkungen (Fn. 3271), S. 10 f.
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reich der Richtlinie nach Ansicht des Gerichtshofes eröffnet. Dem ist aber unter Verweis auf den Wortlaut des Art. 1 III der Richtlinie, insbesondere auch im Lichte des Art. 4 II 3 EUV3295, weiterhin entgegenzutreten. Zudem werden bei der Vorratsdatenspeicherung, die bisher immer den Hintergrund der Verfahren vor dem Gerichtshof bildete, die Metadaten total erfasst und stehen staatlichen Stellen, jedenfalls nach Abruf, in ihrer Gesamtheit zur Verfügung, was umfassendste Persönlichkeitsprofile ermöglicht; die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung erfasst hingegen die Inhalts- und Metadaten schon aus tatsächlichen Limitierungen niemals total, was einen signifikanten Sachverhaltsunterschied darstellt3296. Der Gerichtshof nutzt letztlich seine „Auslegungsmacht über [das] Sekundärrecht“, das seinen Ursprung im harmonisierten Binnenmarkt hat, um den alleinigen Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten justiziabel zu machen3297. Dann verbleibt aber für die Aussage des Art. 4 II 3 EUV, den der Gerichtshof zugunsten der Deutungshoheit der Mitgliedstaaten durchaus auch bemüht3298, im Ergebnis zu wenig Raum3299. Gegen die Einbeziehung von Nachrichtendiensten in den Geltungsbereich des Unionsrechts durch das bisherige Sekundärrecht spricht auch ein systematisches Argument: Der Unionsgesetzgeber hat die Datenschutzrichtlinie Justiz und Inneres (EU) 2016/680 erlassen, die gemäß Art. 1 I explizit für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Behörden zum Schutz „vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ gilt3300. Auf Nachrichtendienste soll die DSRL-JI aber gerade nicht anwendbar sein3301. Wenn aber schon eine Richtlinie, die explizit die Verarbeitung personenbezogener Daten und deren Schutz im Bereich der öffentlichen Sicherheit zum Ziel hat, auf Nachrichtendienste unanwendbar ist, kann dies erst recht nicht bei einer Richtlinie der Fall sein, die bereits in ihrem Anwendungsbereich die nationale Sicherheit ausdrücklich aus ihrem Regelungsumfang ausnimmt. Der nationale Gesetzgeber teilt diese Auffassung im Ergebnis3302 und hat deshalb für Nachrichtendienste, bei denen das Unionsdatenschutzrecht gerade nicht gilt, Sondervorschriften im nationalen Datenschutzrecht 3295 Eine Auslegung der RL 2002/58/EG im „Lichte“ des Art. 4 II EUV nimmt der EuGH selbst vor, siehe EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17, Rn. 30 ff., 50 ff. – Privacy International. 3296 Hierauf weist indes auch das BVerfGE 154, 152 (310, Rn. 326) hin, freilich dort im Zusammenhang mit der Frage der Gewährung eines hinreichenden Schutzniveaus der Grundrechte des Grundgesetzes im Vergleich zur Charta; vgl. hierzu auch BVerfGE 155, 119 (232 f., Rn. 261). 3297 Baumgartner, Anmerkung (Fn. 3271), S. 43. 3298 EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17, Rn. 48, 74 – Privacy International. 3299 Dahingehend auch Baumgartner, Anmerkung (Fn. 3271), S. 43. 3300 Vgl. zur RL (EU) 2016/680 auch BVerfGE 156, 11 (37 f., Rn. 68). 3301 Greve, Bundesdatenschutzgesetz (Fn. 322), S. 738. 3302 BT-Drs. 18/11325, S. 74.
II. Anforderungen der EU-Grundrechtecharta und des sonstigen Unionsrechts 633
in §§ 85 f. BDSG vorgesehen. Diese Normen wären bei einer Erstreckung der DSRL-JI auf Nachrichtendienste obsolet, da die Sachverhalte vom Unionsrecht erfasst und mithin keine rein nationalen Regelungen notwendig wären. Im Ergebnis sind richtigerweise weder die RL 2002/58/EG noch sonstige Sekundärrechtsakte auf die nachrichtendienstliche Auslandstelekommunikationsüberwachung anwendbar3303. b) Keine Beschränkung von Grundfreiheiten durch technische Aufklärung Eine Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta ergibt sich ferner auch nicht durch eine mögliche Beschränkung der Grundfreiheiten des gemeinsamen Binnenmarktes3304. Zwar ist hier auf Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs nach überwiegender Meinung grundsätzlich unzweifelhaft, dass eine solche Beschränkung die Durchführung von Unionsrecht im Sinne des Art. 51 I 1 GRCh darstellen und den Anwendungsbereich der Charta eröffnen kann3305. Auch lässt der Gerichtshof bereits recht „vage Bezüge“ zum Warenund Dienstleistungsaustausch zur Eröffnung des Schutzbereiches der Grundfreiheiten genügen3306. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem obiter dictum im BNDG-Urteil aber nur betont, dass der Anwendungsbereich des Unionsrechts „durch die Entgegennahme grenzüberschreitender Dienstleistungen“, als Ausübung der „durch Art. 56 AEUV gewährleisteten passiven Dienstleistungsfreiheit“, ein Gebrauchmachen von „primärrechtlich gewährleisteten Grundfreiheiten“ darstellen könne3307. Jedenfalls in Bezug auf die Grundrechtecharta bewirkt das reine Gebrauchmachen von Grundfreiheiten indes noch nicht die Anwendbarkeit, sondern erst die Beschränkung jener3308. Eine potentielle Beschränkung von 3303 Im Ergebnis wie hier auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 151 m. Fn. 576; a. A. EuGH, Urteil vom 6.10.2020 (Große Kammer), C-623/17, Rn. 30 ff. – Privacy International; Tuchtfeld, Court (Fn. 3271); Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 161. 3304 Hierfür aber Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 161 f.; so schon bereits Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 11 f.; vorsichtig auch Sule (Fn. 3228), Part 4 Ch. 2 Rn. 129 f., allerdings im Ergebnis offengelassen; allgemein zu den Grundfreiheiten stellvertretend der Lehrbuchbeitrag von Hobe/Fremuth Europarecht (Fn. 3243), § 15 Rn. 9 ff., § 16 Rn. 1 ff. 3305 Allgemein S. M. Heselhaus, in: ders./Nowak, Handbuch GR (Fn. 3234), § 6 Rn. 30; insoweit ist Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 11, zuzustimmen; siehe auch die Nachweise in Fn. 3234. 3306 Insoweit anschlussfähig Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 11; allgemein auch T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 9. Aufl. 2021, § 22 Rn. 3 ff. 3307 Dies lässt der Erste Senat mehr oder weniger offen durchscheinen, siehe BVerfGE 154, 152 (206, Rn. 65). 3308 EuGH, Urteil vom 18.6.1991 – C-260/89, Rn. 41 ff. – ERT; instruktiv Jarass (Fn. 3215), Art. 51 GRCh Rn. 32; Schwerdtfeger (Fn. 3220), Art. 51 GRCh Rn. 39; Pache (Fn. 3220), Art. 51 GRCh Rn. 24; ferner Terhechte (Fn. 3234), Art. 51 GRCh Rn. 10; Thym, Reichweite (Fn. 3222), S. 893; insoweit wie hier wohl auch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 161. Etwas anderes wird man in Bezug auf Art. 18 AEUV – auf
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Grundfreiheiten durch strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung des Bundesnachrichtendienstes erscheint jedoch hochgradig spekulativ, wenn etwa darauf abgestellt wird, dass ein Telekommunikationsunternehmen aus einem anderen Mitgliedsstaat aufgrund einer möglichen Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst von einem Durchleitungsvertrag mit einem nationalen Anbieter abgeschreckt und mithin in seiner Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 AEUV beschränkt werden könnte3309. Nach dieser Logik könnte die Dienstleistungsfreiheit auch durch strafprozessuale oder gefahrenabwehrrechtliche Überwachungsbefugnisse gehemmt werden. Eine herkömmliche, richterlich angeordnete Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO könnte hiernach Netzdienstleister aus der Union theoretisch gleichfalls davon abhalten, in Deutschland ihre Telekommunikationsdienste anzubieten, da auch insoweit jederzeit eine Überwachung durch staatliche Stellen droht. Das Beispiel dieses alltäglichen Vorgangs in einem Rechtsstaat zeigt, dass ein derart extensives Verständnis von potentiellen Beschränkungen der Grundfreiheiten zu weit geht. Jede noch so äußerst mittelbare Hemmungsmöglichkeit potentieller Ausübung von Grundfreiheiten durch staatliche Fernmeldeüberwachungsmaßnahmen könnte dann ins Feld geführt werden. Die Überwachungsvorschriften der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung begleiten die Dienstleistungsfreiheit allenfalls, hemmen jedoch nicht den Marktzugang an sich3310. Wie der Gerichtshof die Sache einstufen würde, bleibt letztlich abzuwarten – Befürchtungen eines auch insoweit extensiven Verständnisses des Unionsrechts dürften aber im Konfliktfall angesichts der bisherigen Tendenz der Rechtsprechung nicht von der Hand zu weisen sein. Im Bereich der nachrichtendienstlichen strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung befände sich der Gerichtshof, was den Beteiligten freilich bewusst sein dürfte, auch hinsichtlich der Annahme einer Beschränkung von Grundfreiheiten in einem besonders sensiblen Feld; von einer vorschnellen Erstreckung des Unionsrechts auf den Sachverhalt sollte der Gerichtshof aufgrund der nach Art. 4 II 2, 3 EUV auch bei weicher Lesart notwendigen Austarierung der Kompetenzräume mit den Mitgliedstaaten absehen – ansonsten könnte auch hier das Damoklesschwert des Ultra-vires-Handelns drohen. den sich das BVerfG im BNDG-Urteil auch implizit bezieht – annehmen müssen. Hier reicht, wie bereits erwähnt, die Eröffnung der Grundfreiheiten regelmäßig aus, um den Anwendungsbereich der Verträge als eröffnet anzusehen. Ginge man – anders als hier – nicht von einer Sperre des Art. 4 II 3 EUV für das Unionsrecht in Bezug auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung aus, müsste man den Anwendungsbereich jedenfalls von Art. 18 AEUV aufgrund der potentiellen Einschlägigkeit der (negativen) Dienstleistungsfreiheit wohl konsequenterweise bejahen. 3309 So aber das Beispiel bei Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 12, der weitere Konstellationen präsentiert; Zweifel an einer Eröffnung des Anwendungsbereichs des Primärrechts und der Grundrechtecharta mit einem anderen Beispiel hat im Endeffekt auch Sule (Fn. 3228), Part 4 Ch. 2 Rn. 129; eine Beschränkung, jedenfalls des Marktzuganges, wird wie hier abgelehnt von Ewer/Thienel, Aspekte (Fn. 1345), S. 33. 3310 Erneut Ewer/Thienel, Aspekte (Fn. 1345), S. 33.
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Im Ergebnis führt richtigerweise – selbst wenn man in Art. 4 II 3 EUV noch keine absolute Kompetenzschranke im Bereich der Nachrichtendienste erblickt – weder die Auslegung einer Richtlinie noch eine Beschränkung von Grundfreiheiten zu einer Anwendbarkeit der Grundrechtecharta3311. Das Unionsrecht ist mithin auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst insgesamt unanwendbar – es können sich somit hieraus keine Anforderungen an die Ausgestaltung des Überwachungsinstrumentes ergeben. Rechtspolitisch mag dies im Sinne eines bestmöglichen und umfassenden Schutzes von Telekommunikationsteilnehmern zwar misslich sein, die gegenwärtige Rechtslage trägt jedoch anderweitige Auslegungen nicht. Damit stehen einer Ungleichbehandlung von Unionsbürgern keine besonderen unionsrechtlichen Gründe entgegen. Für sie gelten vielmehr die allgemeinen Differenzierungen zwischen Deutschen, Inländern im weiteren Sinne und Ausländern im Ausland. Dabei sei jedoch noch angemerkt, dass die vielen Unionsbürger, die in der Bundesrepublik permanent leben und arbeiten, im Regelfall schon als Inländer im Sinne der hier weit verstandenen Definition zu werten sein dürften.
3311 Wie hier im Ergebnis wohl auch Kahl, Rahmenbedingungen (Fn. 2660), S. 159 f.; Petri, Verfassungsbeschwerde (Fn. 206), S. 411; ausdrücklich ferner Kahl, Rahmenbedingungen (Fn. 2660), S. 155; Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 152; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 26; Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 527; ders., Gesetzentwürfe (Fn. 804), S. 11; Ewer/Thienel, Aspekte (Fn. 1345), S. 33; a. A. Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 277 f.; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 224; Hölscheidt, Recht (Fn. 434), S. 156; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 11; Papier, Beschränkungen (Fn. 527), S. 3 f.
H. Zusammenfassende Reformimpulse: Perspektivische (Neu-)Regelung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung Die Untersuchung hat eine beachtliche Zahl verfassungsrechtlicher Mängel in den derzeitigen einfachgesetzlichen Strukturen sowie teilweise das gänzliche Fehlen von Ermächtigungsgrundlagen für einen Grundrechtseingriff in das Fernmeldegeheimnis und gegebenenfalls sekundierender Grundrechte aus Art. 5 I 2 GG und Art. 12 I GG zu Tage gefördert. Ebenso wurden kleinere konventionsrechtliche Unzulänglichkeiten im Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung identifiziert; auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung findet die Europäische Menschenrechtskonvention nach hiesiger Auslegung keine Anwendung. Im Folgenden sollen wesentliche Ergebnisse der Studie zusammengefasst und hieraus resultierende Reformimpulse dargelegt werden, die nach Ansicht des Verfassers für eine verfassungskonforme Regelung zentral wären. Darüber, dass die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung reformiert werden muss, um sie auch in Zukunft als entscheidendes Mittel zur Auslandsaufklärung und mithin zur Information von politischen Entscheidungsträgern als auch sekundär zur Gefahrenfrüherkennung zu erhalten, kann trotz der unbestreitbaren Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen geltungserhaltenden Reduktion kein Zweifel bestehen3312. Ein gänzlicher Verzicht auf die technische Auslandsaufklärung von Telekommunikation wäre angesichts der heutigen globalisierten Bedrohungslagen und außenpolitischen Dynamiken ein unverhältnismäßiges Risiko – der Krieg in der Ukraine macht die Aufklärung des BND umso unverzichtbarer. Er ist auch verfassungsrechtlich nicht zwingend, da die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung mit dem Fernmeldegeheimnis, trotz des Fehlens (tradierter) Einschreitschwellen, nicht von vornherein unvereinbar ist. Die hiesigen übergeordneten Reformüberlegungen verstehen sich ausdrücklich nicht als konkrete „Reparaturanleitung“ zur kurzfristigen Behebung der vordringlichsten verfassungsrechtlichen Defizite, wie sie der Gesetzgeber nunmehr im Schnellverfahren im BNDG vornimmt3313, sondern als Anstoß für eine breitere 3312 Die zeigt – neben der Verwerfung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung durch das BVerfG – auch die nun anstehende Reform durch BT-Drs. 19/26103 bzw. das Gesetz zur Änderung des BND-Gesetzes zur Umsetzung der Vorgaben des BVerfG und des BVerwG vom 19.4.2021 (BGBl. I S. 771). 3313 Siehe zur Einschätzung, dass es sich beim BNDG-E weitgehend um eine vorläufige Behebung von absolut verfassungsrechtlich Notwendigem handelt, Gärditz, Stel-
I. Verfassungspolitischer Appell
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Debatte über eine grundlegendere Reform des Nachrichtendienstrechts, freilich mit dem Fokus auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung3314. Dabei kann und soll es nicht das Ziel sein, gleichsam einen geschlossenen Gesetzentwurf im Stile eines umfassendes de lege ferenda Vorschlages zu unterbreiten3315. Ein solches Ansinnen müsste schon daran scheitern, dass ohne einen tiefergehenden Einblick in die Abläufe der Abteilung Technische Aufklärung des Bundesnachrichtendienstes und den innerbehördlichen Austausch mit der Behördenleitung und dem aufsichtführenden Bundeskanzleramt eine praktikable Ausgestaltung der Normen nicht gesichert wäre. Insbesondere gilt dies etwa für die Gefahrbereiche, für die der Bundesnachrichtendienst als Nebenaufgabe zur – nach hiesigem Verständnis – weiterhin primären Information der Bundesregierung Gefahrenfrüherkennung betreiben darf. Ohne außenpolitische Lagebilder und Analysen gegenwärtiger Bedrohungen verkäme ein Normvorschlag hier schnell zum akademischen Glasperlenspiel. Das bedeutet allerdings nicht, dass punktuelle Überlegungen zur Adressierung und Ausgestaltung einzelner verfassungsrechtlich abgeleiteter Anforderungen von vornherein unterbleiben müssten. Dies gilt insbesondere für Abläufe, die nach hiesiger Ansicht und entgegen dem Bundesverfassungsgericht bisher überhaupt nicht normativ erfasst werden und für solche Spezifika der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, die die höchstrichterliche Rechtsprechung und die Literatur allenfalls am Rande streifen, denen aber signifikante Bedeutung bei einer verhältnismäßigen Ausgestaltung der Überwachung zukommt. Vorausgeschickt werden soll ein kurzer verfassungspolitischer Appell, der eine rechtsstaatliche Begrenzung der Nachrichtendienste sichert, zugleich aber eine allzu weitgehende Annäherung der materiell-rechtlichen Anforderungen an operativ tätige Polizei-, Strafverfolgungs-, und sonstige Behörden grundsätzlich begrenzt.
I. Verfassungspolitischer Appell: Rechtsstaatliche Einhegung und Effizienzsicherung der Nachrichtendienste unmittelbar im Grundgesetz verankern Nachrichtendienstliche Befugnisse wie die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung können nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen im Kontext der Stellung der Nachrichtendienst in der Sicherheitsarchitektur des Grundgesetzes verstanden werden. Das Trennungsgebot von Nachrichtendiensten und operativ tätigen präventiv-polizeilichen Behörden legt, trotz aller Tendenzen lungnahme (Fn. 21), S. 16; Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 3 f.: „Erste-Hilfe-Kit“, 23 f. 3314 Für eine grundlegende Neuordnung der „Auslandsaufklärung“ plädiert auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 723, der indes zu Recht bereits befürchtete, dass der Gesetzgeber hierzu „im vierten Jahr einer Wahlperiode“ und noch dazu in der Corona-Pandemie ein derartiges Projekt nicht angehen werde. 3315 Allein BT-Drs. 19/26103 umfasst zur Neugestaltung das BNDG-E 128 Seiten.
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H. Zusammenfassende Reformimpulse
einer Annäherung3316, grundsätzlich noch die Grenzen der jeweiligen Kompetenzräume fest. Nach einem Teil der Literatur und nach hiesigem Verständnis kommt dem Trennungsgebot Verfassungsrang zu, wohingegen Andere ein derartiges Verständnis ablehnen3317. Eine Klärung ist trotz intensiver Debatte nie erreicht worden, weswegen schon für ein Ende der Diskussion um den Verfassungsrang des Trennungsgebotes plädiert wurde3318. Fraglich ist jedoch, ob nicht gerade neueste Tendenzen im Nachrichtendienstrecht eine rechtspolitische Überlegung3319 dahingehend stützen, das Trennungsgebot mit seinen verschiedenen Dimensionen im Grundgesetz expressiv verbis zu verankern3320. Zum einen könnte hierdurch der jahrzehntelange Streit um den Rang des Trennungsgebotes in der Rechtsordnung beigelegt werden. Zum anderen würden Unsicherheiten beseitigt, die gerade auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung aufgekommen sind. Das Gericht will – wie dargelegt – nunmehr grundsätzlich die materiell-rechtlichen Anforderungen an die heimliche Überwachung durch Nachrichtendienste und präventivpolizeiliche Behörden angleichen, wobei nähere Einzelheiten hier noch unklar sind3321. Damit wird das (vormalige) „verfassungsrechtliche [. . .] Privileg“ der Nachrichtendienste3322 – jenseits höchstinvasiver Eingriffsbefugnisse, für die zu Recht mit der Konvergenztheorie3323 seit langem ein Gleichklang der Anforderungen galt – jedenfalls in Frage gestellt. Würde das Trennungsgebot unmittelbar im Grundgesetz verankert, wäre das wichtigste Argument für die Andersartigkeit von Nachrichtendiensten und Polizeibehörden, der Verzicht auf operative Befugnisse bei den Diensten3324, ebenso mit ausdrücklichem Verfassungsrang versehen. 3316
Siehe ausführlich schon unter B. II. 3. und 4. Siehe ebenfalls bereits zur Debatte um das Trennungsgebot B. II. 6. 3318 So etwa Streiß, Trennungsgebot (Fn. 65), S. 164 f. 3319 Zur rechtspolitischen Diskussion um das Trennungsgebot etwa auch Fremuth, Trennungsgebot (Fn. 68), S. 73 ff. m.w. N. 3320 Zuletzt gab es hierzu etwa einen politischen Anlauf, bei dem die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag das Trennungsgebot in seiner „organisatorischen, kompetenziellen und informationellen“ Ausprägung im Grundgesetz verankern wollte. Siehe hier die Berichte bei https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/polizei-geheimdienst-nachrich tendienst-trennungsgebot-fdp-fraktion-bundestag-sicherheit/ (22.9.2020; Antrag der FDPFraktion danach zitiert); R. Steinke, Dein Freund und Spion, abrufbar unter https:// www.sueddeutsche.de/politik/terrorabwehr-dein-freund-und-spion-1.4713038 (22.9.2020). 3321 Ausführlich und kritisch dazu schon B. II. 4. c); kompakt BVerfGE 154, 152 (239 f., Rn. 141, 245, Rn. 156). 3322 Pointiert Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 17. 3323 Maßgeblich vertreten von Bäcker, Sicherheitsarchitektur (Fn. 183), S. 22; ders. (Fn. 149), B. Rn. 249; ders., Terrorismusbekämpfung (Fn. 120), S. 145 f.; siehe zum Ganzen B. II. 4. c). 3324 BVerfGE 133, 277 (325, Rn. 117); 130, 151 (206); 125, 260 (331 f.); 120, 274 (330) auch in Bezug auf die strategische Fernmeldeaufklärung; grundlegend BVerfGE 100, 313 (383); für die Literatur stellvertretend Barczak, Staat (Fn. 67), S. 499 f.; Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 260 f.; Schwabenbauer, Grundrechtsein3317
I. Verfassungspolitischer Appell
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Damit ließe sich im Ergebnis die Sonderstellung der Nachrichtendienste unter dem Grundgesetz als primäre Informationsdienstleister3325 mit ihrer grundsätzlichen materiell-rechtlichen Privilegierung noch wesentlich stärker als ohnehin schon vertreten und die grundrechtssichernde Funktion des Trennungsgebotes wäre jedem Zweifel entzogen. Im Ergebnis profitierten hiervon sowohl die Nachrichtendienste, die zumindest jenseits höchstinvasiver Eingriffe weiterhin mit flexibleren Ermächtigungsgrundlagen und verfahrensrechtlichem Grundrechtsschutz – wohl teils entgegen der neuen Position des Bundesverfassungsgerichts – versehen werden könnten, als auch die rechtsstaatliche Einhegung heimlicher Überwachung und mithin der Grundrechtsschutz als solcher. Aber auch höchstinvasive Maßnahmen der Nachrichtendienste, wie insbesondere die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung, sind gerade dadurch noch verhältnismäßig, dass sie durch Behörden vorgenommen werden, die eben keine operativen Befugnisse besitzen3326. Mithin wären gesetzliche Änderungen zur Ausstattung der Nachrichtendienste mit derartigen Befugnissen mit größerer rechtsstaatlicher Akzeptanz aufgrund des ausdrücklichen Verfassungswortlauts versehen. Letztlich könnte auch der immer weiter voranschreitenden Tendenz der „Vernachrichtendienstlichung“ der Polizei3327 und spiegelbildlicher Veränderungen bei den Nachrichtendiensten durch eine absolute Grenze Einhalt geboten werden. Eine schleichende Verschmelzung der Behördenstrukturen wäre mithin final ausgeschlossen. All dies gilt nach hiesiger Ansicht freilich auch ohne ein Tätigwerden des verfassungsändernden Gesetzgebers – rein rechtspolitisch wäre eine Klarstellung im Grundgesetz selbst aber überaus wünschenswert. Der Gesetzgeber könnte somit endgültig über die ganz grundsätzliche Ausrichtung der Nachrichtendienste und der Polizei im Rechtsstaat befinden, wodurch Unsicherheiten und Veränderungstendenzen durch die demokratisch vorzugwürdigste Variante entschieden wären. Eine Ergänzung des Grundgesetzes mit nachrichtendienstlichem Bezug ist der Rechtsordnung keineswegs fremd, wie Art. 45d GG illustriert3328.
griffe (Fn. 68), S. 218 f.; insbesondere so auch bereits Poscher, Eingriffsschwellen (Fn. 114), S. 358; ausführlich B. II. 4. c). 3325 BVerfGE 133, 277 (324 ff., Rn. 115 ff.); a. A. statt aller Gärditz, Sicherheitsverfassungsrecht (Fn. 124), S. 8; siehe die ausführlichen Nachweise in Fn. 148. 3326 BVerfGE 154, 152 (249, Rn. 165): „Ein wichtiger Gesichtspunkt für die Rechtfertigungsfähigkeit der strategischen Telekommunikationsüberwachung liegt schließlich darin, dass die Folgen der anlasslosen Durchführung dadurch etwas abgemildert werden, dass sie durch eine Behörde vorgenommen werden, die selbst grundsätzlich keine operativen Befugnisse hat.“ 3327 Das mittlerweile geflügelte Schlagwort etwa bei Möstl, Garantie (Fn. 100), S. 408. 3328 Zur Genese des Art. 45d GG siehe ausführlich Hempel, Neubestimmung (Fn. 45), S. 29 ff.
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H. Zusammenfassende Reformimpulse
II. Vereinheitlichung der einfachrechtlichen Grundlagen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung Das Recht der strategischen Auslandsaufklärung ist derzeit in zwei disparaten Regelungssystemen, dem G 10 und dem BNDG, normiert3329. Hieran ändert bedauerlicherweise auch die künftige Neureglung durch das BNDG-E nichts3330. Neben der schon regelungstechnisch verunglückten Aufspaltung der Kompetenzen3331 ist dem einstigen Hauptgrund, der vermeintlichen Nichtgeltung des Fernmeldegeheimnisses für Ausländer im Ausland, nach hiesiger Ansicht und nunmehr auch höchstrichterlich die Berechtigung entzogen. Das Fernmeldegeheimnis gilt auch für Ausländer im Ausland, da zur Feststellung der Ausländereigenschaft die Telekommunikationsumstände einer Verbindung analysiert werden müssen, um deren Ursprungs- und Zielort zu identifizieren, womit schon ein Grundrechtseingriff einhergeht3332. Ein analoges Verständnis ist bereits zur technikorientierten Bestimmung des sachlichen Schutzbereiches des Fernmeldegeheimnisses beim Zugriff auf Datenströme, insbesondere aus dem Internet, erforderlich3333. Zwar bedeutet die hiesige territoriale Auslegung nicht, dass Art. 10 I GG im vollem Umfang auch im Ausland Geltung erlangt, die situativ zu vermessenden Minderungen der Schutzintensität sind allerdings zurückhaltend und immer in Bezug auf das konkrete Grundrecht3334 sowie die konkrete Situation innerhalb der Verhältnismäßigkeitsabwägung in Anschlag zu bringen3335. Die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung kann allerdings aufgrund ebenjener vorsichtigen Differenzierungen der Schutzintensität für Deutsche bzw. Inländer im weiteren Sinne und Ausländer im Ausland nicht gänzlich vereinheitlicht werden. Aus technisch-faktischer Warte wäre es aufgrund der vielen Fallstricke bei der Geolokalisation der Telekommunikationsverkehre und ihrer Separation in rein inländische, deutsche, internationale und Ausland-Ausland-Verkehre3336 unbestritten am praktikabelsten, gänzlich auf die antiquiert an3329
Ausführlich zum einfachrechtlichen Hintergrund C. III. 2. sowie C. IV. 2. Kritisch dazu etwa Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 24; Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 16. 3331 Ebenso kritisch Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 149; Dietrich (Fn. 157), § 3 Rn. 53, 71; siehe auch die Einführung unter C. 3332 Ausführlich unter F. I. 3. h). 3333 Zum Verständnis des Art. 10 I GG aus technologischer Praxisperspektive F. I. 1. b). 3334 Für eine Fokussierung auf das jeweilige Grundrecht bei der Bestimmung von divergierenden Schutzintensitäten auch Schneider, Fernmeldegeheimnis (Fn. 16), S. 173; Payandeh, Entterritorialisierung (Fn. 673), S. 1074; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 6; Ohler, Kollisionsordnung (Fn. 1364), S. 302; so schon im Lichte des Spanier-Beschlusses Schröder, Wirkkraft (Fn. 1407), S. 141; vgl. auch Yousif, Geltung (Fn. 1366), S. 78. 3335 Siehe zum Ganzen unter F. I. 3. j). 3336 Siehe dazu eingehend schon unter E. III. 3330
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mutende Unterscheidung zu verzichten und in der Folge auch die rein inländische Telekommunikation und mithin alle Verkehre in die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung zu integrieren3337. Damit würden die Umstände moderner Telekommunikationsvermittlung am präzisesten berücksichtigt, erhebliche Unsicherheiten in der Rechtsanwendung durch verschiedene Datenregime beseitigt und letztlich auch Ressourcen beim Bundesnachrichtendienst geschont, die für die Filterung aufgewendet werden müssen. Zudem spräche für diese Lösung der Charme der Einfachheit: Eine einheitliche strategische Überwachung aller Telekommunikation, die dem Bundesnachrichtendienst ausgeleitet wird oder die dieser erfasst, mit einheitlichen Regeln. Keine Filterkaskaden mehr, keine separaten Datenstränge, keine potentiellen Rechtsverstöße durch fälschliche Zuordnung und Weiternutzung von Daten. Die niederländische Rechtsordnung ist diesen Schritt in die Kommunikationsrealität des 21. Jahrhunderts schon gegangen und wendet ihr vereinheitlichtes Sicherheits- und Nachrichtendienstrecht auf in- und ausländische Telekommunikation an3338. Das deutsche Verfassungsrecht versperrt diesen Weg allerdings: Die verfassungsrechtlich gebotenen Teildifferenzierungen zwischen rein nationaler, deutscher bzw. inländischer (im weiteren Sinne) und ausländischer Telekommunikation erlauben eine Vollharmonisierung aller Überwachungsansätze schlechterdings nicht3339. Selbst wenn man die konkreten Ausgestaltungen der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, in denen nach hiesiger Ansicht eine Differenzierung zwischen deutscher bzw. weit verstandener inländischer und ausländischer Telekommunikation grundsätzlich statthaft ist (Selektorenbestimmung nicht ex-ante in der Anordnung, gezielte Steuerung von Telekommunikationsteilnehmern, formalisierte Kooperationen mit Partnerdiensten)3340 ebenfalls gleichbehandeln wollte, indem man eine anderweitige Wertung der Eingriffsintensität und korrespondierende Verhältnismäßigkeitswertungen vornähme, könnte die vollständige Gleichstellung aller Telekommunikation verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden. Der absolute Ausschluss der rein inländischen Telekommunikation und derjenigen allein zwischen deutschen Staatsbürgern aus der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung ist für die Vereinbarkeit dieser nachrichtendienstlichen Sonderbefugnis aus Verhältnismäßigkeitsgründen konsti3337 Hierfür plädiert etwa Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 561. 3338 Das niederländische Wet op de inlichtingen- en veiligheidsdiensten 2017 nimmt eine solche Differenzierung nach dem Ursprungs- und Zielort der zu überwachenden Telekommunikationsverkehre mittlerweile nicht mehr vor, siehe dazu Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 723 m. Fn. 95; ferner instruktiv Wetzling/Vieth, Massenüberwachung (Fn. 2810), S. 23, 28, die diesen Ansatz auch für das deutsche Recht präferieren. 3339 So auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 723; a. A. wohl Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), Übersicht S. 3. 3340 Siehe zu den Differenzierungen im Einzelnen sowie zur abweichenden Rechtsprechung des BVerfG F. III. 4. d) cc) (2) sowie F. III. 5. b) cc).
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H. Zusammenfassende Reformimpulse
tuierend3341. Ohne diese Beschränkung – sei sie rein technisch betrachtet auch noch so systemwidrig und problematisch in der Umsetzung – kann eine anlasslose, rein final angeleitete wie begrenzte3342 Überwachungsbefugnis aufgrund des dann übergroßen Eingriffsgewichts in Art. 10 I GG mit dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben. Ebenso wäre sie kompetenziell unzulässig. Auch deshalb war die Telekommunikation im Inland seit jeher aus der strategischen Fernmeldeaufklärung und später auch aus der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung ausgenommen3343. Dies muss auch für die Zukunft gelten. Das Recht setzt hier den Maßstab, die Technik muss diesen – bestmöglich und stetig kritisch evaluiert – sicherstellen. Hieraus folgt freilich nicht, dass die einfachgesetzlichen Strukturen aus BNDG und G 10 überhaupt nicht zusammengeführt werden dürften3344. Die reine Inlandsüberwachung ist dabei schließlich von vornherein nicht erfasst. Bei einer Zusammenlegung der Normstrukturen kann schon aufgrund der vorgenannten Differenzierungen zwischen der Inland-Ausland- und der Ausland-Ausland-Überwachung und der verfassungsrechtlichen Mängel sowohl im G 10 als auch im derzeitigen BNDG3345 keines der beiden Gesetze als unveränderte Blaupause dienen. Insbesondere kann das G 10 – dessen Verfassungskonformität einstweilen unterstellt – nicht simpel analog auf Sachverhalte der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung angewendet werden, weil es schon aufgrund der seinerzeitigen expliziten Intention des Gesetzgebers zur Schaffung von zwei unterschiedlichen Normstrukturen an einer planwidrigen Regelungslücke mangelt3346. Vielmehr ist eine gänzliche Neukonzeption der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung vonnöten, die in einem einheitlichen Gesetzesabschnitt mit Untergliederungen die strategische Inland-Ausland- und die strategische Ausland-Ausland-Überwachung neu regelt. Implementiert werden sollte diese, wie die ande3341 Dahingehend auch BVerfGE 154, 152 (252, Rn. 171); 115, 320 (359); 100, 313 (376 f.); Löffelmann (Fn. 501), § 4 Rn. 142; a. A. wohl Gärditz, Netzknotenüberwachung (Fn. 521), S. 176 f.; Bäcker, Telekommunikationsüberwachung (Fn. 523), S. 561, der freilich dann die materiellen und prozessualen Sicherungen im G 10 verschärfen will. 3342 Beschreibung in BVerfGE 154, 152 (245, Rn. 155). 3343 Siehe zur Genese des G 10 ausführlich C. 3344 Dies betont etwa auch Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 723. Schon Gesetzgebungstechnisch spricht viel für eine Integration des G 10 in das Fachgesetz des BNDG, siehe Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 149; ggf. könnte sogar bei einer gänzlichen Neuregelung ein einheitliches Nachrichtendienstgesetz des Bundes zweckmäßig sein, hierfür Gazeas, Stellungnahme (Fn. 336), S. 3, 7 f. Dabei dürften die Unterschiede zwischen den Diensten jedoch nicht verwässert werden, was sich jedoch regelungstechnisch auch innerhalb eines Gesetzes sicherstellen lassen dürfte. 3345 Siehe ausführlich zu den einfachrechtlichen Defiziten F. IV. 3346 So aber ausdrücklich Hadan, Fernmeldeüberwachung (Fn. 394), S. 286 ff., der das G 10 analog auf die – seinerzeit noch auf die Aufgabennorm des § 1 II BNDG gestützte – Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung anwenden will und keine planwidrige Regelungslücke sieht.
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ren Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes auch, im BNDG3347. Damit wären alle Kompetenzen des Bundesnachrichtendienstes in einem Gesetz über den Dienst logisch zusammengefasst. Das G 10 sollte als eigenständiges Gesetz aufgegeben werden. Im Zuge einer Reform sollten zur Klarstellung ferner die mittlerweile irreführenden Termini der strategischen Fernmeldeaufklärung für das G 10 und der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung für die BNDG-Praktiken abgeschafft werden. Leider wird auch in Zukunft im G 10 von einer strategischen Fernmeldeaufklärung und im BNDG-E von einer „strategischen Ausland-Fernmeldeaufklärung“ (§ 19 I BNDG-E) die Rede sein – der Gesetzgeber verpasst hier auch terminologisch eine Chance. Die Begrifflichkeiten werden vielmehr noch ähnlicher, was eine höhere Verwechselungsgefahr beinhaltet. Die aus Sicht des Verfassers zentralen ersten Bausteine einer Neukonzeption eines vereinheitlichten BNDG seien im Folgenden – selbstredend ohne Anspruch auf abschließende Vollständigkeit3348 – skizziert. 1. Gestufte Ermächtigungsgrundlage für die Datenfilterung aller Telekommunikationsverkehre Die Bestimmung der Eingriffsqualität ist zentral, um die gesamte Dimension der Grundrechtseingriffe durch die strategische Fernmeldeaufklärung zu erfassen. Dennoch sind hier nicht alle dogmatischen Fragen endgültig geklärt. Der Abgleich von Massendaten mit Referenzdaten, seien es KfZ-Kennzeichen oder Selektoren, hat die Grundrechtsdogmatik in der Vergangenheit vor Herausforderungen gestellt, in deren Verlauf auch das Bundesverfassungsgericht vormals eingenommene Positionen wieder räumen musste3349. Bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung hat das Gericht erstaunlicherweise seine mittlerweile zu Recht revidierte Rechtsprechung zu den sogenannten Treffer- und Nichttrefferfällen, entgegen der breiten Rezeption in der Literatur3350, in Bezug auf den Abgleich mit Selektoren nicht erwähnt, sondern im Anschluss an das dritte Abhörurteil schlicht einen Grundrechtseingriff durch die Verfügbarma-
3347 So auch bereits Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 149; dahingehend auch Wetzling/ Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), Übersicht S. 3; ebenfalls Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 23 f.; Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 16. 3348 Allein die potentiellen Folgerungen für die zukünftige Kontrolle der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung füllen eine ganze Studie, vgl. Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), weswegen hier nur ausgewählte, genuin rechtliche Reformimpulse identifiziert werden können und sollen. 3349 Ausführlich zur Entwicklung der Wertung der Eingriffsqualität beim Abgleich von Massendaten F. II. 1. b). 3350 Etwa durch Schwander, Wirkungen (Fn. 16), S. 268 f.; Hecker (Fn. 1398), § 2 Rn. 25; Gusy, Rechtmäßigkeit (Fn. 653), S. 47 ff.; Dietrich (Fn. 771), § 6 BNDG Rn. 9; Löffelmann, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 806), S. 39 f.; ders. (Fn. 501), § 4 Rn. 173; Proelß/Daum, Routinefernmeldeaufklärung (Fn. 421), S. 394; Gärditz, Rechtsbindung (Fn. 377), S. 480.
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chung der Daten für den Bundesnachrichtendienst angenommen3351. Die Ausfilterung der rein inländischen bzw. rein zwischen Deutschen geführten Telekommunikation stellt nach dieser Rechtsprechung – außer in Fällen einer nachträglichen händischen Aussonderung – jedoch keinen Grundrechtseingriff dar, da die Telekommunikationsverkehre „lediglich ungezielt und allein technisch bedingt miterfasst“ und unmittelbar nach der Signalaufbereitung vollautomatisch spurenlos gelöscht würden; das behördliche Interesse habe sich an ihnen daher noch nicht verdichtet3352. Dem konnte jedoch nicht gefolgt werden, da alle Daten durch die Filterkaskade aus Separator und DAFIS-Filter einer staatlich veranlassten „Ent- und Neukontextualisierung“ unterzogen werden3353 und auch von diesem Verarbeitungsschritt ein richtigerweise anzuerkennender Einschüchterungseffekt3354 ausgehen kann, weswegen ein Grundrechtseingriff zu bejahen ist3355. Hierfür bedarf es infolgedessen einer normenklaren Ermächtigungsgrundlage3356, welche im derzeitigen einfachen Recht schlicht fehlt. Ohne diese ist die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung jedoch von vornherein nicht verfassungskonform normierbar. Ebenso bedarf es einer expliziten Regelung der Filtersysteme und damit einhergehender Eingriffe in rein nationale Kommunikation auch aufgrund insoweit anwendbarer konventionsrechtlicher Anforderungen, jedenfalls nach hiesiger strenger Auslegung des „Weber“-Kataloges des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte3357. Ausgehend von diesem dogmatischen Eingriffsverständnis sollte die Erfassung in Zukunft gestuft normiert werden: Auf der ersten Stufe der Erfassung für Zwecke der gesamten strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst ist eine Ermächtigungsgrundlage für die Erfassung des Gesamtdatenstromes mit anschließender Geolokalisation und DAFIS-Filterung vorzusehen. Rein inländische bzw. rein deutsche Verkehre müssen bestmöglich ausgesondert und spurenlos gelöscht werden. Auf der zweiten Stufe ist sodann eine Ermächtigungsgrundlage zur Trennung in Inland-Auslandund Ausland-Ausland-Telekommunikationsverkehre zu implementieren, wonach diese jeweils in separaten Datenströmen zu verarbeiten und zu speichern sind. Für die Ausland-Ausland-Verkehre ist daher ein Verbot der Erfassung und Nutzung der Telekommunikation von Deutschen und Inländern im weiteren Sinne vorzusehen, wie es § 6 IV BNDG dem Grunde nach bereits enthält, da für sie 3351
Siehe F. II. 1. b) ee). BVerfGE 154, 152 (230 ff., Rn. 116 ff.). 3353 Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 43. 3354 Zur Debatte um die Rechtsfigur des Einschüchterungseffektes siehe den Exkurs unter F. II. 1. b) cc) (2). 3355 Ausführlich unter F. II. 1. b) ee). Der Gesetzgeber wird sich freilich der Auffassung des BVerfG anschließen. 3356 F. III. 3. a). 3357 Siehe ausführlich unter G. I. 4. b). 3352
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partiell abgesenkte grundrechtliche Anforderungen gelten3358. Ebenso sind auch hier Löschpflichten bei nachträglichen Feststellungen vorzusehen. Sofern Daten aus rein inländischer bzw. rein deutscher Telekommunikation im ersten Schritt bzw. internationale oder deutsche Telekommunikation im zweiten Schritt im Ausland-Ausland-Strang nachträglich erkannt werden, dürfen diese nur zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden konkreten Gefahr einer Zweckänderung zugeführt werden3359. Der Bundesnachrichtendienst ist gesetzlich zu verpflichten, die hierfür eingesetzten Filtersysteme zur Geolokalisation und zur DAFIS-Filterung auf dem neuesten Stand der Wissenschaft und Technik zu halten3360. Die Filterstufen, die gleichzeitig die rechtliche Erfassung realisieren, sind durch die administrative Datenschutzkontrolle zu zertifizieren und zu überwachen3361. Die Kontrolle muss dabei gesetzlich verpflichtend im Wirkbetrieb unter realen Alltagsbedingungen vorgesehen werden3362. Hierzu können beispielsweise Datenbanken nach Einträgen durchsucht werden, die bei korrekter Funktionsweise der Filter ausgesondert sein müssten3363. Sollen darüber hinaus Daten auch vom Ausland aus erhoben werden, bedarf es hierfür analog der inländischen Situation einer Ermächtigungsgrundlage, die die Einhaltung der vorgenannten Filterungen ebenfalls sicherstellt3364; eine reine Aufgaben- oder Verfahrensnorm kann auch im Ausland einen Grundrechtseingriff nicht rechtfertigen. Ein Zusammenfügen von BNDG und G 10 bedeutet mithin nicht, dass die technisch problematische Filterung schlicht entfallen kann3365, da weiterhin Ab3358 Insoweit wieder wie hier BVerfGE 154, 152 (252 f., Rn. 172 f.). In Zukunft in § 19 VII BNDG-E vorgesehen; Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 4 weist zu Recht darauf hin, dass die Norm auch in Zukunft Inländer im weiteren Sinne, also etwa Personen mit permanentem Wohnsitz in Deutschland ohne deutsche Staatsangehörigkeit, weiterhin nicht berücksichtigt und mahnt hier Nachbesserungen zur Herstellung eines verfassungskonformen Zustandes an; hier besteht bereits verfassungsrechtliches Konfliktpotential. 3359 F. III. 4. d) cc) (1); das Erfordernis einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr kommt in § 19 VII 6 BNDG-E nicht wirklich zum Ausdruck. 3360 BVerfGE 154, 152 (253, Rn. 173); dies betont auch eco, Stellungnahme (Fn. 21), S. 2 mit kritischem Bezug zu § 19 VII 4 BNDG-E, der nur den „Stand der Technik“ vorsieht. 3361 So auch BVerfGE 154, 152 (291, Rn. 276, 296, Rn. 288); ausführlich schon unter F. III. 6. b). 3362 Eine solche Kontrolle im Wirkbetrieb durch das seinerzeit zuständige BSI fand früher nicht statt, siehe dazu E. III. 2. b). Für die Zukunft muss normativ sichergestellt sein, dass die Filter und ihre Genauigkeit tatsächlich im operativen Alltag begutachtet werden. Praktische Ansätze hierzu entwickeln instruktiv K. Vieth/T. Wetzling, Datenbasierte Nachrichtendienstkontrolle, 2020, S. 21 ff., Studie abrufbar unter https://www. stiftung-nv.de/de/publikation/datenbasierte-nachrichtendienstkontrolle-agenda-fur-mehrwirksamkeit (22.9.2020). 3363 Vieth/Wetzling, ebda., S. 19 ff. 3364 Dazu F. III. 3. b). § 28 BNDG-E bildet nunmehr eine Rechtsgrundlage für das Ersuchen ausländischer Nachrichtendienste zur Datenerhebung für den BND. 3365 Dahingehend aber wohl Aust, Auslandsaufklärung (Fn. 794), S. 723.
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stufungen der Datenströme Inland-Ausland und Ausland-Ausland aufgrund der unterschiedlichen Schutzintensität getroffen werden müssen. Eine hierfür notwendige faktische Unterteilung von Telekommunikationsdaten kann aber ohne Filter schlechterdings nicht gelingen. Dabei kann die technische Fehlbarkeit der Filterkaskade aber nicht wie bisher normativ unberücksichtigt bleiben. Aufgrund der überragenden Bedeutung einer korrekten Zuordnung der Telekommunikationsverkehre ist es nach hiesiger Ansicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zwingend, normativ eine Fehlerquote festzulegen, ab der eine strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung nicht mehr mit den existierenden Filtern durchgeführt werden darf 3366. Der Toleranzwert wird äußerst niedrig bestimmt werden müssen, da der Bundesnachrichtendienst enorme Datenmassen filtert. Zudem muss die Fehlerquote nach Separator und DAFIS-Filter gebildet werden. Eine genaue Zahl soll und kann hier indes nicht festgelegt werden, da hierzu schon die Ausgangsdaten zur Quantität der Daten fehlen. Allerdings wird der Wert nicht wesentlich über dem einen Fehlerfall pro Tag liegen dürfen, den der Bundesnachrichtendienst derzeit als tatsächliche Fehlerquote, nach Durchlaufen der Filterkaskade, angibt3367. Eine gesunde Skepsis gegenüber den Filterleistungen sollte daher auch im Gesetz Ausdruck finden. Allen Versicherungen zum Trotz bleibt ein Restzweifel hinsichtlich der tatsächlichen Leistungsfähigkeit und der Akkuratesse der Filterkaskade – hier wird leider eine Chance bei der Neuregelung des BNDG vertan. 2. Datenerhebungsstruktur des G 10 dem Grunde nach erhalten Zwar sollte die gesetzliche Eigenständigkeit des G 10 aufgegeben werden, nicht jedoch seine grundsätzlich bewährte Systematik; die Struktur sollte vielmehr ins BNDG übertragen werden. Die G 10-Stammbefugnisse sollten jedenfalls dem Grunde nach erhalten bleiben, wobei freilich Änderungen und Streichungen notwendig sind bzw. partiell ein rechtsstaatliches Update. Reminiszenzen an das Zeitalter analoger Telekommunikation mittels Telegrammen (§ 11 III 2 G 10)3368 oder sogar die unter Gleichheitsgesichtspunkten hochgradig bedenkliche Beschränkung der strategischen Postkontrolle3369 auf Fälle eines bewaffneten Angriffes auf die Bundesrepublik (§ 5 I 4 G 10) müssten beispielsweise gestrichen werden. Die strategische Ausland-Ausland-Überwachung mit ihren insoweit ex3366 F. III. 4. d) cc) (1); für eine normative Fixierung der Filtergenauigkeit nunmehr auch Vieth/Wetzling, Nachrichtendienstkontrolle (Fn. 3362), S. 20; für eine Spezifizierung der Filtergenauigkeit durch die gerichtsähnliche Kontrolle indes Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 27 f. Das BNDG-E enthält hierzu – soweit ersichtlich – keine normative Regelung. 3367 So der Vortrag in BVerfGE 154, 152 (186, Rn. 20). 3368 Siehe auch schon F. IV. 3. 3369 Die für die Auslandstelekommunikationsüberwachung ohnehin irrelevant ist und deshalb hier nicht vertieft behandelt wurde.
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klusiven Befugnissen zur gezielten Erfassung von Telekommunikationsteilnehmern im Ausland und zur formalisierten Kooperation mit Partnerdiensten wäre ergänzend in einem eigenen Unterabschnitt zu regeln. Die Festsetzung der Zwecke, zu denen der Bundesnachrichtendienst strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung zur Gefahrenfrüherkennung betreiben darf, sollten in der grundlegenden Form des § 5 I 3 G 10 fortgeführt werden3370. Hierbei ist insbesondere die allgemeine Formulierung des § 5 G 10 sinnvollerweise zu übernehmen, die ohne eine Beschränkung auf personenbezogene Daten auskommt. Nach hiesigem Verständnis muss jedenfalls beim Ersteingriff in das Fernmeldegeheimnis kein Personenbezug der Daten vorliegen3371. Ergänzend ist dem Bundesnachrichtendienst eine strategische Aufklärung ausschließlich zu Zwecken der außen- und sicherheitspolitischen Information der Bundesregierung – also dem Kerngeschäft des Dienstes – zu erlauben; aus Gleichheitsgründen ist diese sowohl für die Inland-Ausland- als auch die Ausland-Ausland-Überwachung zulässig3372. Hier ist die Zweckänderung von Daten in aller Regel von vornherein ausgeschlossen. Im Normalfall muss ferner eine Anonymisierung der Daten bei der Übergabe an die Bundesregierung vorgesehen werden3373. Die Grundrechtssicherung durch Verfahren in den G 10-Strukturen hat sich grundsätzlich bewährt3374. Es müssten lediglich zwei Anordnungsverfahren implementiert werden, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass bei der AuslandAusland-Überwachung eine ex-ante-Bestimmung der Selektoren entbehrlich ist; beide müssen nach hiesiger Ansicht indes in einem politisch zu verantwortenden Rahmen ergehen. Ebenso müsste eine Höchstanzahl an Verlängerungen implementiert werden, um endlose Kettenverlängerungen auszuschließen. Die anordnende Stelle sollte in beiden Fällen ferner ausschließlich das Bundeskanzleramt sein, welches die politische Letztverantwortlichkeit für den Bundesnachrichten3370 Für eine Beibehaltung des Kataloges des § 5 I 3 G 10 für die Gefahrenfrüherkennung plädieren nunmehr auch Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 23. Bei der Neureglung finden sich in einem ersten Zugriff weiterhin teils sehr offene Formulierungen, wie etwa in § 19 IV Nr. 2 d) BNDG-E mit der „außenpolitischen Handlungsfähigkeit“ der Bundesrepublik. 3371 Siehe unter F. I. 1. c). 3372 Zu den Zwecken einer strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung im Lichte des Verfassungsrechts und unter Berücksichtigung von Art. 10 I GG i.V. m. Art. 3 I GG siehe F. III. 4. d) cc) (2) (a); a. A. freilich BVerfGE 154, 152 (254, Rn. 177); wohl auch Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 23. § 19 I Nr.1 BNDG-E übernimmt nunmehr den Dualismus des Grundes der Datenerhebung für die „strategische Ausland-Fernmeldeaufklärung“; kritisch zur Einbindung auch der Landesregierungen in die politische Unterrichtung BfDI, Gesetzentwurf (Fn. 21), S. 2 f. 3373 Dahingehend auch Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 33, die überdies eine stichprobenartige Kontrolle der Lageberichte für die gerichtsähnliche Kontrolle eröffnen wollen, um so sicherzustellen, dass möglichst keine personenbeziehbaren Daten insoweit Verwendung finden. 3374 Dazu ausführlich F. III. 4. d) cc) (2) (b).
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dienst und all seine Überwachungsbefugnisse tragen sollte. Das Bundesministerium des Innern sollte daher nicht mehr Teil des Anordnungsprozesses sein3375. Der Kernbereichsschutz des § 5a G 10 müsste von seinen Mängeln befreit werden3376, was jedoch ohne größere Komplikationen möglich ist. Neu strukturiert werden müsste – auch um konventionsrechtlichen Anforderungen zu genügen3377 – indes der Schutz besonderer Vertrauensbeziehungen, bei dem die gezielte Erfassung an Eingriffsschwellen gebunden und Auswertungsregeln für die nachträgliche Erkennung von geschützter Telekommunikation getroffen werden müssen3378. Dabei sollte nach hiesiger Ansicht bei Streitfragen, welche Journalisten, Rechtsanwälte aber auch Geistliche im Ausland nach den Prämissen der deutschen Rechtsordnung besonderen Schutz genießen können und müssen und welche Gespräche dem unterliegen, die gerichtsähnliche Kontrollinstanz angerufen werden können, welche sodann letztverbindlich entscheidet3379. Präziser gefasst werden müsste die Kapazitätsbeschränkung in § 10 IV 4 G 10. Die gestuften Prüf-, Lösch-, und Protokollpflichten des § 6 I G 10 können als Vorlage für die grundrechtliche Sicherung der gesamten Massendatenauswertung in einem vereinheitlichten BNDG dienen3380. Insgesamt bildet das G 10 damit dem Grunde nach eine gute Ausgangsbasis zur Neufassung eines allgemeinen Abschnittes der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, der Zweck und Verfahren der Inland-Auslandund der Ausland-Ausland-Überwachung normiert. Die Sonderbefugnisse der gezielten Erfassung Einzelner als ultima ratio Maßnahme zur Informationsgewinnung und der formalisierten Kooperation sind hingegen dem reinen AuslandAusland-Datenstrang vorbehalten3381. Ferner muss eine Befugnis analog § 3 G 10 für Individualüberwachungsmaßnahmen im Ausland geschaffen werden, da
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Siehe zur dysfunktionalen Regelung in § 10 I G 10 F. IV. 3. b) aa). Zu den Verstößen gegen den Kernbereichsschutz im G 10 F. IV. 3. b) aa). 3377 G. I. 4. c) bb). 3378 Für das BNDG-E findet sich nunmehr ein Regelung in § 21; kritisch dazu das Interview mit U. Buermeyer von der GFF, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hin tergruende/h/bnd-gesetz-novelle-auslandsueberwachung-gesetzgeber-bverfg-urteil-gggff-geheimdienst/ (15.4.2021). 3379 F. III. 4. d) cc) (4) (a). Dazu auch Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 3 f., die insoweit auch weiterhin Lücken in der Neuregelung in § 21 I BNDG-E ausmacht; ferner Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme (Fn. 21), S. 26 ff., der auf das Problem hinweist, dass im Zweifel auch Gespräche von Geheimnisträgern untereinander besonders schutzbedürftig sind. 3380 Vgl. F. III. 4. d) cc) (5); dahingehend unter Nennung von § 6 I G 10 auch BVerfGE 154, 152 (264, Rn. 206); 100, 313 (385, 400). 3381 Nunmehr in §§ 20, 31 ff. BNDG-E; siehe hierzu etwa ausführlich Löffelmann, Stellungnahme (Fn. 21), S. 17 ff. mit partiellen Verbesserungsvorschlägen; eine Konformität mit den „verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen“ bescheinigt Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 8 f. 3376
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eine solche bislang fehlt3382. Dabei müssten dann aber die Voraussetzungen an eine hergebrachte präventive Telekommunikationsüberwachung im Inland angelegt werden, jedenfalls wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht insoweit einen Gleichlauf der Anforderungen annehmen wollte3383. 3. Datenauswertungsrecht qualifizieren Sobald Telekommunikationsdaten, insbesondere Metadaten, durch die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung für den Bundesnachrichtendienst verfügbar gemacht wurden, können sie nach gegenwärtiger Rechtslage hinsichtlich der Mittel, der Intensität und der Analysewerkzeuge ohne nennenswerte weitergehende Restriktionen ausgewertet werden. Das deutsche (Verfassungs-)Recht kennt noch kein ausdifferenziertes Datenverwendungsrecht3384. Was der Bundesnachrichtendienst mit den erhobenen Telekommunikationsdaten macht, ist bislang weitestgehend dem Binnenrecht überantwortet. Nach hiesiger Ansicht ist dies, jedenfalls im derzeitigen Ausmaß, verfassungsrechtlich so nicht haltbar3385. Angesichts der Tendenz zu immer ausladenderen Normen, schon aus Gründen der Normenklarheit und Bestimmtheit3386 – die hier freilich auch durch detaillierte Anforderungen nicht begrenzt wird –, überrascht der Befund, dass es insoweit an Normierung mangelt. Mit den vorsichtigen Ansätzen des Bundesverfassungsgerichts sind deshalb zunächst eine gesetzliche Regelung der unmittelbaren Datenauswertung, die Implementierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Auswahl der Selektoren sowie die Aufnahme von Diskriminierungsverboten vorzuschlagen3387. Einen normativen Ausschluss unzulässiger Selektoren bzw. Prädiktoren kennt das deutsche Sicherheitsrecht schon, wenngleich in einem an3382
F. III. 4. d) cc) (2) (c). Die gezielte Erfassung von Ausländern im Ausland wird nunmehr in § 20 II BNDG-E an objektivierte Voraussetzungen gebunden, siehe dazu etwa Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 7; die Norm tendenziell als zu eng sieht Löffelmann, Stellungnahme (Fn. 21), S. 10 f.; kritisch hingegen Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme (Fn. 21), S. 24. 3383 BVerfGE 154, 152 (245, Rn. 156, 258, Rn. 189); kritisch deshalb zur Verhältnismäßigkeit des § 3 G 10 Bäcker, Erhebung (Fn. 12), S. 4 f. Die Evaluation dieser Voraussetzung und der Vorschriften zur Individualüberwachung sei hier dahingestellt. 3384 F. III. 4. d) cc) (3); maßgeblich hierzu Bäcker, Big Data (Fn. 630), S. 169 f. Zu einfach rechtlichen Ansätzen des Data-Minings in den Landespolizeigesetzen (§ 25a HSOG und § 49 HmbPolDVG) und ihren verfassungsrechtlichen Mängeln auf Ebene der Datenerhebung – nicht der weiteren konkreten Auswertung – Golla, Algorithmen (Fn. 125), S. 670 f. 3385 Zweifel haben auch Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 26 f., die ebenfalls eine Normierung auf gesetzlicher Ebene einfordern. 3386 Kritisch zu dieser Tendenz stellvertretend Möstl, Musterpolizeigesetz (Fn. 2359), S. 26; zum Grundsatz der Normenklarheit und Bestimmtheit im nachrichtendienstlichen Kontext F. III. 3. c). 3387 BVerfGE 154, 152 (259 f., Rn. 192); ebenso Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 26 f.
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deren, gefahrenabwehrrechtlich wie strafverfolgungsgeneigten Kontext: § 4 III 7 FlugDaG schließt etwa den Datenabgleich mit Mustern bei Fluggastdaten bei bestimmten Prüfmerkmalen („rassische“ oder ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, religiöse und politische Überzeugungen etc.) aus3388. Das Fluggastdatengesetz, welches teils als „Prototyp“ für eine mögliche Umsetzung von Predictive Policing und mithin Verbrechensbekämpfung durch Big Data gehandelt wird, soll Straftaten verhüten, indem Fluggastdaten mit Datenbeständen (etwa Polizeidatenbanken wie INPOL) und Mustern gerastert werden3389. Damit besteht zumindest eine strukturelle Ähnlichkeit zur Durchsuchung des Telekommunikationsdatenstromes mit Selektoren. § 4 III FlugDaG kann deshalb grundsätzlich Vorbild für eine präzise normative Ausgestaltung der Selektoren und ihres verhältnismäßigen Einsatzes sein. Insbesondere regt § 4 III 6 FlugDaG die Frage an, ob Selektoren, die keine relevanten Inhalte liefern, auch verdachtsentlastend auf die Filterebene zurückgespielt werden können, um schon die Erfassung von Telekommunikationsdaten insoweit einzudämmen. Freilich können derartige tatsächliche Fragen hier nicht abschließend beantwortet werden. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass andere Normen des Sicherheitsrechts genutzt werden können, um die Datenauswertungsebene weitergehend normativ einzuhegen. § 4 FlugDaG bietet sich exemplarisch dafür an. Verfassungs- und konventionsrechtlich erforderlich sind überdies zumindest die abstrakte Regelung von „komplexe[n] Formen des Datenabgleiches“ sowie der Einsatz von Algorithmen zur Analyse3390. Das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte setzen damit einen wichtigen Impuls, die rechtsstaatliche Sicherung auf die Datenauswertung als solche zu erstrecken. Die Existenz von Datenbanken und die Analyse von Daten bedürfen daher einer gesetzlichen Regelung, auch um Rechtsverstöße wie bei der Datei VERAS in Zukunft zu vermeiden3391. Ansätze für die Normierung von Dateien 3388 Siehe konkret zum Datenabgleich mit Mustern im FlugDaG und Beschränkungen aus rechtsstaatlichen Gründen J. Ruthig, in: Schenke/Graulich/ders., Sicherheitsrecht (Fn. 124), § 4 FlugDaG Rn. 5 ff.; instruktiv zur „Steuerbarkeit“ des FlugDaG durch diese Beschränkung im größeren Kontext des Predictive Policing Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 374 f., 412. 3389 Zum Ganzen erneut Rademacher, Predictive Policing (Fn. 1802), S. 410 ff., der eine kritische Bilanz des Gesetzes zieht; Ruthig, ebda., § 4 FlugDaG Rn. 3, beschreibt die Datenbanken; kritisch zur Leistungsfähigkeit des Predictive Policing in naher Zukunft allgemein Bäcker, Gefahr (Fn. 198), S. 156 m. Fn. 28. 3390 BVerfGE 154, 152 (259 f., Rn. 192); EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/ 13 u. a., Rn. 339, 341 – Big Brother Watch u. a. 3391 Zur Datei VERAS F. II. 2. a) aa) (1); zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Auswertungsgrundlage auch BVerwGE 161, 76 (81, Rn. 22 ff.). Die §§ 4a und 6 IV–VI G 10 n. F. sollen in Zukunft eine Rechtsgrundlage für die Datenauswertung von Metadaten im G 10 Bereich Daten aus der Individual- und strategischen Überwachung bereitstellen, siehe dazu Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 3; kritisch Löffelmann, Stellungnahme (Fn. 21), S. 23 ff. § 26 BNDG-E ist das Pendant im Bereich der strategischen Ausland-Fernmeldeaufklärung n. F. Ein qualifiziertes Datenverwendungsrecht stellt die
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finden sich für die internationale Zusammenarbeit schon in § 26 BNDG. Freilich ließe sich die Vorschrift nicht einfach für die rein innerbehördliche Dateiführung nutzbar machen, sie unterstreicht aber die sinnvolle Normierung aller Dateiansätze jenseits interner Dateianordnungen. Für die Metadatenanalyse innerhalb von Datenbanken, beispielweise bei leitungs- oder paketvermittelten TelefonieMetadaten, wäre eine gesetzliche Beschränkung der auswertbaren Ebenen sinnvoll, um die Potenz des Analysemittels einzudämmen. Gerade die Kontaktverfolgung über mehrere Ebenen hinweg ermöglicht tiefgreifende Einsichten in das Kontaktnetzwerk einzelner Personen3392. Eine Beschränkung auf eine gewisse Anzahl der auswertbaren Ebenen im Gesetz selbst, insbesondere bei der verfassungsrechtlich nicht von vornherein ausgeschlossenen Nutzung von Metadatenanalysen auch bei der Inland-Ausland-Überwachung, würde die Eingriffsintensität und die Aussagekraft der Datenanalyse im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes begrenzen – der künftige § 6 IV, V G 10 n. F. schweigt hierzu freilich. Zwar ließe sich dem entgegenhalten, bei einer derart konkreten Normierung der nachrichtendienstlichen Methoden sei der Grundsatz der Normenklarheit und Bestimmtheit überstrapaziert, da die operativen Details der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung der Geheimhaltung entzogen würden3393. Der Blick ins Ausland stützt diese potentielle Kritik indes nicht. Selbst die Vereinigten Staaten haben zumindest in Bezug auf amerikanische Telekommunikationsteilnehmer die Anzahl der Ebenen von verknüpfbaren Metadaten (sogenannte hops) durch die National Security Agency auf zwei limitiert3394. Allerdings werden dieser Begrenzung auch mittelbare Auswirkungen auf nicht amerikanische Staatsbürger zugeschrieben3395. Dies zeigt, dass eine öffentliche Regelung der Auswertungsebenen zumindest grundsätzlich im Bereich des Möglichen liegt. Wären dadurch zentrale Sicherheits- oder Geheimhaltungsinteressen tangiert worden, hätte man von einer derartigen Veröffentlichung sicherlich Abstand genommen. Sofern man Anwendungen wie XKeyscore als Algorithmen im Sinne der Rechtsprechung einstuft, müssten auch hier bestenfalls gesetzliche Regelungen getroffen werden. Dabei sollte zumindest, anstatt des reinen Verweises auf Neuregelung nicht dar, da die Details der Datenauswertung weiterhin nicht einmal im Ansatz normiert werden. 3392 Ausführlich dazu F. II. 2. a) aa) (1). 3393 Siehe zu diesem Grad zwischen Normenklarheit und Geheimhaltung rekapitulierend BVerfGE 154, 152 (238 f., Rn. 139 f.); ausführlich dazu F. III. 3. c). 3394 Diese Beschränkung steht im Kontext des USA Freedom Act 2015, siehe dazu und auch zur einhergehenden Beschränkung auf zwei hops B. Scott, Committee of Inquiry of the German Parliament, 2015, MAT A SV-6 zu A-Drs. 69, S. 19 f. m. Fn. 69; vgl. dazu auch die Mitteilung des Office of the Director of National Intelligence, abrufbar unter https://www.justice.gov/opa/pr/joint-statement-department-justice-and-officedirector-national-intelligence-declassif icati-1 (22.9.2020). 3395 Scott, ebda., S. 19 f., allerdings ohne weitergehende Klarstellungen; zum grundsätzlich territorial beschränkten Schutz durch das amerikanische Recht siehe vertieft etwa Wischmeyer, Überwachung (Fn. 1152), S. 79 ff.
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das Binnenrecht (§ 6 VII BNDG), eine allgemeine Umschreibung der Funktionsweise der Programme und der Algorithmen möglich sein. Hier ist die Grenze zum geheimgeschützten Bereich freilich fließend. Wichtig ist aber, dass die Algorithmen und Programme vollumfänglich der unabhängigen Kontrolle unterliegen3396. Die Kontrolleure müssen verstehen können, wie die Analyseprogramme und Metadatenauswertungen im Wirkbetrieb funktionieren3397. 4. Übermittlungsbefugnisse im BKAG als Vorlage? Die Übermittlung von Daten, die aus einem besonders schweren Grundrechtseingriff wie der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung stammen, kann nur unter strenger Anwendung des Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung3398 legitimiert werden, der dem herausragenden öffentlichen Interesse im Sinne des ATDG I-Urteils entspricht und mithin eine Überwindung des informationellen Trennungsprinzips zwischen Nachrichtendiensten und operativ tätigen Behörden gestattet3399. Bei der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung wird auf der Datenübermittlungsebene die fehlende Eingriffsschwelle der Erhebungsseite gleichsam kompensiert, weswegen nur im Wechselspiel zwischen den beiden Ebenen eine hinreichende, geltungserhaltende Reduktion der ansonsten rein final angeleiteten und beschränkten Maßnahme gelingen kann. Damit stellt sich die normalerweise auf Datenerhebungsebene prominente, höchst umstrittene Frage, ab welchem Konkretisierungsgrad eines möglichen Schadensereignisses heimliche Überwachungsmaßnahmen von Verfassung wegen erlaubt werden dürfen3400, final auf Übermittlungsebene. Grundsätzlich gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem BKAG-Urteil, dass eine Übermittlung zu Zwecken der Gefahrenabwehr bei einer hinreichend konkretisierten Gefahr für ein besonders wichtiges Rechtsgut statthaft ist; für Zwecke der Strafverfolgung bedarf es bestimmter, konkreter und in gewissem Umfang verdichteter Tatsachen für den Verdacht einer besonders schweren Straftat. Dem ist grundsätzlich zu folgen. Wenn Daten aus besonderen Vertrauensverhältnissen zu Strafverfolgungszwecken übermittelt werden sollen, ist nach hiesi3396 BVerfGE 154, 152 (260, Rn. 192); Golla, Algorithmen (Fn. 125), S. 672. Vgl. zu einer Kontrolle der „erweiterten projektbezogenen Datennutzung“ in der Antiterrordatei durch die G 10-Kommission § 6a VIII ATDG. 3397 Für einen umfassenden Zugriff sogar direkt in die Betriebssysteme des BND, wie dies in anderen europäischen Ländern auch üblich sei, Vieth/Wetzling, Nachrichtendienstkontrolle (Fn. 3362), S. 51 f., 56; Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 8 m. Fn. 31, sieht dieses Recht jedenfalls für die G 10-Kommission schon als existent an. Dies sei im Übrigen durch die Bundesregierung auch nie bestritten worden. Tatsächlich zu bestehen scheint ein derartiger IT-Direktzugriff indes noch nicht. 3398 Zöller, Rechtsrahmen (Fn. 240), S. 192. 3399 Siehe B. II. 5. sowie F. III. 5. 3400 Zur Debatte um Einschreitschwellen siehe F. III. 4. d) bb) sowie final bei den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Übermittlung in F. III. 5. a).
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ger Ansicht jedoch eine noch engere Fassung des Straftatenkataloges erforderlich, um das besondere Eingriffsgewicht zu begrenzen. Bei der Übermittlung von Daten, die aus einer gezielten Erfassung von Ausländern im Ausland stammen, bedarf es überdies einer konkreten Gefahr im hergebrachten polizeirechtlichen Verständnis bei Übermittlungen zur Gefahrenabwehr3401. Damit einher geht das dogmatische Verständnis der hergebrachten konkreten Gefahr als Regelfall des Gefahrenabwehrrechts; die hinreichend konkretisierte bzw. drohende Gefahr im Sinne des BKAG-Urteils ist demnach eine flexibilisierte, lediglich in ihrem Konkretisierungsgrad herabgesetzte konkrete Gefahr3402. Der höchste Konkretisierungsgrad ist nach diesem gestuften Modell die unmittelbar bevorstehende konkrete Gefahr, die für Zweckänderungen bei der Übermittlung von Daten aus reiner Inlandstelekommunikation bzw. nur zwischen Deutschen sowie beim Transfer von Telekommunikationsdaten, die originär ausschließlich zur außenund sicherheitspolitischen Information der Bundesregierung gewonnen wurden, erforderlich ist3403. Mit dieser Abstufung kann den unterschiedlichen grundrechtlichen Eingriffsintensitäten bzw. Datenregimen auf Übermittlungsebene angemessen Rechnungen getragen und ein gestuftes Modell angelegt werden3404. Internationale Datenübermittlungen im Einzelfall sind verfahrensrechtlich ergänzend besonders abzusichern, indem eine „Rechtsstaatlichkeitsvergewisserung“ 3405 zur Wahrung datenschutzrechtlicher Mindeststandards sowie belastbare Zusicherungen durch den Bundesnachrichtendienst eingeholt werden, die ausschließen, dass der Dienst mit seinen Daten, die „Hand [. . .] zu Verletzungen der Menschenwürde“ reicht3406. Ebenso muss der Bundesnachrichtendienst sicherstellen, dass Daten nicht ohne seine Kontrolle im Ausland weitergegeben werden; für die Inland-Ausland-Überwachung folgt dies auch aus konventionsrechtlichen Anforderungen, die überdies eine Pflicht zur Rückgabe bzw. Löschung beim ausländischen Empfänger zum Gebot machen3407. Übermittlungen in rechtsstaatlich prekäre Staaten können nur im Einzelfall nach besonderer Abwägung zur Verhütung einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr für überragend wichtige Rechtsgüter zugelassen werden3408; nach hiesiger Ansicht sind ferner für Auslandsübermittlungen von Daten aus besonderen Vertrauensbeziehungen und aus 3401
F. III. 5. a) cc). Instruktiv zur drohenden Gefahr als Unterfall der hergebrachten konkreten Gefahr im polizeirechtlichen Verständnis Kingreen/Poscher, Polizeirecht (Fn. 104), § 8 Rn. 16 f.; Pieroth, Begriffsverwirrung (Fn. 2441), S. 135. 3403 F. III. 4. d) cc) (1) sowie F. III. 5. a) cc); vgl. nunmehr § 30 IV, V BNDG-E. 3404 Eingehend wie instruktiv zur Abstufung von nachrichtendienstlichen Eingriffen nach ihrem Schweregrad Bäcker, Reform (Fn. 192), S. 137 ff. et passim. 3405 BVerfGE 154, 152 (273, Rn. 233). 3406 Zitat in BVerfGE 154, 152 (275, Rn. 237); wortgleich BVerfGE 141, 220 (342, Rn. 328); siehe ausführlich unter F. III. 5. b). 3407 G. I. 4. b). 3408 Siehe zu solchen Lagen F. III. 5. b) bb). 3402
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der gezielten Erfassung von Ausländern im Ausland ebenso gesonderte Abwägungen vor der Übermittlung vorzunehmen, die einer ex-ante-Kontrolle unterliegen müssen3409. Die Datenübermittlungsvorschriften im BNDG können schon aufgrund ihrer Pauschalität nicht als Grundlage für eine zukünftige Normierung dienen3410. Die §§ 7, 7a G 10 sind in ihrer grundlegenden Struktur hier zielführender, wobei teils erhebliche Änderungen hinsichtlich der Übermittlungsschwellen und insbesondere bei § 7 IV G 10 hinsichtlich der Rechtsgüter bzw. Straftatenkataloge nötig sind sowie weitergehende – hier nicht im Fokus stehende – Überlegungen zur Implementierung einer partiellen Übermittlungspflicht im G 10 nebst der Übernahme von Übermittlungsverboten im Sinne des § 23 BVerfSchG3411. Dies gilt indes für das gesamte System nachrichtendienstlicher Übermittlungsvorschriften, insbesondere im BVerfSchG, was das Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictum überdeutlich gemacht hat3412. In Bezug auf die hier vorranging interessierende Umsetzung des Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung zeigt das Bundeskriminalamtgesetz grundsätzlich auf, wie eine Normierung auch im neuen BNDG gelingen könnte. Insbesondere § 12 III 1 Nr. 2 BKAG implementiert den Grundsatz für besonders schwere Grundrechtseingriffe im einfachen 3409
Erneut F. III. 5. b) bb). Zu den Neuregelungen in §§ 29 ff. BNDG-E siehe die ersten Einschätzungen – mit teils erheblich unterschiedlicher Einschätzung der Verfassungskonformität – etwa von Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 5 ff.; teils kritisch Löffelmann, Stellungnahme (Fn. 21), S. 15 ff.; ebenso Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 8 f.; eine Liste mit Rechtsstaaten, die zum Empfang von Daten des BND berechtigt sind, fordert Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme (Fn. 21), S. 17. 3411 Umfangreiche, überzeugende Vorschläge zur Änderung der Übermittlungsbefugnisse an Strafverfolgungsbehörden im G 10 spezifisch aus dem strafverfolgungsrechtlichen Blickwinkel erarbeitet schon instruktiv in der Studie von Gazeas, Übermittlung (Fn. 50), S. 560 ff., 614 ff.; ders., Stellungnahme (Fn. 336), S. 16 ff. 3412 Das BVerfG unterstreicht, dass die Übermittlungsvorschriften im BNDG auf „den in ihrer Fassung schon älteren und an die Entwicklung der Rechtsprechung nicht hinreichend angepassten Strukturen des Bundesverfassungsschutzgesetzes und anderer Sicherheitsgesetze“ beruhten und schon deswegen „insgesamt“ die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht einhalten könnten, BVerfGE 154, 152 (307, Rn. 319). Diese überdeutliche Kritik am Gesamtzustand der Übermittlungsvorschriften im Nachrichtendienstrecht sollte durch den Gesetzgeber zum Anlass genommen werden, den Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung über die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung hinaus flächendeckend im Nachrichtendienstrecht zu verankern, um so gleichzeitig das informationelle Trennungsprinzip stringent zu sichern. Dies führt freilich über den Umfang dieser Studie hinaus; siehe dazu etwa unlängst N. Gazeas, Viel Arbeit für den Gesetzgeber, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/ h/bverfg-1-bvr-2835-17-bnd-auslandsueberwachung-kontrolle-nachrichtendienste-kon trolle-grundrechte-ausland-was-das-urteil-bedeutet/ (22.9.2020); ders., Stellungnahme (Fn. 336), S. 13 ff., unter Verweis auf das BVerfG; für eine umfassende Revision der Übermittlungsvorschriften des Nachrichtendienstrechts auch instruktiv Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 14 ff.; ferner Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme (Fn. 21), S. 33 f. 3410
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Recht – teilweise unter wörtlicher Übernahme der verfassungsgerichtlichen Passagen3413 – und kann somit grundsätzlich als Vorbild dienen. Allerdings scheint die Aufspaltung in einen allgemeinen Teil, der dann auf die besonderen Voraussetzungen des § 49 I BKAG zur Bestimmung der drohenden Gefahr verweist und die weiteren Übermittlungsvoraussetzungen in § 25 ff. BKAG verankert, aus Gründen der Normenklarheit und Bestimmtheit – die Verweisungen Grenzen setzen3414 – zumindest unglücklich gelöst. Die jeweiligen Einzelvorschriften ließen sich jedoch zumindest für die Normierung des Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung kombinieren. Die internationale Datenübermittlung sollte zumindest in verfahrensrechtlicher Hinsicht weiterhin dem § 7a G 10 folgen3415, wobei freilich eine Regelung zum Schutze von Übermittlungen aus besonderen Vertrauensbeziehungen und aus der gezielten Erfassungen von Ausländern im Ausland mit einer ex-ante-Kontrolle sowie eine Löschverpflichtung des Empfängers vorzusehen sind. Das Kooperationsrecht muss hingegen grundlegend neu ausgestaltet werden und insbesondere vorsehen, dass eine Übermittlung von selektierten und unselektierten Metadaten an ausländische Partnerdienste nur dann in Betracht kommt, wenn zumindest ein herabgesetzter Gefahrverdacht existiert3416.
III. Vereinheitlichung der Kontrolle Ein einheitliches Recht der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung benötigt eine einheitliche operative Nachrichtendienstkontrolle3417. Die Zersplitterung der Kontrolle3418 muss beendet werden. Der besondere Fokus ist dabei gerade auf die Aufsicht über die konkreten Tätigkeiten des Bundesnachrichtendienstes auf diesem Feld zu legen, und die parlamentarische Kontrolle ist als ein separater – nicht minder wichtiger, aber andersgelagerten – genuin politischer Kontrollansatz zu begreifen3419. Dafür plant der Gesetzgeber – grundsätz3413 Hierzu etwa M. Möstl, Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes (BT-Drs. 18/11163 und 11326) am 20.3.2017, A-Drs. 18(4)806 B, S. 1 ff.; allgemein kritisch zur bisweilen wörtlichen Übernahme von Vorgaben des BVerfG durch den Gesetzgeber auch Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 2. 3414 F. III. 3. c). 3415 Zur Rechtsstaatlichkeitsvergewisserung nunmehr § 30 VI BNDG-E. 3416 F. III. 5. b) cc). § 33 II BNDG-E kennt dies nur für die automatisierte Übermittlung unselektierter Metadaten, siehe dazu mit kleinerer Kritik an den Aufklärungsanlässen Löffelmann, Stellungnahme (Fn. 21), S. 19. 3417 Dafür plädieren auch Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 7, 9 ff. 3418 Eine solche diagnostizieren in Bezug auf die noch bestehende Kontrolllandschaft Gärditz, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 794), S. 532; Marxsen, Fernmeldeaufklärung (Fn. 521), S. 228; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 806), S. 16. 3419 Zur parlamentarischen Kontrolle im Überblick B. III. 4.; zum Ansatz einer Trennung von operativer und parlamentarischer Kontrolle siehe auch Gärditz, Grenzen
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lich nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – den Aufbau und ab 2022 den Einsatz eines „Unabhängigen Kontrollrates“ mit einem gerichtlichen und einem administrativen Kontrollorgan3420. Die G 10-Kommission erfüllt die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die heutige Ausgestaltung der Kontrolle nach hiesiger Ansicht nicht mehr vollumfänglich, da insoweit keine Differenzierungen zwischen der Inland-Ausland- und der Ausland-Ausland-Überwachung anzunehmen sind3421. Konventionsrechtlich war bislang zudem die Kontrolle in Eilfällen zu beanstanden3422. Die G 10-Kommission sollte daher perspektivisch in den zu schaffenden „Unabhängigen Kontrollrat“ integriert werden3423. Das umfassende Kontrollkonzept aus gerichtsähnlicher wie administrativer Aufsicht, welches das Bundesverfassungsgericht entwickelt und zum Teil – insoweit methodisch kritikwürdig – dem britischen Recht entlehnt hat, muss für alle Überwachungsansätze des Bundesnachrichtendienstes gelten, insbesondere um sicherzustellen, dass den Kontrolleuren Informationen und Daten nicht unter Berufung auf die Third Party Rule vorenthalten werden können3424. Dies wird gegenüber ausländischen Partnerdiensten leichter zu verargumentieren sein, wenn sich die Ausnahme nur auf eine gerichtsähnliche Instanz innerhalb der Exekutivstruktur bezieht. Damit wird zumindest auf Ebene des Grundrechtsschutzes der Verweis auf das schwammige Staatswohl3425 als Auskunftsverweigerungsgrund bei internationalen Kooperationen mit Nachrichtendiensten künftig wegfallen; diese Überlegung sollte dabei – entgegen der Rechtsprechung des Bundes-
(Fn. 132), S. 832; nunmehr auch zur Situation unter dem BNDG-E instruktiv ders., Stellungnahme (Fn. 21), S. 13 ff.; eingehend auch Meinel, Stellungnahme (Fn. 21), S. 2 ff.; für einen Ausbau der parlamentarischen Kontrolle Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 10 f.; für einen Parlamentarischen Beauftragten für die Nachrichtendienstkontrolle zuletzt BT-Drs. 19/19502; kritisch dazu Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21); die Kontrollstrukturen und die an sie adressierten Verbesserungsvorschläge verschwimmen indes bei Siemsen, Auslandsaufklärung (Fn. 484), S. 210 ff. 3420 BT-Drs. 19/26103, S. 100 ff.; konkret § 40 BNDG-E. Kritische wie ausführliche Einschätzung im ersten Zugriff bei Wetzling, Stellungnahme (Fn. 21), S. 6 ff.; ferner Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 20 ff.; Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 10 ff.; dezidiert kritisch Markard, Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 8 ff. 3421 F. IV. 3. b) cc); a. A. Huber, Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung (Fn. 915), S. 9. Selbst wenn man dies anders sehen wollte, streiten aber zumindest Effizienzüberlegungen für einen gesamtheitlichen Ansatz. 3422 Hierzu maßgeblich Huber, Kontrolle (Fn. 727), S. 15 f. 3423 Hierfür plädieren auch Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 25 f.; Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 15; Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 9 f. 3424 Ausführlich zur Kontrollstruktur F. III. 6.; zur Kritik insbesondere Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833; zur Befürchtung eines auch künftigen Unterlaufens der Information des „Unabhängigen Kontrollrates“ aufgrund der Third Party Rule instruktiv Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 8. 3425 Das Staatswohl ist schon gar nicht fest definiert oder sonst enger umrissen, siehe dazu etwa Holzner, Informationsansprüche (Fn. 476), S. 671 f. Hier besteht noch Forschungsbedarf.
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verfassungsgerichts3426 – zumindest grundsätzlich auch für die parlamentarische Kontrolle fruchtbar gemacht werden3427. Die neu zu etablierende gerichtsähnliche, unabhängige und selbstverwaltete Kontrolle sollte auch mit erfahrenen Verwaltungsrichtern besetzt werden3428 und beim Bundesnachrichtendienst in Berlin oder gegebenenfalls (zusätzlich) bei der Abteilung Technische Aufklärung unmittelbar in Pullach angesiedelt sein3429. Damit würde die Kritik aufgegriffen, die diesbezüglich schon am Unabhängigen Gremium – welches keine Zukunft hat – geübt wurde3430. Der Innenausschuss des Deutschen Bundestages hat diese Idee nunmehr berücksichtigt und eine entsprechende Änderung des ursprünglichen Gesetzentwurfes veranlasst, um auch Richter des Bundesverwaltungsgerichts berücksichtigen zu können3431. Die administrative Datenschutzkontrolle sollte – entgegen den aktuellen Bestrebungen – dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit übertragen werden3432, um die dortige Expertise nutzbar zu machen3433. Damit soll sichergestellt werden, dass die komplexe Technik der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung – der sich in dieser Studie laienhaft anzunähern versucht wurde – auch tatsächlich in Gänze verstanden und nachvollzogen werden kann. Hierfür sind bereits vertiefte Konzepte vorgeschlagen worden3434. Wichtig ist dabei, dass – entgegen der bisher vorherrschenden Praxis – ein konsequenter Austausch zwischen den beiden Kontrollinstanzen gegeben ist3435.
3426
BVerfGE 143, 101 (152 ff., Rn. 167 ff.). Einen Verweis auf die Third Party Rule zur Verweigerung der Herausgabe der NSA-Selektorenliste an den seinerzeitigen Untersuchungsausschuss lehnten schon früh ab Holzner, Informationsansprüche (Fn. 476), S. 674; Nees, Demokratie (Fn. 1083), S. 681. 3428 F. III. 6. b); insoweit zum BNDG-E auch Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 12 f.; Löffelmann, Stellungnahme (Fn. 21), S. 21 f., der ferner auch anregt, Dienstzeiten außerhalb der rein richterlichen Tätigkeit mit zu berücksichtigen sowie den Kandidatenkreis weiter zu fassen. 3429 Gem. § 41 VI BNDG-E sind Dienstsitze in Berlin und Pullach vorgesehen. 3430 Siehe dazu schon C. IV. 2. h). 3431 Siehe BR-Drs. 236/21, S. 2 f. 3432 Ebenso Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 11; a. A. aus Gründen des Geheimschutzes Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 11. 3433 Der Gesetzgeber wählt mit dem administrativen Kontrollorgan beim „Unabhängigen Kontrollrat“ einen anderen Weg, womit die Kontrolle an einem Ort gebündelt wird; kritisch zur Schaffung neuer Strukturen neben dem BfDI etwa Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 9. Dies muss nicht zwangsläufig schlecht sein, sofern die de facto Schlagkraft der Kontrolle sichergestellt ist. 3434 Siehe instruktiv Vieth/Wetzling, Nachrichtendienstkontrolle (Fn. 3362), S. 13 ff.; ausführlich nunmehr zu Verbesserungen der administrativen Datenschutzkontrolle im BNDG-E Wetzling, Stellungnahme (Fn. 21), S. 6 ff. 3435 BVerfGE 154, 152 (229, Rn. 297); Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 11 f. 3427
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H. Zusammenfassende Reformimpulse
Ebenso muss die Kontrolle schlagkräftig sein und auch Konsequenzen ziehen können3436. Wie die Kontrolllandschaft dann in concreto ausgestaltet werden soll, ist letztlich rechtspolitisch zu entscheiden3437. Ein ergänzender Vorschlag sei an dieser Stelle dennoch unterbreitet: Im Sinne einer möglichst schlagkräftigen, gerichtsähnlichen Kontrolle und konventionsrechtlicher best practice sollte ein kontradiktorisches Element, etwa durch einen Anwalt der Betroffenen, in das Kontrollverfahren eingeführt werden3438. Eine derartige Effektivierung der Kontrolle durch die Möglichkeit, die Betroffenen ihre Rechte jedenfalls treuhänderisch geltend machen zu lassen, ließe sich nach hiesiger Ansicht unmittelbar aus den Verhältnismäßigkeitsanforderungen im engeren Sinne an einen besonders schweren heimlichen Eingriff in Art. 10 I GG ableiten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht präferiert diesen Rechtsschutzansatz ohnehin, weswegen der Gesetzgeber gut beraten wäre, ein grundsätzlich auch international anerkanntes3439 kontradiktorisches Kontrollelement einzuführen. Um alle verfassungsrechtlichen Anforderungen sicher zu erfüllen, sollte das gerichtsähnliche Gremium zudem durch den Deutschen Bundestag gewählt werden, um die organisatorischen Anforderungen des Art. 10 II 2 GG zu wahren3440. Zwar hat die Vorschrift einen engen Anwendungsbereich3441, sie kann jedoch etwa in Bezug auf Gefahrfelder, wie einen bewaffneten Angriff auf die Bundesrepublik, einschlägig sein. Ein Benachrichtigungsausschluss gegenüber Deutschen und Inländern – Ausländer im Ausland werden schon zu ihrem Schutze nicht nachträglich unterrichtet – ist freilich auch nach Art. 10 II 1 GG möglich. Mit dieser in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angenom-
3436 Die normative Verankerung eines eigenen Verfahrensrechts, analog des Prozessrechts oder dem PUAG, schlagen als „wirksame Durchsetzungsinstrumente“ vor Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 12 (mit hiesigem Zitat); ferner Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 21. Ein solches sieht das BNDG-E nicht vor. 3437 Auch hierzu besteht – neben dem BNDG-E – schon ein umfassender Vorschlag, siehe Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 9 ff. 3438 EGMR, Urteil vom 13.9.2018, No. 58170/13 u. a., Rn. 379 – Big Brother Watch u. a.; für eine kontradiktorische Ausgestaltung auch Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 833 m. Fn. 160; Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 7, 15; zum dahingehenden Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 19/26221; ferner Markard, Stellungnahme (Fn. 21), S. 10; affirmativ auch Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 26 f.; gleichfalls zustimmend Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme (Fn. 21), S. 38. 3439 Wetzling/Moßbrucker, BND-Reform (Fn. 2776), S. 15, verweisen auf die Kontrolle in den USA vor dem sogenannten FISA Court. 3440 Affirmativ zur künftigen Wahl der Mitglieder des „Unabhängigen Kontrollrates“ durch das Parlamentarische Kontrollgremium (43 IV BNDG-E) Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 11 f.; Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 21 kritisiert zu Recht, dass dem Kontrollgremium nur Kandidaten vorgeschlagen würden und dem Parlament offenbar eine eigene Kandidatenauswahl nicht zugetraut werde. 3441 F. III. 6. a).
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menen Benachrichtigungspflicht3442 soll bekanntlich auch in Zukunft nach einer Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst nachträglich gerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden können. Perspektivisch wäre indes zu überlegen, ob nicht der Rechtsschutz durch die operative Nachrichtendienstkontrolle mit ihren umfassenden Rechten und der Assistenz durch den Bundesbeauftragten de facto gehaltvoller ausfällt als eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung, sei sie auch im in camera Verfahren durchgeführt. Freilich stehen dem zumindest die Rechtsprechung und wohl auch die Literatur entgegen; eine abschließende Antwort über einen Denkanstoß hinaus soll hier indes nicht (mehr) angestrebt werden.
3442 BVerfGE 154, 152 (287, Rn. 267); 143, 1 (11, Rn. 37); 141, 220 (283, Rn. 136); 125, 260 (336); 109, 279 (363 f.); 100, 313 (361); 30, 1 (21 ff.).
I. Bilanz Das gesamte Nachrichtendienstrecht ist im Fluss. Eine gesicherte Dogmatik blieb bislang ein Desiderat, die Debatte über notwendige Reformen ist hingegen in vollem Gange3443. Die Stellung der Nachrichtendienste im Rechtsstaat als eigene Behördenart, die weitreichende informationelle aber keine operativen Befugnisse besitzt, muss dabei der Ausgangspunkt sein. Die rechtswissenschaftliche Erschließung ist, zumindest im Grundsatz, dienst- und befugnisspezifisch am treffsichersten zu bewerkstelligen. In diesem Sinne wurde in dieser Studie eine einzelne, besonders schillernde wie geheimnisgeschützte Ermächtigung aufgegriffen, die zu einem ganz wesentlichen Teil lange Zeit gänzlich ungeregelt nur aufgrund der reinen Aufgabenzuweisung an den Bundesnachrichtendienste erfolgte. Zentrales „Erbe der Snowden-Affäre“ 3444 ist die überfällige verfassungsrechtliche Einhegung der technisch hochkomplexen Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes zur strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung. In einer multidimensionalen, globalisierten und digitalisierten Welt bedarf es zweifellos einer schlagkräftigen deutschen Auslandsaufklärung, um nachrichtendienstliche Erkenntnisse gewinnen, Gefahren frühzeitig erkennen und politischen Entscheidungsträgern durch Informationen Handlungsspielräume eröffnen zu können. Der Gesetzgeber kann und sollte sich daher grundsätzlich rechtspolitisch für dieses Mittel entscheiden. Im Rechtsstaat kann eine nachrichtendienstliche Datenerhebungsbefugnis, insbesondere mit besonders hohem Eingriffsgewicht, jedoch nur im Rahmen des grundrechtlich Zulässigen zum Einsatz kommen. Dafür muss das Recht aber auch Schritt halten mit globalisierten staatlichen Handlungsmöglichkeiten, insbesondere beim Schutz von räumlich ungebundener Telekommunikation. Die jüngere Debatte um die territoriale Reichweite der Grundrechte und die nun auch höchstrichterlich endgültige Feststellung, dass das Fernmeldegeheimnis grundsätzlich auch Ausländer im Ausland schützt ist, sind somit ebenfalls eine Konsequenz der Snowden-Enthüllungen. Unabhängig davon, woran man diese Erkenntnis dogmatisch festmachen will, handelt es sich für den Grundrechtsschutz als solchen um ein zentrales Vermächtnis. Dies gilt ebenso, wenngleich weniger prominent, aber kaum weniger wichtig, für die Fokussierung auf technische Realitäten bei der Bestimmung des sachlichen Schutzbereiches 3443 Siehe nur Dietrich, Ansätze (Fn. 229), S. 107 ff.; Bäcker, Stellungnahme (Fn. 208), S. 3 ff., 12 – „grundlegende Reform der Eingriffstatbestände des Nachrichtendienstrechts“ erforderlich; ders., Reform (Fn. 192), S. 137 ff. et passim; Gazeas, Stellungnahme (Fn. 336), S. 2 ff. 3444 Gärditz, Grenzen (Fn. 132), S. 827 – Hervorhebung nur hier.
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des Fernmeldegeheimnisses sowie für die Erkenntnis, dass jedenfalls beim Handeln für privatrechtliche juristische Personen die natürliche Person einen von ihrer Funktion unabhängigen Grundrechtsschutz beanspruchen kann. Ausnahmen für öffentliche Organwalter bleiben freilich bestehen, was insbesondere für die nachrichtendienstliche Aufklärung von fremden Mächten von zentraler Bedeutung sein dürfte. Das Recht muss aber nicht nur in dogmatischer, sondern auch in faktischer Hinsicht den tatsächlichen Entwicklungen respektive der technischen Evolution folgen können. Die informationstechnische Dimension der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung zwingt zur – hier unternommenen, zwangsläufig laienhaft bleibenden – Durchdringung der tatsächlichen Hintergründe. Dieser teils anstrengende Ausflug ins „Neuland“ 3445 ermöglicht ein präziseres Verständnis der Eingriffsdimension beim Abgleich und der Auswertung von Massendaten: Jede Datenerhebung, die zu einer „Ent- und Neukontextualisierung“ 3446 führt, muss als Grundrechtseingriff gewertet werden, auch um den damit einhergehenden Einschüchterungseffekt korrekt zu erfassen. Zugleich offenbart sich durch die Einbeziehung der technischen Hintergründe und den Vergleich mit bereits bestehenden sicherheitsrechtlichen Befugnissen die besonders hohe Eingriffsintensität der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, die grundsätzlich alle Betroffenen gleich stark berührt. Will der Gesetzgeber von dieser Befugnis Gebrauch machen, kann dies nur kompetenziell auf die Auslandsaufklärung beschränkt und unter höchsten Anforderungen an die verhältnismäßige Ausgestaltung der strategischen Überwachung gelingen. Der Ausfall tradierter – im Sicherheitsrecht eigentlich unverzichtbarer – Einschreitschwellen bei der anlasslosen und allein final angeleiteten wie begrenzten3447 strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung muss durch verfahrensrechtliche Anforderungen begrenzt und auf der Übermittlungsebene spiegelbildlich kompensiert werden; überdies ist eine unabhängige Kontrolle unverzichtbar. Insgesamt bedarf es daher einer umfassenden und übergreifenden geltungserhaltenden Reduktion der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung, bei der tief ins Detail gehende Verhältnismäßigkeitsanforderungen – die dogmatisch nicht unproblematisch sind – letztlich entscheidend sind. Für Ausländer im Ausland können dabei einzelne, eng begrenzte und jeweils einzeln zu rechtfertigende Unterschiede in der Schutzintensität angezeigt sein. Die gegenwärtige einfachgesetzliche Rechtslage vermag die verfassungsrechtlichen Anforderungen teils nicht mehr hinreichend abzubilden.
3445 Erneut sei die Bundeskanzlerin a.D. an dieser Stelle bemüht; siehe auch den Nachweis in Fn. 23. 3446 Schwabenbauer (Fn. 700), G. Rn. 43. 3447 BVerfGE 154, 152 (245, Rn. 155).
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Anstöße ergeben sich auch bei einem Blick über die nationale Rechtsordnung hinaus, weswegen insbesondere die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung im Mehrebenensystem des Grundrechtsschutzes zu betrachten ist. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist hinsichtlich ihres Anwendungsbereiches wesentlich territorialer geprägt und erfasst daher richtigerweise nur die Inland-Ausland-Überwachung. Die materiellen Anforderungen an eine konventionsrechtliche Ausgestaltung einer strategischen Überwachung von Telekommunikation sind nicht so dogmatisch ausdifferenziert wie unter dem Grundgesetz, weisen jedoch zahlreiche inhaltliche Parallelen auf. Die Grundrechtecharta der Europäischen Union kann – entgegen aller Expansionstendenzen des Europäischen Gerichtshofes – auf die strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung indes keine Anwendung finden, da diese in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten im Kernbereich nationaler Sicherheit verbleibt. Der Gesetzgeber hätte bei der verfassungsrechtlich gebotenen Neufassung der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung einen großen Wurf wagen und den hergebrachten dysfunktionalen Dualismus des einfachen Rechts schlicht beerdigen sollen. Bewährte Strukturen können dabei durchaus erhalten bleiben, sie müssen jedoch an die Telekommunikationsrealitäten des 21. Jahrhunderts und die heutigen verfassungsrechtlichen und insbesondere höchstrichterlichen Anforderungen angepasst werden. Die Reform ist Herausforderung und Chance zugleich: Sie zwingt zur Aufgabe eines teilweise relativ freien Handlungsrahmens des Bundesnachrichtendienstes, ermöglicht aber im Gegenzug eine rechtsstaatliche strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung, die auf breiter Front Akzeptanz finden kann. Leider wurde – in Ansehung des Endes der Legislaturperiode nicht allzu verwunderlich – nur eine erste Reparatur des Rechts der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung vorgenommen3448. Diese wird sich aller Voraussicht nach erneut einer Prüfung in Karlsruhe unterziehen müssen3449. Der Auftrag an den Gesetzgeber bleibt mithin hochaktuell und das Recht der strategischen Auslandstelekommunikationsüberwachung einstweilen unvollendet.
3448 So etwa auch erneut die Einschätzung zum BNDG-E bei Gärditz, Stellungnahme (Fn. 21), S. 16; Dietrich, Stellungnahme (Fn. 21), S. 3 f., 23 f. 3449 Siehe erneut das Interview mit Buermeyer (Fn. 3378), der eine neue Verfassungsbeschwerde der GFF in Aussicht stellt.
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Sachregister Abhörurteil – Erstes 124 ff. – Zweites 126 ff. – Drittes 129 ff. Auftragsprofil der Bundesregierung 103, 169, 436, 543 Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – einfachgesetzliche Grundlagen 160 ff. – Urteil des BVerfG 185 ff., 311 ff. – Verfassungskonformität 540 ff. Belegenheit 276, 288, 303, 313, 324, 327, 591 Big Brother Watch, Urteil 590 ff. Big Data 137, 650 Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst 91 ff. Bundesamt für Verfassungsschutz 37, 40, 53, 77, 82 ff. Bundesnachrichtendienst 96 ff. Communication Intelligence 107 Cyberabwehr 38, 42 DAFIS-Filter 218 ff., 225, 338 ff., 364 ff., 443 f., 475, 517 f., 644 Data-Mining 137, 347, 385, 493 DE-CIX 204, 212, 222, 294, 397, 404, 591 Deutsche Demokratische Republik 127 ff., 238, 284, Drohnenangriff 417 Ebenenanalyse, Daten 385, 389 ff., 651 Eikonal, Operation 211
Eingriffsintensität, strategische Auslandstelekommunikationsüberwachung 380 ff. Einschüchterungseffekt 237, 244, 350 ff., 368, 385, 408 ff. Europäische Menschenrechtskonvention 315, 324, 576 ff. Fernmeldegeheimnis – persönlicher Schutzbereich 250 ff. – sachlicher Schutzbereich 233 ff. – territorialer Schutzbereich 269 ff. Filterkaskade 216 ff., 323, 339, 364 ff., 443 f., 643 ff. Finished Intelligence 99, 412, 420 f. Funktionsträgertheorie 250 ff., 490, 597 f. G 10-Kommission 111 ff., 154 ff., 182 ff., 570 ff., 611 ff. Geheimdienst 35 ff. Geolokalisation 220 ff., 320, 323, 338 ff., 367 f., 417, 443 f., 640, 644 f. Gesellschaft für Freiheitsrechte 186 Government Communications Headquarters 580, 588 Grundrechtecharta der Europäischen Union 616 ff. Hops siehe Ebenenanalyse Human Intelligence 108 Hypothetische Datenneuerhebung 69 ff., 176, 196, 492, 503, 524 ff. Individualmaßnahmen 117 ff., 424, 459, 488, 595 Intelligence, Produkt 98 ff. Internationaler Fernmeldevertrag 575
696
Sachregister
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 574 f. Internetknotenpunkt siehe DE-CIX Investigatory Powers Commissioner 532 Investigatory Powers Tribunal 532, 537, 627 IP-Adresse 89 ff., 206 ff., 320 ff. IP-Paket 209 ff., 217, 246, 367
Separator 216 ff., 364 ff., 444, 475, 517, 644 ff. Signals Intelligence 26, 107 f. Snowden, Edward 25, 161 Strategische Fernmeldeaufklärung – einfachgesetzliche Grundlagen 138 ff. – Historie 123 ff. – Verfassungskonformität 558 ff.
Kennzeichenerfassung 341 ff., 382, 422, 472 Konvergenztheorie 61, 66, 464, 468, 503
Targeted killings 511 Telekommunikation – leitungsvermittelte 200 ff., 211, 239, 387 – paketvermittelte 201 ff., 217 ff., 236, 244 ff., 322, 364 Tempora, Operation 588 Theorie des virtuellen Auslands 165 Third Party Rule 535 ff., 556, 572, 656 f. Trennungsgebot 39 ff., 106, 415, 637 ff.
Metadaten 122, 195, 214, 236 f., 338, 356, 375 ff., 383 ff., 403, 489, 493, 580 ff., 649 ff. Nachrichtendienst, Terminologie 35 ff. National Security Agency 25, 156, 211, 376, 391, 651 NSA-Untersuchungsausschuss 25 ff., 113, 165 ff., 216 ff., 389 ff., 536
Unabhängiger Kontrollrat 656 Unabhängiges Gremium 114, 182 ff., 556 f.
Open Source Intelligence 108 Predictive Policing 347, 650 Pressefreiheit 147, 193 ff., 248 ff., 326, 613
VERAS, Datei 387 ff., 427, 493, 500, 565, 650 Verbrechensbekämpfungsgesetz 56, 129 ff., 429
Routineaufklärung 161, 338 Routing 210 ff., 223, 296, 406, 416, 595
Warschauer Pakt 127 ff., 458 Weltraumtheorie 164 f., 309
Selektor 122, 143 ff., 170 ff., 211, 262 ff., 339 ff., 348 ff., 364 ff., 397 f., 415, 483 ff., 516 ff., 564 ff., 643 ff.
XKeyscore 391 ff., 490, 651 Zitiergebot 168, 193, 436 ff.