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German Pages [208] Year 2017
Marianne Grohmann (Hg.)
Identität und Schrift Fortschreibungsprozesse als Mittel religiöser Identitätsbildung Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Lutz Doering, Sabina Franke, Susanne Plietzsch und Konrad Schmid
2017
Vandenhoeck & Ruprecht
Biblisch-Theologische Studien 169 Herausgegeben von Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski und Matthias Konradt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–3111–3 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter www.sonnhueter.com Satz: Marianne Grohmann, Wien Druck und Bindung: Hubert & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D – 37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier
Marianne Grohmann
Vorwort Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die 4. Projektgruppentagung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie zu „Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike“ zurück. Die Tagung, die von 9. bis 11. März 2015 auf der Ebernburg (Bad Münster am Stein) stattfand, widmete sich dem Thema „Identität und Schrift“. In den komplexen Fortschreibungs- und Kanonisierungsprozessen der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments schlägt sich ein Ringen um Identitäten nieder – auch wenn das in der Antike nicht so bezeichnet wurde. Der Bezug auf grundlegende, autoritative Schriften hat identitätsstiftende Funktion für konkrete Gruppierungen. Die Wechselwirkungen zwischen Fortschreibungen antiker Schriften und Identitätsbildungsprozessen werden in diesem Sammelband interdisziplinär untersucht. Anhand repräsentativer Beispiele aus den Bereichen der Altorientalistik, der alt- und neutestamentlichen Bibelwissenschaft sowie der Judaistik wird gezeigt, welche Funktion einzelne Schriften in unterschiedlichen historischen Kontexten für religiöse, aber auch politisch-nationale Identität haben: Die Hamburger Orientalistin Sabina Franke stellt „Fortschreibungsprozesse im/des Gilgamesch-Epos“, einem „klassisch“ gewordenen narrativen Text des Alten Orients, dar. Sie analysiert inhaltliche Veränderungen in den vier Hauptphasen seiner Entstehungsgeschichte und geht der Frage nach, für welche Gruppen der Text jeweils identitätsstiftend war. Der Züricher Alttestamentler Konrad Schmid untersucht „Von Jakob zu Israel. Das antike Israel auf dem Weg
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Vorwort
zum Judentum in Spiegel der Fortschreibungsgeschichte der Jakobüberlieferungen der Genesis.“ Anhand der komplexen Literaturgeschichte von Gen 25–35 weist er auf sich wandelnde Selbstverständnisse des antiken Israel hin. Der Beitrag des Münsteraner Neutestamentlers und Judaisten Lutz Doering zu „Fort- und Neuschreibung autoritativer Texte und Identitätsbildung im Jubiläenbuch sowie in Texten aus Qumran“ trägt zu einer Präzisierung der Terminologie für unterschiedliche Phänomene von „Fortschreibung“ und „Neuschreibung“ in den Schriften des antiken Judentums bei. Exemplarisch untersucht er das Jubiläenbuch und verwandte Handschriften aus Qumran (Höhle 4) auf ihre Verbindungen von Identität und Neuschreibung hin. Die umfangreichen Theoriediskussionen zum Thema „Identität“, die im Hintergrund der fünf Projektgruppentagungen zu „Religionsgemeinschaft und Identität“ (2012–2016) stehen, werden in dem Aufsatz „Identitätsbildung im Medium der Schrift“ vom Frankfurter Neutestamentler Stefan Alkier reflektiert. Die Salzburger Judaistin Susanne Plietzsch untersucht mit ihrem Beitrag „Repräsentanz des Heiligen: Torarolle und Person in rabbinischen Diskursen zu Mischna Megilla 3,1“ eine spezielle Form der Verknüpfung von personaler und kollektiver Identität: die Identifikation der Torarolle mit einer menschlichen Person. In exemplarischen Tiefenbohrungen zu alt- und neutestamentlichen Texten, altorientalischen Beispielen, aus der Literatur des antiken Judentums und rabbinischer Texte wird deutlich, wie sich Identitätsbildungsprozesse in der Zusammenstellung und Tradierung konstitutiver Schriften niederschlagen. Für ihre Mitwirkung bei der Erstellung des Bandes danke ich Barbara Groß und Jeanine Lefèvre sowie Dr. Volker Hampel vom Neukirchener Verlag. Wien, 4. November 2016 Marianne Grohmann
Inhalt
Vorwort ........................................................................ V Sabina Franke Fortschreibungsprozesse im/des Gilgamesch-Epos ............................................... 1 Konrad Schmid Von Jakob zu Israel. Das antike Israel auf dem Weg zum Judentum im Spiegel der Fortschreibungsgeschichte der Jakobüberlieferungen der Genesis....... 33 Lutz Doering Fort- und Neuschreibung autoritativer Texte und Identitätsbildung im Jubiläenbuch sowie in Texten aus Qumran ............................................... 69 Stefan Alkier Identitätsbildung im Medium der Schrift ................. 105 Susanne Plietzsch Repräsentanz des Heiligen: Torarolle und Person in rabbinischen Diskursen zu Mischna Megilla 3,1 ............................................. 163
Sabina Franke
Fortschreibungsprozesse im/des Gilgamesch-Epos1
I.
Einleitung
Das Gilgamesch-Epos ist zweifellos der bekannteste der vielen erzählenden Texte des Alten Orients. Seit 2003 liegt eine moderne Edition vor2, auf deren Grundlage mehrere Übersetzungen3 entstanden sind, darunter auch zwei ins Deutsche.4 Die Fortschritte in der Textrekonstruktion sind beeindruckend, aber dennoch ist das Gilgamesch-Epos bis heute kein vollständiger Text, denn von den etwa 3000 Zeilen des Textes fehlt immer noch gut ein Drittel.5 Bei der Analyse der Textgeschichte müssen zudem die Fundumstände und -lücken bedacht werden, denn aus der literarisch produktiven Zeit der 3. Dynastie von Ur um 2000 v. Chr. sind kaum Texte überlieMein herzlicher Dank geht an die Organisatoren des Symposiums für die Einladung, auf der Ebernburg sprechen zu dürfen, und für die anregenden Gespräche in angenehmem Umfeld. Der Vortragscharakter wurde weitgehend beibehalten. Da die Literatur zum GilgameschEpos schon fast unübersehbar ist, habe ich mich bewußt auf für den intendierten Leserkreis leicht zugängliche Literatur beschränkt. – Das Manuskript wurde am 30. September 2015 abgeschlossen. 2 Die Edition von Andrew R. George, The Babylonian Gilgamesh Epic, Oxford 2003, ist die Grundlage für alle späteren Übersetzungen. 3 U. a. Andrew. R. George, The Epic of Gilgamesch, London 1999; Benjamin R. Foster, The Epic of Gilgamesh, New York 2001. 4 Stefan M. Maul, Das Gilgamesch-Epos, München 2005; Wolfgang Röllig, Das Gilgamesch-Epos, Stuttgart 2009. Dazu Erläuterungen von Walther Sallaberger, Das Gilgamesch-Epos. Mythos, Werk und Tradition, München 2008. Zur Ikonographie s. Hans U. Steymans, ed., Gilgamesch. Ikonographie eines Helden, OBO 245, Fribourg u. a. 2010. 5 S. die Übersicht bei Sallaberger, Gilgamesch 19. 1
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fert, was angesichts der riesigen Anzahl von Verwaltungsurkunden nur dem Zufall zuzuschreiben sein kann.6 Einleitend sei kurz der Inhalt des Epos, wie es im 7. Jahrhundert aus der Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal in Ninive und anderen assyrischen und babylonischen Bibliotheken überliefert ist, also der von uns so genannten jungbabylonischen oder Standard Babylonian (SB) Fassung, vorgestellt. Gilgamesch, ein jugendlicher und hyperaktiver, wenn nicht gar manisch-depressiver7 Herrscher in der Stadt Uruk, im Süden des heutigen Irak gelegen, tyrannisiert die Einwohner seiner Stadt auf vielerlei Art. Um ihn zu bändigen, erschaffen die Götter den wilden Enkidu in der Steppe als seinen Gegenspieler. Da die beiden sich sehr ähnlich sind, werden sie zunächst Freunde, dann sogar Brüder, als Gilgameschs Mutter den Enkidu adoptiert. Gegen den Widerstand in der Stadt brechen sie auf, um „sich einen Namen zu machen“, also berühmt zu werden. Auf ihrer Reise werden sie von Gilgameschs Mutter Ninsun und dem Sonnengott Schamasch beschützt. Ihren Ruhm wollen sie erlangen, indem sie den Dämon Huwawa, den Wächter des Zederngebirges, besiegen. Dies gelingt ihnen nach einigen Abenteuern, und sie kehren triumphierend mit dem begehrten Zedernholz und dem abgeschlagenen Kopf des Huwawa nach Uruk zurück. Dort erhält Gilgamesch als erfolgreicher Held einen Heiratsantrag der Göttin Ischtar, der Stadtgöttin Uruks und mächtigsten Göttin des altorientalischen Pantheons. Diesen lehnt er jedoch brüsk ab. Die verärgerte, gekränkte Göttin schickt daraufhin den Himmelsstier gegen Uruk, der die Stadt und ihr Umland verwüstet. Gilgamesch gelingt es jedoch mit Hilfe von Enkidu, den Himmelsstier zu töten und die Stadt von der Gefahr zu befreien. Die Götter beschließen, daß Enkidu wegen seiner VerfehlunSallaberger, Gilgamesch 60. Seine Bezeichnung in Tf. I:234 als hadī-ū´a-amēlu „fröhlichweher-Mann“ legt diese Interpretation nahe. 6 7
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gen sterben müsse, obwohl es eigentlich Gilgamesch war, der die Frevel – die Ermordung Huwawas und des Himmelsstieres – begangen hat. Gilgamesch trauert unendlich um seinen Bruder und bereitet ihm erst8 nach sieben Tagen ein Begräbnis. Danach verläßt er verzweifelt seine Stadt und damit auch seine ihm vorgegebene Aufgabe als Herrscher. Er macht sich stattdessen auf die Suche nach Utanapischtim, dem Überlebenden der Sintflut. Von ihm will er wissen, wie er unsterblich geworden ist, um dies ebenfalls zu werden. Auf dem gefährlichen Weg zu dem Sintfluthelden erfährt er immer wieder Unterstützung, so daß er zu Utanapischtim gelangen kann. Utanapischtim berichtet Gilgamesch von den Ereignissen der Sintflut, die er nur dank der Unterstützung seines Gottes, des Weisheitsgottes Ea, überlebt habe. Gilgamesch aber scheitert bereits an den einfachen Aufgaben, die Utanapischtim ihm gibt. Er kehrt geläutert zurück nach Uruk, übernimmt dort die Herrschaft und erkennt endlich, daß es die Stadt und die menschliche Zivilisation sind, die im Gegensatz zu den einzelnen Menschen unsterblich sind. Mit diesen wenigen Worten kann man natürlich nicht den Zauber, die Faszination und die literarische Qualität und Vielschichtigkeit dieses Epos vermitteln, aber das ist ja auch nicht meine Aufgabe. Ich möchte vielmehr nach einer Beschreibung der unterschiedlichen Fassungen anhand von drei Episoden aus dem Gilgamesch-Epos einige Aspekte einer komplexen Textgeschichte erläutern,9 was wegen der immer noch unbefriedigenden Textbasis nur vorläufig sein kann.
Tzvi Abusch, Gilgamesh's Request and Siduri's Denial, JANES 22, 1993, 1–17: 7. 9 Vgl. Jeffrey H. Tigay, The Evolution of the Gilgamesh Epic, Philadelphia 1982 und George, Babylonian GE, 39–47. 8
4 II.
Sabina Franke
Die „Verfasser“ und ihr Publikum
Ursprünglich, d. h. seit Erfindung der Schrift für die sumerische Sprache in Uruk um 3300 v. Chr., war es die Aufgabe der Schreiber, für eine funktionierende Verwaltung in allen Bereichen des Lebens zu sorgen: im Palast genauso wie in den Tempeln, die beide immer auch wirtschaftlich handelten. Die schon seit frühester Zeit bekannten Königsinschriften und religiösen Texte sowohl in akkadischer als auch in sumerischer Sprache zeigen aber, daß Schrift sehr bald schon als Medium der allgemeinen Kommunikation eingesetzt wurde. Für die Niederschrift von Königsinschriften, Gebeten, Hymnen und literarischen Texten mußten daher ebenfalls Schreiber ausgebildet werden, die sich bald auch mit älteren Texten beschäftigten, um die alte, tradierte Denk- und Ausdrucksweise zu erlernen, da nach Ansicht der Gelehrten des Alten Orients alles in ferner Urzeit von den Göttern offenbart worden ist und neu entdeckt und dann bewahrt werden muß.10 Bereits aus der Zeit um 2800 lassen sich literarische Texte in sumerischer und akkadischer Sprache belegen. Die Texte aus der Akkadezeit (ca. 2350–2170) weisen nicht nur eine präzise Orthographie, sondern auch einen bewußten Umgang mit Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten auf.11 In der Ur-III-Zeit (ca. 2110–2000) werden die sumerischsprachigen Texte in den großen Zentren wie Ur oder Nippur gesichtet und niedergeschrieben. In der nachfolgenden Isin-Larsa-Zeit (ca.
Vgl. Stefan M. Maul, Walking backwards into the future. The conception of time in the Ancient Near East, in: T. Miller, ed., Given word and time: Temporalities in context, Budapest u. a. 2008, 15–24. 11 Aage Westenholz, The World View of Sargonic Officials. Differences in Mentality Between Sumerians and Akkadians, HANES 5, Padova 1993, 157–170; ders., The Old Akkadian Period: History and Culture, in: W. Sallaberger/A. Westenholz, Mesopotamien, AkkadeZeit und Ur-III-Zeit, OBO 160/3, Göttingen 1999, 5–117: 74–78. 10
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2019–1763) verschriftete man wohl die über längere Zeiträume mündlich überlieferte Literatur.12 In der altbabylonischen Zeit (ca. 1900–1600) kam eine neue Aufgabe auf die Schreiber zu. Da die sumerische Sprache, die als erste mit Keilschrift niedergeschrieben worden war, langsam ausstarb oder bereits ausgestorben war und durch das Akkadische verdrängt wurde,13 sahen sich die Gelehrten in Städten wie Nippur und Ur veranlaßt, das sumerische Erbe zu bewahren, indem sie die alten Texte aufschrieben, sicherlich zunächst auch, weil Sumerischkenntnisse für das Erlernen der Keilschrift erforderlich sind. Sumerisch blieb daher bis in das erste Jahrtausend hinein die „Wissenschaftssprache“ der Gelehrten und des Kultes, und seine Kenntnis war für die Ausübung aller religiösen Praktiken in verantwortlicher Position unerläßlich. In dieser Zeit wurde eine Tradition begründet, die bis zum Ende der Keilschriftliteratur erhalten blieb: Die Erlernung, Bewahrung, Weitergabe und Kanonisierung des überlieferten Materials gehörten zu den Aufgaben der Schriftgelehrten. Insbesondere in der altbabylonischen Zeit nutzten die Gelehrten die Möglichkeiten, die sich ihnen bei der Verschriftung der bislang wohl überwiegend mündlich überlieferten akkadischsprachigen Literatur boten und schufen eine lebendige, innovative Literatur, die sich von den Fesseln der sumerischen lösen konnte,14 so daß fast alle großen literarischen Werke des Alten Orients auf diese Zeit zurückgehen oder zumindest durch ihre Motivik geprägt
Für einen Überblick vgl. Walther Sallaberger, Ur III-Zeit, in: W. Sallaberger/A. Westenholz, Mesopotamien, Akkade-Zeit und Ur-IIIZeit, OBO 160/3, Göttingen 1999, 121–414: 125–129 und M.E. Vogelzang/H.L.J.L.J. Vanstiphout, eds., Mesopotamian Epic Literature. Oral or Aural?, Lewiston 1992. 13 Walther Sallaberger, Das Ende des Sumerischen. Tod und Nachleben einer altmesopotamischen Sprache, in: P. Schrijver/P.-A. Mumm, eds., Sprachtod und Sprachgeburt, Bremen 2004, 108–140. 14 Vgl. Sallaberger, Gilgamesch 83–88, bes. 84, der als Zentrum dieser Aktivität die Stadt Larsa vermutet, und Tigay, Evolution 42. 12
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sind.15 Die große Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal (668–631) in Ninive ist der krönende Abschluß einer langjährigen Sammeltätigkeit altorientalischer Literatur16, der wir den größten Teil unserer Kenntnis verdanken. Die „neuen“ literarischen Texte der altbabylonischen Zeit entstammten ursprünglich wohl weniger dem Umfeld der Schreiber als vielmehr dem der Sänger, wie aus vielen Hinweisen in sumerischen literarischen Werken,17 insbesondere den sumerischen Königshymnen auf Könige wie
15 Ausnahmen sind z. B. die Geschichte von „Erra und Ischum“ (Luigi Cagni, L‘Epopea di Erra, Studi Semitici 34, Rom 1969 und ders., The poem of Erra, SANE 1/3, Malibu 1977) oder „Die Sünde Sargons“ (Hayim Tadmor/Benno Landsberger/Simo Parpola, The Sin of Sargon and Sennacherib‘s Last Will, SAAB 3, 1989, 3–51, dazu Ann Weaver, The “Sin of Sargon” and Esarhaddons‘s reconception of Sennacherib: A study in divine will, human politics and royal ideology, Iraq 66, 2004, 61–66), die aktuelle politische Probleme behandeln, sowie ludlul bēl nēmeqi (Amar Annus/Alan Lenzi, SAACT VII, Helsinki 2010) oder „Der Herr und sein gehorsamer Diener“ (deutsche Übersetzung von Karin St. Schmidt in: S. Franke, ed., Als die Götter Mensch waren, Mainz 2013, 41–44), die sich mit Verhaltensregeln und ihren Folgen beschäftigen. 16 Vgl. Olof Pedersen, Archives and Libraries in the Ancient Near East 1500–300 B.C., Bethesda 1998, 158–163 und Jeanette Fincke, The British Museum’s Ashurbanipal Library Project, Iraq 66, 2004, 55–60. 17 Vgl. die Anfänge von „Gilgamesch und der Himmelsstier“, Antoine Cavigneaux/Faruk al-Rawi, Gilgames et le taureau de ciel (šul-mè-kam), RA 87, 1993, 97–129 oder das Ende von „Inanna und Šukaletuda“, Konrad Volk, Inanna und Šukaletuda. Zur historischpolitischen Deutung eines sumerischen Literaturwerkes, SANTAG 3, Wiesbaden 1995, 133:296–301 sowie Marie-Christine Ludwig, Untersuchungen zu den Hymnen des Išme-Dagan von Isin, SANTAG 2, Wiesbaden 1990, 41–43: Demnach hat es zwei Phasen der Entstehung gegeben: Der um-mi-a, der Meister der Schreiberschule, komponiert das Lied, und der Sänger, der wohl nicht lesen konnte, rezitiert es. – Daß dieses Konzept bis in das 1. Jahrtausend galt, zeigt die Tatsache, daß Kabti-ilani-Marduk, der Verfasser des Liedes von „Erra und Ischum“ im 1. Jt. (Cagni, L‘Epopea di Erra), diese alte Tradition aufgreift, wenn er vom Sänger (nāru) spricht, der das Lied vorträgt (Tf. V, 53 und 59).
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Schulgi von Ur,18 als auch in akkadischen erzählenden Texten dieser Zeit hervorgeht.19 Die Sänger genossen große Anerkennung am Königshof, was anhand der zahlreichen Geschenke, die sie erhielten, erkennbar ist.20 Sänger sind es im Übrigen auch, die für ewigen Ruhm sorgen, da sie die Taten der Herrscher verbreiten und der Nachwelt übermitteln.21 Generell wurde Literatur in zwei sich ergänzenden Kreisen weitergegeben: in den Privathäusern, vom Vater an den Sohn, und der „Schule“, dem Edubba'a, die dem Palast oder dem Tempel angeschlossen war.22 Inwieweit die dort tradierten Texte einer größeren Bevölkerungsschicht bekannt waren, ist unbekannt. Es spricht einiges dafür, daß die Gilgamesch-Texte wie auch die übrige Literatur am Königshof entstanden und vorgetragen wurden,23 so daß die Erzählungen und Hym18
Vgl. Jacob Klein, Three Šulgi Hymns, Ramat Gan 1981: Šulgi A und
D. Vgl. Claus Wilcke, Die Anfänge der akkadischen Epen, ZA 67, 1977, 153–216: Texte Nr. 1, 7 (Anzu-Mythos, s. Amar Annus, The Standard Babylonian Epic of Anzu, SAACT 3, Helsinki 2001), 8, 9. Zu den Sängern vgl. R. Pruzsinszky/D. Shehata, eds., Musiker und Tradierung, Wiener Offene Orientalistik 8, Münster 2010. 20 Walther Sallaberger, Schlachtvieh aus Puzris-Dagan. Zur Bedeutung dieses königlichen Archivs, JEOL 38, 2003/4, 45–61:53.56: So erhält der Sänger Ur-Ningubalag 40 Stück Kleinvieh und ein Großvieh, somit mehr als die Königin! Vgl. Jeremy Black, Rezension zu: Jacob Klein, Three Šulgi Hymns und The Royal Hymns of Shulgi King of Ur, AfO 29/30, 1983/1984, 112f. 21 Die Bedeutung und Selbsteinschätzung dieser Sänger kann man z. B. in der Geschichte von Gudam erkennen. Dort löst ein Sänger namens Lugalgabagal allein durch seine Fähigkeiten zur Beeinflussung und Warnung bestehende Probleme, s. Alhena Gadotti, Gilgameš, Gudam, and the Singer in Sumerian Literature, in: P. Michalowski/N. Veldhuis, eds., Approaches to Sumerian Literature, Studies in Honour of Stip (H.L.J. Vanstiphout), Leiden 2006, 72.80. 22 Andrew R. George, In Search of the E.DUB.BA.A: The ancient Mesopotamian School in Literature and Reality, in: Y. Sefati/P. Artzi/C. Cohen/B.L. Eichler/V.A. Hurowitz, eds., “An Experienced Scribe who Neglects Nothing”. Ancient Near Eastern Studies in Honor of Jacob Klein, Bethesda 2005, 127–137. 23 Sallaberger, Gilgamesch 84. 19
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nen sicherlich dazu dienten, neben dem unbestreitbaren Vergnügen beim Zuhören, durch das gemeinsame Erleben der Erzählungen eine gemeinsame Vergangenheit und Identität hervorzurufen, sie zu beschwören und daraus eine gemeinsame Zukunft zu bewirken. Insbesondere die Könige der 3. Dynastie von Ur griffen die Tradition der bedeutenden Stadt Uruk und ihrer Herrscher auf und stellten sich in eine Reihe mit ihnen. So bezeichnet der König Schulgi den längst verstorbenen legendären Gilgamesch, den Herrscher des benachbarten Uruk, als seinen Bruder.24 Texte wie das Gilgamesch-Epos stellten diese Verbindung in die Vergangenheit her. Die typische Frage des modernen Historikers nach der historischen Existenz Gilgameschs stellt sich für den Alten Orient nicht: Gilgamesch und seine Abenteuer gelten als wahr.25 Und da sie wahr sind, werden dem Herrscher Gilgamesch bedeutende Leistungen, wie z. B. der Bau der Mauer Uruks, zugeschrieben,26 so daß er und seine Taten als Vorbilder für nachfolgende Herrscher gelten.
Belege in George, Babylonian GE, 108f. Maul, Gilgamesch, 15; Sallaberger, Gilgamesch 48; Piotr Michalowski, Commemoration, Writing, and Genre in Ancient Mesopotamia, in: C.S. Kraus, ed., The Limits of Historiography. Genre and Narrative in Ancient Historical Texts, Leiden u. a. 1999, 69–90; Andrew R. George, The Epic of Gilgameš: Thoughts on Genre and Meaning, in: J. Azize/N. Weeks, Gilgameš and the World of Assyria, Leuven 2007, 37–65:49: “an old story retold”. 26 Im babylonischen Gilgamesch-Epos gilt die Stadtmauer Uruks als eine der bedeutenden Leistungen Gilgameschs, vgl. Annette Zgoll, monumentum aere perennius – Mauerring und Ringkomposition im Gilgameš-Epos, in: D. Shehata/F. Weiershäuser/K.V. Zand, eds., Von Göttern und Menschen, Fs. Brigitte Groneberg, Leiden 2010, 443– 470. Bereits König ANam von Uruk (ca. Ende 19. Jhdt.) verweist in einer mehrfach überlieferten Steininschrift auf den Mauerbau in Uruk durch Gilgamesch (Douglas R. Frayne, Royal Inscriptions of Mesopotamia, Early Periods 4, Toronto 1990, 474f = E.4.4.6.4). 24 25
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III.
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Die Entwicklung des Gilgamesch-Epos
Vier Hauptphasen der Entstehungsgeschichte des Gilgamesch-Epos lassen sich feststellen:27 1.
Die sumerischen Erzählungen
Aus der frühesten Phase stammen die sumerischen Texte, bei denen es sich um einzelne unverbundene Erzählungen handelt. Die Textzeugen sind Kopien älterer Texte und stammen aus dem 18., die Vorlagen wohl aus dem 21. Jahrhundert, d. h. der Ur-III-Zeit,28 ein genauerer Zeitraum läßt sich nicht festlegen. Allerdings ist auffällig, daß sich die Texte aus unterschiedlichen Orten ähneln,29 so daß eine gemeinsame Tradition vorliegen dürfte. Dies wiederum spricht für eine Niederschrift im Umfeld des Palastes oder des Tempels, weil nur so die Verbreitung einer einheitlichen Fassung möglich war. Als Themen der sumerischen Texte lassen sich benennen: a) Die Abenteuer, die Gilgamesch gemeinsam mit Enkidu besteht. Sie konzentrieren sich auf zwei Motive: – den Sieg über Huwawa, den Wächter des Zedernwaldes, den Gilgamesch und Enkidu aufsuchen, um sich einen Namen zu machen und um Zedern, das wichtigste und kostbarste Bauholz des Alten Orients, nach Sumer bringen zu können. Am Ende der sowohl physisch als auch verbal geführten Auseinandersetzung töten Gilgamesch und Enkidu den Huwawa. Dieser Text ist in einer Kurz- und einer Langfassung überliefert.30 Sallaberger, Gilgamesch 60, für die ersten drei Phasen. Sallaberger, Gilgamesch 60. 29 Sallaberger, Gilgamesch 68. 30 Dietz O. Edzard, Gilgames und Huwawa. Zwei Versionen der sumerischen Zedernwaldepisode nebst einer Edition von Version „B“, Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 1993, Heft 4; Dietz O. Edzard, Gilgameš und Huwawa A. II. Teil, ZA 81, 1991, 165–233; Dietz O. Edzard, Gilgameš und Huwawa A. I. Teil, ZA 80, 1990, 165–203. 27 28
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– den Kampf mit dem Himmelsstier, den die Göttin Inana/Ischtar nach der Ablehnung ihres Heiratsantrages durch Gilgamesch auf die Stadt Uruk hetzt. Gilgamesch tötet mit Enkidus Hilfe den Himmelsstier.31 b) Gilgameschs Auseinandersetzung mit der Unterwelt. Sie ist in zwei verschiedenen Fassungen überliefert: „Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt“32 und „Gilgamesch und der Tod“.33 c) Der Streit zwischen Gilgamesch und Akka, dem König der benachbarten prestigereichen Stadt Kisch.34 (Dazu unten IV.1.) Die Motive der Auseinandersetzung mit Huwawa sowie der Sieg über den Himmelsstier werden Bestandteil des SB Epos, die Erzählungen „Gilgamesch und der Tod“ und „Gilgamesch und Akka“ sind dagegen nicht in die SB-Fassung aufgenommen worden. (Zu „Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt“ s. unten, III.4.)
Cavigneaux/al-Rawi, RA 87, 1993, 97–129; Übersetzung von Douglas R. Frayne in: Foster, Gilgamesh, 120–129 und George, Gilgamesh, 166–175, Zusammenfassung bei Sallaberger, Gilgamesch 63f. 32 Alhena Gadotti, Gilgamesh, Enkidu, and the Netherworld and the Sumerian Gilgamesh Cycle, Berlin 2014. Übersetzung von Douglas R. Frayne in: Foster, Gilgamesh, 129–143 und George, Gilgamesh, 175–195. Zusammenfassung bei Sallaberger, Gilgamesch 65f. Vgl. die deutsche Übersetzung von Pascal Attinger in: K. Volk, ed., Erzählungen aus dem Land Sumer, Wiesbaden 2015, 297–316. 33 Antoine Cavigneaux/Faruk al-Rawi, Gilgames et la Mort. Textes de Tell Haddad VI, CM 19, Groningen 2000. Übersetzung von Douglas R. Frayne in: Foster, Gilgamesh, 143–154 und George, Gilgamesh, 195–208. 34 Dina Katz, Gilgamesh and Akka, Library of Oriental Texts 1, Groningen 1993. Neue Übersetzungen ins Deutsche von Hans Neumann in: Franke, Als die Götter Mensch waren 91–95 und Hartmut Waetzoldt in: Volk, Erzählungen 273–281. 31
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2. Die akkadischen Texte des 2. Jahrtausends und das altbabylonische Epos Die elf derzeit aus der altbabylonischen Zeit bekannten Texte sind leider nur recht fragmentarisch erhalten.35 Sie waren bereits in einer Serie zusammengefaßt, wie der Kolophon der sog. Pennsylvania-Tafel zeigt.36 Häufigstes Thema ist der Zug Gilgameschs zum Zedernwald und sein Kampf gegen Huwawa. Nun lassen sich nicht nur die ersten Verbindungen einzelner Themen feststellen,37 sondern auch inhaltliche Veränderungen einzelner Motive. So wird z. B. Enkidu vom Diener Gilgameschs zu seinem Freund und Bruder, so daß eine engere Verbindung der beiden entsteht und sich ihr hierarchischer Abstand verringert.38 Sprachlich und inhaltlich sich ähnelnde Gilgameschtexte sind zu dieser Zeit im gesamten Vorderen Orient belegt.39 Dies legt die Vermutung nahe, daß es sich beim Gilgamesch-Epos in dieser Zeit um einen Text handelt, mit dessen Hilfe die Keilschrift erlernt wurde, also um einen Schultext. Mit der Schrift aber und den mit ihr geschriebenen Texten wurden der babylonische Wertekanon und die babylonischen Vorstellungen vermittelt. So entstand ein einheitlicher Kulturraum, der von der hethitischen Hauptstadt Hattuscha in Zentral-
Für eine Übersicht s. George, Babylonian GE 159–286. George, Babylonian GE 181f.: „Zweite Tafel. Alle Könige übertreffend“. 37 Tigay, Evolution 41, Fn. 6: Das akkadische Gilgamesch-Epos sei zunächst mündlich verfaßt, später dann aufgeschrieben worden. “That scribes did not have access to bards who knew the texts of the epics by heart is suggested by the fact that in copying epics (and other types of texts), when they came upon a break in a tablet from which they were copying, scribes could sometimes only record the presence of the break; in other words, they had no oral source for restoring the break.” 38 Sallaberger, Gilgamesch 72; vgl. Catherine Mittermayer, Gilgameš im Wandel der Zeit, in: Steymans, Gilgamesch 135–164. 39 Tigay, Evolution 42f. Übersicht bei George, Babylonian GE 159– 347. 35 36
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anatolien über Megiddo in der Levante und Emar am mittleren Euphrat bis in das iranische Susa reichte. Das Gilgamesch-Epos war in der altbabylonischen Zeit jedoch nicht nur Gegenstand des Schulunterrichts, sondern einige, gut bildhaft darstellbare Motive der Geschichte scheinen auch einer breiteren Bevölkerung bekannt gewesen zu sein.40 Dafür sprechen Terrakottaplatten, die in der altbabylonischen Zeit Darstellungen Gilgameschs und Enkidus enthalten.41 Ihr Thema ist auch das der meisten Texte: die Tötung Huwawas und des Himmelsstieres. Soweit bekannt, stammen die Platten wohl überwiegend aus „profanem“ Kontext, sie sind nicht als Grabbeigaben42 belegt. U. Seidl hat gezeigt, daß auf einer größeren Gruppe von Terrakottaplatten die Reise Gilgameschs und Enkidus zum Zedernwald erzählt wird.43 Gilgamesch thront im obersten Register mittig über allem und ist als Herrscher mit der Breitrandkappe, einem der Herrschaftszeichen der altbabylonischen Zeit, dargestellt. Rechts und links neben ihm befinden sich die verschiedenen Waffen, die er sich für seine Reise hat anfertigen lassen. Unter ihm ist ein breites Band zu sehen, das als Gebirge zu verstehen ist. Unterhalb dieser Linie ebenfalls mittig ist Enkidu abgebildet, der auf einem schmaleren Gebirgsband steht. 40 Die altbabylonische Zeit scheint ohnehin eine Zeit großer allgemeiner Bildung gewesen zu sein: In fast jedem Haus fanden sich Keilschrifttafeln, die dann auch von einem Familienmitglied gelesen werden mußten, vgl. Claus Wilcke, Wer las und schrieb in Babylonien und Assyrien. Überlegungen zur Literalität im Alten Zweistromland, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Sitzungsberichte Jg. 2000/6, München 2000. 41 Steymans, Gilgamesch, darin: Wilfred G. Lambert, Gilgamesh in Literature and Art: The Second and First Millennia, 91–112; Ruth Opificius, Gilgamesch und Enkidu in der bildenden Kunst, 79–90; Ursula Seidl, Gilgameš: Der Zug zum Zedernwald, 209–228. 42 Ruth Opificius, Das altbabylonische Terrakottarelief, Berlin 1961, 245 sowie die Einleitung 3–24. 43 Seidl, Gilgameš 211–225. 17 Serien sind bekannt, die Platten stammen vorwiegend aus Wohnhäusern. Die Platten sind rechteckig und maximal 14,3 cm hoch und 9,5 cm breit.
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Enkidu ist, seiner geringeren Bedeutung entsprechend, kleiner dargestellt. Neben ihm stehen rechts und links jeweils zwei Löwen mit geschlossenem Maul. Dies spiele darauf an, daß er bei den Hirten die Löwen von den Herden fernhielt. Dieses Darstellungsband wird jeweils außen durch einen Huwawakopf abgeschlossen. Jeweils unterhalb des Huwawakopfes steht eine Gestalt in einem langen Rock, die in den Händen sprudelnde Wassergefäße hält. Diese sei als Gilgameschs Vater Lugalbanda zu verstehen, der im Epos die beiden Reisenden unterwegs mit Wasser versorgt. Somit seien in der Darstellung alle Motive des schriftlichen Epos zur Reise zum Zedernwald enthalten: die Waffen, die sich Gilgamesch und Enkidu anfertigen lassen, einschließlich eines Netzes über der Schulter des Gilgamesch, das ebenfalls im Kampf eingesetzt wurde, die Herkunft Enkidus aus der Steppe, Huwawa als Ziel der Reise, Wasser, das auf der Reise eine wichtige Rolle spielt, wenn Gilgamesch und Enkidu einen Brunnen graben, das Gebirge, das die beiden erreichen wollen sowie der Schutz durch Lugalbanda.44 Da die Terrakottaplatten in Häusern gefunden wurden, sollten sie sicherlich einen Schutz für die Bewohner bewirken, da auf ihnen Gilgamesch und Enkidu als Sieger über den Dämon Huwawa gezeigt werden.45 Ob die Platten darüber hinaus als Anhaltspunkte – Topoi im Sinne der antiken Rhetorik – für eine Erzählung zu verstehen sind, ist denkbar, aber nicht nachweisbar.46 Auf anderen Terrakottaplatten aus der altbabylonischen Zeit sind einzelne Motive aus dem Gilgamesch-Epos zu finden. Hierbei handelt es sich um: Auf der Terrakottaplatte fehlt allerdings eine Darstellung des Schutzes, den Gilgamesch von seiner Mutter Ninsun und dem Sonnengott Schamasch erhält. 45 Seidl, Gilgameš 222–225. 46 Der Vorschlag von Douglas R. Frayne, Gilgameš in Old Akkadian Glyptic, in Steymans, Gilgamesch 165–208, bereits auf akkadezeitlichen Rollsiegeln Abbildungen der Abenteuer Gilgameschs zu sehen, ist sehr weitreichend und kann hier nicht diskutiert werden. 44
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– die Tötung Huwawas durch Gilgamesch und Enkidu:47 die Helden sind unterschiedlich gekleidet und handeln entsprechend den Aussagen des Textes, so daß Gilgamesch und Enkidu als Personen identifizierbar sind, – Huwawa als Dämon,48 – die Tötung des Himmelsstiers49. Diese Motivwahl überwiegt auch in späterer Zeit, so daß in den bildlichen Darstellungen meist die Bezwingung Huwawas durch die beiden Helden erkennbar ist. In der schriftlichen Fassung dagegen ändern sich die Schwerpunkte: Während die altbabylonischen Texte die Abenteuer Gilgameschs und Enkidus in Vordergrund stellen, aber auch bereits Ansätze zu einer Diskussion der Frage nach dem Sinn des Lebens zeigen, handelt es sich bei der SB-Fassung um ein Werk, das der sogenannten Weisheitsliteratur nahesteht (s. unten, III.3). Das Thema der Erzählungen aus der altbabylonischen Zeit sind einerseits die Abenteuer Gilgameschs, andererseits die existentielle Frage: Wie sieht ein gutes Leben aus?50 (S. unten IV.2) Gilgamesch ist zwar ein großer Held, aber dennoch nicht unsterblich. Er wird dank seiOpificius, in Steymans, Gilgamesch 83, Abb. 5 = Lambert, in Steymans, Gilgamesch 355, fig. 1; Lambert, in Steymans, Gilgamesch, 102/359, fig. 9a und b; Seidl, in Steymans, Gilgamesch, Abb. 33. 48 Tallay Ornan, Humbaba, the Bull of Heaven and the Contribution of Images to the Reconstruction of the Gilgameš Epic, in: Steymans, Gilgamesch 416, fig. 11; fig. 17.18 (Gilgamesch auf Huwawa-Kopf); Opificius, in Steymans, 351, Abb. 6; Seidl in Steymans, Abb. 1.2.3. 49 Opificius, in Steymans, Gilgamesch 85f., Abb. 8. 50 George, Babylonian GE 33. Anders Sallaberger, Gilgamesch 71, der die Frage nach dem Tod im altbabylonischen Epos als zentral sah, dazu auch Walther Sallaberger, Der Tod des göttlichen Königs. Die Krise des Menschenbildes in altbabylonischer Zeit, in: A. Lang/P. Marinković, eds., Bios – Cultus – (Im)mortalitas. Zu Religion und Kultur – von den biologischen Grundlagen bis zu Jenseitsvorstellungen, Rahden 2012, 123–134. M.E. ist dies erst eine Entwicklung der nachaltbabylonischen Zeit, da die entsprechenden vergleichbaren Textzeugen mit ähnlicher Thematik (Thomas R. Kämmerer, šimâ milka: Induktion und Reception der mittelbabylonischen Dichtung von Ugarit, Emar und Tell el-Amarna, AOAT 251, Münster 1998) erst in der mittelbabylonischen Zeit in Ugarit und Emar belegt sind. 47
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ner Taten im Gedächtnis weiterleben und kann als erfolgreicher Held Schutz gewähren. 3.
Das Epos des 1. Jahrtausends (SB-Epos)
Diese Fassung des Epos (s. oben I.) liegt den modernen Übersetzungen zugrunde. Sie geht nach altorientalischer Auffassung auf den babylonischen Priester und Gelehrten Sin-leqe-unnini zurück, der in das 11. Jahrhundert datiert wird.51 Möglicherweise war er es auch, der den Prolog (Tf. I, 1–28) und Epilog (Tf. XI, 322–328) sowie die Sintfluterzählung der ursprünglichen Erzählung hinzugefügt hat. Auf bildlichen Darstellungen, insbesondere denen der neuassyrischen Zeit (ab ca. 900) sind bislang als Motive nur solche erkannt, die bereits in altbabylonischer Zeit dominieren: Zwei, teilweise unterschiedlich dargestellte Helden, bei denen es sich nach allgemeiner Ansicht um (Erinnerungen an) Gilgamesch und Enkidu handelt, töten ein Monster oder einen geflügelten Stier.52 Das SB-Epos, das nun als eine kontinuierlich erzählte Geschichte überliefert ist, läßt sich in zwei Teile gliedern: im ersten ziehen Gilgamesch und Enkidu zum Zedernwald, kämpfen mit Huwawa, kehren nach Uruk zurück und müssen sich dort mit Ischtar und dem Himmelsstier auseinandersetzen. An dieser Stelle beginnt die Wende in der Erzählung, da die Götter wegen der frevelhaften Ermordung Huwawas und der Tötung des Himmelsstieres beschließen, Enkidu sterben zu lassen. Der Tod Enkidus wiederum löst die Suche Gilgameschs nach der Unsterblichkeit aus, führt ihn zu dem Sintfluthelden Utanapischtim und am Ende zurück nach Uruk. Nach allgemeiner Ansicht behandelt das SB-Epos das Thema „Weisheit“.53 Insbesondere im Prolog (Tf. I, 1– George, in Azize/Weeks, Gilgameš and the World of Assyria 54f. ~ George, Babylonian GE 32f. 52 Vgl. die Aufsätze von Steymans, Opificius, Lambert und Ornan in: Steymans, Gilgamesch. 53 Vgl. Tzvi Abusch, The Development and Meaning of the Epic of Gilgamesh: An Interpretive Essay, JAOS 121, 2001, 614–622; Karel 51
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28) wird Gilgamesch als weiser Herrscher beschrieben. Diese Charakterisierung zieht sich jedoch nicht durch den gesamten Text, denn dort ist Gilgamesch nicht weise, sondern widersetzt sich allen Geboten für einen weisen Herrscher und findet erst nach der Ermahnung durch Utanapischtim (Tf. X, 267–278 [–295, abgebrochen]) und seiner – eher widerwilligen – Rückkehr nach Uruk zu seiner ursprünglichen Bestimmung als Herrscher und damit als Garant für Zivilisation und Ordnung. Die wesentliche Veränderung der sumerischen und altbabylonischen Fassungen zur SB-Version besteht nach A.R. George darin, daß Sin-leqe-unnini das sumerische/altbabylonische Loblied für Gilgamesch in eine Abhandlung über das drohende Verhängnis des Menschen umarbeitet.54 Auslöser hierfür sei ein sich änderndes Verhältnis zu den Göttern. Ein ursprünglich als Heldenepos konzipiertes Werk wandele sich zu einem Werk der Weisheitsliteratur, indem es Elemente der sogenannten narû-Literatur55 aufgreift, d. h. Texten, die die Taten früherer Könige aufzeichnen und reflektieren. Gilgamesch wird also in der SB-Version zu einem Rollenvorbild für den guten Herrscher. Gleichzeitig wird das Gilgamesch-Epos Teil der Gelehrtenkultur.56 Sowohl das altbabylonische als auch das SB-Epos hatten die Funktion eines akkadischen Lehrtextes in der Schule. Nach van der Toorn, Why Wisdom Became a Secret: On Wisdom as a Written Genre, in: R.J. Clifford, Wisdom Literature in Mesopotamia and Israel, SBL Symposium Series 36, Atlanta 2007, 21–29; zurückhaltend George, in Azize/Weeks, Gilgameš and the World of Assyria 53f. 54 George, in Azize/Weeks, Gilgameš and the World of Assyria 54: He “gave the poem its final shape, turning the epic from a paean to Gilgameš’s glory into a ‘sombre meditation on the doom of man’, and saw in the result the same mood of ‘despondent resignation’ that informed the Poem of the Righteous Sufferer (Ludlul bēl nēmeqi) and the Dialogue of Pessimism and other new literature of the mid- to late second millennium.” 55 Für eine Diskussion der narû-Literatur s. Michael Haul, Stele und Legende. Untersuchungen zu den keilschriftlichen Erzählwerken über die Könige von Akkade, GBAO 4, Göttingen 2009, 95–188. 56 Sallaberger, Gilgamesch 79. George, Babylonian GE 33–39.
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dem Aussterben der sumerischen gesprochenen Sprache konnten die sumerischen literarischen Texte nicht mehr im Unterricht verwendet werden, sondern mußten durch akkadische ersetzt werden. Ob das Epos in der schriftlichen Form allerdings einem breiteren Publikum bekannt war, läßt sich nicht erschließen,57 scheint aber eher unwahrscheinlich. Dies schließt jedoch nicht aus, daß Gilgamesch als Persönlichkeit weithin bekannt war, worauf die Gebete hindeuten, die man an ihn richten konnte.58 4.
Ergänzung im Jahre 705 um die 12. Tafel59
Als im Jahre 705 der assyrische König Sargon II (722– 705) während eines Feldzuges nach Kappadokien in Tabal auf dem Schlachtfeld starb und sein Leichnam nicht geborgen und begraben werden konnte, war dies eine Katastrophe für das assyrische Königshaus. Ein unbestatteter Leichnam findet keine Ruhe in der Unterwelt, sondern bedroht als böser Dämon die Lebenden, da er keine Opfer erhalten kann, die sein Überleben in der Unterwelt sichern. Dieser unrühmliche Tod wurde als Strafe der Götter und als böses Omen angesehen, und Sargons Sohn und Nachfolger Sanherib verließ sofort die neu erbaute Residenz seines Vaters, Dur-Šarru-
George, Babylonian GE, 39: “in the late second and the first millennium the Babylonian epic of Gilgameš had two functions in training scribes. It was a good story and thus useful, in small quantities, for absolute beginners. And as a difficult classic of traditional literature it was studied at greater length by senior pupils nearing the end of their training.” 58 Vgl.. Tzvi Abusch, Ištar’s Proposal and Gilgamesh’s Refusal: An Interpretation of the Gilgamesh Epic, Tablet 6, Lines 1–79, 143–187, History of Religions 26, 1986, 150 und Maul, Gilgamesch 18 59 George, Babylonian GE 415–417. In den meisten modernen Übersetzungen ist die 12. Tafel völlig zu Recht nicht enthalten, denn die Geschichte endet natürlich mit der Rückkehr Gilgameschs nach Uruk, vgl. Zgoll, monumentum aere perennius 443–470. Dennoch wird immer wieder vom 12-Tafel-Epos gesprochen, s. Maul, Gilgamesch, Mittermayer, Gilgameš und Röllig, Gilgamesch, passim. 57
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kin/Chorsabad, und ließ in mehreren Texten die Ursachen für das Schicksal Sargons untersuchen.60 E. Frahm nahm an, daß der assyrische Gelehrte Nabûzuqup-kēnu aus Kalhu/Nimrud in einer oder seiner Reaktion auf dieses Ereignis dem bestehenden Text des Gilgamesch-Epos eine 12. Tafel hinzufügte,61 bei der es sich um eine wörtliche Übersetzung des 2. Teils der sumerischen Erzählung „Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt“62 handelt, die bis heute nur durch Textzeugen aus der altbabylonischen Zeit bekannt ist. Es ist außerordentlich bemerkenswert, daß dieser sumerische Text über 1000 Jahre bekannt geblieben ist und dem Gelehrten für seine Arbeit zur Verfügung stand.63 A.R. George erklärt dies damit, daß in dieser Zeit die gesamte Serie Gilgamesch im Rahmen eines Rituals rezitiert worden sei.64 In der sumerischen Erzählung hat Gilgamesch einen großen Baum gefällt und daraus Möbel für die Göttin Inana/Ischtar angefertigt. Aus dem Restholz hat er eine Holzkugel und einen Stecken als Spielgerät hergestellt und unablässig mit den jungen Kriegern Uruks gespielt, so daß sie für nichts anderes mehr Zeit hatten. Um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden, sorgen die Götter dafür, daß Gilgameschs Spielzeug durch ein Loch in die Unterwelt fällt. An dieser Stelle beginnt unvermittelt die akkadischsprachige 12. Tafel des Gilgamesch-Epos. Gilgamesch beklagt seinen Verlust, und Enkidu als treuer Freund und Diener bietet an, das verlorene Spielgerät Vgl. Tadmor/Landsberger/Parpola, Sin of Sargon; Weaver, Iraq 66, 2004, 61–66. 61 Eckhart Frahm, Nabû-zuqup-kēnu, das Gilgameš-Epos und der Tod Sargons II., JCS 51, 1999, 73–90. Es handelt sich um den einzigen literarischen Text, der von Nabû-zuqup-kēnu bekannt ist (p. 79). Vgl. Eckhart Frahm, Nabû-zuqup-kēnu, Gilgamesh XII, and the rites of Du'uzu, NABU 2005/5. Anders George, Babylonian GE 47–54. 62 Cavigneaux/al-Rawi, Gilgames et la Mort. Textes de Tell Haddad VI CM 19. 63 Die Textzeugen stammen aus Nippur und Me-Turran im Hamrin, Cavigneaux/al-Rawi, Gilgames et la Mort. Textes de Tell Haddad VI CM 19, p. 13 und 25. 64 George, Babylonian GE 54. 60
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zurückzubringen. Er hält sich jedoch nicht an die Verhaltensregeln, die ihm Gilgamesch auf den Weg mitgibt und muß daher in der Unterwelt bleiben. Gilgamesch trauert um seinen Freund und bittet die Götter um Hilfe, aber vergeblich. Schließlich erbarmt sich der Sonnengott Schamasch und läßt Enkidu als Geist die Fragen Gilgameschs über das Leben in der Unterwelt beantworten: Wer zahlreiche Nachkommen hat, erhält von diesen viele Opfer und hat so ein erträgliches Leben in der Unterwelt. Der akkadische Text endet mit der Beschreibung des Schicksals eines Gefallenen. In der sumerischen Fassung beschließt Gilgamesch, für großzügige Opfer für seine Eltern zu sorgen. Ziel Nabû-zuqup-kēnus war es wohl, eine Verbindung zwischen dem Schicksal Sargons und der Gilgamescherzählung herzustellen. Insbesondere die Zeilen, mit denen er seinen Text enden läßt, deuten auf diese bewußte Überarbeitung hin. Gilgamesch-Epos, Tf. XII, 148–153: (Gilgamesch sagt zu Enkidu, der in der Unterwelt gefangen ist:) Sahst du den, der in der Schlacht getötet wurde? – (Enkidu antwortet:) Ich sah ihn. Sein Vater und seine Mutter erweisen ihm Ehre und seine Gattin weint wegen ihm. – Sahst du den, dessen Leichnam in die Steppe geworfen ist? – Ich sah ihn. Sein Totengeist findet in der Unterwelt keinen Schlaf. – Sahst du den, dessen Totengeist niemanden hat, der ihn versorgt? – Ich sah ihn. Er ißt Reste aus dem Topf und Brotbrocken, die auf die Straße geworfen sind.
Unabhängig davon, ob es tatsächlich Nabû-zuqup-kēnu war, der die 12. Tafel angefügt hat oder ein anderer Gelehrter: Es ist deutlich, daß das Gilgamesch-Epos als lebendiges Literaturwerk keine Rolle mehr spielte und in dieser Zeit nur noch in Gelehrtenkreisen rezipiert und weitergegeben wurde, denn sonst hätte man zweifellos auf die Erzähllogik geachtet und berücksichtigt, daß Enkidu bereits in Tf. VII gestorben war. Nach A.R. George ist das Gilgamesch-Epos als Text im 1. Jahrtausend nur noch ein “literary fossil”, das man für eigene Zwecke verwenden kann. Da das Thema des Gilga-
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mesch-Epos der Untergang des Menschen sei, hätte es sich angeboten, es mit diesem Text zu ergänzen.65 Damit setzt sich die Tendenz des 2. Jahrtausends im 1. Jahrtausend fort, daß das Gilgamesch-Epos überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich in Gelehrtenkreisen rezipiert wird.66 Dies mag daran liegen, daß Gilgameschs Rolle als Richter und Herrscher in der Unterwelt bedeutender wird: Er hat als einziger versucht, gegen die Unterwelt und den Tod anzukämpfen und ist daher bestens geeignet, die Menschen vor bösen Dämonen zu schützen.67 IV. Drei Beispiele für Veränderungen in der Überlieferung des Gilgamesch-Epos68 1.
Gilgamesch und Akka
Die Erzählung „Gilgamesch und Akka“69 ist nur in sumerischer Sprache überliefert. Die Textzeugen stammen wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert.70 Weder der Text noch seine Motive sind in die späteren Fassungen aufgenommen worden. In dieser Geschichte fordern Boten der Stadt Kisch die Bürger Uruks auf, sich an der Instandhaltung ihrer KaGeorge, Babylonian GE 54. Vgl. Wilfred G. Lambert, Gilgamesh in Literature and Art, in: Steymans, Gilgamesch 91–112. Die dort angeführten bildlichen Darstellungen stammen ebenfalls aus Palast- und gehobenen Verwaltungskontexten. 67 Vgl. Sallaberger, Gilgamesch 59; Tzvi Abusch, Epic of Gilgamesh, in: J. O.Krstović, ed., Classical and Medieval Literature Criticism, Bd. 3, Detroit u. a. 1989, 365–374:371f. 68 Grundlegend Tigay, Evolution. Für die Zedernwald-Episode vgl. Mittermayer, Gilgameš. 69 Katz, Gilgameš and Akka; Übersetzung von Hans Neumann in: Franke, Als die Götter Mensch waren 91–95 sowie von Waetzoldt in: Volk, Erzählungen 273–281; Zusammenfassung bei Sallaberger, Gilgamesch 66f. 70 Nach Sallaberger, Gilgamesch 67, ist der Text in Larsa im 19. Jhdt. entstanden. 65 66
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nalanlagen zu beteiligen. Dies lehnen die Bürger Uruks aber auf Betreiben Gilgameschs ab. Daraufhin zieht Akka, der König von Kisch, vor die Stadt und belagert sie. Ein Ausbruchsversuch eines Kriegers Gilgameschs scheitert. Er wird gefangen genommen und nach seinem König befragt. Vor den fremden Truppen schildert er ihn als großen Helden, dessen Anblick allein die Gegner sofort überwältigen würde. Unterdessen hat Gilgamesch die Mauer bestiegen. Die Truppen Akkas fliehen wie vorhergesagt vor diesem Anblick, und Akka wird inmitten seines Heers gefangen. Aber Gilgamesch läßt ihn frei, da Akka ihm früher einmal Asyl gewährt hatte. Gilgamesch erscheint hier als strahlender Held71; Götter dagegen spielen nirgends eine Rolle. Wie alle sumerischen Texte über Gilgamesch ist auch dieser mehr an der Person des Helden und ihren Abenteuern interessiert als an einer Botschaft, die sich aus seinem Leben erkennen ließe.72 Denkbar ist daher, daß es sich bei den sumerischen Gilgamesch-Erzählungen um eine Art Hymne auf den berühmten König Gilgamesch handelt, die während Kultfeierlichkeiten im Palast für ihn rezitiert wurde.73 Die Erzählung stammt sicherlich aus einem konkreten historischen Umfeld, denn sie spielt auf die frühen Auseinandersetzungen zwischen den sumerischen Stadtstaaten an, die zur Zeit der Zusammenfügung des GilgameschEpos in der frühen altbabylonischen Zeit nur noch begrenzt aktuell waren. Seit dem Ende des 3. Jahrtausends hatten in Mesopotamien immer wieder größere Reiche existiert, so daß das Thema eines Konflikts zwischen zwei Städten keine interessante und relevante Geschichte mehr war. Die Gliederung Mesopotamiens in Stadtstaaten wurde daher entweder nicht mehr verstanden und entfernt oder als überwundene politische Situation angesehen, auf die man nicht mehr eingehen mußte, zumal 71 Vgl. Katz, Gilgamesh and Akka 3: “The image of Gilgamesh himself lacks the mythical elements that characterize it elsewhere.” 72 S. Tigay, Evolution 36f. 73 Tigay, Evolution 36f.
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das politische Ideal ohnehin ein einziges Königtum in Mesopotamien war.74 Stattdessen paßte der Autor/Redaktor die Erzählung an die aktuellen politischen Verhältnisse und Lebensumstände an, änderte dementsprechend die Form des Textes und übernahm nur noch die für ihn passenden Motive. Da der altbabylonische Redaktor die Frage nach dem Sinn des Lebens behandelt, kann Gilgamesch nun nicht mehr nur als strahlender, siegreicher Held dargestellt werden, sondern als ein seine Aufgabe und Bestimmung suchender Mensch. 2.
Gilgamesch und die Ratschläge der Schenkin Siduri
Die Ratschläge der Schenkin Siduri gehören zu den bekanntesten Episoden des Gilgamesch-Epos. Sie sind allerdings bislang nur auf einer einzigen Tafel aus der altbabylonischen Zeit aus der Stadt Sippar überliefert und fehlen in der SB-Fassung. Auf seinem Weg zu Utanapischtim, dem Überlebenden der Sintflut, trifft Gilgamesch auf die Schenkin Siduri, die ihm folgenden Rat auf den Weg gibt:75 Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du gewiss nicht finden. Als die Götter die Menschheit erschufen, da bestimmten sie der Menschheit den Tod, behielten das Leben in ihrer eigenen Hand! Du, Gilgamesch – dein Bauch sei voll, Tag und Nacht magst du dich ergötzen, feiere täglich ein Freudenfest, tanze und spiele bei Tag und bei Nacht! Deine Kleidung sei rein, gewaschen dein Haupt, mit Wasser sollst du gebadet sein! Schau den Kleinen an deiner Hand! Die Gattin freue sich oft über deine Umarmung, denn das ist die Bestimmung des Menschen, der da lebt auf dieser Welt. Thorkild Jacobsen, The Sumerian Kinglist, Assyriological Studies 11, Chicago 1939. 75 In der Übersetzung von Röllig, Gilgamesch 148f. = George, Babylonian GE 278f, iii 1–15. 74
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Häufig ist diese Aussage des altbabylonischen Textes als zentral für das gesamte Epos angesehen worden ohne zu beachten, daß dieser Abschnitt in der SB-Fassung fehlt. Grund für die Auslassung dürfte sein, daß das Thema der altbabylonischen Fassung die Abenteuer, Erlebnisse und Aufgaben des Menschen und Königs Gilgamesch sind,76 das des SB-Textes dagegen Fragen nach der menschlichen Existenz und insbesondere ihrem Weiterleben. Einigkeit herrscht mittlerweile darin, daß dieser Passus nicht als Hedonismus zu verstehen ist, sondern vielmehr als Aufforderung, ein normales Leben mit den entsprechenden Lebensfreuden zu führen.77 Die häufig diskutierte Verbindung mit den Aussagen in Prediger 9,7–9 ist allerdings schon aus traditionsgeschichtlichen Gründen unwahrscheinlich.78 Es dürfte sich vielmehr um allgemeine Menschheitserfahrungen und Wünsche handeln, auch wenn die ähnliche Ausdrucksweise bemerkenswert ist: Auf, iß dein Brot mit Freude, und trink deinen Wein mit frohem Herzen; denn längst schon hat der Gott dieses Tun gebilligt. Jederzeit seien deine Kleider weiß, und an Öl auf deinem Haupt
76 Tzvi Abusch, The Development and Meaning of the Epic of Gilgamesh 614–622. 617: In der aB Fassung liege der Schwerpunkt auf dem „normalen“ Leben, das allein Bedeutung vermittle. Der Held Gilgamesch müsse lernen, sich mit dem üblichen menschlichen Leben zu begnügen, andernfalls würde er sich selbst zerstören. Es sei auffällig, daß es hier die Frauen sind, die Gilgamesch vermenschlichen. In seiner Argumentation differenziert Abusch allerdings nicht nach altbabylonischer und SB Version. Vgl. Sallaberger, Gilgamesch 79. 77 George, Babylonian GE 275; Rivkah Harris, Images of Women in the Gilgamesh Epic, in: T. Abusch/J. Huehnergard/P. Steinkeller, eds., Lingering over Words: Studies in Ancient Near Eastern Literature in Honor of William L. Moran, Harvard Semitic Studies 37, Atlanta 1990, 219–230:225; Tigay, Evolution 52. 78 Vgl. Karel van der Toorn, Echoes of Gilgamesh in the Book of Qohelet, in: W.H. van Soldt, ed., Veenhof anniversary volume. Studies presented to Klaas R. Veenhof on the occasion of his sixty-fifth birthday, Leiden 2001, 503–514:514: der babylonische Einfluß sei marginal.
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Sabina Franke soll es nicht fehlen. Genieße das Leben mit einer Frau, die du liebst, all die Tage deines flüchtigen Lebens, die er dir gegeben hat unter der Sonne, all deine flüchtigen Tage. Das ist dein Teil im Leben und bei deiner Mühe und Arbeit unter der Sonne. Was immer du zu tun vermagst, das tu.79
Die pragmatische Lebensfreude dieser Textstelle ist vielleicht typisch für die altbabylonische Zeit, da gerade aus dieser Zeit viele Darstellungen mit Musik, Tanz, Sex und Gauklern in Wohnhäusern gefunden worden sind,80 die wohl der Erbauung und dem Schutz der Bewohner dienen sollten. 3.
Gilgamesch und die Göttin Ischtar81
In Tafel VI der SB Fassung kehrt Gilgamesch, gemeinsam mit Enkidu, als strahlender Held aus dem Zedernwald zurück, reinigt sich und legt den königlichen Ornat an. Daraufhin möchte ihn die Göttin Ischtar, die mächtigste Göttin des altorientalischen Pantheons, heiraten und bietet ihm große Reichtümer und Priviligien an. Schon allein dieser Vorschlag ist ungewöhnlich, denn grundsätzlich heiratet im Alten Orient der Mann die Frau.82 Gilgamesch jedoch lehnt das Ansinnen der Göttin selbstbewußt und brüsk ab. Als Begründung führt er an, 79 Übersetzung von Thomas Krüger, Kohelet (Prediger), Biblischer Kommentar, Bd. 19, Neukirchen-Vluyn 2000, 298. Ich danke Ute Neumann-Gorsolke, Hamburg, für diesen Hinweis. 80 Felix Blocher, Gaukler im Alten Orient, in: V. Haas, ed., Außenseiter und Randgruppen, Xenia 32, Konstanz 1992, 79–112. Blocher, 86, nimmt an, daß in altbabylonischer Zeit Szenen aus dem Gilgamesch-Epos nachgespielt worden seien. 81 George, Babylonian GE 470–475. Dazu sind Texte aus Hattusa und Emar bekannt. Insgesamt existieren für diese Episode nur wenige Ms. im Vergleich zu den Huwawa-Geschichten. 82 Samuel Greengus, The Old Babylonian Marriage Contract, JAOS 89, 1969, 505–532, hier 516. Vgl. die umständliche Formulierung im Codex Hammurapi § 137: mutu libbīša ihhassi „Ein Mann (Subjekt) nach ihrem Herzen soll sie (die Frau = Objekt) heiraten“: die Frau darf sich zwar ihren zukünftigen Ehemann aussuchen, aber der Mann heiratet sie, und die Frau wird geheiratet.
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daß er befürchten müsse, daß Ischtar ihn wie einen Sklaven halten werde, wie sie auch ihre früheren Liebhaber immer äußerst schlecht behandelt habe. Die in ihrer Ehre gekränkte und zurückgewiesene Göttin erbittet sich in ihrem Zorn von ihrem Vater den Himmelsstier, der zunächst große Verwüstungen in Uruk anrichtet, dann aber von Gilgamesch und Enkidu überwältigt wird. Gilgamesch gelingt es, mit Enkidus Hilfe dem Himmelsstier den Todesstoß zu versetzen. Die sumerische Fassung, die leider nur unvollständig erhalten ist, verläuft etwas anders:83 Auf die hymnische Einleitung des Sängers folgt ein Gespräch zwischen Gilgamesch und seiner Mutter Ninsun, in dem sie ihn an seine (königlichen) Aufgaben erinnert. Die Göttin Inana, die sumerische Erscheinung der Ischtar, dagegen versucht, Gilgamesch für sich zu gewinnen und damit von seinen königlichen Pflichten abzuhalten. Nach einer Lücke im Text berichtet Gilgamesch seiner Mutter von Inanas Avancen. Sie warnt ihn vor der Göttin, da er bei ihr seine Kraft verlieren werde. Gilgamesch weist daraufhin die Göttin mit dem Hinweis ab, er werde sich allein um seine Angelegenheiten und die des Landes kümmern. Inanas bekommt einen Tobsuchtsanfall, der ihren zunächst ablehnenden Vater, den Himmelsgott An, dazu bringt, ihr doch den Himmelsstier zu überlassen. Die Zerstörungen in Uruk durch den Himmelsstier sind so gravierend, daß Gilgamesch und Enkidu gegen ihn losziehen. Inana schaut entsetzt zu, wie Gilgamesch und Enkidu den Stier töten und dann sein Fleisch und seine Haut in der Stadt verteilen. Die Hörner aber weiht er der Göttin in ihrem Tempel. Gilgamesch verweigert sich hier nicht nur der Göttin, sondern lehnt sich auch gegen die vorgegebene Ordnung auf, so daß diese Episode zur zusätzlichen Charakterisierung Gilgameschs dient. Inana 83 Text: Cavigneaux/al-Rawi, RA 87, 1993, 97–129; für weitere Übersetzungen s. Douglas R. Frayne, in: Foster, Gilgameš 120–127 und George, Gilgamesh Epic 166–175. Zusammenfassung in Sallaberger, Gilgamesch 63f.
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trägt hier das Epitheton „Ninegal“, das im Zusammenhang mit der sogenannten Heiligen Hochzeit, einer Verbindung des Königs mit der Stadtgöttin, verwendet wird, in der dem König Kraft und Legitimation verliehen wird.84 Für diese ungewöhnliche Episode,85 die ganz offensichtlich kein ursprünglicher Bestandteil des Epos war, gibt es mehrere Deutungsversuche,86 deren Diskussion hier zu weit führen würde. Stattdessen sei eine Interpretation vorgestellt, die das Verhältnis von Gilgamesch und Ischtar auf die Herrschaftsstrukturen der Urukzeit, also der Ausgangszeit des Gilgamesch-Epos, zurückführt. W. Heimpel hat in einem leider wenig rezipierten Aufsatz von 198287 herausgearbeitet, daß in Uruk, im Unterschied zu den übrigen sumerischen Städten, ursprünglich ein Herrschaftskonzept bestand, das er als „Herrentum“ bezeichnete. Dies bedeutete, daß der Herrscher in Uruk George, Gilgamesh Epic 167. Vgl. Abusch, JAOS 121, 2001, 621. Abusch, History of Religions 26, 1986, 147f., “The entire episode is curious. Gilgamesh‘s refusal to wed Ishtar is strange.” Abusch, Epic of Gilgamesh, 371 und JAOS 121, 2001, 621f. nimmt an, mit Ischtar sei die Herrschaft über die Unterwelt verbunden, die Gilgamesch – natürlich – ablehne, weil er ja auf keinen Fall in die Unterwelt möchte. Allerdings stellt und beantwortet Abusch die Frage nicht, wie Ischtar überhaupt in der Lage ist, die Herrschaft über die Unterwelt anzubieten. Sie selbst jedenfalls ist mit ihrem Versuch, diese zu erringen gescheitert, wie die Mythen „Ischtars/Inanas Gang in die Unterwelt“ deutlich zeigen (Hartmut Waetzoldt, Inannas Gang in die Unterwelt, in: Volk, Erzählungen 375–398 und Annette Zgoll, Einladung an die Toten zum Festmahl: Ischtars Abstieg in die Welt der Toten und Dumuzis Rückkehr in die Welt der Lebenden, in: Franke, Götter 63–72. – In „Gilgamesh, Enkidu und die Unterwelt“ erwirbt sich Gilgamesch immerhin den Respekt Inanas, indem er die Dämonen aus ihrem Baum vertreibt. Nach seinem Tod wird Gilgamesch zum Herrscher und Richter der Unterwelt, s. die Belege in Abusch, History of Religions 26, 1986, 143–187:150f. 86 Vgl. u. a. Abusch, History of Religions 26, 1986, 143–187 und Gebhard J. Selz, Rez. zu Foster, Gilgameš, in: WZKM 91, 2001, 422–433:430–432. 87 Wolfgang Heimpel, Herrentum und Königtum im vor- und frühgeschichtlichen Alten Orient, ZA 82, 1992, 4–21. 84 85
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ursprünglich der EN war, der als oberster Priester dem Tempel und damit der Gottheit verantwortlich war. Seine Legitimation habe er aus einer Verbindung mit der Stadtgöttin Inana bezogen, die ihn erwählen, aber auch zurückweisen konnte. Der EN übernahm Aufgaben, die dem Schutz und der Verwaltung der Stadt dienten: Kriegsführung, Löwenjagd, die Versorgung und Sicherung der Unterstützung der Göttin Inana. Der EN war ein Beamter des Tempels, der für Verteilungsgerechtigkeit sowie gemeinsame Opfer und Feste zu sorgen und die Stadt in allen Belangen zu repräsentieren hatte. In den anderen sumerischen Städten dagegen regierte ein LUGAL, ein „großer Mann“, was heute mit „König“ übersetzt wird. Dieser LUGAL war in weit höherem Maße von den Göttern unabhängig – und wurde es im Laufe der altorientalischen Geschichte immer mehr. Als Herrscher aus eigener Kraft88 war er nicht mehr auf die Bestätigung durch die Göttin angewiesen und konnte daher sein Amt auch vererben. Der Sumerischen Königsliste kann man entnehmen, daß Gilgamesch der erste Herrscher in Uruk ist, auf den sein Sohn als Regent in der Stadt folgte.89 W. Heimpel versteht daher die Auseinandersetzung Gilgameschs mit Inana als Legitimations- und Machtkonflikt: Ein Heiratsantrag der Göttin (war) die Einsetzung in das Amt des Herren von Uruk. Mit der Annahme wäre Gilgamesch Gatte und Herr geworden und hätte sich dem Gesetz gebeugt, irgendwann in der Zukunft von Ischtar verstoßen zu werden und damit seine Herrschaft zu verlieren. Mit seiner Ablehnung behauptete er die Herrschaft als sein Eigentum. ... Das war ein Akt der Hybris, den die Göttin mit dem Versuch, ihn zu töten, beantwortete.90
Dem Bearbeiter der altbabylonischen Fassung war dieses Herrschaftskonzept nicht mehr bekannt, da es mit Gilgamesch endete. Daher mußte er Gilgameschs Zu88 89 90
Vgl. ähnlich Sallaberger, Gilgamesch 55. Jacobsen, The Sumerian Kinglist 91. Heimpel, ZA 82, 1992, 17.
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rückweisung der Göttin anders begründen. Er versuchte deshalb mit eher einfachen Argumenten wie der Angst Gilgameschs, von der Göttin wie andere Männer behandelt zu werden, die Ablehnung Gilgameschs einigermaßen schlüssig zu erklären. Zu diesem Zweck griff er auf die altorientalische Mythologie und diejenigen Geschichten zurück, die er zweifellos während seiner Ausbildung gelernt hatte und integrierte diese Episode auf diese Weise in das Epos. Erkennbar ist dies sehr schön daran, daß sich gerade dieser Abschnitt stilistisch und inhaltlich von dem restlichen Text unterscheidet: – Die Beschimpfungen Gilgameschs an Ischtar (Tf. VI, 23–79) sind eine assoziative Anreihung von Beleidigungen, die wahrscheinlich aus ehemals eigenständigen Erzählungen stammen, genauso wie die diesen Teil abschließende Episode von Ischtar und Išullanu, die A.R. George für eine ursprünglich unabhängige Erzählung hält.91 Ihre Motive stammen z.T. aus der Geschichte von „Inana und Šukalletuda“.92 – Die Stilebene dieses Abschnitts unterscheidet sich vom restlichen Text:93 die Flüche und Invektiven Gilgameschs gegenüber Ischtar könnten einer Burleske entstammen.94 Ischtar verhält sich wie ein kleines unerzogenes Kind, aber keineswegs wie eine Göttin, als sie die Abfuhr von Gilgamesch erhält: sie hat einen Tobsuchtsanfall, sie schreit und weint und läuft um Hilfe bittend zu ihrem Papa, dem Himmelsgott Anu. Auch die Reaktion Gilgameschs entspricht dem kindischen VerGeorge, in Azize/Weeks, Gilgameš and the World of Assyria 52. Seine Interpretation als “comic interlude” allerdings läßt die Frage unbeantwortet, warum gerade an dieser Stelle ein solches Zwischenspiel eingefügt wurde. 92 Volk, Inanna und Šukaletuda. In dieser Erzählung allerdings vergewaltigt der Gärtner Šukaletuda die unter einem Baum ruhende Inana und wird dafür bestraft. Er hat sich also, anders als Gilgamesch, eines Vergehens schuldig gemacht. Vgl. Konrad Volk, RlA 13, 2011–2013, 266f., s.v. Šukaletuda. 93 Vgl. Foster, Gilgamesh p. xx. 94 George, in Azize/Weeks, Gilgameš and the World of Assyria 52. 91
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halten der Göttin, wenn er einen Schenkel des Himmelsstiers nach ihr schleudert. – Es lassen sich Textparallelen zu anderen altorientalischen literarischen Texten feststellen, z. B. findet sich die Drohung Ischtars, sie werde die Toten aus der Unterwelt holen, damit sie die Lebenden fressen, wörtlich auch in dem Mythos „Ischtars Gang in die Unterwelt“.95 Inana/Ischtar ist zwar immer noch die mächtige Stadtgöttin Uruks, ihr politischer Einfluß aber ging gegen Ende des 3. Jahrtausends verloren. Daher dürfte es für den Hörer/Leser nicht ersichtlich gewesen sein, warum eine Heirat mit dieser Göttin so erstrebenswert gewesen sein sollte. Auch das Konzept der ehelichen Beziehung zwischen Herrscher und Gottheit spielt zur Legitimation des Königs keine Rolle mehr, da Herrscher nach Gilgamesch ihren Herrschaftsanspruch entweder dynastisch oder durch Eroberung erwarben. Nun läßt sich eine direkte Traditionslinie von der Urukzeit in die altbabylonische Zeit zwar kaum herstellen, aber möglicherweise bestand in der kollektiven Erinnerung eine Vorstellung davon, daß die Herrschaft Gilgameschs anders war als die der übrigen mesopotamischen Könige. Dies könnte auch ein Grund sein für das Entstehen des Gilgamesch-Epos mit einer Hauptfigur, die in der kollektiven Erinnerung, ähnlich wie die Könige von Akkade,96 herausragende Leistungen vollbracht hat und auf die die unterschiedlichsten Leistungen und Probleme projiziert werden.97
Vgl. die bei Sallaberger, Gilgamesch 107–109 angeführten Beispiele. Die Frage, wer wen zitiert, ist i.d.R. nicht zu beantworten, da altorientalische Literatur nicht datiert ist. 96 Joan G. Westenholz, Legends of the Kings of Akkade, MesCiv 7, Winona Lake 1997 und Haul, Stele und Legende; vgl. Sallaberger, Gilgamesch 48f. 97 Sallaberger, Gilgamesch 56 und Michalowski, Commemoration, 69–90. 95
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Zusammenfassung
Vier Hauptphasen des Gilgamesch-Epos lassen sich feststellen: 1. Die sumerischen Erzählungen enthalten die gemeinsamen Abenteuer des Gilgamesch mit seinem Diener Enkidu im Zedernwald, wo sie mit dem Wächter des Zedernwaldes, dem Dämon Huwawa, kämpfen und ihn töten, die Auseinandersetzung mit Ischtar und dem Himmelsstier. Die Rolle und Aufgabe Gilgameschs als König wird nicht weiter thematisiert. Bei diesen Texten dürfte es sich um höfische Literatur handeln, die der Unterhaltung und Identitätsstiftung einer kleineren Gruppe um den König und seine Getreuen dient und möglicherweise auch vor Besuchern am Königshof aufgeführt wird. 2. Die altbabylonischen Texte Der Inhalt der Erzählungen war wohl einem breiteren Publikum bekannt, wie die in Wohnhäusern gefundenen Terrakottaplatten zeigen, die durch die Erinnerung und Anrufung des Helden Gilgamesch Schutz boten. Die Abenteuer des Königs und seines Freundes werden nun eingebettet in die Frage nach dem Sinn des Lebens, wie die nur hier vorhandene Episode mit den Ratschlägen der Schenkin Siduri zeigt. Das Gilgamesch-Epos hatte in dieser Zeit überdies eine wichtige Funktion als Schultext und vermittelte die Keilschriftkultur in den gesamten Vorderen Orient. 3. Die SB-Fassung In der Fassung des 1. Jahrtausends fehlen die Lebensfreude und Orientierung auf das diesseitige Leben, wie sie in der altbabylonischen Fassung zu finden waren. Stattdessen wurde das Gilgamesch-Epos als Grundlage
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für intellektuelle Diskussionen eingesetzt.98 Ziel war es außerdem, zumindest im Umfeld des Palastes, ein Rollenvorbild für den König zu schaffen. Ob das Gilgamesch-Epos als Erzählung in dieser Zeit außerhalb des Kreises der Schriftkundigen bekannt war, muß fraglich bleiben. 4. Nabû-zuqup-kēnu, der gelehrte Priester in Kalhu, fügt dem in sich abgeschlossenen Epos eine 12. Tafel an, in der er – für sich? – das Schicksal seines im Kampf gefallenen Königs Sargon zu erklären versucht. 5. Im Gilgamesch-Epos läßt sich erkennen, wie Themen und Motive entsprechend den sich verändernden gesellschaftlichen Gegebenheiten eingesetzt werden. Ausschließlich heroische Erzählungen, wie das sumerische Epos „Gilgamesch und Akka“, werden kein Bestandteil der altbabylonischen Fassung. Die Ratschläge der Schenkin Siduri, die die Vorstellungen eines guten Lebens in der altbabylonischen Zeit widerspiegeln, werden in die SB-Fassung nicht aufgenommen, da sich der thematische Schwerpunkt auf die Frage nach dem Weiterleben und dem Ende des Menschen verlagert hat. Die Episode, in der Gilgamesch den Heiratsantrag von Ischtar zurückweist, ist inhaltlich und stilistisch ein Fremdkörper im Epos und wird assoziativ in den Text integriert. Sie geht zurück auf die Herrschaftsstrukturen der Urukzeit: Gilgamesch verweigert die Legitimation durch Inana, da er davon überzeugt ist, aus eigener Kraft Herrscher sein zu können und beweist damit erneut seine Auflehnung gegen die göttliche Ordnung.
98 Wie dies geschehen konnte, läßt sich anhand der Geschichte von „Erra und Ischum“ zeigen, vgl. Sabina Franke, Der Zorn Marduks, Erras und Sanheribs. Zu Datierung und Funktion von „Erra und Išum“, in: H. Neumann, ed., Krieg und Frieden im Alten Vorderasien. 52e Rencontre Assyriologique Internationale Münster 17.–21. Juli 2006, AOAT 401, Münster 2014, 315–328.
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Sabina Franke
6. Das Gilgamesch-Epos war zu allen Zeiten ein wichtiger Teil der Gelehrtenkultur, mit dessen Hilfe man aktuelle philosophische oder politische Fragen behandeln konnte und dies auch tat.
Konrad Schmid
Von Jakob zu Israel Das antike Israel auf dem Weg zum Judentum im Spiegel der Fortschreibungsgeschichte der Jakobüberlieferungen der Genesis
Mit dem Thema „Identität und Schrift“1 bewegt man sich auf der Ebene von Sekundär- oder Tertiärverwendungen von Schrift in antiken Kulturen: Schrift diente wohl zunächst vor allem administrativen und wirtschaftlichen Belangen, konnte dann aber in der Tat auch zur Etablierung und Sicherung eines historischen Gedächtnisses antiker Ethnien und politischer Gemeinwesen eingesetzt werden oder doch zumindest dazu dienen. In Bezug auf das antike Israel stehen wir in kulturgeschichtlicher Hinsicht vor einem gewissen Sonderfall im Blick auf die Thematik „Identität und Schrift“, da jene uns erhalten gebliebenen textlichen Materialien, die sich um die Identität des antiken Israel drehen, in der Regel Produkte agglutinierender Fortschreibung bestehender Texte sind. Das heißt, hinter der Fortschreibungsgeschichte der Hebräischen Bibel lassen sich – mitunter und mit der gebotenen Vorsicht – die sich wandelnden Selbst- (oder auch Fremd-)Verständnisse des antiken Israel rekonstruieren. 1
Vgl. dazu z. B. Thomas Römer, La naissance du Pentateuque et la construction d’une identité en débat, in: J. Briend/O. Artus, eds., L’identité dans l’Écriture. Hommage au professeur Jacques Briend, LeDiv 228, Paris 2009, 21–43; L. Jonker, ed., Historiography and Identity. (Re)Formulation in Second Temple Historiographical Literature, LHB. OTS 534, New York u. a. 2010; Marianne Grohmann, Diskontinuität und Kontinuität in alttestamentlichen Identitätskonzepten, in: M. Öhler, ed., Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike, BThSt 142, NeukirchenVluyn 2013, 17–42.
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Konrad Schmid
Nun ist allerdings das Verfahren der Vorstufenrekonstruktion an biblischen Texten hinsichtlich der Prämissen und Methodologie umstritten und im Ergebnis tatsächlich oft sehr disparat.2 Am Fakt des Gewachsenseins der alttestamentlichen Literatur als solchem ist aber nicht zu zweifeln. Darauf führt einerseits der Textbefund in den alten Übersetzungen der alttestamentlichen Bücher, der empirische Evidenzen für die letzten Phasen dieses Vorgangs bietet,3 andererseits aber auch die kulturgeschichtlichen Analogien, die zeigen, dass die antike Literatur des Vorderen Orients im Wesentlichen Traditionsliteratur und nicht Autorenliteratur ist.4 Für den Fall der Jakobüberlieferungen der Genesis können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass dieser Literaturblock aufgrund einer differenzierten Fortschreibungstätigkeit zu seiner jetzigen Gestalt – bzw. mit Blick auf die Versionen: zu seinen jetzigen Gestalten – gefunden hat. Das lässt sich exemplarisch an Gen 28,19 erläutern. ַויַשְׁכֵּ֙ם יַע ֲֹ֜קב ב ַֹּ֗בקֶר ַוי ַ ִַּּ֤קח ֶאת־ ָה ֵֶּ֙א ֶב ֵּ֙ן
2
18
Am andern Morgen früh nahm Jakob den Stein,
Vgl. z. B. W. Dietrich u. a., eds., Die Entstehung des Alten Testaments, ThW 1, Stuttgart 2014. 3 Vgl. z. B. Armin Lange, The Dead Sea Scrolls and the Date of the Final Stage of the Pentateuch, in: J. Aitken, ed., On Stone and Scroll. Essays in Honour of Graham Ivor Davies, BZAW 420, Berlin u. a. 2011, 287–304; ders., Textpluralität und Textqualität im ägyptischen Judentum, in: T. S. Caulley/H. Lichtenberger, eds., Die Septuaginta und das frühe Christentum – The Septuagint and Christian Origins, WUNT 277, Tübingen 2011, 47–65; Emanuel Tov, Textual Harmonization in the Stories of the Patriarchs, in: D. Dimant/R. G. Kratz, eds., Rewriting and Interpreting the Hebrew Bible. The Biblical Patriarchs in the Light of the Dead Sea Scrolls, BZAW 439, Berlin u. a. 2013, 19–50. 4 Vgl. Bernard M. Levinson, Legal Revision and Religious Renewal in Ancient Israel, Cambridge 2008; Konrad Schmid, Schriftgelehrte Traditionsliteratur. Fallstudien zur innerbiblischen Schriftauslegung im Alten Testament, FAT 77, Tübingen 2011; Jan C. Gertz, Schriftauslegung in alttestamentlicher Perspektive, in: F. Nüssel, ed., Schriftauslegung. Themen der Theologie 8, Tübingen 2014, 9–41.
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Von Jakob zu Israel
ֶר־שם מ ַ ְַֽׁר ֲאשתָָ֔ יו ָׂ֣ ָ ֲאש ַו ָיָּ֥שֶם א ָ ָ֖תּה מַצ ָ ָ֑בה אשַּֽה׃ ָ ַוי ִָּּ֥צק ֶ ָ֖שמֶן עַל־ר ַויִּק ָ ְָׁ֛רא ֶאת־שַֽם־ ַהמ ָָּ֥קֹום ה ַָ֖הּוא ַֽית־אל ָ֑ ב וְׁאּולָ ָ֛ם לָּ֥ ּוז שם־ה ִּ ָָ֖עיר ל ִָּראשנָ ַֽה׃
den er unter seinen Kopf gelegt hatte, richtete ihn als Mazzebe auf und goss Öl darauf. 19 Und er nannte jenen Ort Bet-El; früher aber hieß die Stadt Lus.
In Gen 28,10–22 träumt Jakob an einem offenkundig unbewohnten Ort davon, dass Gott ihm erscheint, und in V. 19 wird nun von diesem Ort gesagt, dass diese Stadt früher Lus hieß, obwohl von einer Stadt bislang nicht die Rede war. Man hat es hier wohl mit einer an historischer Geographie interessierten Glosse zu tun, die damit zusammenhängt, dass Bet-El im antiken Israel zunächst ein Heiligtum und später dann eine Stadt bezeichnen kann, wobei beide zwar nahe beieinanderliegen, aber doch geographisch getrennt sind. Das Heiligtum in Bet-El wurde im 8., spätestens 7. Jahrhundert v. Chr. aufgehoben.5 Offenbar ging der Name dieser prominenten Stätte auf die benachbarte Stadt über, die fortan dann ebenfalls Bet-El hieß; zuvor scheint sie, wie der Grenzbeschreibung in Jos 16,1–2 zu entnehmen ist, Lus geheißen zu haben. In dieser Liste bezeichnet Bet-El vermutlich noch das von der Stadt getrennte Heiligtum: ַּגֹורל ִּלבְׁנַּ֤י יֹוס ֵּ֙ף ָֹ֜ וַיצֵּ֙א ה יחֹו ָ֔ ִּמי ְַׁר ָׂ֣דן י ְִּׁר יחֹו ִּמז ָ ְָׁ֑רחָה ָ֖ לְׁמָּ֥י י ְִּׁר יחֹו ִּ ַהמִּדְׁ ָֹּ֗בר ע ֶלֶ֧ה מ ָ֛ ִּיר ב ָ ָָ֖הר בַֽית־אַֽל׃ ַֽית־אל ָ֑לּוזָה ָ֖ ְׁוי ָצָ ָּ֥א מִּב ַָאר ִּכָ֖י ְׁ ְׁוע ַָבָ֛ר אֶל־ּגְׁבָּ֥ ּול ה ֲעט ַָֽרֹות׃
1
Und so fiel das Los für die Nachkommen Josephs: Vom Jordan bei Jericho, östlich vom Wasser Jerichos, in der Wüste, geht es hinauf, von Jericho auf das Gebirge nach Bet-El. 2 Und von Bet-El geht es weiter nach Lus und zieht sich hinüber zum Gebiet der Arkiter nach Atarot.
Man kann also zwei Phasen in der Geschichte des Toponyms Bet-El unterscheiden: In der ersten Phase bezeich5
Vgl. Israel Finkelstein/Lily Singer-Avitz, Reevaluating Bethel, ZDPV 125, 2009, 33–48.
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net Bet-El das Heiligtum und Lus die benachbarte Stadt, in der zweiten Phase, nachdem das Heiligtum untergegangen ist, bezeichnet Bet-El nur noch die Stadt, die zuvor Lus geheißen hat.6 Das ist nur eines von vielen möglichen Beispielen. Wenn auch somit das Vorhandensein von Textstufung in Gen 25–35 außer Frage steht und kaum mehr bestritten wird,7 so wird im Folgenden auf kleinteilige Rekonstruktionen verzichtet werden. Dies allerdings weniger aus dem Grund, weil diese methodologisch ohnehin fragwürdig wären – das muss von Fall zu Fall entschieden werden –, sondern vielmehr deshalb, weil für unsere Belange grundsätzliche Beobachtungen konzeptioneller Natur wichtiger sind, die auf elementare Wachstumsstufen in der Überlieferung hindeuten. Doch bevor mit diesen elementaren Differenzierungen bezüglich wechselnder politischer Hintergründe eingesetzt werden soll, sind zunächst einige grundlegende Bemerkungen zur Forschungsgeschichte der Jakoberzählungen und ihren möglichen historischen Kontexten nötig. Denn hier haben sich die Parameter in den letzten hundertfünfzig Jahren mehrfach verschoben – bedingt durch unterschiedliche Auffassungen zur Literaturgeschichte des Pentateuch, aber auch durch neue historische und religionsgeschichtliche Erkenntnisse zum antiken Israel und Juda.8 6
So die klassische Hypothese von Martin Noth, Bethel und Ai, Palästina-Jahrbuch 31, 1935, 7–29: 13–14 = ders., Aufsätze zur biblischen Landes- und Altertumskunde, 2 Bände, Neukirchen-Vluyn 1971, 215–216; dagegen aber Detlef Jericke, Bet-El und Lus. Lokalisierung und theologische Konnotation der Toponyme, WO 38, 2008, 176–193; ders., Die Ortsangaben im Buch Genesis. Ein historisch-topograpischer und literarisch-topographischer Kommentar, FRLANT 248, Göttingen 2013. 7 Vgl. z. B. Israel Finkelstein/Thomas Römer, Comments on the Historical Background of the Jacob Narrative in Genesis, ZAW 126, 2014, 317–338, siehe aber Nadav Na’aman, The Jacob Story and the Formation of Biblical Israel, Tel Aviv 41, 2014, 95–125. 8 Vgl. im Überblick Konrad Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 20142; Michael Tilly/Wolfgang
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I. Forschungsgeschichtliche Bemerkungen zu den Erzelternerzählungen der Genesis Wie bei so vielen Bereichen der alttestamentlichen Wissenschaft, so gilt auch für die Erzelternerzählungen der Genesis, dass der Diskussionsstand grundlegend von Julius Wellhausen geprägt ist.9 Er schrieb in seinen Prolegomena zur Geschichte Israels: Freilich über die Patriarchen ist hier kein historisches Wissen zu gewinnen, sondern nur über die Zeit, in welcher die Erzählungen über sie im israelitischen Volke entstanden; diese spätere Zeit wird hier […] absichtslos ins graue Altertum projiciert und spiegelt sich darin wie ein verklärtes Luftbild ab.10
Wellhausen machte so Ernst mit der Unterscheidung zwischen erzählter Welt und Welt der Erzähler, die im Fall der Bibel, namentlich im Bereich der narrativen Bücher, von entscheidender Bedeutung ist. Wellhausen hielt die Erzelternerzählungen – entsprechend den Grundannahmen der Neueren Urkundenhypothese – für im Wesentlichen königszeitlich. Erstaunlich ist allerdings das Adverb „absichtslos“, das Wellhausen verwendet im Rahmen der angenommenen Projektion in das „graue Altertum“. Was immer auch Wellhausen damit verband, aus heutiger Sicht ist festzuhalten, dass sich die Szenerie der Erzelternerzählung in der Vorzeit ihrer funktional mythischen Begründungsfunktion der Identität Israels als Zwölfstämmevolk verdankt – und nicht einer wie auch immer gearteten Absichtslosigkeit. Zwickel, Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums, Darmstadt 2011. 9 Vgl. für die ältere Forschungsgeschichte Hans Weidmann, Die Patriarchen und ihre Religion im Lichte der Forschung seit Julius Wellhausen, FRLANT 94, Göttingen 1968; neuerdings z. B. Albert de Pury, Die Erzelternerzählungen, in: T. Römer u. a., eds., Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der Hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, Zürich 2013, 196–216. 10 Berlin 1883, 336.
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Allerdings ist Wellhausens Einschätzung der Erzelternerzählungen nicht bestimmend geblieben für die spätere Forschung, die sich vielmehr grundlegend von Hermann Gunkel beeinflussen ließ:11 Die Sagen waren, als sie aufgeschrieben wurden, bereits uralt und hatten bereits eine lange Vorgeschichte hinter sich. So liegt es in der Natur der Sache: Der Ursprung der Sage entzieht sich stets dem forschenden Blick und geht in vorgeschichtliche Zeit zurück.12
Gunkel war vor allem am Volksgeist des antiken Israel interessiert. Um in die verschiedenen Stadien der Frühzeit der mündlichen Überlieferung des antiken Israel Einblick nehmen zu können, bediente er sich in erster Linie der formgeschichtlichen Methode, die er maßgeblich mitgeprägt und weiterentwickelt hatte. Mit Gunkel wurden die Erzelternerzählungen auf form- und überlieferungsgeschichtlichem Weg – zumindest, was ihre mutmaßlich mündliche Überlieferungsgestalt angeht – um Jahrhunderte älter gegenüber Wellhausens Datierung. Allerdings machte Gunkel einen deutlichen Unterschied zwischen den mündlichen Vorstufen und den schriftlichen Fassungen der Erzählungen; letztere wies er den klassischen Quellenschriften des Pentateuchs zu. Es ist deshalb keine angemessene Rezeption Gunkels, wenn er namentlich im Bereich der nordamerikanischen Bibelwissenschaft als Gewährsmann einer extremen Frühdatierung der Erzelternüberlieferungen herangezogen wurde. Besonders oft wird etwa die Position von William Foxwell Albright zitiert, der zu den Erzvätern festhielt: [A]s a whole, the picture in Genesis is historical, and there is no reason to doubt the general accuracy of the biographical details.13 11
Vgl. zu ihm Konrad Hammann, Hermann Gunkel. Eine Biographie, Tübingen 2014. 12 Hermann Gunkel, Genesis, HKAT I/1, Göttingen 19646 (= 19103), xl. 13 William F. Albright, The Biblical Period from Abraham to Ezra, New York 1963, 5.
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Es ist unmittelbar offenkundig, dass Albright sich damit – vorsichtig ausgedrückt – sehr weit von Wellhausen entfernt hatte. Erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ergab sich mit den Büchern von Thomas Thompson und John Van Seters eine neue Diskussionsgrundlage: sie lenkten den Blick zu Wellhausen zurück und konnten anhand verschiedener historischer Elemente, die in Gen 12–36 vorausgesetzt werden, zeigen, dass das erzählerische Setting der Erzelternerzählungen von ihrem Autorenmilieu deutlich zu unterscheiden ist.14 Es ist nicht nötig, die relevanten Argumente hier in Gänze zu wiederholen; zu verweisen ist nur auf die Kamele als Transporttiere in der Levante,15 die Stadt Gerar sowie die Philister16 überhaupt, die alle nicht in das 2. Jahrtausend, sondern in das 1. Jahrtausend v. Chr. gehören. Doch auch die Umwälzungen in der Pentateuchforschung seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben die Perspektiven auf die Erzelternerzählungen entscheidend verändert. Die Infragestellung der traditionellen Urkundenhypothese durch John Van Seters, Hans Heinrich Schmid und Rolf Rendtorff17 wird zwar oft als „Krise der Pentateuchforschung“18 bezeichnet, doch tatsächlich handelte es sich dabei vielmehr um eine 14
Thomas L. Thompson, The Historicity of the Patriarchal Narratives. The Quest for the Historical Abraham, BZAW 133, Berlin u. a. 1974; John Van Seters, Abraham in History and Tradition, New Haven u. a. 1975. 15 Vgl. Robert Walz, Neuere Untersuchungen zur Domestifikation der altweltlichen Cameliden, ZDMG 104, 1954, 45–87; Volkmar Fritz, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. Biblische Enzyklopädie 2, Stuttgart 1996, 114. 16 Carl S. Ehrlich, The Philistines in Transition. A History from ca. 1000–730 B. C. E., SHCANE 10, Leiden 1996. 17 John Van Seters, Abraham in History and Tradition, New Haven u. a. 1975; Hans H. Schmid, Der sogenannte Jahwist. Beobachtungen und Fragen zur Pentateuchforschung, Zürich 1976; Rolf Rendtorff, Das überlieferungsgeschichtliche Problem des Pentateuch, BZAW 147, Berlin u. a. 1977. 18 Vgl. die Diskussion bei Erhard Blum, Studien zur Komposition des Pentateuch, BZAW 189, Berlin u. a. 1990, 1.
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Chance, die sich aus dem Umstand ergibt, dass sich gewisse herkömmliche Überzeugungen als nicht mehr tragend herausgestellt haben. Das wohl wichtigste Resultat dieser Zäsur in der Forschungsgeschichte des Pentateuch besteht darin, dass man Abstand nimmt von der Überzeugung, die im Pentateuch durchlaufenden Erzählfäden würden bereits an den Anfang der Überlieferungsbildung gehören. Namentlich was die Annahme eines Jahwisten oder Elohisten betrifft, so ist man – zumindest in der europäischen Forschung – überzeugt, dass diese übergreifenden Erzählwerke nicht mehr unhinterfragt als Ausgangspunkte weiterer Forschungen dienen können. Vielmehr scheint der Pentateuch, wie etwa die Psalmen oder das Jesajabuch, seine übergreifenden Aussagelinien erst gegen Ende seiner Literaturgeschichte erhalten zu haben.19 Für die Jakoberzählungen hat vor allem Erhard Blum in seiner Arbeit von 1984 zeigen können,20 dass sie keineswegs vom Anfang ihrer schriftlichen Fixierung an bereits in größere Erzählzusammenhänge, die über den Jakobkreis hinausgereicht hätten, eingestellt gewesen sind. Vielmehr beruhen die Jakoberzählungen auf ursprünglich selbständigen Erzählungen, die erst nach und nach zu einem Jakobzyklus zusammengestellt worden und in weiteren Schritten mit anderen Materialien zu einer umfassenden Erzelternerzählung angewachsen sind; schließlich sind sie in den Pentateuch eingebunden worden, 19
Vgl. zur neueren Diskussion z. B. Jean-Louis Ska, Introduction to Reading the Pentateuch, Winona Lake 2006; T. B. Dozeman u. a., eds., The Pentateuch. International Perspectives on Current Research, FAT 78, Tübingen 2011; Thomas Römer, Zwischen Urkunden, Fragmenten und Ergänzungen. Zum Stand der Pentateuchforschung, ZAW 125, 2013, 2–24; ders., Der Pentateuch, in: W. Dietrich u. a., eds., Die Entstehung des Alten Testaments, ThW 1, Stuttgart 2014, 53–166; Konrad Schmid, Der Pentateuch und seine Theologiegeschichte, ZThK 111, 2014, 239–271. 20 Erhard Blum, Die Komposition der Vätergeschichte, WMANT 57, Neukirchen-Vluyn 1984; vgl. ders., The Jacob Tradition, in: C. A. Evans u. a., eds., The Book of Genesis. Composition, Reception, and Interpretation, VT.S 152, Leiden 2012, 181–211.
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worauf noch weitere Fortschreibungen sich angeschlossen haben. Dass unter den Erzelternüberlieferungen insbesondere der Jakobzyklus einmal eine literarische Größe für sich gewesen ist, lässt sich an seiner konzentrischen Struktur ablesen, die Michael Fishbane bereits 1975 beschrieben hatte21 und eine gewisse literarische Fügung erkennen lässt, die zwar wohl vormals selbständige Erzählungen miteinschließt, aber doch eine Einheit für sich schafft: Gen 25 Gen 26 Gen 27 Gen 28 Gen 29–30 Gen 31 Gen 32 Gen 33 Gen 34 Gen 35
Linsengericht, Erstgeburt Isaak Erlistung des Segens, Flucht Jakobs Traum in Bet-El Jakob bei Laban, elf Söhne Trennung von Laban Rückkehr Jakobs, Gotteskampf Aussöhnung zwischen Jakob und Esau Schändung der Dina Bet-El, Tod Rahels, Geburt Benjamins
Dieser Jakobzyklus ist nun im Folgenden auf seine innerbiblische Auslegungsgeschichte hin zu untersuchen und die damit verbundenen Veränderungen seiner politischen Funktionen. II. Der Jakobzyklus als Ursprungslegende für Israel Bezüglich der Frage nach den politisch identitätsstiftenden oder -abbildenden Funktionen des Jakobzyklus ist zunächst hervorzuheben, dass die Erkenntnis seiner literarischen Eigenständigkeit nur eine unter den wichtigsten Veränderungen in der Forschungsgeschichte zum Jakobzyklus darstellt. Ebenso bedeutend ist die vor allem 21
Michael Fishbane, Composition and Structure in the Jacob Cycle (Gen 25:19–35:22), JJS 26, 1975, 15–38. Die nicht zum Jakobzyklus gehörigen Kapitel Gen 26 und 34 sind in der nachstehenden Grafik grau unterlegt.
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von Albert de Pury und von Erhard Blum vorgetragene Erkenntnis, dass der Jakobzyklus eine Ursprungslegende für Israel ist – also als literarische Größe von vornherein politisch ausgerichtet ist.22 Für de Pury war vor allem Hos 12 ein wichtiger Ausgangspunkt für seine Argumentation, wo Jakob- und Moseüberlieferung einander gegenübergestellt zu werden scheinen,23 während Blum eher auf die in den Texten angelegte Identifizierung von Jakob mit Israel und Esau mit Edom hinwies. Hinter die jetzt vorliegende völkergeschichtliche Ausrichtung des Jakobzyklus für die Gleichsetzung von Jakob/Israel und Esau/Edom, in deren Gefolge auch Laban für Aram steht, kann literarkritisch nicht mehr gegangen werden, vor allem deshalb, weil sich die politischen Segenssprüche in Gen 27,29.39–40 nicht literarkritisch aus dem Kontext ausgrenzen lassen: 22
Albert de Pury, Le cycle de Jacob comme légende autonome des origines d’Israël, in: J. A. Emerton, ed., Congress Volume Leuven 1989, VT.S 43, Leiden 1991, 78–96 = ders., Die Patriarchen und die Priesterschrift – Les Patriarches et le document sacerdotal. Gesammelte Studien zu seinem 70. Geburtstag – Recueil d’articles, à l’occasion de son 70e anniversaire, AThANT 99, Zürich 2010, 93–108; ders., Situer le cycle de Jacob. Quelques réflexions, vingt-cinq ans plus tard, in: A. Wénin, ed., Studies in the Book of Genesis. Literature, Redaction and History, BEThL 155, Leuven 2001, 213–241 = ders., Patriarchen, 119–146; ders., The Jacob Story and the Beginning of the Formation of the Pentateuch, in: T. B. Dozeman/K. Schmid, eds., A Farewell to the Yahwist? The Composition of the Pentateuch in Recent European Interpretation, SBL.SS 34, Atlanta 2006, 51–72 = ders., Patriarchen 147–169. 23 Vgl. Albert de Pury, Erwägungen zu einem vorexilischen Stämmejahwismus. Hos 12 und die Auseinandersetzung um die Identität Israels und seines Gottes, in: W. Dietrich/M. Klopfenstein, eds., Ein Gott allein? JHWH-Verehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der israelitischen und altorientalischen Religionsgeschichte, OBO 139, Fribourg u. a. 1994, 413–439; Erhard Blum, Hosea 12 und die Pentateuchüberlieferungen, in: A. Hagedorn/H. Pfeiffer, eds., Die Erzväter in der biblischen Tradition. FS Matthias Köckert, BZAW 400, Berlin u. a. 2009, 291–321; mit später Datierung Roman Vielhauer, Das Werden des Buches Hosea. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, BZAW 349, Berlin u. a. 2007, 178–180.
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Gen 27,29: ַי ַֽ ַעב ְָׁׂ֣דּוָך ַע ִֹּּ֗מים שתַ חֲוַּ֤ ּו ְׁל ֵָּ֙ך ְׁל ֻא ִָּ֔מים ְׁ ַֽ ְׁו ִּי הֱוַּ֤ה גְׁבִּי ֵּ֙ר לְַׁא ֶָ֔חיָך שתַ חֲּוָּ֥ ּו לְָׁךָ֖ בְׁנָׂ֣י א ֶ ִָּ֑מָך ְׁ ִּ ְׁוי ָארּור ָ֔ א ְׁר ֶ ָׂ֣ריָך ַּֽו ְׁמב ֲָר ֶכָ֖יָך ב ַָֽרּוְך׃
Völker sollen dir dienen und Nationen sollen sich vor dir niederwerfen. Sei Herr über deine Brüder, und vor dir sollen sich niederwerfen die Söhne deiner Mutter Verflucht ist, wer dich verflucht, und gesegnet, wer dich segnet.
Gen 27,39–40: ָאביו ָ֖ ִּ ַו ַיָ֛עַן יִּצ ְָׁחָּ֥ק וַיָׂ֣אמֶר א ָלָ֑יו שמַנַּ֤י ָה ָא ֵֶּ֙ר ֵּ֙ץ ְׁ ה ִֵּּ֞נה ִּמ ש ֶָ֔בָך ָ י ִּ ְׁה ֶיָׂ֣ה מַֹֽו ּומ ִַּטָּ֥ל ַהש ַ ָָ֖מי ִּם מ ָעַֽל׃ ְׁועַל־ח ְַׁרבְָׁךָׂ֣ תִּ ַֽ ְׁח ֶָ֔יה ת־ָאחיָך תַ ע ֲָ֑בד ְׁו ֶא ָ֖ ִּ ְֵּׁ֙ו ָהי ָה ַכ ֲא ֶ ָׂ֣שר תָ ִָּ֔ריד ָארָך׃ ַֽ ֶ ּופ ַָר ְׁק ָ ָּ֥ת עֻלָ֖ ֹו מ ַעָּ֥ל ַצּו
Da antwortete sein Vater Isaak und sprach zu ihm [sc. Esau]: Sieh, fern vom Fett der Erde wird deine Wohnung sein und fern vom Tau des Himmels droben. Von deinem Schwert wirst du leben, und deinem Bruder sollst du dienen. Doch es wird geschehen: wenn du dich mühst, wirst du sein Joch von deinem Halse reißen.
Diese – politisch konnotierten – Segenssprüche Isaaks gegenüber seinen Söhnen Jakob und Esau stellen nachgerade die Klimax der Erzählung in Gen 27 dar, ohne sie bliebe sie ohne Pointe. Sie sind also fest in der Erzählung integriert und müssen ihrem literarischen Grundbestand zugerechnet werden. Hinzu kommt, dass der für den Fortgang der Erzählung wichtige Zug des Behaartseins (s‘r) Esaus (27,11) ebenfalls bereits auf die Geographie Edoms/Seïrs (s‘yr) anspielt. Gen 27,11: וַיָׂ֣אמֶר יַע ֲָ֔קב ֶל־רב ָ ְָׁ֖קה א ִָּ֑מֹו ִּ א ש ִָּ֔ער ָ ָׂ֣הן ע ָ ַּ֤שו ָא ִּח ֵּ֙י ִּ ָׂ֣איש וְָׁאנ ִּכָ֖י ִּאָּ֥יש חָלָ ַֽק׃
Jakob aber sprach zu seiner Mutter Rebekka: Sieh, mein Bruder Esau ist behaart, ich aber bin unbehaart.
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In Gen 25 zeigt sich ein ähnlicher Sachverhalt: Das Geburtsorakel an Rebekka Gen 25,23 ist ebenfalls politisch ausgerichtet, und auch in Gen 25,25 klingt – wie in 27,11 – wiederum mit dem „behaarten“ Esau die Topographie Edoms/Seïrs (s‘r) an. Gen 25,23: וַיֵּ֙אמֶר י ְׁה ֹ֜ ָוה ָֹּ֗לּה שְׁנַּ֤י גֹוי ִּםֵּ֙ ְׁב ִּבט ְָׁ֔נְך ּושְׁנָׂ֣י ְׁל ֻא ִָּ֔מים מִּמ ַ ָ֖עי ְִּך יִּפ ָָ֑רדּו ּולְׁאםֵּ֙ ִּמל ְָׁׂ֣אם ֶי ַֽ ֱא ָָ֔מץ ו ַ ְָׁ֖רב יַע ֲָּ֥בד צָעִּ ַֽיר׃ ַוי ִּ ְׁמל ְָּׁ֥אּו י ֶ ָָ֖מי ָה ל ֶָלָ֑דֶ ת תֹומם ְׁב ִּבטְׁנָ ַּֽה׃ ָ֖ ִּ ְׁוהִּנָּ֥ה וַיצַּ֤א ה ִָּראשֹו ֵּ֙ן ַאדְׁ מֹו ִָּ֔ני כֻלָ֖ ֹו ְׁכא ֶ ַָׂ֣ד ֶרת ש ָ ָ֑ער ַויִּק ְְׁׁר ָּ֥אּו ש ְָׁ֖מֹו ע ָשַֽו׃
Und Jhwh sprach zu ihr: Zwei Völker sind in deinem Leib, und zwei Nationen werden sich aus deinem Schoße scheiden. Eine Nation wird der andern überlegen sein, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen. Und es kam die Zeit, da sie gebären sollte, und sieh, da waren Zwillinge in ihrem Leib. Der Erste, der hervorkam, war rötlich, über und über mit Haaren bedeckt wie mit einem Fell, und man nannte ihn Esau.
Mit alledem ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass die Stoffe des Jakobzyklus eine noch nicht politisch ausgerichtete Vorgeschichte gekannt hätten, die eher auf den kulturgeschichtlichen Gegensatz Jäger – Viehzüchter hin ausgerichtet gewesen wäre,24 doch fehlen genügend sichere Anhaltspunkte, diese als literarische oder überlieferungsgeschichtliche Vorstufe zu rekonstruieren. Blum nahm mit der von ihm hervorgehobenen völkergeschichtlichen Deutung übrigens eine durchaus traditionelle Interpretationslinie zu den Erzelternerzählungen auf, die bereits bei Wellhausen im Vordergrund stand: Der Stoff ist hier [sc. in der Patriarchengeschichte] nicht mythisch, sondern national.25
24
Vgl. Reinhard G. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, UTB 2137, Göttingen 2000, 263–279; Eckart Otto, Art. Jakob I. Altes Testament, in: RGG4 4 (2001), 352–354. 25 Julius Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 1883, 336.
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Dass der Jakobzyklus in den Norden gehört, darüber geben die genannten Örtlichkeiten hinreichend Auskunft: Bet-El, Sichem, Pnuel, Machanajim, Sukkot und Gilead befinden sich im Gebiet des Nordreiches.26 Die durch die Überlieferung in Gen 28 und 32 prominent herausgestellten Orte Bet-El und Pnuel sind von besonderer politischer Bedeutung.27 Pnuel diente als Hauptstadt, Bet-El als Reichsheiligtum des Nordreichs. Da Bet-El als Anfangs- und Endpunkt der Wanderung Jakobs (28,*10–22; 35,6–7) erscheint, eine Abgabe an das Heiligtum (28,20– 22) begründet sowie als Heiligtum die entsprechenden literatursoziologischen Gegebenheiten bietet, kann man davon ausgehen, dass die Jakobüberlieferung offenbar hier tradiert worden ist. Sein literarisches Überleben nach dem Fall des Nordreichs dürfte der nordisraelitische Jakobzyklus allerdings vor allem der späteren redaktionellen Verbindung mit den in Juda beheimateten Abraham- und Isaaküberlieferungen verdanken. Jakob ist also im Rahmen des Jakobzyklus von allen literarischen Anfängen an auf Israel hin transparent, auch wenn seine Umbenennung von Jakob zu Israel in Gen 32,22, wie jüngst Jakob Wöhrle vorgeschlagen hat, möglicherweise von den priesterschriftlichen Parallelversionen in Gen 35 und Gen 17 abhängig ist28 – und so
26
Vgl. Israel Finkelstein, The Forgotten Kingdom. The Archaeology and History of Northern Israel, SBL Ancient Near Eastern Monographs 5, Atlanta 2013. 27 Vgl. Winfried Thiel, Pnuël im Alten Testament, in: R. Liwak/S. Wagner, eds., Prophetie und geschichtliche Wirklichkeit im alten Israel. FS für Siegfried Herrmann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1991, 398– 414; Wolfgang Zwickel, Pnuel, BN 85, 1996, 38–43; Melanie Köhlmoos, Bethel. Erinnerungen an eine Stadt. Perspektiven der alttestamentlichen Bethel-Überlieferung, FAT 49, Tübingen 2006; Ernst A. Knauf, Bethel. The Israelite Impact on Judean Language and Literature, in: O. Lipschits/M. Oeming, eds., Judah and the Judeans in the Persian Period, Winona Lake IN 2006, 291–349. 28 Jakob Wöhrle, Fremdlinge im eigenen Land. Zur Entstehung und Intention der priesterlichen Passagen der Vätergeschichte, FRLANT 246, Göttingen 2012, 88–90.
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eine späte Explizierung eines zuvor allerdings bereits implizit vorhandenen Sachverhalts darstellt. Die völkergeschichtliche Perspektive setzt also Israel, Aram und Edom in ein Verhältnis zueinander, allerdings ohne die Erwähnung eines Königs. Das eröffnet in historischer Hinsicht zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder ist der Jakobzyklus noch vor dem Untergang des Nordreichs Israel 720 v. Chr. anzusetzen. Das Fehlen einer Königsfigur wäre dann zum einen aus dem Befund zu erklären, dass der Jakobzyklus am Bet-Eler Heiligtum, also nicht an einem Königssitz, verankert ist. Zum anderen wäre auch der Einfluss des Fehlens einer übergreifenden Nordreichsdynastie in Anschlag zu bringen, das dem Königtum im Nordreich nie den Status verlieh, den es in Juda hatte. Oder aber man rechnet damit, dass der Jakobzyklus von vornherein eine nachstaatliche Ätiologie für Israel formuliert, die das nachkönigliche Israel nach 720 v. Chr. mit seinen Nachbarn in Beziehung setzt.29 Auf die Zeit vor 587 v. Chr. weist in jedem Fall die Sicht des Jakobzyklus, dass Jakob und Esau als Zwillinge dargestellt sind. Er ist offenbar noch in der Zeit vor dem Zerwürfnis mit Edom, das die zahlreichen negativen EdomTexte in der prophetischen Überlieferung reflektieren, entstanden. Die Wende in der Sicht Edoms, die sich in der prophetischen Literatur nachgerade zu einem Edom-Hass steigert,30 hängt wahrscheinlich mit der Annexion des judäischen Südens bis Hebron durch Edom in der Folge der Ereignisse von 597 oder 587 v. Chr. zusammen, die aller29
Vgl. auch die Diskussion bei Johannes Taschner, Verheissung und Erfüllung in der Jakoberzählung (Gen 25,19–33,17). Eine Analyse ihres Spannungsbogens, HBS 27, Freiburg u. a. 2000, 196–197. 30 Vgl. Beth Glazier-McDonald, Edom in the Prophetical Corpus, in: D. Edelman, ed., You Shall Not Abhor an Edomite for He is Your Brother. Edom and Seir in History and Tradition, Atlanta 1995, 23–32; Elie Assis, Why Edom? On the Hostility towards Jacob’s Brother in Prophetic Sources, VT 56, 2006, 1–20; Piotr Bienkowski, New Evidence on Edom in the Neo-Babylonian and Persian Periods, in: J. A. Dearman, ed., The Land That I Will Show You. Essays on the History and Archaeology of the Ancient Near East in Honor of J. Maxwell Miller, JSOT.S 343, Sheffield 2001, 198–213.
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dings sehr schlecht dokumentiert ist – in der Regel wertet man das Arad-Ostrakon 24 in dieser Richtung aus.31 Ein neues Licht auf die Verbindungen zwischen dem durch die Jakobfigur repräsentierten Nordreich und dem im Süden befindlichen Edom ergibt sich aus den Funden aus Kuntillet ʽAjrud.32 Kuntillet ʽAjrud war eine während des 9. Jahrhunderts v. Chr. besiedelte Karawanserei im südlichen Negev zwischen Gaza und dem Roten Meer, in der Wandinschriften sowie bemalte und beschriebene Pithoi gefunden wurden, die für unser Thema von großer Bedeutung sind. Die auf den Pithoi im Rahmen einer Segensformulierung vorfindliche Fügung „Jhwh von Samaria“ – wohlgemerkt im tiefen Süden des Negev! – bezeugt einen Wirtschafts- und Religionskontakt zwischen dem Norden und dem Süden.33 In der zuvor dargestellten konzentrischen Struktur ist also der Jakobzyklus ein literarisch kunstvoll und literatursoziologisch vergleichsweise klar definierbares Dokument: Es begründet die politische Identität des Nordens, entweder als noch monarchische oder aber als nachmonarchische Einheit. III. Jakob reist nach Harran Diese spezifische politische Ausrichtung wird nun durch ein kleines erzählerisches Moment, das – wie zu zeigen sein wird – auf einer Fortschreibung dieses Jakobzyklus beruht, neu akzentuiert. Dreimal wird im Rahmen der Jakobüberlieferung das nordmesopotamische Harran (27,43; 28,10; 29,4) als Wohnort Labans vorausgesetzt 31
Johannes Renz/Wolfgang Röllig, Handbuch der althebräischen Epigraphik. Band 1, Darmstadt 1995, 389–393; Herbert Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, GAT 4/1.2, Göttingen 2000/20013, 405 mit Anm. 23–24; 407 mit Anm. 35. 32 Vgl. Ze’ev Meshel, Kuntillet ʽAjrud (Ḥorvat Teman). An Iron Age II Religious Site on the Judah-Sinai Border, Jerusalem 2012. 33 Meshel, Kuntillet ʽAjrud 73–142; vgl. auch Blum, Jacob Tradition 208–210.
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oder sogar genannt.34 Dies ist im Rahmen des Jakobzyklus insofern auffällig, als Laban sonst nicht im entfernten Nordsyrien, sondern eher in der viel näheren Gegend um Damaskus beheimatet zu sein scheint. Das lässt sich aus folgenden Hinweisen erschließen: Zunächst ist in Gen 29,1 davon die Rede, dass Jakob auf seiner Reise zu Laban in das Gebiet der bny qdm „Söhne des Ostens“ gekommen sei. Das ist zwar nicht sehr spezifisch, aber aus den Belegen für bny qdm in Ri 6,3.33; 7,12; Jer 49,28; Ez 25,4.10 lässt sich doch ersehen, dass diese nicht nach Harran gehören, sondern in den sehr viel südlicheren Bereich der syrisch-nordarabischen Wüste.35 Dazu passt die Auskunft in Gen 31,23, dass Laban Jakob nach dessen siebentägiger Flucht im Gebiet von Gilead eingeholt habe. Wäre Jakob von Harran geflohen, würde dies erheblich mehr Zeit als sieben Tage in Anspruch nehmen. Schließlich findet die Szenerie von Gen 31,23 an jenem Ort statt, wo laut Gen 31,51–53 der Grenzvertrag zwischen Laban und Jakob geschlossen wird, was darauf hindeutet, dass Labans Gebiet sich bis hierher erstreckt. Mit diesen Beobachtungen sowie dem Umstand, dass die drei Harran-Erwähnungen nur sehr locker in ihren Kontext eingebettet sind, empfiehlt es sich, dem in der Forschung breit akzeptierten Vorschlag zu folgen,36 die Harran-Notizen, die bezwecken, Laban vom Ostjordanland um Damaskus in den Norden nach Harran zu versetzen, als sekundär anzusehen. Doch weshalb sollte dies geschehen sein? Welchen Sinn macht es, Laban aus seiner angestammten Umgebung um hunderte von Kilometern nach Norden zu transferieren? Martin Noth und Erhard Blum vermuteten, dass hinter der Einführung Harrans dessen Aufstieg im 9.–7. Jahrhundert als eines aramäischen Zentrums im 7. Jahrhun-
34 35 36
Vgl. Blum, Vätergeschichte 164–167. Vgl. Blum, Vätergeschichte 164, Anm. 2. Vgl. die Diskussion bei Blum, Vätergeschichte 164–167.
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dert v. Chr. steht.37 Mit Knauf lässt sich aber auch auf die Bedeutung Harrans in neuassyrischer Zeit verweisen: Die Funktion Harrans als Stadt des Mondgottes Sin, der gleichzeitig der Herr des Westens ist, lässt Jakob, wenn er dorthin reist, als loyalen Untertan der neuassyrischen Herrschaft erscheinen.38 Für die genauere literaturgeschichtliche Verortung der Harran-Notizen ist die Erwähnung Beerschevas neben jener Harrans in Gen 28,10 von Belang: Jakob bricht von Beerscheva – ganz im Süden Judas – auf. Was hat Jakob in Beerscheva zu tun? Alle anderen Orte, die mit seiner Person in Verbindung gebracht werden, liegen im Norden. Es ist ganz offenkundig, dass Gen 28,10 mit der Erwähnung von Beerscheva auf Gen 26 zurückschlägt, wo Beerscheva als Aufenthaltsort seiner Eltern Isaak und Rebekka genannt ist. Beachtenswert ist nun aber, dass Gen 26 sicher nicht zum ursprünglichen Jakobzyklus gehört, denn die Jakoberzählungen vor und nach Gen 26 (also in Gen 25 und 27) setzen voraus, dass Isaak und Rebekka bereits Kinder haben, nämlich Jakob und Esau, während dies in Gen 26 ausweislich der Erzählung, in der Isaak Rebekka als seine Schwester ausgibt, sicher nicht der Fall ist. Kompositionsgeschichtlich heißt das, dass die HarranBearbeitung die Verbindung von Isaak- und Jakobüberlieferung entweder bereits voraussetzt oder nun vollzieht. Man sieht an der Harran-Bearbeitung also eine markante theologiepolitische Verschiebung in der Überlieferungsdynamik des Jakobzyklus: Der Jakobzyklus begründet nicht mehr die politische und kultische Eigenständigkeit Israels, sondern macht Jakob zum Assur-treuen Vasallen und wird enger an die Gründungsfigur Isaak angebunden. Diese scheint wegen ihrer engen überlieferungsgeschichtlichen Verbindung mit Ortschaften im Süden, vor allem Beerscheva und Gerar, in den Süden zu gehören, 37
Vgl. Martin Noth, Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948, 218; Blum, Vätergeschichte 164–167; 343–344, Anm. 11. 38 Ernst A. Knauf, Bethel 320.
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allerdings ist dies nicht unumstritten. Blum etwa hat aufgrund von Am 7,9.16 vermutet, „Isaak“ hätte ursprünglich als Gründerfigur des Nordreichs gegolten.39 IV. Jakob als Empfänger von Mehrungs-, Land- und Beistands-Verheißungen Mit der Harran-Bearbeitung wurden wir einer auf Fortschreibung beruhenden Neuinterpretation des Jakobzyklus ansichtig, die wohl noch in die Königszeit selbst gehört. In diesem folgenden Abschnitt wird es um eine massive theologische Neuakzentuierung gehen, die sich wahrscheinlich im Zuge der Weiterüberlieferung des Jakobzyklus nach dem Fall Judas und Jerusalems ergeben hat. Eines der markantesten literarischen Merkmale nicht nur der Jakobüberlieferung, sondern der Erzelternerzählung der Genesis insgesamt ist das Motiv der Verheißung. So hielt Gerhard von Rad etwa in seiner Theologie des Alten Testaments zutreffend fest: So bunt das Überlieferungsmaterial ist, das in der großen Erzählkomposition von Abrahams Berufung bis zum Tod Josephs zusammengekommen ist, so hat das Ganze doch ein tragendes, verbindendes Gerüst, nämlich die sogenannte Erzväterverheißung. Mindestens kann man sagen, daß dem bunten Erzählungsmosaik durch die immer wieder auftretende Verheißung […] eine thematische Verbindung gegeben wurde.40
Im Rahmen der klassischen Erklärungsparadigmata sah man in den Verheißungen gerne das Urgestein der Erzelternüberlieferungen, das auf die nomadische Vorzeit Israels zurückgehe. Nomadenreligion ist Religion der Verheissung. Der Nomade lebt ja nicht im Zyklus von Saat und Ernte, sondern in der Welt der 39
Blum, Jacob Tradition 209. Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments. Band I: Die geschichtlichen Überlieferungen, München 1957, 171. 40
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Migration. Das ist die Welt des Heute-hier, Morgen-dort, wo man weiss, dass die Kinder an einem anderen Orte sterben werden, als wo die Eltern begraben sind.41
Nun darf man getrost sagen, dass dieses romantische Bild nomadischen Lebens und Denkens heute überholt ist. Nomaden lebten in einer engen Arbeitsteilung mit dem städtischen Leben, und ihre Sozialstruktur war wohlgeordnet und nicht einfach zufällig. Insofern stellt es eine perspektivische Verzerrung dar, wenn man davon ausgeht, dass sich Nomaden nichts sehnlicher als Landbesitz und Sesshaftigkeit wünschen.42 Dass die Verheißungen überlieferungsgeschichtlich uralt sind, kann man so nur schon aus kulturgeschichtlicher Perspektive ausschließen. Doch auch ihre literarische Zuweisung an einen in der frühen Königszeit wirkenden Jahwisten, der damit der Vätergeschichte ihre Kohärenz verliehen haben soll, hat sich auf Dauer nicht bewährt. Auffällig bleibt ja, dass der Jahwist, dessen literarischer Horizont als weit über die Genesis hinausreichend bestimmt worden ist, sich nur im Bereich von Gen 12–36 des literarischen Stilmittels der Verheißung bedient haben sollte, um übergreifende Linien herauszustellen.43 Vor allem mit den Arbeiten von Rolf Rendtorff und Erhard Blum ist deutlich geworden, dass die Verheißungen im Wesentlichen der redaktionellen Herstellung einer eigenständigen Vätergeschichte dienen. Sie sind nahezu durchgehend nicht integraler Bestandteil der Erzählun41
Viktor Maag, Malkut JHWH (1959), in: H. H. Schmid/O. H. Steck, eds., Kultur, Kulturkontakt und Religion. Gesammelte Studien zur allgemeinen und alttestamentlichen Religionsgeschichte, Göttingen u. a. 1980, 145–156: 156. 42 Vgl. z. B. Manfred Weippert, Semitische Nomaden des zweiten Jahrtausends, Bib. 55, 1974, 265–280.472–483; Fritz, Entstehung 113–118. 43 Joel S. Baden, The Promise to the Patriarchs, New York 2013, versucht, die Verheißungen als integrale Bestandteile der Quellenschriften J und E zu erweisen, doch gelingt dies zum einen nur mittels einer harmonisierenden Auslegungstechnik, zum anderen bleibt die Frage der Beschränkung dieses Stilmittels auf Gen 12–36 besonders in dieser Perspektive erklärungsbedürftig.
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gen, innerhalb derer sie stehen, und lassen sich leicht literarkritisch herauslösen. Allerdings sind die Verheißungen inhaltlich und auch entstehungsgeschichtlich recht unterschiedlicher Natur. Sie dürften zwei überlieferungsgeschichtliche Wurzeln haben: zum einen in der Abrahamserzählung44 Gen 18, der einzigen vorpriesterlichen Erzelternerzählung mit einer integralen Verheißung – der Sohnesverheißung in V. 14b –, zum anderen im Segensthema der Jakoberzählungen. Die in diesen Erzählkränzen verankerten Elemente der Verheißung an Abraham und des Segens an Jakob legten es offenbar nahe, das Verheißungsthema insgesamt dann als redaktionsgeschichtliches Klammerelement zwischen den neu zu verbindenden, vormals eigenständigen Erzählzyklen zu sehen.45 Die wichtigste Verheißung im Rahmen der Jakoberzählung ist Gen 28,13–15. Dass sie nicht integral zur Bet-ElGeschichte hinzugehört, ergibt sich aus verschiedenen Beobachtungen: Jakobs Reaktion nach seinem Erwachen bezieht sich nur auf das Bild der Himmelsrampe, nicht aber auf die Gottesrede, und das Gelübde, das er nachfolgend leistet, scheint die Zusagen aus der Gottesrede ebenfalls nicht zu kennen.46 וַיצָּ֥א יַע ֲָ֖קב ִּמב ְָׁׂ֣אר ָ ָ֑שבַע וַיָ֖לְֶך ח ָ ַָֽרנָה׃ 44
10
Jakob aber zog weg von Beer-Scheba und ging nach Charan.
Vgl. zu ihrer Literaturgeschichte Matthias Köckert, Die Geschichte der Abrahamüberlieferung, in: A. Lemaire, ed., Congress Volume Leuven 2004, VT.S 109, Leiden u. a. 2006, 103–127; Israel Finkelstein/ Thomas Römer, Comments on the Historical Background of the Abraham Narrative. Between „Realia“ and „Exegetica“, HeBAI 3, 2014, 3–23; Jean-Louis Ska, Essay on the Nature and Meaning of the Abraham Cycle (Gen 11:29–25:11), in: ders., The Exegesis of the Pentateuch. Exegetical Studies and Basic Questions, FAT 66, Tübingen 2009, 23–45. 45 Matthias Köckert, Wie wurden Abraham- und Jakobüberlieferung zu einer „Vätergeschichte“ verbunden? HeBAI 3, 2014, 43–66. 46 Vgl. grundlegend Rolf Rendtorff, Jakob in Bethel. Beobachtungen zum Aufbau und zur Quellenfrage in Gen 28,10–22, ZAW 94, 1982, 511–523, sowie Blum, Vätergeschichte 7–35; weitere Literatur bei Köhlmoos, Bethel 233, Anm. 14.
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ַוי ִּ ְׁפ ֵּ֙ ַּגע ַבמ ָֹ֜קֹום ֵַּ֙ו ָיַּ֤לֶן שָם ש ֶמש ֶ ָ֔ ִּי־בא ַה ָׂ֣ ָ כ ַוי ִּ ַקחֵּ֙ מַאבְׁנָׂ֣י ַהמ ָָ֔קֹום ַו ָ ָ֖ישֶם מ ַ ְַֽׁר ֲאש ָ ָ֑תיו ַויִּש ְַׁכָ֖ב ַבמ ָָּ֥קֹום ַההַּֽוא׃ וַ ַֽיַח ֲֹּ֗לם ְׁוהִּנַּ֤ה ֻסלָםֵּ֙ מ ָֻצָׂ֣ב ַָ֔א ְׁרצָה אשֹו ַמ ִּּגָׂ֣י ַע ַהש ָ ָָ֑מיְׁמָה ָ֖ וְׁר ְׁוהִּנהֵּ֙ ַמ ְׁלאֲכָׂ֣י אֱל ִָּ֔הים ע ִּלָּ֥ים וְׁי ְׁר ִּ ָ֖דים בַֹֽו׃ ְׁוהִּנֵּ֙ה י ְׁה ֹ֜ ָוה נ ִָּצָׂ֣ב ָעלָי ֮ו וַיאמַר ֲא ִּנָׂ֣י י ְׁה ֹּ֗ ָוה אֱלה ֵּ֙י ַאב ְָׁר ָ ָׂ֣הם ָא ִָּ֔ביָך אלהי יִּצ ָ ְָׁ֑חק ָ֖ ו ָה ָֹּ֗א ֶרץ ֲא ֶ ַּ֤שר ַאתָ הֵּ֙ שכָׂ֣ב ָע ֶָ֔לי ָה לְָׁךָּ֥ ֶאתְׁ ֶ ָ֖ננָה ּו ְׁלז ְַׁר ֶעַָֽך׃ ְׁו ָה ָיַּ֤ה ז ְַׁר ֲע ֵָּ֙ך ַכע ֲַפָׂ֣ר ָה ָָ֔א ֶרץ ּופ ַָרצ ָ ְָׁ֛ת ָיָּ֥מָה ו ָָ֖קדְׁ מָה ְׁוצ ָָׂ֣פנָה ו ֶ ָָ֑נגְׁבָה שפ ְָּׁ֥חת ָהאֲדָ ָ ָ֖מה ְׁ ְׁונִּב ְֲׁרכָּ֥ ּו בְָׁךָ֛ כָל־ ִּמ ּו ְׁבז ְַׁר ֶעַָֽך׃ ְׁוהִּנֵּ֙ה ָאנ ִֹּ֜כי ִּע ָֹּ֗מְך שמ ְַׁר ִּתֵּ֙י ֵָּ֙ך ב ְָׁׂ֣כל ְׁ ּו ֲשבתִָּ֔ יָך ָׂ֣ ִּ ֲאשֶר־ת ָ֔לְך ַוה אֶל־ ָהאֲדָ ָ ָ֖מה ה ַָ֑זאת ִּ֚ ִּכי לָׂ֣ א ֶאַֽ ֱעזָב ְָָׁ֔ך שיתִּ י ִּ ָ֔ ִּ֚ ַעד ֲא ֶ ָׂ֣שר אִּם־ ָע אָּ֥ת ֲאשֶר־דִּ ַ ָ֖ב ְׁרתִּ י לָ ְַֽך׃ שנָתֹו ְׁ ַוי ַ ִָּׂ֣יקץ יַעֲק ֮ב ִּמ ו ַֹּ֕יאמֶר ָאכ ֵּ֙ן יָׂ֣ש י ְׁה ָ֔ ָוה ַבמ ָָ֖קֹום ַה ֶזָ֑ה וְָׁאנ ִּכָ֖י לָּ֥ א י ָ ַָֽדעְׁתִּ י׃ ַוי ִָּיר ֵּ֙א וַיא ַָ֔מר ַה־נֹורא ַהמ ָָׂ֣קֹום ַה ֶזָ֑ה מ ָ֖ ָ ִּם־בית אֱל ִָּ֔הים ָׂ֣ ָׂ֣אין ֶֹּ֗זה ִּ֚ ִּכי א ְׁו ֶזָ֖ה ַ ָּ֥שעַר ַהש ָָמַֽי ִּם׃ ַויַשְׁכֵּ֙ם יַע ֲֹ֜קב ב ַֹּ֗בקֶר ַוי ַ ִַּּ֤קח ֶאת־ ָה ֵֶּ֙א ֶב ֵּ֙ן
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Und er gelangte an den Ort und blieb dort über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen von den Steinen des Ortes, legte ihn unter seinen Kopf, und an jener Stelle legte er sich schlafen. 12 Da hatte er einen Traum: Sieh, da stand eine Rampe auf der Erde, und ihre Spitze reichte bis an den Himmel. Und sieh, Boten Gottes stiegen auf ihr hinan und herab. 13 Und sieh, Jhwh stand vor ihm und sprach: Ich bin Jhwh, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, dir und deinen Nachkommen will ich es geben. 14 Und deine Nachkommen werden sein wie der Staub der Erde, und du wirst dich ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen werden Segen erlangen alle Sippen der Erde. 15 Und sieh, ich bin mit dir und behüte dich, wohin du auch gehst, und ich werde dich in dieses Land zurückbringen. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich getan, was ich dir gesagt habe. 16 Da erwachte Jakob aus seinem Schlaf und sprach: Fürwahr, Jhwh ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht. 17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie furchtbar ist diese Stätte! Sie ist nichts Geringeres als das Haus Gottes, und dies ist das Tor des Himmels. 18 Am andern Morgen früh nahm Jakob den Stein,
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ֶר־שם מ ַ ְַֽׁר ֲאשתָָ֔ יו ָׂ֣ ָ ֲאש ַו ָיָּ֥שֶם א ָ ָ֖תּה מַצ ָ ָ֑בה אשַּֽה׃ ָ ַוי ִָּּ֥צק ֶ ָ֖שמֶן עַל־ר ַויִּק ָ ְָׁ֛רא ֶאת־שַֽם־ ַהמ ָָּ֥קֹום ה ַָ֖הּוא ַֽית־אל ָ֑ ב וְׁאּולָ ָ֛ם לָּ֥ ּוז שם־ה ִּ ָָ֖עיר לָרִּ אש ָנ ַֽה׃ אמר ָ֑ ַוי ִַּדָּ֥ר יַע ֲָ֖קב ֶנָׂ֣דֶ ר ל אִּם־י ִּ ְׁהיֵֶּ֙ה אֱל ִֹּ֜הים ִּעמָדִֹּּ֗ י ֵָּ֙רנִּ ֵּ֙י ב ֶ ַַּ֤ד ֶרְך ַהזֶה ֵּ֙ ַ שמ ְׁ ּו הֹולְך ָ֔ ֲא ֶ ָׂ֣שר ָאנ ִּכָׂ֣י ן־לָּ֥י לֶ ָ֛חֶם ֶלא ֱָ֖כל ִּ ַוְׁנָ ַֽת ּובגֶד ִּללְׁבַֽש׃ ָּ֥ ֶ שב ְִּׁתָּ֥י ַ ְׁו ָאבי ָׂ֣ ְׁבשָלָ֖ ֹום א ָ֑ ִּ ֶל־בית ְׁו ָה ָיֶ֧ה י ְׁהוָ ָ֛ה ִּלָ֖י לאלהִּ ַֽים׃ ְׁוה ֶ ָָׂ֣אבֶן ה ַֹּ֗זאת ש ְׁמתִּ ֵּ֙י מַצ ָָ֔בה ֵּ֙ ַ ֲאשֶר־ ֱלהים ָ֑ ִּ י ִּ ְׁה ֶיָ֖ה ָׂ֣בית א וְׁכלֵּ֙ ֲא ֶ ָׂ֣שר תִּ תֶ ן־ ִָּ֔לי ע ַָ֖שר ֲא ַעש ֶ ְָּׁ֥רנּו לָ ְַֽך׃
den er unter seinen Kopf gelegt hatte, richtete ihn als Mazzebe auf und goss Öl darauf. 19 Und er nannte jenen Ort Bet-El; früher aber hieß die Stadt Lus. 20 Dann tat Jakob ein Gelübde und sprach: Wenn Gott mit mir ist und mich auf diesem Weg, den ich jetzt gehe, behütet, wenn er mir Brot zu essen und Kleider anzuziehen gibt 21 und wenn ich zurückkehre wohlbehalten in das Haus meines Vaters, so soll Jhwh mein Gott sein. 22 Und dieser Stein, den ich als Mazzebe aufgerichtet habe, soll ein Gotteshaus werden, und alles, was du mir geben wirst, will ich dir getreulich verzehnten.
Außerdem ist die Verheißung in Gen 28,13–15 eng verwandt mit derjenigen von Gen 12,1–3,47 was anzeigt, dass der literarische Horizont von Gen 28,13–15 über die Jakobsgeschichte hinausreicht, zumal Abraham und Isaak namentlich genannt werden. Diese Verheißungen beinhalten die Zusage von Mehrung und Land. Beides sind Themen, die für Israel und Juda im 7.–5. Jahrhundert v. Chr. von akuter Bedeutung sind: Die assyrischen und babylonischen Deportationen sowie ökonomische Probleme führten zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang in einem nicht mehr unter eigener Königsherrschaft stehenden Gebiet.48 Die Verheißungen sind zeitgeschichtlich wahrscheinlich vor diesem kontrafaktischen 47
Besonders betont und kompositionsgeschichtlich ausgewertet von Reinhard G. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, UTB 2157, Göttingen 2000, 263–279. 48 Charles E. Carter, The Emergence of Yehud in the Persian Period. A Social and Demographic Study, JSOT.S 294, Sheffield 1999, 235; Gary N. Knoppers, Revisiting the Samarian Question in the Persian Period, in: O. Lipschits/M. Oeming, eds., Judah and the Judeans in the Persian Period, Winona Lake IN 2006, 265–289: 268.
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Hintergrund zu verstehen. Wie genau sie historisch anzusetzen sind, wird allerdings kontrovers diskutiert. Einig ist man sich in der neueren Forschung, dass sie zumindest den Untergang des Nordreichs 720 v. Chr. voraussetzen; ob für sie auch der Fall Jerusalems bereits in der Vergangenheit liegt, ist umstritten, aber meines Erachtens wahrscheinlich.49 Es ist aber deutlich, dass die Verheißungen der politischen Theologie des Jakobzyklus einen ganz neuen Akzent verleihen: Mehrung, künftiger Landbesitz, Beistand Gottes – das sind Themen, die ein in der Diaspora befindliches Israel betreffen. Ja, man kann bestimmte Passagen der Verheißungen sogar in der Richtung lesen, dass die Diaspora als ein gottgewollter Zustand Israels interpretiert wird – wohl nicht zuletzt zum Zwecke, dass die 49
Vgl. Matthias Köckert, Vatergott und Väterverheißungen. Eine Auseinandersetzung mit Albrecht Alt und seinen Erben, FRLANT 142, Göttingen 1988; ders., Art. Verheißung I. Altes Testament, TRE 34, Berlin u. a. 2002, 697–704; namentlich für Gen 12,1–3 und 46,2–4 sind neuerdings mit beachtlichen Gründen noch spätere Datierungen, im literaturgeschichtlichen Gefolge erst der Priesterschrift, vorgeschlagen worden (für Gen 12,1–3: Jean- Louis Ska, L’appel d’Abraham et l’acte de naissance d’Israël, in: M. Vervenne/J. Lust, eds., Deuteronomy and Deuteronomic Literature. FS Chris H. W. Brekelmans, BEThL 133, Leuven 1997, 367–389; für Gen 46,2–4: Jan C. Gertz, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung, FRLANT 189, Göttingen 2000, 273–277.382–383). Es ist allerdings auch denkbar, dass die hierfür in Anschlag gebrachten Berührungen mit „P“ dadurch zu erklären sind, dass „P“ die ihr vorgegebene Verheißungstheologie rezipiert hat, was auch ihre theologische Neuakzentuierung der Vätergeschichte erklären würde: Namentlich die Berührungen von Gen 12,1–3 mit dem priesterschriftlichen Refrain aus der Völkertafel Gen 10,5.20.31–32 („Volk“, „Sippe“, „Land“, vgl. Frank Crüsemann, Die Eigenständigkeit der Urgeschichte. Ein Beitrag zur Diskussion um den „Jahwisten“, in: J. Jeremias/L. Perlitt, eds., Die Botschaft und die Boten, Neukirchen-Vluyn 1981, 11–29: 29; Ska, L’appel 369–370; Konrad Schmid, Erzväter und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels innerhalb der Geschichtsbücher des Alten Testaments, WMANT 81, Neukirchen-Vluyn 1999, 168) lassen sich diachron plausibel so verwerten, dass die priesterschriftliche Vorstellung der Welt in Gen 10 (Kratz, Komposition 239) so bereits gemäß dem Segenserwerb an Abraham gezeichnet ist.
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Völker sich Segen an Israel erwerben können, wie dies Gen 12,1–3 theoretisch und Gen 39,2–6.21–2350 konkret darstellt. Die strukturell nachmonarchische – handle es sich nun um den Untergang des Nord- oder des Südreichs – Entstehung der Verheißungen lässt sich auch an bestimmten traditionsgeschichtlichen Verschiebungen erkennen, so besonders in Gen 12,1–3: Gen 12,1–3: Und Jhwh sprach zu Abram: … Und ich werde dich zu einem großen Volk machen und ich werde dich segnen und ich werde deinen Namen groß machen und er soll zum Segenswort sein. … Und es sollen sich an dir Segen erwerben alle Sippen der Erde.
Ps 72,17: Ewig soll sein Name bestehen, solange die Sonne scheint, sprosse sein Name. Und in ihm sollen sich Segen wünschen, ihn sollen glücklich preisen alle Völker.
Mit dem Motiv des „großen Namens“ und dessen Segensmittlerschaft übernimmt Gen 12,1–3 tragende Elemente der traditionellen Königsideologie, wie sie etwa in Ps 72,17 ausgesprochen sind, und überträgt sie auf den Stammvater des Volkes, Abraham.51 Diese „demo(kra)tisierenden“ Tendenzen sind in noch staatlicher Zeit kaum vorstellbar. Vielmehr steht Gen 12,1–3 in theologiegeschichtlicher Nähe zu entsprechenden Perspektiven in Jes 40–55, die das exilierte Israel als „Abraham“ oder „Jakob“ adressieren und ebenfalls in königlicher Qualität zeichnen können. Weiter ist zu beachten, dass das aus Gen 12,1–3; 13,14– 17; 28,13–15 und 46,2–4 bestehende Verheißungssystem mit Wanderungsnotizen (vgl. Gen 26,2–3; 31,3.13) verbunden ist: „Ziehe weg aus deinem Land“ (12,1), „Fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzuziehen“ (46,2) 50
Vgl. Christoph Levin, Righteousness in the Joseph Story. Joseph Resists Seduction (Genesis 39), in: T. B. Dozeman u. a., eds., The Pentateuch. International Perspectives on Current Research, FAT 78, Tübingen 2011, 223–240. 51 Vgl. z. B. Blum, Vätergeschichte 351–353, mit weiterer Lit.
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usw.52 Hier zeigt sich die geographieunabhängige Definition des Gottesvolkes: Israel ist Israel – kraft seiner Gottesbeziehung und nicht kraft seiner Ansässigkeit in seinem Land. Jakob ist auf dem Weg von Israel zum Judentum.53 V. Die Jakoberzählung der Priesterschrift Mit der wahrscheinlich exilischen Neuinterpretation der Jakobüberlieferung, die vor allem die Eintragung der Verheißungen nach sich zog, ist ihre innerpentateuchische Literaturgeschichte aber noch nicht beendet. Eine weitere Neuakzentuierung bedeutete ihre Rezeption in der sogenannten Priesterschrift. Die Pentateuchforschung gilt nicht ganz zu Unrecht als unübersichtlich,54 doch hat sich mit der vergleichsweise einhelligen Ausgrenzung der Priesterschrift ein Element der traditionellen Urkundenhypothese bis in die Gegenwart hinein halten können.55 Im Rahmen der Jakobtexte werden ihr üblicherweise folgende Texte zugewiesen: Gen 25,19–20.26b; 26,34–35; 27,46–28,9; 31,17–18; 33,18*; 35,(6?.)9–15.22b–29.56 52
Vgl. Blum, Vätergeschichte 300. Zur schwierigen Frage des Judentums in der Hebräischen Bibel vgl. die differenzierte Position von Marc Z. Brettler, Judaism in the Hebrew Bible? The Transition from Ancient Israelite Religion to Judaism, CBQ 61, 1999, 429–447. 54 Vgl. Konrad Schmid, Der Pentateuch und seine Theologiegeschichte, ZThK 111, 2014, 239–271. 55 Vgl. z. B. Blum, Komposition des Pentateuch 221; David M. Carr, Reading the Fractures of Genesis. Historical and Literary Approaches, Louisville 1996, 43. Einen Überblick über neuere Debatten geben die Beiträge in S. Shectman/J. S. Baden, eds., The Strata of the Priestly Writings. Contemporary Debate and Future Directions, AThANT 95, Zürich 2009. 56 Vgl. die Darstellung und Diskussion bei de Pury, Jacob Story 45, Anm. 9; 50–57; siehe auch Peter Weimar, „Vielmehr Israel sei dein Name“ (Gen 35,10). Aufbau und Komposition der priesterschriftlichen Jakobsgeschichte, in: ders., Studien zur Priesterschrift, FAT 56, Tübingen 2008, 227–268; Jochen Nentel, Die Jakobserzählungen. Ein 53
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Datiert wird die Priesterschrift üblicherweise in die frühe Perserzeit.57 Ihre politische Theologie geht davon aus, dass mit der Perserherrschaft über die gesamte damals im Alten Orient bekannte Welt nachgerade das heilvolle Ziel der Geschichte Jhwhs mit Israel und der Welt – zugespitzt gesagt, im Sinne einer „realized eschatology”58 – erreicht ist. Natürlich bedarf dieses Ziel an verschiedenen Stellen noch der Vervollständigung, doch grundsätzlich gilt die Heilswende als vollzogen. Die politische Position der Priesterschrift ist im Grunde genommen nichts anderes als die jüdisch gewendete Rezeption der offiziellen persischen Reichsideologie. Sie vertritt das Konzept eines befriedeten Vielvölkerstaates unter Wahrung der jeweiligen kulturellen und religiösen Eigenarten, wie sie ihren Ausdruck etwa in der Behistun-Inschrift Dareios’ I. fand (TUAT I, 419–450), die – wie Funde ihrer aramäischen Fassung in Elephantine belegen – auch als Schultext umlief. Innerhalb der Priesterschrift findet sich dieses perserzeitlich inspirierte Bild einer geordneten Welt in der sogenannten Völkertafel in Gen 10, die die Wiederbevölkerung der Welt nach der Sintflut (Gen 6–9) beschreibt.59 Sie verfügt über einen Refrain, der die sprachliterar- und redaktionskritischer Vergleich der Theorien zur Entstehung des Pentateuch, München 2009, 11–49. 57 Vgl. Albert de Pury, Pg as the Absolute Beginning, in: T. Römer/K. Schmid, eds., Les dernières rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque, BEThL 203, Leuven 2007, 99–128: 123– 128 = ders., Patriarchen 13–42; Kratz, Komposition 248; ders., Historisches und biblisches Israel. Drei Überblicke zum Alten Testament, Tübingen 2013, 162, Anm. 107, hier auch zur Unterscheidung des Alters der Kultgesetze und des narrativen Rahmens. 58 Charles H. Dodd, The Parables of the Kingdom, London 1935. 59 Vgl. Johan G. Vink, The Date and the Origin of the Priestly Code in the Old Testament, in: ders., The Priestly Code and Seven Other Studies, OTS 52, Leiden 1969, 1–144: 61; Ernst A. Knauf, Die Priesterschrift und die Geschichten der Deuteronomisten, in: T. Römer, ed., The Future of the Deuteronomistic History, BEThL 147, Leuven 2000, 101–118, bes. 104–105; Christophe Nihan, From Priestly Torah to Pentateuch. A Study in Composition of the Book of Leviticus, FAT II/25, Tübingen 2007, 383, vgl. auch Jacques Ver-
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lich und kulturell diversifizierte Ordnung der Welt beschreibt: ְַׁארצתָָ֔ ם ְׁ ]…[ ב ִּ ָ֖איש ִּללְׁשנָ֑ ֹו שפְׁח ָ ָ֖תם ְׁ ְׁל ִּמ בְׁגֹוי ֶהַֽם׃ ָׂ֣אלֶה בְׁני־ ָָ֔חם שפְׁח ָ ָ֖תם ְׁ ְׁל ִּמ ִּללְׁשַֽנ ָ ָ֑תם ְַׁארצ ָ ָ֖תם ְׁ ב בְׁגֹוי ֶהַֽם׃ ס י־שם ָ֔ ָׂ֣אלֶה בְׁנ שפְׁח ָ ָ֖תם ְׁ ְׁל ִּמ ִּללְׁשנ ָ ָ֑תם ְַׁארצ ָ ָ֖תם ְׁ ב לְׁגֹוי ֶהַֽם׃
Gen 10,5: [Das sind die Söhne Jafets] in ihren Ländern, je nach ihrer Sprache, nach ihren Sippen, in ihren Völkerschaften. Gen 10,20: Das sind die Söhne Hams nach ihren Sippen, ihren Sprachen, in ihren Ländern, in ihren Völkerschaften. Gen 10,31: Das sind die Söhne Sems nach ihren Sippen, ihren Sprachen, in ihren Ländern, nach ihren Völkerschaften.
Dieses persisch inspirierte Konzept ist insofern eine Novität in der Geschichte des Imperialismus im Alten Orient, als hier die Pluralität von Sprachen, Nationen und Kulturen explizit anerkannt und politisch gestützt wird.60 Entsprechend ist die Perserherrschaft im Alten Testament in der Regel positiv gesehen – das Image der Perser unterscheidet sich also aus biblischer Perspektive erheblich von derjenigen der altgriechischen Literatur. Blickt man nun auf die speziellen Interpretationen der Priesterschrift im Bereich der Jakobüberlieferung, so scheinen hier zwei Themen von besonderer Bedeutung meylen, La „table des nations” (Gn 10): Yaphet figure-t-il l’Empire perse?, Trans. 5, 1992, 113–132. 60 Vgl. Josef Wiesehöfer, Achaemenid Rule and its Impact on Yehud, in: L. Jonker, ed., Texts, Contexts and Readings in Postexilic Literature. Explorations into Historiography and Identity Negotiation in Hebrew Bible and Related Texts, FAT II/53, Tübingen 2011, 172–185. Vgl. zu den Assyrern Angelika Berlejung, The Assyrians in the West. Assyrianization, Colonialism, Indifference, or Development Policy?, in: M. Nissinen, ed., Congress Volume Helsinki 2010, VT.S 148, Leiden u. a. 2012, 21–60.
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zu sein: zum einen der Umgang mit der Heiligtumsüberlieferung von Bet-El, die von der Priesterschrift in Gen 35,9–15 neu gedeutet wird, und zum anderen die Frage der Möglichkeit einer Heiratspolitik inner- und außerhalb der ethnischen Größe Israel. Zunächst zum priesterschriftlichen Bet-El-Text Gen 35,9–15 als neuinterpretierender Aufnahme der Erzählung von Jakobs Traum in Bet-El in Gen 28,10–22.61 Es handelt sich hier um eine der ganz wenigen klaren Dubletten in der Pentateuchüberlieferung, da Jakob hier zweimal eine Mazzebe in Bet-El aufrichtet und zweimal den Ort als solchen benennt. ֱלהים ֶאַֽל־יַעֲק ֵּ֙ב ָ֔עֹוד ַּ֤ ִּ וַי ָרֵּ֙א א בְׁב ָ֖אֹו ִּמפ ַ ַָׂ֣דן א ָ ֲָ֑רם ַוי ָ ְָׁ֖ב ֶרְך אתַֽ ֹו׃ ֱלהים ָ֖ ִּ וַי ַֽאמֶר־לָּ֥ ֹו א ש ְׁמָךָׂ֣ יַע ֲָ֑קב ִּ ש ְׁמ ֵָּ֙ך ֹ֜עֹוד יַע ֲֹּ֗קב ִּ ֩לַֽא־יִּקָרא ש ֶָ֔מָך ְׁ ִּכַּ֤י אִּם־יִּש ְָׁראלֵּ֙ י ִּ ְׁה ֶיָׂ֣ה ש ָ֖מֹו יִּש ְָׁראַֽל׃ ְׁ ַויִּק ָ ְָּׁ֥רא ֶאת־ וַיא ֶמ ֩ר לֵֹּ֙ו אֱל ִֹּ֜הים ֲאנִֵּּ֙י ַּ֤אל שַדַ ֵּ֙י ּור ָ֔בה ְׁ פ ְָׁׂ֣רה ּגָ֛ ֹוי ּוק ְַׁהָּ֥ל ּגֹו ִּיָ֖ם י ִּ ְׁה ֶיָׂ֣ה מ ֶ ִָּ֑מ ָך ּו ְׁמל ִָּכָ֖ים מ ֲחלָצֶ ָּ֥יָך יצַֽאּו׃ ְׁו ֶאת־ ָה ָֹּ֗א ֶרץ ֲא ֶ ָּ֥שר נ ַ ָָ֛תתִּ י לְַׁאב ְָׁר ָהָּ֥ם ּו ְׁליִּצ ָ ְָׁ֖חק לְָׁךָׂ֣ ֶאתְׁ ֶ ָ֑ננָה ַּֽו ְׁלז ְַׁרעֲָךָּ֥ ַאח ֶ ֲָ֖ריָך ֶאתָּ֥ן ֶאת־ה ָָא ֶַֽרץ׃ ֱלהים ָ֑ ִּ ַו ַיָּ֥עַל מע ָָלָ֖יו א ַבמ ָָ֖קֹום ֲאשֶר־דִּ ֶבָּ֥ר ִּאתַֽ ֹו׃ ַוי ַצֵּ֙ב יַע ֲֹ֜קב מַצ ָֹּ֗בה ַבמ ָָ֛קֹום ֲאשֶר־דִּ ֶבָּ֥ר ִּא ָ֖תֹו מ ֶ ַָׂ֣צבֶת ָ ָ֑אבֶן 61
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Und Gott erschien Jakob noch einmal, als er von Paddan-Aram kam, und er segnete ihn. 10 Gott sprach zu ihm: Dein Name ist Jakob. Aber du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel soll dein Name sein. Und er nannte ihn Israel. 11 Und Gott sprach zu ihm: Ich bin El-Schaddai. Sei fruchtbar und mehre dich. Ein Volk, ja eine Großzahl von Völkern soll von dir abstammen, und Könige sollen aus deinen Lenden hervorgehen. 12 Und das Land, das ich Abraham und Isaak gegeben habe, dir will ich es geben, und auch deinen Nachkommen will ich das Land geben. 13 Dann fuhr Gott auf von ihm, an der Stätte, wo er mit ihm geredet hatte. 14 Jakob aber errichtete eine Mazzebe an der Stätte, wo er mit ihm geredet hatte, ein steinernes Mal,
Vgl. dazu Hans A. Rapp, Jakob in Bethel. Gen 35,1–15 und die jüdische Literatur des 3. und 2. Jahrhunderts, HBS 29, Freiburg u. a. 2001, 25–66.
Von Jakob zu Israel
ַוי ַַּ֤סְך ָע ֶלֵּ֙י ֵּ֙ ָה ֶָ֔נסְֶך שמֶן׃ ַֽ ָ ַוי ִָּּ֥צק ע ֶָלָ֖י ָה ֶת־שם ַהמ ָֹּ֗קֹום ָׂ֣ ַויִּק ָ ְֵּׁ֙רא יַע ֲֹ֜קב א ֱלהים ֶ ֲא ָ֖ ִּ ש ֩ר דִּ ֶבֵּ֙ר ִּא ָּ֥תֹו ָ ָ֛שם א בַֽית־אַֽל׃
61 und er brachte auf ihm ein Trankopfer dar und goss Öl darüber. 15 Und Jakob nannte die Stätte, wo Gott mit ihm geredet hatte, Bet-El.
Weshalb bietet der Komplex der Erzelternerzählungen diese Erzählung zweimal? Weshalb wird in der Priesterschrift diese Geschichte verdoppelt?62 Offenbar war der Traditionsdruck der Heiligtumsüberlieferung von Bet-El so stark, dass in der Priesterschrift mit dieser prominenten Erzählung ein aktiver Umgang gefunden werden musste. Was wird in der priesterschriftlichen Erzählung Gen 35,9–15 gegenüber Gen 28,10–22 verändert? Am augenfälligsten sind die folgenden Elemente: Zunächst einmal stellt Gen 35,9 klar, dass Gott sich „sehen lässt“, d. h. die Gotteserscheinung hängt nicht an dem speziellen Ort Bet-El, der erst 6 Verse später überhaupt genannt wird, sondern am Willen Gottes, sich zu offenbaren. Damit konkordant ist Gen 35,13: Nachdem Gott mit Jakob geredet hatte, fuhr er von dieser Stätte wieder auf. In der Priesterschrift ist Bet-El also kein Heiligtum, sondern ein Offenbarungsort. Was Jakob dort von Gott mitgeteilt bekommt, ist allerdings im Wesentlichen eine Wiederholung dessen, was Gott Abraham bereits in Gen 17 zugesagt hatte. Dann bringt Gen 35,15 ganz klar die Benennung des Ortes mit dem Umstand in Verbindung, dass Gott dort mit Jakob geredet habe. Die aus Gen 28,16–17 bekannte Charakterisierung Bet-Els als „Haus Gottes“ und „Tor des Himmels“ wird geflissentlich übergangen. Nur schon der schiere Textumfang dessen, was die Priesterschrift zur vorgegebenen Überlieferung über die Heiratspolitik hinzuformuliert, zeigt die Bedeutung dieses Themas: Etwa ein Drittel der priesterschriftlichen 62
Vgl. Albert de Pury, Der priesterschriftliche Umgang mit der Jakobsgeschichte, in: R. G. Kratz, ed., Schriftauslegung in der Schrift. Festschrift für Odil Hannes Steck zu seinem 65. Geburtstag, BZAW 300, Berlin u. a. 2000, 33–60 = ders., Patriarchen 43–72.
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Jakobüberlieferung dreht sich um die Vermählungen Esaus und Jakobs. Die Frage von Endogamie und Exogamie scheint also ein zentrales Thema der priesterschriftlichen Jakobüberlieferung zu sein. Damit wird bereits die Verschiebung der politischen Dimension erkennbar: Nicht mehr die Definition von nationalen, sondern von familiären Zusammenhängen stehen in der Priesterschrift im Vordergrund. Die narrative Darstellung zu diesem Thema setzt zunächst mit zwei Mesalliancen von Esau ein, der zwei Hetiterinnen heiratet (Gen 26,34), was von seiner Mutter Rebekka zutiefst missbilligt wird (Gen 27,46). Was bei Esaus Brautschau nicht korrekt verlief, soll nun bei Jakob anders vor sich gehen. Gen 28,1 hält fest, dass Isaak seinen Sohn Jakob explizit ermahnt, keine Kanaanäerin zur Frau zu nehmen. Vielmehr soll er zu seinem Onkel Laban gehen und eine Frau aus der Verwandtschaft seiner Mutter heiraten. Esau sieht die Ablehnung der Kanaanäerinnen durch seine Eltern und heiratet daraufhin eine Ismaeliterin. ש ָָ֔נה ָ ֶן־ַארב ִּ ָָׂ֣עים ְׁ ש ֵּ֙ו ב ָ ַוי ִּ ְַּׁ֤הי ע ַוי ַ ִַּּ֤קח ִּאשָהֵּ֙ ֶאת־י ְׁהּודִָּ֔ ית בַת־בְׁא ִּ ָ֖רי ַהַֽח ִּ ִָּ֑תי ש ַָ֔מת ְׁ ת־ב ָׂ֣ ָ ְׁו ֶא בַת־אילָ֖ ן ַהַֽחִּתִּ ַֽי׃ ו ַַּ֤תאמֶר ִּר ְׁבקָהֵּ֙ אֶל־י ִּ ְׁצ ָָ֔חק ַ ָׂ֣קצְׁתִּ י ְׁב ַח ַָ֔יי ִּמפְׁנָ֖י בְׁנָׂ֣ ֹות ָ֑חת שֵּ֙ה ָ ִּם־לק ַח ַ֠י ַעֲקב ִּא א ָׂ֣ ַֹֽות־חת ִּמ ְׁבנ ַּ֤ ֵּ֙כ ֵָּ֙אלֶה ִּמבְׁנָׂ֣ ֹות ָה ָָ֔א ֶרץ לָ ָּ֥מָה ִּ ָ֖לי ַח ִּי ַֽים׃ ַויִּק ָ ְָּׁ֥רא יִּצ ְָׁחָ֛ק ֶאַֽל־יַע ֲָ֖קב ַוי ָ ְָׁׂ֣ב ֶרְך א ָ֑תֹו ַויְׁצַּוֵּ֙ה ֵּּ֙ו וַיָׂ֣אמֶר ָ֔לֹו לַֽא־תִּ ַקָּ֥ח ִּא ָ ָ֖שה ִּמבְׁנָּ֥ ֹות כְׁנָ ַֽעַן׃
Gen 26,34: Als Esau vierzig Jahre alt war, nahm er Jehudit, die Tochter des Hetiters Beeri zur Frau, ferner Basemat, die Tochter des Hetiters Elon. Gen 27,46: Rebekka aber sprach zu Isaak: Mein Leben ist mir zuwider wegen der Hetiterinnen. Wenn auch Jakob eine Frau nimmt von den Hetiterinnen wie diese, eine von den Töchtern des Landes, was soll mir dann das Leben? Gen 28,1: Isaak aber rief Jakob zu sich und segnete ihn. Er gebot ihm und sprach: Du sollst dir keine Frau von den Kanaaniterinnen nehmen.
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Von Jakob zu Israel
ָּ֥קּום ל ְֵּ֙ך פ ֶ ַָׂ֣דנָ ַֽה א ֲָָ֔רם ְׁתּואל א ִּ ֲָׂ֣בי א ֶ ִָּ֑מָך ָ֖ בָּ֥יתָ ה ב שה ָ ָ֔ ְׁו ַקח־לְָׁךַּ֤ ִּמשָםֵּ֙ ִּא ִּמבְׁנָּ֥ ֹות ל ָ ָָ֖בן ֲא ִּחָּ֥י א ִֶּמַָֽך׃ ו ְַּׁ֤אל שַדַ ֵּ֙י יְׁב ָָׂ֣רְך ַֽאתְׁ ָָ֔ך ְׁויַפ ְְׁׁרָךָ֖ ְׁוי ְַׁר ֶ ָ֑בָך ְָׁו ָה ִּיָ֖ית ִּלק ְַׁהָּ֥ל עַמִּ ַֽים׃ ְׁו ִּי ַֽתֶ ן־ ְׁל ֵָּ֙ך ֶאת־ב ְִּׁר ַכָׂ֣ת ַאב ְָׁר ָָ֔הם לְָׁךָ֖ ּו ְׁלז ְַׁרעֲָךָׂ֣ ִּא ָ ָ֑תְך ת־א ֶרץ ְׁ ל ְִּׁר ָׂ֣ ֶ שתְׁ ֵָּ֙ך ֶא ְׁמג ֶָֻ֔ריָך ֱלהים לְַׁאב ְָׁר ָהַֽם׃ ָ֖ ִּ ֲאשֶר־נ ַָתָּ֥ן א ַויִּש ְַׁלַּ֤ח י ִּ ְׁצחָקֵּ֙ ֶאַֽת־יַע ֲָ֔קב וַיָ֖לְֶך פ ֶ ַָׂ֣דנָ ַֽה א ָ ֲָ֑רם אֶל־ל ָ ַָּ֤בן בֶן־בְׁתּואלֵּ֙ ָהַֽא ֲַר ִָּ֔מי ֲא ִּ ָׂ֣חי ִּר ְׁב ָָ֔קה אָּ֥ם יַע ֲָ֖קב וְׁע ָשַֽו׃ ֮שו כִּ ַֽי־ב ַ ָׂ֣רְך י ִּ ְׁצחָק ָ ֹּ֗ ַו ַי ְָׁׂ֣רא ע ֶאַֽת־יַעֲקב ְׁוש ִַּלַּ֤ח את ֵֹּ֙ו פ ֶ ַָׂ֣דנָ ַֽה א ֲָָ֔רם ל ַ ַָֽקחַת־לָּ֥ ֹו ִּמ ָ ָ֖שם ִּא ָ ָ֑שה ְׁבב ֲָרכָׂ֣ ֹו א ָ֔תֹו אמר ָ֔ ַוי ְַׁצַּ֤ו ָעלָי ֵּ֙ו ל לַֽא־תִּ ַקָּ֥ח ִּא ָ ָ֖שה ִּמבְׁנָּ֥ ֹות כְׁנָ ַֽעַן׃ ֶל־ָאביו ַויִּש ַ ְָׁׂ֣מע יַע ֲָ֔קב א ָ֖ ִּ ְׁואֶל־א ִָּ֑מֹו וַיָ֖לְֶך פ ֶַדָּ֥נָ ַֽה א ָ ֲַֽרם׃ שו ָ ָ֔ ַו ַי ְָׁׂ֣רא ע כִּ֥י ָר ֖עֹות בְּנ֣ ֹות כ ָ ְָּ֑נעַן ֵינ֖י יצ ְָּחִּ֥ק ָאבִֽיו׃ ֵ ְּבע ש ָמ ָ֑עאל ְׁ ִּ וַיָּ֥לְֶך ע ָ ָ֖שו אֶל־י ַוי ִּ ַַּ֡קח ֶאַֽת־ ָמח ֲַלָׂ֣ת׀ שמ ֵָּ֙עאל ְׁ ִּ בַת־י בֶן־ַאב ְָׁר ָֹ֜הם ֲא ֶ֧חֹות נְׁ ָביָֹ֛ות עַל־נ ָ ָָ֖שיו לָּ֥ ֹו ְׁל ִּא ָשַֽה׃
2
Mach dich auf, geh nach Paddan-Aram, zum Haus Betuels, des Vaters deiner Mutter, und nimm dir eine Frau von dort, von den Töchtern Labans, des Bruders deiner Mutter. 3 El-Schaddai wird dich segnen und dich fruchtbar machen und mehren, und du wirst zu einer Großzahl von Völkern werden. 4 Und er wird dir geben den Segen Abrahams, und mit dir auch deinen Nachkommen, dass du in den Besitz des Landes kommst, in dem du als Fremder weilst und das Gott Abraham gegeben hat. 5 Und Isaak entließ Jakob, und er ging nach Paddan-Aram, zu Laban, dem Sohn des Aramäers Betuel, dem Bruder Rebekkas, der Mutter Jakobs und Esaus. 6 Und Esau sah, dass Isaak Jakob segnete und ihn nach Paddan-Aram sandte, damit er sich von dort eine Frau nehme, indem er ihn segnete und ihm gebot: Du sollst dir keine Frau von den Kanaaniterinnen nehmen. 7 Jakob aber hörte auf seinen Vater und seine Mutter und ging nach Paddan-Aram. 8 Da sah Esau, dass die Kanaaniterinnen seinem Vater Isaak missfielen. 9 So ging Esau zu Ismael und nahm zur Frau Mahalat, die Tochter Ismaels, des Sohns Abrahams, die Schwester Nebajots, zu den Frauen, die er schon hatte.
Aus diesen Texten wird die in der Priesterschrift vertretene Position zur Heiratspolitik klar: Judäer und Israeliten dürfen keine Hethiterinnen und Kanaanäerinnen heiraten, wohl aber Ismaeliterinnen und Edomiterinnen.
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Diese politische Position stimmt mit der konzentrischen Weltsicht der Priesterschrift überein, in der die Welt in drei Kreise eingeteilt wird: den Weltkreis, den Abrahamkreis und den Israelkreis. Der Weltkreis ist geprägt durch die Offenbarung des Schöpfergottes als „Elohim“ an die ganze, damals bekannte Welt. „Elohim“ garantiert der Welt im Noahbund (Gen 9) ewigen Bestand und das Verschontbleiben von Katastrophen wie der Flut, die sich ein für allemal in der Vergangenheit abgespielt haben. Wie die Aufnahme von Am 8 und Ez 7 in Gen 6,11–13 zeigt, setzt sich die Priesterschrift hier vor allem mit der ihr vorgegebenen Gerichtsprophetie auseinander und verbannt den umfassenden Gerichtswillen Gottes zurück in die graue Vorzeit.63 Der Abrahamkreis umschließt die Völker der Nachkommenschaft Abrahams: Das sind (via Isaak und Jakob) natürlich die Israeliten und Judäer, aber auch (via Isaak und Esau) die Edomiter und (via Ismael) die Araber. Diesem Kreis gilt der Abrahambund (Gen 17), der Mehrung, Land und Gottesnähe umfasst. Den abrahamitischen Völkern offenbart sich Gott als El Schaddai. Schließlich befindet sich ganz in der Mitte der Israelkreis, charakterisiert durch die Gabe des Opferkultes gemäß Ex 25–40; entsprechend ist auch Israel allein der wahre Gottesname Jhwh, der für kultische Zwecke benötigt wird, bekannt. Blickt man zurück auf die priesterschriftliche Jakobüberlieferung, so wird erkennbar, dass die politische Theologie der Tradition sich abermals verändert. Das 63
Vgl. Thomas Pola, Back to the Future. The Twofold Priestly Concept of History, in: C. Frevel u. a., eds., Torah and the Book of Numbers, FAT II/62, Tübingen 2013, 39–65; vgl. auch Rudolf Smend, „Das Ende ist gekommen“: Ein Amoswort in der Priesterschrift, in: J. Jeremias/L. Perlitt, eds., Die Botschaft und die Boten. FS für Hans Walter Wolff zum 70. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1981, 67–74 = ders., Die Mitte des Alten Testaments. Exegetische Aufsätze, Tübingen 2002, 238–243; Jan C. Gertz, Noah und die Propheten. Rezeption und Reformulierung eines altorientalischen Mythos, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81, 2007, 503–522.
Von Jakob zu Israel
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ehemalige Reichsheiligtum Bet-El wird zu einem okkasionellen Ort der Gottesoffenbarung degradiert, die politische Substanz des Jakobzyklus wird in ein Manifest von Heiratsregeln überführt. Auch hier ist deutlich zu erkennen, wie sich wichtige Themen des Judentums konzeptionell auszuformen beginnen. VI.
Rückblick
Zusammenfassend sind vor allem folgende Punkte von Bedeutung: Erstens: Der Jakobzyklus ist eine literarisch gewachsene Größe, wie beinahe ausnahmslos von der Forschung auch angenommen wird. Seine literarischen Anfänge gehörten wohl noch in die Königszeit, auch wenn auffälligerweise eine Königsfigur in ihm fehlt, was auf eine Entstehungszeit nach 720 v. Chr. hindeuten könnte. Dieser Jakobzyklus ist – was seine literarische Gestalt betrifft – von vornherein national ausgerichtet, d. h., Jakob steht für Israel, Esau für Edom, Laban für Aram. Zweitens: Der ursprüngliche Jakobzyklus scheint Laban in der Gegend von Damaskus vorauszusetzen. Die drei Harran-Notizen in 26,34; 27,46; 28,10 versetzen Laban nach Harran in den nordsyrischen Bereich. Jakobs Reise nach Harran, dem Zentrum der Assyrer des 7. Jahrhunderts v. Chr. im Westen, wird damit zur Präfiguration der Anerkennung Assurs durch Israel. Im Rahmen dieser Harran-Bearbeitung sind die Jakobtexte bereits (zumindest) mit der Isaak-Perikope Gen 26 literarisch verbunden, da Jakob nach Gen 28,10 von Beerscheva nach Harran aufbricht. Dieser Vorgang ist deshalb von Bedeutung, weil er für die Übertragung des ursprünglich im Norden beheimateten Israelnamens auf den Süden Juda steht.64 64
Vgl. Reinhard G. Kratz, Israel als Staat und als Volk, ZThK 97, 2000, 1–17; Nadav Na’aman, Saul, Benjamin and the Emergence of “Biblical Israel”, ZAW 121, 2009, 211–224; Wolfgang Schütte, Wie
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Drittens: Die Jakobüberlieferung ist – wie die Abrahamsüberlieferung – von einem dichten System von Verheißungen durchzogen, die offenkundig dem redaktionellen Zusammenhalt einer Erzelterngeschichte im Umfang von Gen 12–36 oder sogar Gen 12–50 dienen. Besonders eng aufeinander abgestimmt sind Gen 12,1–3 und 28,13–15. Nur schon die Themen – Mehrung, Land, Beistand auf allen Wegen – erwecken den Eindruck, dass sich diese Texte an eine nachstaatliche Leserschaft richten. Dafür spricht auch die traditionsgeschichtliche Übertragung von Königsmetaphern auf das Volk selbst („großer Name“). Offenbar ist der national ausgerichtete Jakobzyklus auch nach dem Untergang von Israel und Juda politisch verstanden worden, doch in der neuen Weise, dass das in die Diaspora zerstreute „Israel“ eine Entität eigener politischer Relevanz ist. Viertens: Schließlich ist die Rezeption der Jakoberzählung in der Priesterschrift zu nennen, die die Politik nun auf Religions- und Familienpolitik beschränkt – die Heiligtumslegende von Bet-El muss depotenziert werden; das politische Zusammenleben betrifft vor allem die Möglichkeiten und Beschränkungen der Verheiratung unterschiedlicher Ethnien. Die Priesterschrift scheint dabei die politischen Realitäten ihrer Zeit mit ihrer eigenen religionsgeschichtlichen Theorie zur Identität Israels im Kreis der Völker vermitteln zu wollen. Fünftens: Die Fortschreibungsgeschichte der Jakobüberlieferung umfasst auch nachpriesterschriftliche Elemente, etwa die Erzählung von der Schändung der Dina zu
wurde Juda israelitisiert?, ZAW 124, 2012, 52–72; Daniel E. Fleming, The Legacy of Israel in Judah’s Bible. History, Politics, and the Reinscribing of Tradition, Cambridge 2012; vgl. jetzt aber Kristin Weingart, Stämmevolk – Staatsvolk – Gottesvolk? Studien zur Verwendung des Israel-Namens im Alten Testament, FAT II/68, Tübingen 2014.
Von Jakob zu Israel
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Sichem,65 die die von der Priesterschrift in die Erzelternerzählung eingeführte Beschneidungspraxis voraussetzt. Sechstens: Insgesamt dürfte der Jakobzyklus einer derjenigen Textbereiche des Alten Testaments sein, dessen Literaturgeschichte den politischen Wandel Israels – vom Nordreich über die Nord- und Südreichsdiaspora bis hin zur in das Perserreich eingebetteten Ethnie – am umfassendsten dokumentiert. In historischer Hinsicht umspannen die Texte den Zeitraum vom 9. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr., überlieferungsgeschichtliche Vorstufen dürften allerdings noch bis in das 2. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen. Das aufgrund von Fortschreibungselementen sich wandelnde Bild der Identität Israels im Jakobzyklus inkorporiert damit eine spannungsreiche Abfolge unterschiedlicher Konzeptionen, die sich aber jeweils aufeinander beziehen und in der vorliegenden Hebräischen Bibel mit weiteren politischen Entwürfen literarisch interagieren.
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Vgl. z. B. Christoph Levin, Dina. Wenn die Schrift wider sich selbst lautet, in: ders., Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament, BZAW 316, Berlin u. a. 2003, 49–59.
Lutz Doering
Fort- und Neuschreibung autoritativer Texte und Identitätsbildung im Jubiläenbuch sowie in Texten aus Qumran
I.
Einleitung
Der Begriff der Fortschreibung, der den vorliegenden Band mitbestimmt, bedarf der Klärung und der Präzisierung, sofern er auf Schriften des antiken Judentums angewendet werden soll. Wenn ich recht sehe, wird „Fortschreibung“ innerhalb der exegetischen und verwandten Fächer vorwiegend in der alttestamentlichen Wissenschaft gebraucht. Wie Martin Leuenberger in seinem Eintrag „Fortschreibung“ im WiBiLex darlegt,1 entstammt der Begriff dem redaktionsgeschichtlichen Neuansatz bei Walther Zimmerli und ist dann vor allem von Odil Hannes Steck breit verwendet worden, so dass er mittlerweile als gut eingeführter Begriff in der redaktionsgeschichtlich orientierten alttestamentlichen Forschung gelten kann. In der englischsprachigen Forschung wird er mittlerweile gern als Fremdwort beibehalten, wenn es etwa heißt: „[t]he Fortschreibung of a prophetic book“.2 In besonderem Maß an Redaktionsvorgängen in den prophetischen Büchern entwickelt, ist der Begriff in jüngerer Zeit auch für den Pentateuch verwendet worden.3 Dabei bezeichnet der Begriff „Fortschreibung“ insMartin Leuenberger, Art. Fortschreibung, in: WiBiLex, http:// www.bibelwissenschaft.de/wibilex/ (26.8.2016). 2 So etwa Gerd Granerød, Abraham and Melchizedek: Scribal Activity of Second Temple Times in Genesis 14 and Psalm 110, BZAW 406, Berlin 2010, 12. 3 Vgl. etwa den Beitrag von Konrad Schmid im vorliegenden Band. 1
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Lutz Doering
besondere die Redaktion von Textabschnitten innerhalb oder in unmittelbarer Fortsetzung einer biblischen Einzelschrift oder zumindest innerhalb einer als zusammengehörig empfundenen Schriftengruppe, etwa dem Pentateuch. Leuenberger weist auch darauf hin, dass in der neutestamentlichen Wissenschaft, ursprünglich im frankophonen Bereich, mittlerweile auch breiter, insbesondere in der Johannesforschung, der Begriff relecture dominiert, so etwa bei Jean Zumstein und seinem Schüler Andreas Dettwiler, aber auch bei Klaus Scholtissek, der zudem zwischen diachroner relecture und synchroner réécriture, dem Um-Schreiben durch denselben Autor, unterscheidet.4 Während diese Begriffe in der Johannesforschung ebenfalls redaktionsgeschichtliche Prozesse innerhalb eines Werks benennen, teilweise jedoch unter Berücksichtigung der johanneischen Briefe,5 stellt sich das Problem in literarischer Hinsicht beim Verhältnis der Deutero-Paulinen (sei es gegenüber Paulus, sei es untereinander) sowie von Judas- und 2. Petrusbrief in anderer Weise dar, insofern hier die Tätigkeit literarischer Bezugnahme zur Generierung eines selbständigen Werkes führt. Dettwiler etwa unterscheidet „relectures internes“ von „relectures externes“.6
Vgl. Jean Zumstein, Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, NTS 42, 1996, 394–411; Andreas Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995; ders., Le phénomène de la relecture dans la tradition johannique: une proposition de typologie, in: D. Marguerat/A. Curtis, eds., Intertextualités. La Bible en échos, Genève 2000, 185–200; Klaus Scholtissek, Relecture und réécriture: Neue Paradigmen zu Methode und Inhalt der Johannesauslegung aufgewiesen am Prolog 1,1–18 und der ersten Abschiedsrede 13,31–14,31, ThPh 75, 2000, 1–29. 5 So Zumstein, Relecture 397–400 (Joh und 1 Joh); Scholtissek, Relecture 7 (Joh und 1–3 Joh). 6 So mit Recht Dettwiler, Le phénomène 195: „Il convient de distinguer entre les relectures internes et les relectures externes et de réfléchir aux parentés et aux différences des deux types littéraires.“ 4
Fort- und Neuschreibung autoritativer Texte
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Eine ähnliche Situation findet sich nun im Bereich antiker jüdischer Texte. Ein Grenzfall sind konkurrierende Textrezensionen „biblisch“ gewordener Schriften, etwa der Bücher Jeremia, Ezechiel oder Samuel; hier ist die Grenze von scribal intervention und Fortschreibung nicht immer leicht zu ziehen. Bekanntlich finden sich Exemplare unterschiedlicher Textrezensionen unter den Handschriftenfunden aus Qumran.7 Ein Beispiel einer Textrezension mit erheblichen Amplifikationen ist das griechische Estherbuch, das nicht in Qumran gefunden wurde: wenngleich einige der sogenannten Zusätze zu Esther ursprünglich hebräische Materialien sein mögen, die in der Textgestalt des Masoretischen Textes unberücksichtigt geblieben sind, handelt es sich doch zumindest bei den Zusätzen B und E um griechischsprachige Text-Amplifikationen aus dem ägyptischen Judentum, die die Hinweise zu den Edikten in Est 3 und 8 aufnehmen und mit Brieftexten ausgestalten. Andere Weiterführungen biblischer Stoffe mögen zunächst als eine Art Appendix an bestehende Schriften angeschlossen worden sein, so nach der These von Reinhard Kratz die Epistula Jeremiae an das hebräische Jeremiabuch,8 doch zeigt die Textgeschichte im griechischen, lateinischen und syrischen Traditionsbereich, dass die Epistula Jeremiae dem „apokryphen“ Baruchbuch in verschiedener Weise zugeordnet werden konnte und so – wie dieses, das selbst ebenfalls Bezug auf das Jeremiabuch nimmt – gesondert von derjenigen Schrift zu stehen kam, die es in diesem Sinne „fortschreibt“. Ein andersartiges Verhältnis zum Prätext finden wir hingegen bei denjenigen antiken jüdischen Schriften, die auf einen autoritativ gewordenen Text derVgl. v. a. Armin Lange, Handbuch der Textfunde vom Toten Meer, Bd. 1: Die Handschriften biblischer Bücher von Qumran und den anderen Fundorten, Tübingen 2009. 8 Reinhard G. Kratz, Die Rezeption von Jeremia 10 und 29 im pseudepigraphen Brief des Jeremia, JSJ 26, 1995, 2–31. Kratz nimmt an, dass die Epistula Jeremiae, seiner Ansicht ursprünglich auf Hebräisch verfasst, die „Lücke“ einer brieflich gefassten Götzenpolemik füllen sollte, die sich aus der Lektüre des hebräischen Jeremiabuchs ergab. 7
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artig Bezug nehmen, dass sie neben ihn und in gewisser Weise in Konkurrenz zu ihm geraten; die typischen Beispiele für solche Texte sind das Genesis-Apokryphon, die Tempelrolle oder auch das Jubiläenbuch, von dem noch ausführlicher die Rede sein wird. Dieser Vorgang der Verfertigung selbständiger Schriften in Anlehnung an andere ist m. E. mit dem redaktionsgeschichtlichen Begriff „Fortschreibung“ ungenügend erfasst und eigens zu würdigen. Ich denke, es macht Sinn, für die Bestimmung der generischen Intertextualität – denn um eine solche geht es hier – auf die „Anatomie“ kommentierender Literatur zurückzugreifen, die Wolfgang Raible aus textlinguistischer Perspektive skizziert hat.9 Möglicherweise kommt ein solcher Rückgriff auch dem Verständnis des Begriffs „Fortschreibung“ zugute, der in Gefahr steht, zu einer Sonderbegrifflichkeit der alttestamentlichen Wissenschaft und verwandter Gebiete zu werden. Raible unterteilt die kommentierenden Textsorten gemäß vertikaler Polarität in solche, die Reduktionsformen eines einzelnen Textes, und solche, die Amplifikationen eines einzelnen Textes sind; gemäß horizontaler Gliederung stehen sich die Verfertigung eines Textes aus vielen Texten und die Erstellung von parallelen Texten gegenüber.10 Über Raible hinausgehend, könnte man für diese beiden Verarbeitungsformen jeweils auch noch einmal eine gleitende Skala zwischen Reduktion und Amplifikation aufstellen; so führt das Spektrum für den Text aus vielen Texten von Exzerpten über Digesten bis hin zu Sammelhandschriften, für parallele Texte vom Kurztext über die Übersetzung bis hin etwa zur Paraphrase. Wolfgang Raible, Arten des Kommentierens – Arten der Sinnbildung – Arten des Verstehens, in: J. Assmann/B. Gladigow, eds., Text und Kommentar, Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 4, München 1995, 51–73: 56–65. Der Band ist mittlerweile digital verfügbar: http://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/ display/bsb00041087_00001.html (25.8.2016). 10 S. zusammenfassend das Diagramm in Raible, Arten des Kommentierens 59. 9
Fort- und Neuschreibung autoritativer Texte
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Innerhalb dieser „Anatomie“ generischer Intertextualität wäre nun zu unterscheiden zwischen Fortschreibungen eines Textes, bei denen der fortgeschriebene Text im selben Werk (bzw. mindestens ursprünglich im Anschluss an das Werk) Platz findet wie der ursprüngliche Text, und solchen, bei denen neue Werke entstehen und die ich in Anlehnung an den englischen Begriff rewritten scripture als „Neuschreibungen“ bezeichnen möchte. „Fortschreibungen“ im engeren Sinne wären demnach Amplifikationen, während solche Weiterführungen, die in neuen Werken resultieren, unter der Überschrift „parallele Texte“ zu stehen kommen. Ein Sonderfall wären in diesem Kontext Werke, die als „Fortschreibungen“, d. h. Amplifikationen, entstanden, später jedoch eine unabhängige Stellung bzw. eine Anbindung an eine andere Schrift erfahren haben und somit im Verhältnis zum Prätext als „parallele Texte“ zu stehen gekommen sind; die Epistula Jeremiae wäre vielleicht ein Beispiel für solch einen Sonderfall. II.
Neuschreibung und Fortschreibung im Jubiläenbuch
Das Jubiläenbuch ist ein Text, der typischerweise genannt wird, wenn von rewritten scripture die Rede ist. Das Buch wird in das 2. Jh. v. Chr. datiert, wobei es, grob gesagt, drei Datierungspräferenzen gibt: kurz vor 168 v. Chr., in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. und gegen Ende des Jahrhunderts.11 Das letztere Datum kommt bereits sehr nahe an die paläographische Datierung des ältesten Textzeugen des Werks aus Qumran heran, so dass es mir unwahrscheinlich erscheint: die Handschrift 4Q216 wird
Vgl. die Übersicht bei James C. VanderKam, Recent Scholarship on the Book of Jubilees, CBR 6, 2008, 405–431: 407–409. Eine Datierung in die Zeit Hyrkanos’ I (134–104 v. Chr.) wird jetzt wieder vertreten von Cana Werman, The Book of Jubilees: Introduction, Translation, and Interpretation, Jerusalem 2015 (hebr.), v. a. 44–48. 11
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Lutz Doering
auf ca. 125–100 v. Chr. datiert12 (Näheres zu dieser Handschrift sogleich). Unter den Textfunden von Qumran sind nach der Zählung VanderKams 14 Handschriften des Jubiläenbuchs belegt.13 Damit ist dieses Werk nach Zahl der Handschriften hervorragend bezeugt; zum Vergleich die Handschriften-Zahlen der Bücher des Pentateuch nach der Zählung von Emanuel Tov:14 Genesis: 23–24, Exodus: 21 [16], Levitikus: 15 [13], Numeri: 9 [5], Deuteronomium: 35 [32], wobei einige Handschriften auch Exzerpte und abgekürzte Versionen, also Reduktionsformen „biblischer“ Bücher, bezeugen. Ebenfalls zum Vergleich sei die Zahl von Handschriften der Hauptwerke des Jachad angegeben: Damaskusschrift: 10, Gemeinschaftsregel: 12. Das Jubiläenbuch ist am häufigsten unter allen Schriften belegt, die nicht Eingang in den hebräischen Kanon gefunden haben, und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit als autoritative Schrift seitens weiterer Texte in Qumran betrachtet worden. Nach der hier vorgeschlagenen Terminologie ist dieses Werk also ein Stück „Neuschreibung“, und zwar, wie sich aus den ersten beiden Kapiteln des Buchs ergibt, von Gen 1 bis Ex 24, zusätzlich mit einigen Vorblicken auf späteres Material aus dem Buch Exodus.15 Das fiktive James C. VanderKam/Jozef T. Milik, 4Q216. 4QJubileesa, in: H. Attridge u. a., Qumran Cave 4. VIII: Parabiblical Texts, Pt. 1, DJD 13, Oxford 1994, 1–22: 2; Milik wollte die Handschrift sogar näher an die Mitte des 2. Jh. v. Chr. heranrücken. 13 1Q17; 1Q18; 2Q19; 2Q20; 3Q5 Frg. 3 und 1; 4Q176 19–21; 4Q216; 4Q218; 4Q219; 4Q220; 4Q221; 4Q222; 4Q223–224; 11Q12. James C. VanderKam, The Manuscript Tradition of Jubilees, in: G. Boccaccini/G. Ibba, eds., Enoch and the Mosaic Torah: The Evidence of Jubilees, Grand Rapids 2009, 3–21. Zu 4Q217, dessen Charakter als Jubiläen-Handschrift VanderKam damit nun bezweifelt, s.u., bei Anm. 52 und 58. 14 Emanuel Tov, Revised Lists of the Texts from the Judaean Desert, Brill 2010, 113–117. Handschriften, die zwei Bücher des Pentateuchs enthalten, werden zweifach gezählt; die Zahlen in eckigen Klammern geben die tatsächliche Zahl individueller Handschriften an. 15 Vgl. Lutz Doering, The Reception of the Book of Exodus in the Book of Jubilees, in: T. B. Dozemann/C. A. Evans/J. N. Lohr, eds., 12
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Setting des Buches, wie in Jub 1,1–4 (z.T. erhalten in 4Q216 I 4–12) dargestellt, entspricht Ex 24,12–18: Jub 1,1–4 1 Im ersten Jahr des Auszugs der Israeliten aus Ägypten, im dritten Monat, am 16. des Monats, sagte der Herr zu Mose: „Komm hinauf zu mir auf den Berg. Ich werde dir die zwei Steintafeln des Gesetzes und der Gebote geben, die ich geschrieben habe, so dass du sie unterweist (4Q216 7 fragmentarisch: um sie zu unterweisen).“ 2 Da ging Mose hinauf auf den Berg des Herrn.
Die Herrlichkeit des Herrn nahm Wohnung auf dem Berg Sinai, und eine Wolke bedeckte ihn für sechs Tage. 3 Als er Mose am siebten Tag in die Wolke rief, sah (dies)er die Herrlichkeit des Herrn wie ein loderndes Feuer auf dem Gipfel des Berges. 4 Mose blieb auf dem Berg 40 Tage und 40 Nächte, der Herr zeigte ihm das Frühere, und was kommen würde, teilte er ihm mit – die Einteilung aller Zeiten für das Gesetz und das Zeugnis.
Ex 24,12–18
12 Und der Herr sprach zu Mose: Komm herauf zu mir auf den Berg und bleib daselbst, dass ich dir gebe die steinernen Tafeln und das Gesetz und das Gebot, die ich geschrieben habe, um sie zu unterweisen. 13 Da machte sich Mose auf mit seinem Diener Josua und stieg auf den Berg Gottes. 14 Aber zu den Ältesten sprach er: Bleibt hier, bis wir zu euch zurückkommen. Siehe, Aaron und Hur sind bei euch; hat jemand eine Rechtssache, der wende sich an sie. 15 Als nun Mose auf den Berg kam, bedeckte die Wolke den Berg, 16 und die Herrlichkeit des Herrn ließ sich nieder auf dem Berg Sinai, und die Wolke bedeckte ihn sechs Tage; und am siebenten Tage erging der Ruf des Herrn an Mose aus der Wolke. 17 Und die Herrlichkeit des Herrn war anzusehen wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges vor den Israeliten. 17 Und Mose ging mitten in die Wolke hinein und stieg auf den Berg und blieb auf dem Berge 40 Tage und 40 Nächte.
Dieses Setting impliziert, dass das Buch gleichsam erst einsetzt, nachdem Gott die Zehn Gebote gesprochen hat. The Book of Exodus: Composition, Reception, and Interpretation, VT.S 164, Leiden 2014, 485–510.
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In diese Richtung könnte auch das in Jub 1,1 angegebene Datum weisen: der 16. des dritten Monats ist nach dem 364-Tage-Kalender des Jubiläenbuchs der Tag nach dem Wochenfest; dieses Fest ist nach 1QS 1,16–2,25a; Ps.Philo, LAB 23,2 mit Bundeserneuerung verbunden, und nach späteren Quellen wurde an ihm die Tora (bPes 58b) bzw. der Dekalog (SOR 5) gegeben. Mose soll auf dem Berg die beiden Steintafeln des Gesetzes und der Gebote erhalten, die Gott selbst geschrieben hat. Dabei präzisiert das Jubiläenbuch die Wendung „die steinernen Tafeln und das Gesetz und das Gebot, die ich geschrieben habe“ aus Ex 24,12, die problematisch ist und von den Rabbinen später auf den Dekalog, den Pentateuch, die Mischna sowie die Propheten und Schriften (bBer 5b) bezogen wurde. Für das Jubiläenbuch sind die steinernen Tafeln des Gesetzes und der Gebote wohl nicht im Besonderen der Dekalog, sondern die gesamte Tora, die in 6,22 als „Buch des ersten Gesetzes“ bezeichnet wird.16 Doch Mose wird auch noch 40 Tage und 40 Nächte in der Wolke vom Herrn unterwiesen – über die Einteilung aller Zeiten für das Gesetz und für das Zeugnis. Mit dieser Wendung ist wahrscheinlich der Inhalt des Jubiläenbuchs selbst bezeichnet. Gleichzeitig löst das Jubiläenbuch die bekannte Crux im Buch Exodus auf, ob nun das Gesetz von Gott (Ex 31,18; 32,16; 34,1) oder Mose (Ex 34,27) aufgeschrieben worden ist: während Gott die steinernen Tafeln beschrieben hat, ist es Mose, der den Inhalt des Jubiläenbuchs schreibt (vgl. Jub 1,7), der ihm von Gott gezeigt (1,4) und vom Angesichts-Engel diktiert wird (1,26f.). Das dargestellte Setting, wie es in Kapitel 1 des Jubiläenbuchs entwickelt wird, ist von Bedeutung für die Verhältnisbestimmung zur Tora. Zunächst will das neue Werk die Tora sicher nicht unmittelbar ersetzen, sondern präsentiert sich als ein eng mit ihr verbundenes Schriftstück, das das „Buch des ersten Gesetzes“ – wie schon diese Wendung nahelegt – ergänzt. Gleichzeitig tritt es aber faktisch Vgl. auch Jub 30,12, wo mit Blick auf die Dina-Episode auf das „in den Worten des Gesetzes“ Geschriebene verwiesen wird.
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in eine Konkurrenzsituation zum Pentateuch. Das geschieht zum einen durch seinen Inhalt – dazu gleich mehr. Zum andern könnte man mit VanderKam sogar annehmen, da die ersten Tafeln nach Exodus 32,19 ja sodann zerschmettert wurden, sei das Jubiläenbuch selbst (fiktiv) das einzige schriftliche Zeugnis aus der ersten 40-TagePeriode des Mose auf dem Berg Sinai, während die Tora (lediglich) eine Abschrift der sekundären zweiten Tafeln wäre.17 Wenngleich die Reichweite dieser Behauptung umstritten ist,18 wird man aber auf jeden Fall annehmen dürfen, dass das Jubiläenbuch sich selbst der Tora als autoritativ an die Seite stellt. Wenn wir uns dem Inhalt und dem speziellen Fokus des Jubiläenbuchs zuwenden, kommen wir das erste Mal auf die Frage des Verhältnisses der Neuschreibetätigkeit zur Identität der Gruppe und des Milieus zu sprechen, die in dieser Schrift im Blick sind. Grob gesagt, führt das Jubiläenbuch das Gesetz als ein nicht erst am Sinai gegebenes, sondern bereits mit der Schöpfung gesetztes ein, das exklusiv auf Israel zielt und dabei eine Verbindung herstellt zwischen diesem Volk und der Welt der höheren Engelklassen, die vor Gott Dienst tun. Gerahmt wird der Hauptteil des Buchs von den Sabbatvorschriften, an denen diese Charakteristika des Gesetzes breit entwickelt werden.19 Israel wird als heiliges Volk entworfen, das als Ganzes unter den Anforderungen steht, die das Heiligkeitsgesetz für Priester vorsieht. Dies konkretisiert sich in Bestimmungen moralischer Reinheit durch VermeiJames C. VanderKam, Moses Trumping Moses: Making the Book of Jubilees, in: S. Metso/H. Najman/ E. Schuller, eds., The Dead Sea Scrolls: Transmission of Traditions and Production of Texts, StTDJ 92, Leiden 2010, 25–45. 18 Nach John J. Collins, Apocalypse, Prophecy, and Pseudepigraphy: On Jewish Apocalyptic Literature, Grand Rapids 2015, 99 ist die Behauptung der Priorität des Jubiläenbuchs fraglich, da es immerhin in Hinsicht auf den Pentateuch vom „ersten Gesetz“ spreche. 19 Lutz Doering, The Concept of the Sabbath in the Book of Jubilees, in: M. Albani/J. Frey/A. Lange, eds., Studies in the Book of Jubilees, TSAJ 65, Tübingen 1997, 179–205. 17
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dung sexueller Verfehlung und vor allem in einer strikten Trennung von Angehörigen fremder Völker, die Tisch, Bett und Handel umfasst.20 Der 364-Tage-Kalender, als Solarkalender gegen jeglichen kalendarischen Einfluss des Mondes stilisiert (vgl. Jub 6,35–38),21 weist eine Sabbatstruktur auf, umfasst also volle Wochen (52x7 = 364). Weil deshalb jedes Monatsdatum in jedem Jahr auf denselben Wochentag fällt, ferner das Jahr am vierten (Schöpfungs-) Tag – Mittwoch – beginnt und, von da an gerechnet, die biblisch mit ihrem Monatsdatum angegebenen Feiertage stets den Sabbat aussparen, garantiert dieser Kalender die beständige Trennung zwischen jüdischen (Haupt-) Festen und Sabbaten.22 Die chronologische Struktur basiert auf den drei heptadischen Ebenen von Jahren, Jahrwochen und Jubiläen (d. h. Perioden von 7x7 = 49 Jahren). Genau 50 Jubiläen vergehen vom Anfang der Schöpfung bis zum Einzug ins Land, von dem in eine Zukunft geblickt wird, in der „die Jubiläen vorübergehen (werden), bis Israel gereinigt ist von aller Sünde der Unzucht und Unreinheit und Befleckung und Verfehlung und des Irrtums und wohnt im ganzen Land, wenn es Vertrauen hat und wenn es für es keinen Satan mehr gibt noch irgend etwas Böses. Und das Land wird
20 William R. G. Loader, Enoch, Levi, and Jubilees on Sexuality: Attitudes Towards Sexuality in the Early Enoch Literature, the Aramaic Levi Document, and the Book of Jubilees, Grand Rapids 2007; Lutz Doering, Purity and Impurity in the Book of Jubilees, in: G. Boccaccini/G. Ibba, eds., Enoch and the Mosaic Torah: The Evidence of Jubilees, Grand Rapids 2009, 261–275; Christine Hayes, Gentile Impurities and Jewish Identities: Intermarriage and Conversion from the Bible to the Talmud, New York 2002. 21 Die neuere Forschung hat erkannt, dass der solare Fokus des Kalenders im Jubiläenbuch eine Besonderheit darstellt gegenüber anderen Varianten des 364-Tage-Kalenders, der daher nicht generell als „solarer“ Kalender bezeichnet werden sollte. Vgl. Jonathan Ben-Dov/ Stéphane Saulnier, Qumran Calendars: A Survey of Scholarship 1980–2007, CBR 7, 2008, 124–168: 129.152–156. 22 Nur zwei Zwischenfeiertage in den Mazzot- und Sukkot-Wochen (18.I. und 18.VII.) fallen auf einen Sabbat.
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rein sein von jener Zeit an bis in alle Tage“ (Jub 50,5).23 Es geht, kurz gesagt, ganz deutlich um einen Entwurf für Israel im Ganzen, das in der hellenistischen Welt in Bedrängnis steht, allerdings um einen Entwurf aus einer ganz bestimmten Perspektive, die man „priesterlich“ nennen könnte. Durch die Einschreibung von Israels Tora und Halacha in die Schöpfungsstruktur wird Israel eigentlich wieder in dieser Welt beheimatet. Dies weist uns nach Molly Zahn auf ein wesentliches Anliegen von Neuschreibungen hin: “The function of such compositions … is profoundly interpretive: they aim to provide an authoritative version of the earlier tradition that corresponds more closely than the original text could to the situation or ideology of the authors and their community.”24 Lange Zeit ist das Jubiläenbuch als ein weitgehend einheitliches Werk betrachtet worden.25 In jüngerer Zeit sind von mehreren Forschern und Forscherinnen einzelne Verse, insbesondere in den Kapiteln 1; 23 und 50, einer späteren Redaktion im Jachad von Qumran zugeschrieben worden. So wäre etwa nach Christoph Berner die ihm zufolge aus den Jahren 159–152 v. Chr. datierende Grundschrift in einem ersten Schritt um Jub 23,14–31; 50,5 als Reaktion auf die Einsetzung des Hasmonäers Jonathan als Hoherpriester, in einem nächsten Schritt um 1,5–26 und endlich um die Hinweise auf das eschatologische Heiligtum in 1,4.27f.29; 4,26 (vielleicht auch 15,33) er-
Vgl. dazu James C. VanderKam, Das chronologische Konzept des Jubiläenbuchs, ZAW 107, 1995, 80–100; dort auch zur Verschiebung des Verständnisses von „Jubiläum“ vom 50. Jahr (Lev 25,8–55; 27,16–25) auf eine Periode von 49 Jahren und zu antiken jüdischen Parallelen für die Jubiläen-Zählung (1 Hen 93,3–10; 91,11–17 und Dan 9,24–27). 24 Molly M. Zahn, Prophecy Rewritten: Use of Scriptural Traditions in 4QPseudo-Ezechiel, JAJ 6, 2014, 335–367: 338. 25 Dafür steht beispielhaft der Ansatz von James C. VanderKam; vgl. zuletzt ders., Jubilees as the Composition of One Author?, RdQ 26/104, 2014, 501–516. 23
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weitert worden.26 Nun ist aber gerade für die einigermaßen sicher dem Jachad zuzuordnenden Texte eine Verbindung von Neuschöpfung und neuem Tempel, wie sie in Jub 1,29; 4,26 vorliegt, nicht ausdrücklich bezeugt;27 der am nächsten stehende Vergleichstext ist 11QTa 29,8– 10, ein Text, der wahrscheinlich der vollen Ausprägung des Jachad vorausliegt.28 VanderKam bemerkt mit Recht, dass mit Jub 1,27 die göttliche Anweisung an den Angesichts-Engel fehlen würde, „für Mose“ zu „diktieren“, die im Hauptteil des Buchs doch benötigt würde; und er bezweifelt, dass aus der Begrenzung der narrativen Durchführung bis zum Einzug ins Land, die ja exemplarischen Charakter haben könnte, auf das ursprüngliche Fehlen eschatologischer Bezüge in der Grundschrift geschlossen werden kann.29 Als eine weitere Vertreterin einer späteren Redaktion schrieb Liora Ravid die Sabbatgesetze von Jub 50,6–13 einer qumranischen Redaktion zu; doch gerade hier lassen sich Unterschiede zwischen dem Jubiläenbuch und den Sabbattexten aus Qumran aufzeigen;30 ich komme darauf noch zurück (Abschnitt 6). Christoph Berner, Jahre, Jahrwochen und Jubiläen. Heptadische Geschichtskonzeptionen im Antiken Judentum, BZAW 363, Berlin 2006, 239–254. 27 Vgl. Lutz Doering, Urzeit-Endzeit Correlation in the Dead Sea Scrolls and Pseudepigrapha, in: H.-J. Eckstein/C. Landmesser/H. Lichtenberger, eds., Eschatologie – Eschatology: The Sixth DurhamTübingen Research Symposium, WUNT 272, Tübingen 2011, 19–58: 34–36.44–46. 28 Zur Übersicht über die für die Tempelrolle vertretenen Datierungen s. Géza G. Xeravits/Peter Porzig, Einführung in die Qumranliteratur. Die Handschriften vom Toten Meer, Berlin 2015, 79. 29 James C. VanderKam, Composition of One Author, 504f. 30 Liora Ravid, 6–13 הלכות שבת בספר היובלים נ, Tarb. 69, 2000, 161– 166; dagegen Lutz Doering, Jub 50,6–13 als Schlussabschnitt des Jubiläenbuchs – Nachtrag aus Qumran oder ursprünglicher Bestandteil des Werks?, RdQ 20/79, 2002, 359–387; James C. VanderKam, The End of the Matter: Jubilees 50:6–13 and the Unity of the Book, in: L. LiDonnici/A. Lieber, eds., Heavenly Tablets: Interpretation, Identity and Tradition in Ancient Judaism, JSJ.S 119, Leiden 2007, 267–284. Michael Segal, The Book of Jubilees: Rewritten Bible, Redaction, Ideology and Theology, JSJ.S 117, Leiden 2007, 19f., hat einen 26
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Zwei wesentlich weiter reichende Ansätze sind von Michael Segal und James Kugel vertreten worden. Beide empfinden gewisse Widersprüche im Jubiläenbuch als zu stark, um sie einem einzigen Autor zuzuschreiben. Michael Segal geht davon aus, dass jemand, den er ursprünglich „Redaktor“ nannte, bestehende Neuschreibungen von Genesis-Exodus mit einem chronologischen Rahmen und halachischem Material verbunden habe. Dabei habe er Widersprüche zwischen dem neuen Material und den genannten Neuschreibungen eingetragen.31 VanderKam hat angemerkt, dass sich manche der angeblichen Spannungen durch ein anderes Verständnis der Syntax auflösen, dass sich einige chronologische Schwierigkeiten durch Schreiberfehler erklären ließen und dass die von Segal benannten Spannungen zwischen narrativen und halachischen Passagen auf das Zusammenführen von unterschiedlichen Traditionen durch den für die Komposition Verantwortlichen deuteten, den man somit auch als „Autor“ bezeichnen könne.32 Segal selbst spricht mittlerweile auch nicht mehr vom „Redaktor“, sondern vom „Kompositor“ des Buchs,33 der unterschiedliche Stücke aufgenommen und verarbeitet hätte. Im Blick auf die verwendeten narrativen Stücke könnte man schon von Fortschreibung sprechen, doch verschiebt sich in diesem mündlichen Vorschlag von Menachem Kister aufgenommen, demzufolge in Jub 50,13a und 13b ein unterschiedliches Verständnis von „Sabbat“ zugrunde liegt: Wochensabbat gegenüber Sabbat des Landes = Sabbatjahr. Ich verstehe aber v. 13b als im Land gefeierter Wochensabbat, womit dieses Kriterium hinfällig wird. 31 Segal, The Book of Jubilees; ders., Rewriting the Story of Dinah and Shechem: The Literary Development of Jubilees 30, in: N. Dávid u. a., eds., The Hebrew Bible in Light of the Dead Sea Scrolls, FRLANT 239, Göttingen 2012, 337–356; ders., The Literary Relationship between the Genesis Apocryphon and Jubilees: The Chronology of Abram and Sarai’s Descent to Egypt, Aramaic Studies 8, 2010, 71–88. 32 VanderKam, Composition of One Author 510–516. 33 Michael Segal, The Dynamics of Composition and Rewriting in Jubilees and Pseudo-Jubilees, RdQ 26/104, 2014, 555–577: 559 (“composer”).
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Modell das Gewicht zugunsten des komponierten Textes, so dass man eher von einer „Einschreibung“ vorausliegender Einzelstücke sprechen könnte. Segal scheint davon auszugehen, dass die meisten dieser Narrative schriftlich vorlagen. VanderKam nimmt offenbar eher mündliche Traditionen an, die der von ihm als Autor Bezeichnete eingearbeitet hat. James Kugel hat hingegen die These aufgestellt, dass ein Interpolator, der vor allem an der Sprache der „himmlischen Tafeln“ erkennbar sei, in einen Grundtext 29 Passagen einschaltete, die seinem rigiden Rechtsverständnis entsprächen.34 Hier könnte man von einer Form von Fortschreibung sprechen. Kugel muss sich aber die Frage gefallen lassen, ob ein Interpolator denn leichter mit solchen Spannungen leben konnte als ein uneinheitlich schreibender Autor. Forschungsgeschichtlich sehe ich hier einen Rückfall in ein eher mechanistisches Redaktionsverständnis, das gerade nicht den kreativen, entwickelnden Aspekt der Fortschreibung in den Vordergrund stellt. Kugels Hauptkriterium, die Sprache der „himmlischen Tafeln“,35 ist zu weich, um zu gesicherten Entscheidungen zu kommen. Die beiden flankierenden „Charakteristiken“ des Interpolators jedoch, die zu einem kumulativen Aufweis seiner Existenz führen sollen, nämlich Widersprüche bzw. Missverständnisse im Blick auf die Grundschrift und ein völlig anderes Gesetzesverständnis als das der Grundschrift, werfen gravierende Fragen auf. VanderKam und andere haben an einzelnen Beispielen aufgezeigt, dass keine derart grundsätzlichen Spannungen vorliegen, wie sie von Kugel behauptet werden.36 James Kugel, On the Interpolations in the Book of Jubilees, RdQ 24/94, 2009, 215–272; ders., A Walk Through Jubilees: Studies in the Book of Jubilees and the World of its Creation, JSJ.S 156, Leiden 2012, 11–16.207–303. 35 So z. B. Kugel, Walk 227: “the special language of the Heavenly Tablets”. 36 VanderKam, Composition of One Author 505–510; ders., Rez. J. Kugel, A Walk Through Jubilees, DSD 22, 2015, 118–122; Jacques A.T.G.M. van Ruiten, Some Questions with Regard to a Supposed In34
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Der jedoch bleibt weiterhin von seiner Theorie des Interpolators überzeugt.37 Ein Sonderfall einer Uneinheitlichkeitsthese ist die Annahme, dass Kapitel 1 im Ganzen ein späterer Zusatz zum Jubiläenbuch sei. Zunächst erwogen von Charlotte Hempel38 und jüngst detailliert vorgestellt von Matthew Monger und Eibert Tigchelaar,39 geht diese These von der Beobachtung aus, dass das erste Blatt der Handschrift 4Q216, welches Kapitel 1 enthält, in einer jüngeren Hand geschrieben ist (späthasmonäisch, ca. Mitte des 1. Jhs. v. Chr.).40 Behauptet wird nun, dass das Werk ursprünglich mit Kap. 2 angefangen habe.41 Damit stellen Hempel, Monger und Tigchelaar die anders lautende Erklärung der Herausgeber VanderKam und Milik in Frage, die wie für die Tempelrolle (11Q19) annehmen, dass der erste, d. h. außenliegende, Bogen aus Gründen der Reparatur ersetzt wurde.42 terpolator in the Book of Jubilees Focused on the Festival of Weeks (Jub. 6:1–22), RdQ 26/104, 2014, 539–553. Werman, Jubilees 44f. verwirft Kugels Sicht u. a., weil das ganze Buch sectarian Kennzeichen aufweise, doch bleiben m. E. gravierende Unterschiede zum voll entwickelten Jachad bestehen; s. unten, §§ V-VI. 37 James Kugel, The Compositional History of the Book of Jubilees, RdQ 26/104, 2014, 517–537. 38 Charlotte Hempel, The Place of the Book of Jubilees at Qumran and Beyond, in: T. Lim, ed., The Dead Sea Scrolls in Their Historical Context, Edinburgh 2000, 179–196: 189f. 39 Matthew P. Monger, 4Q216 and the State of Jubilees at Qumran, RdQ 26/104, 2014, 595–612; ders., The Transmission of Jubilees: Reevaluating the Textual Basis, in: L. DiTommaso/G. Oegema, eds., New Vistas on Early Judaism and Christianity: From Enoch to Montréal and Back, London 2016, 153–171: 156–166; Eibert J. C. Tigchelaar, The Qumran Jubilees Manuscripts as Evidence for the Literary Growth of the Book, RdQ 26/104, 2014, 579–594. 40 VanderKam/Milik in Attridge u. a., DJD 13 2. 41 Alternativ nimmt Hempel an, dass die Form von Kap. 1 sich von derjenigen des vorne angesetzten Blattes unterschieden hätte. Dies wird aber bei Tigchelaar und Monger kaum weiterverfolgt. In diesem Fall könnte man über die „ursprüngliche“ Form von Kap. 1 kaum Aussagen treffen. 42 VanderKam/Milik in Attridge u. a., DJD 13 1.
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Bei der Beurteilung der unterschiedlichen Erklärungen zu berücksichtigen ist die Erkenntnis, dass 4Q216 aufgrund der recht geringen Zeilenzahl pro Kolumne (17 Zeilen, basierend auf der Annahme, dass in Frg. 18 alle Zeilen der Kol. VII erhalten sind)43 nicht das ganze Jubiläenbuch enthalten haben kann – das würde eine Kolumnenzahl von 100 und mehr Kolumnen erfordern, was viel zu lang wäre. Tigchelaar nennt zunächst zwei Optionen: mit Milik könnte man erwägen, dass das Jubiläenbuch in einigen Fällen auf zwei Handschriften aufgeteilt abgeschrieben worden sei (für eine entsprechende Zweiteilung gibt es Hinweise bei Jesaja-Handschriften),44 oder aber man nimmt an, dass manche Handschriften nur Teile des Buches belegten; dies böte sich etwa für fest umrissene Abschnitte wie die „Apokalypse“ Jub 23,12–31 an.45 Dabei könne im Fall von 4Q216 ausgeschlossen werden, dass es sich um eine Quelle des späteren Jubiläenbuchs handle, da das Begriffspaar „Zeugnis und erstes Gesetz“ (4Q216 VII 17) nur im Rahmen des im Jubiläenbuch entwickelten ideologischen Konzepts wirklich Sinn macht.46 Statt jedoch die Option einer Zweiteilung des Buches weiterzuverfolgen, gehen Tigchelaar und – ihm folgend – Monger davon aus, dass 4Q216 (beginnend mit Blatt 2 bzw. Kol. V) ein Exzerpt des JubiläenEbd. In der großen Jesaja-Rolle 1QJesa findet sich bekanntlich ein Abstand zwischen Kap. 33 und 34, der das Buch in zwei Teile teilt. George J. Brooke, Isaiah at Qumran, in: C. Mathews McGinnis/P. K. Tull, eds., “As Those Who Are Taught”: The Interpretation of Isaiah from the LXX to the SBL, Atlanta 200, 69–85: 77–80 erwägt die Möglichkeit, dass einige der Jes-Handschriften aus Höhle 4Q nur einen der beiden Teile umfasst haben. Die Aufteilung „biblischer“ Schriften auf mehrere Rollen ergibt sich auch aus unterschiedlichen Zählungen „biblischer“ Bücher bei antiken Autoren sowie der gelegentlichen Bezeichnung von Jes, Dan bzw. Ez jeweils als „Bücher“ (Pl.) bei Josephus; vgl. Roger T. Beckwith, The Old Testament Canon of the New Testament Church and its Background in Early Judaism, London 1985, 235–273 („Bücher“: 264 Anm. 21). 45 Tigchelaar, Qumran Jubilees Manuscripts 583. 46 Tigchelaar, Qumran Jubilees Manuscripts 586. 43 44
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buchs war.47 Monger zieht diese Hypothese auch für die Argumentation heran, dass Blatt 1 kein repair sheet gewesen sein könne: bei Exzerpten mache man sich wohl nicht die Mühe, das erste Blatt auszutauschen.48 Stattdessen könne die Anfügung der Hinweis auf einen redaktionellen Prozess sein: die Vorschaltung des jetzigen Kap. 1. Doch macht bei einem Exzerpt ein derartiger redaktioneller Vorgang wirklich mehr Sinn als der Austausch eines Blattes? Das steht zu bezweifeln. Aber auch, wenn man die alternative Möglichkeit in Betracht zieht, dass 4Q216 den ersten Teil einer Jubiläenbuch-Kopie bezeugt, sind die Thesen Hempels, Mongers und Tigchelaars mit einigen Schwierigkeiten behaftet. Zunächst einmal müsste man annehmen, dass das jetzige Kap. 1 in Umfang und Layout genauso entworfen wurden, dass sie auf ein vorgeschaltetes Blatt passen. Sodann: Falls das Werk mit Kap. 2 angefangen hätte, wäre der (nicht vollständig) erhaltene heutige Textanfang äußerst unvermittelt (Übersetzung nach der Rekonstruktion von VanderKam und Milik; verzeichnet sind auch die Änderungen in Qimrons Ausgabe):49 1 [Und der Engel des Angesichts sprach zu Mose mit dem Wort des Herrn Folgendes: Schreib alle Wor]te der Schöpfung, wie 2 [am sechsten Tag YHWH Gott vollendete alle seine Werke (Qimron: all seine Arbeit) und alles, was er geschaffen hatte,] und ruhte am [siebten] Tage; 3 [und er heiligte ihn für alle Weltzeiten (Qimron: für die Weltzeiten der Weltzeiten) und gab ihn als ein Zeichen für alle] seine Werke.
Tigchelaar, Qumran Jubilees Manuscripts 585; Monger, 4Q216 606. – Das würde freilich eine sehr frühe „Reduktionsform“ des Jubiläenbuchs implizieren, nur wenige Jahrzehnte nach seiner vermutlichen Entstehung. 48 Ebd.; Monger weist dort Anm. 46 aus, dass er diese Einschätzung einer Anregung von Kipp Davis verdankt. 49 Nach VanderKam/Milik in Attridge u. a., DJD 13 13; Elisha Qimron, The Dead Sea Scrolls: The Hebrew Writings, Vol. 2, Jerusalem 2013, 226 (hebr.). 47
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Nun hat Tigchelaar auch erwogen,50 ob der Beginn mit Kap. 2 nicht um ein bis zwei Zeilen nach unten verschoben sein kann. Dann könnte vor 2,1 ein einleitender Satz gestanden haben.51 Ob dieser jedoch zur in Kap. 2 nötigen, komplexen Situationsangabe ausgereicht hätte, ist zu fragen. So wäre das „Wort des Herrn“ (vorausgesetzt, es ist korrekt rekonstruiert) doch wohl am besten auf Jub 1,27 zurück zu beziehen: Gott weist den Angesichts-Engel an, „für Mose zu diktieren…“ (so nach 4Q216 IV 3). Wie bereits erwähnt, halte ich VanderKams Einschätzung für überzeugend, dass der Hauptteil des Buchs eine solche Anweisung benötigt. Tigchelaar verbindet seine Argumentation bezüglich 4Q216 mit Beobachtungen zu 4Q217 Frg. 1+2:52 In dieser kursiven Handschrift auf Papyrus sei Jub 1,29 in einer gegenüber dem äthiopischen Text kürzeren Form belegt. Die kursive Hand und deren Größe sprechen dagegen, dass 4Q217 eine vollständige Kopie des Jubiläenbuch enthalten hätte. Tigchelaar spekuliert, ob hier nicht vielleicht eine der Quellen für das dann dem Rest des Buchs vorgeschaltete Kap. 1 vorliegt. Nach Elisha Qimrons Rekonstruktion besteht eine größere thematische Übereinstimmung mit Jub 1,29 gemäß dem äthiopischen Text, als Tigchelaar zugesteht; Qimron zufolge ist 4Q217 fragmentarischer Textzeuge des Jubiläenbuchs.53 Alternativ könnte man erwägen, 4Q217 zu Tigchelaar, Qumran Jubilees Manuscripts 585 Anm. 30. Der dann nach Vorschaltung von Kap. 1 stehen geblieben wäre? 52 Bei 4Q217 ist es umstritten, ob die Handschrift unmittelbarer Textzeuge des Jubiläenbuchs ist; VanderKam bestreitet das nun; s.o., Anm. 13, und u., vor Anm. 58. 53 Qimron, Dead Sea Scrolls 2, 225 (hebr.). Qimrons Rekonstruktion enthält sowohl Hinweise auf die Erneuerung der Himmelsleuchten, auf „Heilung“ und auf die „Erwählten Israels“ – Themen, die Tigchelaar, Qumran Jubilees Manuscripts 588 als Erweiterungen des im Äthiopischen bezeugten Textes erwägt. Allerdings ist Qimrons Rekonstruktion [ ]וכלam Ende von Z. 4 von Frg. 2 problematisch, da die Fotografien (z. B. B-478062 auf www.deadseascrolls.org.il [14.9.2016]) keinen Hinweis auf den zu erwartenden langen – in den (materiell vorhandenen) Zwischenraum über der Zeile ragenden – Strich des Lamed bieten; auch sind Reste des ersten Buchstabens des 50 51
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den „Neuschreibungen“ des Buchs zu rechnen (s. den nächsten Abschnitt). Eine weitere Anfrage an die Vorschaltungs-These ergibt sich daraus, dass einerseits behauptet wird, man könne an 4Q216 redaktionelle Prozesse ablesen, auf der anderen Seite aber geradezu ausgeschlossen ist, dass die weitere Texttradition des Jubiläenbuchs auf der Handschrift 4Q216 aufbaut – nach der oben dargestellten Form der These allein schon deshalb, weil Tigchelaar und Monger vom Charakter eines Exzerpts ausgehen, ferner auch, weil sowohl in 4Q216 II 14–17 als auch in VII 6f. eine deutlich vom Äthiopischen (sowie weiteren Zeugen) abweichende Textgestalt belegt ist.54 Während das Ernstnehmen des materiellen Befunds bei Monger und Tigchelaar methodisch weiterführend ist, verbleiben die konkreten Vorschläge zur Redaktionsgeschichte des Kap. 1 im Spekulativen.55 III. Quellen oder Spin-offs? Jubiläenbuch und verwandte Handschriften aus Höhle 4 Eine Reihe von Handschriften aus Höhle 4 könnte Hinweise auf eine „Neuschreibung“ des Jubiläenbuchs liefern. Zunächst ist hier die bereits erwähnte Handschrift 4Q217 zu nennen, in DJD 13 als „4QJubb?“ betitelt. Milik hatte angenommen, dass es sich um eine Kopie des betreffenden Wortes (nach DJD 13 26f. ein He) erkennbar. Während Tigchelaar (ebd.) dem Vorschlag Miliks (DJD 13 27) folgt, in Z. 5 von Frg. 2 Text aus Jub 2,1 zu identifizieren, rekonstruiert Qimron diese Zeile anders. 54 Vgl. Tigchelaar, Qumran Jubilees Manuscripts 580; Monger, 4Q216 609–611. 55 Tigchelaar beansprucht auch eine gewisse Nähe zu Thesen von Menachem Kister, ספר היובלים, עיונים בחזון החיות.לתולדות כת האיסיים וברית דמשק, Tarb. 56, 1986/87, 1–18. Allerdings bespricht Kister hier nur einzelne Verse aus Jub 1 und 23 (Jub 1,9–16; 23,17–30), die er in den historischen Kontext der Hasmonäerzeit und der Geschichte des Jachad stellt, und geht nicht von einer redaktionellen Vorschaltung von Jub 1 aus.
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Jubiläenbuchs handelt. Wie gesagt, bieten Frg. 1+2 einen Text, der Jub 1,29 – möglicherweise auch 2,156 – entspricht; Frg. 3 5 mit der Wendung „von den Jubiläen“ erinnert an Jub 2,30 „mehr als jedes Jubiläum der Jubiläen“. VanderKam hat demgegenüber auf die Unterschiede zur äthiopischen Textgestalt hingewiesen und bezweifelt, dass die Handschrift das Jubiläenbuch repräsentiert.57 In Erinnerung zu rufen ist die kursive Hand, der Beschreibstoff Papyrus und die Größe der Buchstaben, die es als fraglich erscheinen lassen, dass die Handschrift das ganze Jubiläenbuch bezeugt hätte. Da die Hand auf etwa 50 v. Chr., vielleicht etwas früher, datiert wird, wäre durchaus zu erwägen, ob es sich nicht eher um eine „Neuschreibung“ von Teilen des Jubiläenbuchs handelt58 als – wie von Tigchelaar erwogen – um eine Vorlage für das Jubiläenbuch (die dann noch einmal Mitte des 1. Jh. v. Chr. abgeschrieben worden wäre?). Es könnte sich somit um etwas handeln, das Daniel Stökl Ben Ezra – allerdings nicht mit Bezug auf diese Handschrift – als “Spin-off”-Text bezeichnet hat.59 Ähnliches könnte in den als “Pseudo-Jubilees” bezeichneten Handschriften 4Q225, 4Q226 und 4Q227 vorliegen. Atar Livneh hält 4Q225–226 für Repräsentanten eines gemeinsamen Werks,60 das neben Ähnlichkeiten auch
So nach der Rekonstruktion von Milik, der Tigchelaar folgt; anders Qimron; s.o., Anm. 53. 57 So VanderKam in Attridge u. a., DJD 13 25; ders., Manuscript Tradition 6. 58 David Hamidović, Les traditions du jubilé à Qumrân, Paris 2007, 275.284 rechnet 4Q217 dem Werk “Pseudo-Jubilees” zu; s. im Folgenden. 59 Daniel Stökl Ben Ezra, Qumran. Die Texte vom Toten Meer und das antike Judentum, UTB Jüdische Studien 4681, Tübingen 2016, 223–227. 60 Atar Livneh, The Composition Pseudo-Jubilees from Qumran (4Q225; 4Q226; 4Q227): A New Edition, Introduction, and Commentary, PhD Diss., Haifa University, 2010 (hebräisch). Hamidović, Les traditions du jubilé 275–286 betrachtet 4Q225 und 4Q226 als eng verwandt und als Exemplare des Werks “Pseudo-Jubilees”, aber auf56
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Unterschiede zum Jubiläenbuch sowie Affinitäten mit anderen jüdischen Traditionen zeigt. Falls man keine direkte Abhängigkeit annehmen möchte, wären dennoch die Ähnlichkeiten mit dem Jubiläenbuch zu erklären. Nach James Kugel61 war der Autor des auf 4Q225 bewahrten Textes mit dem Jubiläenbuch vertraut und erachtete es als autoritativen Text, nahm sich aber die Freiheit, exegetische Traditionen auch anderswoher zu beziehen; 4Q225 sei ein “explicative retelling”, das etwa auf biblisierende Sprache verzichte – “in other words, an early commentary on Jubilees”. Überaus deutlich gegen das Verständnis von 4Q225 als “Pseudo-Jubilees” ausgesprochen hat sich jedoch Emile Puech; in der Diskussion seiner umfangreichen Rekonstruktion der Handschrift (mit substantiellen Text-Vervollständigungen insbesondere zu Frg. 1) betont er die Differenzen zum Jubiläenbuch, die Verarbeitung einer Vielzahl exegetischer Referenzen und dabei die wesentliche Orientierung am Buch Genesis. Puech zufolge könnte man 4Q225 als „essenischen Midrasch“ bezeichnen.62 Gegenüber Kugel wie Puech ist jedoch einzuwenden, dass das Werk eher die Charakteristika eines „parallelen Textes“ aufweist denn die eines Kommentars oder „Midrasch“. Insofern könnte man 4Q225 doch als (natürlich immer auch interpretierende) Neuschreibung des Patriarchen-Narrativs verstehen, wobei aber das Jubiläenbuch nur einer von mehreren Prä-Texten wäre. Puech hat auch die verbreitete enge Zuordnung von 4Q225 zu 4Q226 in Frage gestellt, dabei aber für 4Q226 eine größere Nähe zum Jubiläenbuch eingeräumt.63 Die Datierung der beiden Handschriften64 grund der Unterschiede zwischen 4Q225 2 ii 8–14 und 4Q226 Frg. 7 nicht als Kopien derselben Textform. 61 Kugel, A Walk Through Jubilees 390. 62 Emile Puech, 4Q225 revisité: Un midrash essénien?, RevQ 26/102, 2013, 169–209. 63 Emile Puech, 4Q226 7 revisité, RevQ 26/102, 2013, 285–290. Als problematisch empfinde ich Puechs Analogie für das Verhältnis von 4Q225 und 4Q226: die Übereinstimmungen seien zu vergleichen mit denjenigen von 4Q174 (4QTest) 21–30 und 4Q379 (4QApocrJosb) 22
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sowie die Verwendung geprägter Termini wie „Belial“ wäre mit einer Abfassung im Jachad von Qumran nicht unvereinbar.65 Für 4Q227 stellt Livneh eine literarische Verbindung mit Jub 4,17–24 (Henoch) fest, lässt es aber offen, ob das Werk direkt vom Jubiläenbuch abhängig ist oder von einer beiden gemeinsamen Tradition. Zugunsten einer Abhängigkeit vom Jubiläenbuch könnte man freilich – allerdings zirkulär – auf die anderweitige Bekanntheit des Buchs verweisen. Umgekehrt schlägt Michael Segal vor, dass 4Q227 eine der Quellen des Jubiläenbuchs war. Der Grund ist, dass in dieser Handschrift durch die Angabe der Zeit, die Henoch „bei Gottes Engeln war“, mit sechs Jubiläen angegeben wird, die den 300 Jahren aus Gen 5,22 entsprechen. Dieselbe Angabe findet sich in Jub 4,21. Das heißt aber, dass ein Jubiläum hier 50 Jahre, nicht – wie sonst im Jubiläenbuch – 49 Jahre umfasste, und eben dies sei 4Q227 als Quelle entnommen.66 Allerdings könnte das Verhältnis von Handschriften und Traditionen noch komplizierter sein, als Segal annimmt: Das Jubiläenbuch könnte die Angabe von sechs Jubiläen aus mündlicher Tradition übernommen haben, und 4Q227 könnte sie wiederum aus dem Jubiläenbuch gewonnen haben. Immerhin datiert die Handschrift aus frühherodianischer Zeit. Will man daher nicht annehmen, dass der Schreiber dieser Handschrift eine Quelle des Jubiläenbuchs noch einmal abgeschrieben hätte, könnte man den Text auch ii 7–15. Doch in 4Q175 geht es wohl um ein Textexzerpt des JosuaApokryphons, nicht – wie Puech andeutet – um die Einbettung eines gemeinsamen Abschnitts in zwei verschiedene Werke. 64 Nach VanderKam/Milik stammt 4Q225 aus herodianischer Zeit (30 v. Chr. – 20 n. Chr.), 4Q226 aus späthasmonäisch-frühherodianischer Zeit (50–25 v. Chr.; in Attridge u. a., DJD 13 141.157). 65 Hingegen kommt „Belial“ im Jubiläenbuch nur in den Wendungen „Geist Belials“ (Jub 1,20) und „alle Menschen Belials“ (15,33) vor, also niemals als handelnde Figur. Mindestens zu letzterer Stelle ist der „attributive“ Gebrauch in 1 Sam 1,16 „ בת בליעלwertlose Frau“ zu vergleichen. 66 Michael Segal, Dynamics 561–566.
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als eine Neuschreibung des Jubiläenbuchs ansehen – eben als einen Spin-off-Text. IV.
Explizite Rückverweise auf das Jubiläenbuch
Nach überwiegender Forschungsmeinung findet sich sogar zweimal ein expliziter Rückverweis auf das Jubiläenbuch. Zum einen heißt es in der Damaskusschrift (CDA 16,2–4): Und die Angabe ihrer Zeiten der Blindheit 3 Israels gegenüber all diesen (Vorschriften), siehe, sie ist genau dargelegt im Buch der Einteilungen der Zeiten 4 gemäß ihren (pl.) Jubiläen und in ihren (Jahr-) Wochen.
ישראל מכל3 ופרוש קציהם לעורון אלה הנה הוא מדוקדק על ספר מחלקות העתים ליובליהם ובשבועותיהם4
Abweichend von der Mehrheitsmeinung hat Devorah Dimant in zwei Aufsätzen zu zeigen versucht, dass diese Stelle nicht auf das Jubiläenbuch Bezug nimmt.67 Ihr Hauptargument ist, dass das Jubiläenbuch nur die Zeit von der Schöpfung bis zum Sinai abdecke, nicht aber die „Zeiten der Blindheit Israels“, ein jachadischer Ausdruck für das Irregehen Israels, der – so Dimant – die jüngere Vergangenheit in der Sicht der Damaskusschrift voraussetze. Des Weiteren argumentiert Dimant, dass es auch andere Werke unter den Qumrantexten gebe, die das Jubiläen- und Jahrwochenschema gebrauchten, und dass es eines dieser Werke sei, das mit dem „Buch der Einteilung der Zeiten“ gemeint sei. Dimants differenzierender Blick ist sicher hilfreich. So ist deutlich, dass die Wen67 Devorah Dimant, Two “Scientific” Fictions: The So-Called Book of Noah and the Alleged Quotation from Jubilees in the Damascus Document XVI,3–4 [2006], in: dies., History, Ideology and Bible Interpretation in the Dead Sea Scrolls, FAT 90, Tübingen 2014, 353– 368; dies., What is the “Book of the Divisions of the Times”? [2010], ebd. 369–383.
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dung „Einteilung der Zeit“ (2x Sg.) plus Suffix in 4Q228 zweimal vorkommt, ohne auf das Jubiläenbuch Bezug zu nehmen. Allerdings sind ihre Argumente im Ganzen doch nicht überzeugend. Zunächst geht es, anders als Dimant formuliert, in der Damaskusschrift nicht um eine “Quotation from Jubilees”, sondern um einen möglichen Rückverweis auf den Buchtitel. Dass man das Buch treffend mit der Wendung ספר מחלקות העתים ליובליהם ובשבועותיהםbezeichnen konnte, wird durch Jub 1,4 nach 4Q216 I 11f. את מ[חלקות ]הע[תים לתור]ה[ ]ולתעודהin Verbindung mit Jub 1,2968 nahegelegt. Dass das Jubiläenbuch die „Blindheit Israels“ nicht erwähnte, stimmt so nicht: Der bereits zitierte Vers Jub 50,5 bietet einen Vorausblick auf das Weiterlaufen der Jubiläen über die Landnahme hinaus, „bis Israel gereinigt ist von aller Sünde der Unzucht und Unreinheit und Befleckung und Verfehlung und des Irrtums“, ein Vorblick, den auch 1,29 mit der Erwähnung der Neuschöpfung teilt. Des Weiteren sprechen Jub 1,9f. und 23,19 – aus sinaitischer Perspektive – mit Blick auf die Zukunft vom Vergessen von Gebot, Fest, Sabbat und Jubiläum, während 6,34 insbesondere auf das Vergessen des Kalenders rekurriert. Dies kann durchaus im Blick sein, wenn die Damaskusschrift von „Blindheit Israels“ spricht, wobei die Wertungen des Jubiläenbuchs in CD-A 16,2–4 mit spezieller jachadischer Terminologie bewertet und umgewidmet worden wären. Verstärkt wird die Bezugnahme durch die unmittelbar folgende Aussage (CD-A 16,4f.), dass denjenigen, der schwört zum Herrn umzukehren, der „Engel der Vernichtung“ ( )מלאך המשטמהverlassen wird: „Fürst der Vernichtung“ ( )שר המשטמהo.ä. ist eine häufige Bezeichnung im Jubiläenbuch. Dass die Damaskusschrift oder zumindest ein Bearbeiter derselben – nach Charlotte „Der Angesichts-Engel … nahm die Tafeln der Einteilungen der Jahre von der Zeit, als Gesetz und Zeugnis geschaffen wurden – für die Wochen ihrer Jubiläen, Jahr für Jahr nach ihrer Zahl, und ihrer Jubiläen von [der Zeit der Schöpfung bis zu] der Zeit der Neuschöpfung …“ 68
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Hempel handelt es sich um einen Glossator bzw. Redaktor des Abschnitts der Gesetze zur Aufnahme von Mitgliedern69 – auf das Jubiläenbuch in derart fokussierter Art verweist, zeigt uns, wie dieser jachadische Text an das Jubiläenbuch anknüpft: Der vorausliegende Text wird angeeignet und mit dem Begriff der „Blindheit Israels“ mit neuen Konzepten verbunden. Der Modus ist hier Verweis und Anknüpfung, nicht Neuschreibung des ganzen Textes. Ein weiterer Rückverweis auf das Jubiläenbuch liegt wahrscheinlich in 4Q228 1 i 9 vor: כי כן כתוב במחלקות. Dass das Wort sefer hier fehlt, ist m. E. zweitrangig; wichtig ist der Verweis auf das Geschriebensein in den „Einteilungen“ (der Zeiten, so ist wohl zu ergänzen). Der Text beschäftigt sich mehrfach mit der Einteilung von Zeit (nach der Rekonstruktion von VanderKam und Milik: „und ich erzähl]te vor ihm die Einteilung seiner Zeit“ [1 i 4]; „in der Einteilung ihrer Zeit wird er sie [sg.] finden“ [1 i 7]) und weist in 1 i 2 auch noch einmal die rekonstruierte Wendung „Einteilungen der Zeiten“ auf. Ferner begegnet die Wendung „ein brennendes Feuer, verzehrend die Versammlung (oder: das Fundament) des Frevels (( “)בסוד רשעה1 i 6), die Beziehungen zu jachadischen Texten wie 1QHa 10,24 (olim 2,22) oder auch 4Q180 1 9f. zeigt;70 des Weiteren wird „ewiges Leben“ ( )חי[י נצחerwähnt (1 i 9), wofür ebenfalls auf Nähe zu jachadischen Texten wie CD-A 3,20; 1QS 5,7 (vgl. auch חיי עולם4Q181 1 ii 4.6) verwiesen werden kann.71 Die hier nun in der Tat vorliegende Zitationsformel כי כן כתוב deutet an, dass die zitierte Schrift – nach überwiegender Meinung das Jubiläenbuch – autoritativen Status für den Charlotte Hempel, The Laws of the Damascus Document: Sources, Tradition, and Redaction, StTDJ 29, Leiden 1998, 86–89. 70 VanderKam/Milik in Attridge u. a., DJD 13 178–183, v. a. 182. Zu 4Q180 vgl. Devorah Dimant, The Pesher on the Periods (4Q180) and 4Q181, in: dies., History 385–404. 71 Vgl. hier Dimant, “Book of the Divisions of the Times” 377f., die freilich bezweifelt, dass das verwiesene Werk das Jubiläenbuch ist. 69
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auf 4Q228 abgeschriebenen Text hat, der möglicherweise aus dem Jachad stammt. V. Partielle Neuschreibungen des Jubiläenbuchs in Gemeinschaftsregel und Miscellaneous Rules? Vom Volk Israel zur Gemeinschaft Wenn das Jubiläenbuch den Status eines autoritativen Textes, mindestens für bestimmte Kreise, im Judentum des Zweiten Tempels hatte – lassen sich dann Ansätze einer Neuschreibung dieses Werkes über die genannten möglichen Spin-offs zu einzelnen Themen hinaus feststellen? Zunächst: mit einer vollständigen Neuschreibung wird das Jubiläenbuch im Jachad oder sonst im antiken Judentum nicht gewürdigt.72 Allerdings lassen die folgenden Beobachtungen darauf schließen, dass Teile des Jubiläenbuchs in jachadischen Texten aufgenommen, dieses somit dort – unter Anpassung an die neuen Umstände – „partiell neugeschrieben“ wurde. Dabei sind die jeweiligen Verschiebungen für Prozesse der Identitätsbildung höchst aufschlussreich. Zunächst: In der Fassung der Gemeinschaftsregel73 1QS 5,13–20 und dem älteren Parallel-Text in 4QSd und 4QSb findet sich jeweils ein Abschnitt über die Trennung der Mitglieder des Jachad von anderen (Juden). Wie Aharon Shemesh gezeigt hat, können beide Variationen dieses Abschnitts als eine Übertragung von Meidungsvorschriften des Jubiläenbuchs geFreilich ist anzumerken, dass unter den Texten des (entwickelten) Jachad wahrscheinlich auch keine Neuschreibungen ganzer „biblischer“ Bücher zu finden sind. Zur Datierung der Tempelrolle, die ein Beispiel von rewritten scripture ist, s.o. Anm. 28. 73 Ich folge in der Bezeichnung von 1QS als „Gemeinschaftsregel“ im Sinn einer genauen Übersetzung von Serekh ha-jachad dem neueren Trend in der deutschsprachigen Nomenklatur, etwa bei Stökl Ben Ezra, Qumran, oder Xeravits/Porzig, Einführung, während „Gemeinderegel“ entsprechend für 1QSa Serekh ha-‘eda gebraucht wird. In der älteren deutschsprachigen Literatur sind die Bezeichnungen häufig vertauscht. 72
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genüber Nichtjuden (Jub 22,16–22) auf eine Trennung von Juden außerhalb der Gemeinde verstanden werden.74 Vergleichen wir diese drei Texte, so fällt ins Auge, dass die Abqualifizierung der Außenstehenden in 1QS gegenüber der 4Q-Version gesteigert ist und Ähnlichkeiten mit den Aussagen zur Meidung von Nichtjuden im Jubiläenbuch aufweist. Während 4QSb/d und 1QS von der „Nichtigkeit“ derer sprechen, die den Bund nicht kennen (4QSb IX 12; 4QSd I 10;1QS 5,19), finden sich in 1QS darüber hinausgehende Wertungen: „Unreines“ ist an denen, die sein Wort übertreten (1QS 5,14); Verbindung mit den Außenstehenden würde zum Beladen mit „schuldhaftem Frevel“ führen (5,15); Werk und Besitz derer, die Gottes Wort verschmähen, ist „unrein“; diese Menschen werden ohnehin „vernichtet werden“ (5,19f.). Konsequenterweise seien sie „abzusondern“ (5,18). In entsprechender Weise handeln die genannten Verse des Jubiläenbuchs von den Taten der Heiden, die „etwas Unreines“ sind, „entsetzlich“ und „verabscheuungswürdig“ (Jub 22,16). Was sie tun, ist „wertlos“ (22,17). Sie werden „zerstört werden“ (22,21), „in die Sche’ol hinabfahren“, „hinweggenommen werden“ (22,22). Allen drei Texten ist gemeinsam, dass in die Meidungsvorschriften das gemeinsame Essen und der Austausch von Gütern eingeschlossen ist (4QSb IX 9–11 / 4QSd I 8–10; 1QS 5,14–18; Jub 22,16). Die Gemeinschaftsregel erwähnt die Berührung der Reinheit der Männer des Jachad durch Außenstehende, ferner die Gemeinschaft in „Arbeit“ und in Austausch über Gesetz und Gebot (4QSb IX 8–10/4QSd I 7–9; 1QS 5,13–16), das Jubiläenbuch (22,20) die Heirat mit Nichtjüdinnen. Es besteht der begründete Verdacht, dass die Gemeinschaftsregel Meidungsvorschriften, wie wir sie im Jubiläenbuch finden, auf Juden außerhalb des Aharon Shemesh, The Origins of the Laws of Separatism: Qumran Literature and Rabbinic Halacha, RdQ 18/70, 1997, 223–241; ders., 4Q265 and the Authoritative Status of Jubilees at Qumran, in: G. Boccaccini/G. Ibba, eds., Enoch and the Mosaic Torah: The Evidence of Jubilees, Grand Rapids 2009, 247–260: 255–259.
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Jachad übertragen hat. In der Natur der Sache liegt, dass dabei die antiheidnische Götzenpolemik des Jubiläenbuchs (Jub 22,17f.) nicht unmittelbar übernommen wird. Gegenüber Shemesh würde ich differenzierend betonen, dass diese Adaption von Meidungsvorschriften auf außenstehende Juden ein sukzessiver Vorgang war, wir also in der 4Q-Version eine anfängliche Form dieser Übertragung haben, die dann durch weitere Abqualifizierungen, wie sie aus dem Jubiläenbuch vertraut sind, sowie durch Schriftzitate ausgestaltet wurde. Deutlich ist die Verschiebung der Gegnerfront: Während das im Großen und Ganzen „panisraelitisch“ ausgerichtete Jubiläenbuch an der Abgrenzung Israels von Angehörigen fremder Völker interessiert ist, trägt die Gemeinderegel die Abgrenzung in das Volk Israel selbst hinein. Nichtmitglieder werden hier ähnlich behandelt, wie dies im Jubiläenbuch gegenüber Angehörigen fremder Völker geschieht. Partielle Neuschreibung dient hier also der Stärkung der gruppenspezifischen Identität. Ähnlich – und doch im Detail anders – könnte 4Q265 (4QMiscellaneous Rules) durch das Jubiläenbuch, aber auch durch die Damaskusschrift, beeinflusst sein. Dieses Werk behandelt auf Frg. 6 und 7 zunächst Sabbathalacha.75 Frg. 6 – soweit erhalten – beginnt mit einer bruchstückhaften Aussage zum Sabbat, untersagt sodann das Tragen von auf bestimmte Weise verschmutzten Kleidern, verbietet das Heraustragen von Gerät oder Speise sowie das Heraufholen eines Stücks Vieh, das ins Wasser gefallen ist, gesteht aber die Rettung eines dort hinein gefallenen Menschen mit einem Kleid zu und schließt zugleich den Gebrauch eines Geräts bei der Rettung aus. Das Fragment wird abgeschlossen mit einer undeutlichen Aussage zu einem „Heer“, also wohl zum Kriegführen am Sabbat. Es bestehen Beziehungen zum Sabbatkodex 75 Eine Analyse des betreffenden Abschnitts (noch unter dem alten Siglum 4QSD) findet sich in Lutz Doering, Schabbat. Sabbathalacha und –praxis im antiken Judentum und Urchristentum, TSAJ 78, Tübingen 1999, 219–221.223f.228–235.236–238.242–246.253–256.
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der Damaskusschrift (CD-A 10,14–11,18), wobei die Bestimmung zur Lebensrettung eines Menschen eine gegenüber der Damaskusschrift konkretisierte Lösung (dort nur Ausschluss von Geräten) darstellt. Frg. 7 der Handschrift setzt mit zwei Zeilen bruchstückhafter Vorschriften zum Sabbat ein, gefolgt in Z. 3 vom Verbot des Besprengens mit Reinigungswasser. Während der Herausgeber das folgende Fastenverbot auf den Versöhnungstag bezieht,76 ist mir eine Bezugnahme auf den Sabbat wahrscheinlicher. Es folgt eine Vorschrift zum Weiden von Vieh, wofür man am Sabbat 2000 Ellen weit gehen dürfe. Auf eine Zeile, deren Bezug zum Thema Sabbat unklar bleibt, folgt sodann eine Aussage, die 1QS 8,1–10 ähnelt: 7 [W]enn im Rat des Jachad sein werden fünfz[ehn Männer, …] 8 [die P]ropheten, dann ist gegründet der Rat des Jacha[d in Wahrheit … zu sein ein Speisopfer des?] 9 Wohlgefallens und ein angenehmer Geruch, zu sühnen für das L[a]nd, ein Op[fer? … 10 wird vergehen im Gericht der Zeiten des Unrechts …[ …
Darauf folgt dann nach einem Vacat ein Abschnitt über die Einführung Adams und Evas in den Garten Eden, die mit den Reinigungszeiten der Wöchnerin (vgl. Lev 12,2.4f.) in Verbindung gebracht wird. Eine entsprechende Perikope ist aus Jub 3 bekannt. Deutlich ist die Beziehung beider Texte zueinander. Sie genau zu bestimmen bleibt freilich schwierig. Man könnte annehmen, dass beide auf gemeinsame Tradition zurückgreifen. Weniger wahrscheinlich ist, dass das Stück aus 4Q265 die Vorlage der jubiläischen Geschichte gebildet hat; der Neueinsatz mit der Erschaffung Adams ist aus diesem Werk selbst heraus eigentlich nicht zu verstehen. Verständlich wird er hingegen, wenn sich 4Q265 an einer Tradition oder einem Text orientiert, in der bzw. dem das Gesetz der Wöchnerin auf die Sabbatgesetze folgt – und dies ist Joseph M. Baumgarten, 4Q265. 4QMiscellaneous Rules, in: ders. u. a., Qumran Cave 4. XXV: Halakhic Texts, DJD 35, Oxford 1999, 57–78: 70f.
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in Jub 2f. der Fall. Insofern wäre, neben der Annahme einer Abhängigkeit von gemeinsamer Tradition, die Hypothese, dass 4Q265 direkt vom Jubiläenbuch abhängt,77 durchaus erwägenswert, denn Letzteres bietet von seiner ideologischen und narrativen Konzeption – der Verankerung des Gesetzes in der Weltschöpfung – einen plausiblen Grund für die Sequenz von Sabbatvorschriften, Erschaffung der Protoplasten und deren Beachtung von Reinigungsperioden. Vergleichbar wären ferner noch die Aussagen über die erwählte Gemeinde in 4Q265 und über das Volk Israel im Jubiläenbuch, wobei diese Aussagen dort in den Abschnitt über den Sabbat eingewoben sind (Jub 2,17–33). In diesem Sinne könnte dieser Abschnitt in 4Q265 eine Neuschreibung des Abschnitts des Jubiläenbuchs sein. Wiederum hätten wir hier eine Übertragung von Aussagen über das Volk Israel auf eine Gemeinschaft. Von der Heiligkeit des Volkes Israel wäre hier eingeschwenkt auf die Heiligkeit der Gemeinschaft – der entsprechende Abschnitt aus 1QS 8,1–10 ist von John Collins auf eine „Elitegruppe“ innerhalb des Jachad bezogen worden.78 VI.
Autoritative Texte und halachische Entwicklung
Noch einen Aspekt von „Fortschreibung“ im weiteren Sinne möchte ich hier ansprechen: die Beibehaltung autoritativer Texte bei gleichzeitigem Fortschreiten der halachischen Entwicklung. Nehmen wir uns noch einmal das Jubiläenbuch vor. Es bietet in Kap. 2 und 50 zwei bzw. drei Listen von Sabbathalacha, die m. E. beide ursprünglich zu dem Werk gehört haben.79 Die Differenz wird deutlich im Vergleich mit dem Sabbatkodex der So Shemesh, 4Q265 and the Authoritative Status of Jubilees 248– 255. 78 John J. Collins, Beyond the Qumran Community: The Sectarian Movement of the Dead Sea Scrolls, Grand Rapids 2010, 69–72. 79 Vgl. Doering, Jub 50,6–13 als Schlussabschnitt des Jubiläenbuchs. 77
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Damaskusschrift (CD-A 10,14–11,18). Nun ist dieser selbst wiederum älter als die Endredaktion der Damaskusschrift, ist aber von dieser weitgehend unverändert als autoritativ übernommen worden.80 Gleichzeitig verweist diese Schrift jedoch, wie besprochen, auf das Jubiläenbuch als autoritativen Text zurück. Im Einzelnen:81 1. Der Sabbatkodex der Damaskusschrift enthält Vorschriften zu Fragen, die sich im Jubiläenbuch gar nicht finden. Dazu gehören der vorgezogene Beginn des Arbeitsverbots; das Verbot, den Fremden mit Arbeit am Sabbat zu beauftragen; das Verbot, beschmutzte Kleider zu tragen; das Verbot, ein versiegeltes Gefäß zu öffnen; das Verbot, einen Sklaven, eine Sklavin oder einen Tagelöhner anzutreiben; das Verbot der Hilfe für bedrohtes Vieh; das Verbot der Lebensrettung mit Geräten. 2. Die Damaskusschrift ist detaillierter. Dazu gehören das Verbot des Umhergehens auf dem Feld, um nach (?) Sabbat die Arbeit seines Wunsches zu tun, im Unterschied zum einfachen Verbot, das Feld zu bebauen; das Verbot des Heraus- und Hereintragens von Medikamenten bzw. eines Säuglings im Unterschied zum generellen Verbot des Heraus- und Hereintragens. 3. Die Damaskusschrift entscheidet anders als das Jubiläenbuch. Dazu gehören der Sabbatweg von 1000 Ellen bzw. beim Viehweiden 2000 Ellen gegenüber dem grundsätzlichen Verbot des Gehens eines Wegs; sowie die differenzierende Ansetzung im Strafmaß: wer irrt, Sabbat und Festzeiten zu entweihen, soll nicht getötet werden, sondern für sieben Jahre bewacht werden (CD-A 12,3–6) – im Unterschied zur konsistenten Anordnung der Todesstrafe bei Sabbatbruch im Jubiläenbuch. Vgl. Hempel, Laws 30–38.187–189. Grundlage des Folgenden bieten meine Analysen der Sabbatvorschriften des Jubiläenbuchs und der Damaskusschrift in Doering, Schabbat 70–108.133–215. 80 81
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4. Darüber hinaus gibt es einige Vorschriften, die sich nicht in der Damaskusschrift, sondern nur im Jubiläenbuch finden. Dazu gehören die Verbote von Schiffsreisen, des Anzündens von Feuer, des Reitens, des Schlachtens, des Fastens und des Kriegführens. In jedem Fall finden sich Spannungen und Unausgeglichenheiten. Freilich, manches in der letzten Gruppe ist bereits in der Tora untersagt, etwa das Feuermachen. Anderes wird von weiteren halachischen Texten, die in Qumran gefunden wurden, unter anderem von 4Q265 abgedeckt; so wohl die Verbote des Fastens und Kriegführens. Doch die Frage stellt sich: In welcher Weise war das Jubiläenbuch autoritativ für die Damaskusschrift und 4Q265, wenn etwa seine Sabbatvorschriften im Detail als zum Teil überholt gelten mussten? Nicht nur das: In welcher Weise hat man einem Text Autorität zugebilligt, der doch im Wesentlichen Gesamt-Israel, allerdings unter einem bestimmten Programm stehend, im Blick hat und nicht die jeweilige Gemeinschaft, die in der Damaskusschrift und in 4Q265 zum Ausdruck kommt? Es scheint, dass man die Fort-, Neu- und Einschreibungen autoritativer Texte recht mühelos in veränderte Kontexte stellen konnte. Möglicherweise hat man sie im Licht der neuen Texte gelesen, so dass sie – mit diesen zusammen gelesen – als Texte verstanden wurden, die zur Konturierung der Identität der neuen Rezipientengruppe beitrugen. Im Unterschied zu den gemeindeeigenen Disziplinarkodizes, die entsprechend aktualisiert wurden, hat man jedenfalls in die in diesem Sinn veralteten autoritativen Texte nicht korrigierend eingegriffen.82
82 So das Ergebnis von Hempel, Laws 187–191 für Redaktionsvorgänge innerhalb des Gesetzeskodex der Damaskusschrift.
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Zusammenfassung
Für das antike Judentum ist zwischen „Fortschreibung“ und „Neuschreibung“ von autoritativen Texten zu unterscheiden. Während Erstere ein Modus der „Textamplifikation“ ist, handelt es sich bei Letzterer um Formen „paralleler Texte“. Am Beispiel des Jubiläenbuchs kann gezeigt werden, wie Identität und Neuschreibung miteinander verbunden sind: Die Neuschreibung von Genesis und Exodus stellt selbst eine autoritative Version des Stoffes dieser Bücher dar, die der Ideologie der Autoren und der Situation der Gemeinschaft, die sie im Blick haben, entspricht. Im Jubiläenbuch handelt es sich um die Stärkung der Identität Israels, das aus einer bestimmten, vom Heiligkeitsgesetz her geprägten Perspektive prononciert als „heiliges Volk“ betrachtet wird. Diesem Volk wird durch die Verankerung der Tora bereits in der Schöpfung und der Engelwelt – zunächst dargestellt an den Sabbatgeboten – derart eine Beheimatung in der Welt gegeben, dass „Welt“ recht eigentlich „um Israels willen wird“. Bereits die Protoplasten sind wie Israeliten stilisiert, die die von der Tora (und nun auch vom vorliegenden Text) geforderten Reinigungszeiten einhalten. Beschneidung ist streng am (oder gegebenenfalls bis zum) achten Tag durchzuführen, so dass eine spätere Beschneidung im Zusammenhang männlicher Konversion unwirksam ist. Israel wird mit strengen Meidungsvorschriften belegt, die eine Trennung von den Heiden hinsichtlich Bett, Tisch und Markt zum Gegenstand haben. Zeit und Geschichte werden in Siebener-Einheiten und deren Potenzen gerechnet, erhalten somit eine Sabbatstruktur, die die in Jub 2 entwickelte Bedeutung des Sabbats als eines exklusiven Merkmals des erwählten Volkes reflektiert. Das Jubiläenbuch selbst greift für die Neuschreibung von Genesis und Exodus auf Traditionen zurück, die nach manchen Autoren schriftliche, nach anderen mündliche Form hatten. Ob es selbst „fortgeschrieben“ wurde, ist in der Forschung umstritten. Am ehesten lässt sich das für Verse in den Kapiteln 1; 23 und 50 vermuten, doch ist
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zugleich fraglich, ob man die eschatologischen Ausblicke einfach der Grundschrift absprechen kann. Massivere Fortschreibungen setzt Kugels Interpolator-Hypothese voraus, die allerdings mit weichen Kriterien arbeitet. Es gibt einige Hinweise darauf, dass das Jubiläenbuch, das mit ca. 14 Handschriften in den Qumranhöhlen belegt ist, selbst als autoritative Schrift rezipiert wurde und mindestens teilweise Formen der „Neuschreibung“ erfahren hat. So könnten die Handschriften 4Q217, 4Q225–226 und 4Q227 „Spin-off-Kompositionen“ sein, die einzelne Aspekte des Jubiläenbuchs neuschreiben. Sowohl CD-A 16,2–4 als auch 4Q228 1 i 9 verweisen – trotz Bestreitung durch Devorah Dimant – wahrscheinlich auf das Jubiläenbuch als autoritative Schrift. Dass einzelne Aspekte des Jubiläenbuchs neugeschrieben wurden, ist sowohl in 1QS 5,13–20 als auch in 4Q265 Frg. 6f. möglich. In 1QS 5,13–20 finden sich Meidungsvorschriften gegenüber Nichtmitgliedern, die in gewisser Entsprechung zu denen gegenüber Nichtisraeliten in Jub 22,16–22 entsprechen. 4Q265 Frg. 6f. bietet eine Zusammenstellung von Sabbatvorschriften, Aussagen über den Rat des Jachad, verbunden mit der Wendung „wohlgefälliges [Speisopfer] und Wohlgeruch, zu sühnen für das Land“, gefolgt von der Verankerung der Reinigungszeiten der Wöchnerin in der Paradiesgeschichte. Diese Zusammenstellung lässt sich von der Sequenz in Jub 2f. plausibilisieren; denkbar wäre auch eine Abhängigkeit von einer gemeinsamen Quelle, die allerdings auch schon die im Jubiläenbuch propagierte Verankerung der Sabbatvorschriften in der Schöpfungsgeschichte vertreten haben müsste. In beiden Fällen handelt es sich mindestens um aneignende Weiterentwicklung von auch im Jubiläenbuch belegten Traditionen, vielleicht direkt um Neuschreibung der entsprechenden Aspekte des Jubiläenbuchs. Beide Male ist die sectarian community an die Stelle von „Israel“ getreten. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass das Jubiläenbuch als autoritative Schrift nicht nur neugeschrieben sondern auch erneut abgeschrieben wurde, wahrscheinlich auch in denjenigen Kreisen, die für eine Neufassung
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einiger seiner Stoffe verantwortlich waren. Damit wird ein halachisch gesehen veralteter Text weiterhin im Kontext der auf die gewandelte Identität hin verfassten jachadischen Werke gelesen. Diese im Ergebnis harmonisierende Kontextualisierung von im Detail widersprüchlichen Texten ist ein Vorgang, der mutatis mutandis auch bereits bei der Neuschreibung von Genesis bis Exodus und zugleich ihrer Beibehaltung als Teile des „Buchs des ersten Gesetzes“ im Jubiläenbuch zu beobachten war.
Stefan Alkier
Identitätsbildung im Medium der Schrift
Die These, die ich mit diesem Aufsatz begründen möchte lautet: Die im Neuen Testament versammelten Schriften bilden nicht die kollektive Identität der Christenheit des 1. Jahrhunderts deskriptiv ab, sondern sie sind darum bemüht, auf je eigene Weise eine kollektive Identität von Christusanhängern und ihren Versammlungen zu generieren, die ihren normativen Überzeugungen genüge leisten soll. Sie reagieren damit auf die konfliktreiche Diversität von Christusverehrern, -versammlungen und -gemeinschaften mit ihren sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon, was es denn heißt, den neuen Weg der Verehrung bzw. der Nachfolge des am Kreuz hingerichteten und von Gott auferweckten Jesus Christus zu gehen. Sie sind selbst nicht mehr und nicht weniger als ein kleiner aber wirkmächtiger Ausschnitt dieser Diversität der Christusanhänger. Deshalb sind sie als historische Quellen gelesen allesamt positionelle Zeugen der Komplexität, Vielfalt und Widersprüchlichkeit kollektiver Identitätsbildungsprozesse unter den Christusanhängern ihrer Zeit. Um diese These zu plausibilisieren, ist es zunächst notwendig, das ihr zugrunde liegende Identitätskonzept zu skizzieren. Sodann soll die Zeichenbasis als epistemologische Grundlage wissenschaftlich vertretbarer Aussagen über das frühe Christentum und die diesbezügliche terminologische Problematik geläufiger Kollektivbegriffe wie Judentum, Heidentum, Christentum, Judenchristentum, Heidenchristentum etc. bedacht werden. Schließlich werden in unsystematischer und unvollständiger Weise einige Strategien der Schreibweisen neutestamentlicher
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Texte vorgestellt, um die Leitthese von der Identitätsbildung durch Schrift exemplarisch zu konkretisieren. I. Prekäre Identität 1. Probleme eines schwierigen Konzepts In seiner kenntnisreichen und pointierten Vorstellung der einflussreichsten Identitätskonzepte zieht Christian Strecker ein kritisches Resümee für den Begriff der Identität: „Alles in allem umfasst der Begriff heute eine verwirrende Vielfalt heterogener, ja konträrer Bedeutungsinhalte und Konnotate: Ganzheit und Fragmentarität, Gleichheit und Differenz, Stabilität und Wandel, Singularität und Multiplizität, Essenz und Konstruktion. Er wird deskriptiv und normativ verwendet, begegnet als Selbst- und Fremdbeschreibung, als wissenschaftlichanalytische Kategorie, politischer Kampfbegriff und Allerweltswort, er wird auf konkrete Individuen und Gruppen, aber auch auf abstrakte Entitäten und Strukturen (Volk, Nation etc.) appliziert, er wird mit direkter Interaktion oder pauschaler Kategorisierung korreliert u. v. a. m. Zweifel an der Tauglichkeit des Begriffs liegen da auf der Hand.“1 Gilt diese Problematik schon allgemein für den Identitätsbegriff, dann mehr noch für das Syntagma der kollektiven Identität, das von zahlreichen Vertretern verschiedener Disziplinen wie Peter Berger und Thomas
Christian Strecker, Identität im frühen Christentum? Der Identitätsdiskurs und die neutestamentliche Forschung, in: M. Öhler, ed., Religionsgemeinschaft und Identität, BthSt 142, NeukirchenVluyn 2014, 113–167: hier 142. Vgl. zur Problematik des Begriffs der Identität auch Jürgen Straub, Art. Identität, in: F. Jaeger/B. Liebsch, edd., Handbuch der Kulturwissenschaft 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Sonderausgabe, Stuttgart 2011, 277–303, insbesondere 277f.
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Luckmann2, Jan Assmann3 oder Lutz Niethammer4 kritisiert, modifiziert und teilweise sogar gänzlich abgelehnt wird.5 „Der Begriff suggeriere, Identität sei eine vom individuellen menschlichen Wirken abkoppelbare dinghafte Gegebenheit, während sie doch faktisch dialektischen Prozessen zwischen Individuum und Gesellschaft entstamme, deren Träger durchweg Menschen mit spezifischen Identitäten seien.“6 Viele Probleme für eine wissenschaftliche Verwendung des umstrittenen Begriffs der Identität ergeben sich nicht zuletzt daraus, dass der Begriff zugleich über- und unterVgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1980, 185f. 3 Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 133. 4 Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Hamburg 2000, 625, zufolge „ist kollektiver Identität die Tendenz zum Fundamentalismus und zur Gewalt inhärent.“ Ebd.: „Die Bestimmtheit des Ausdrucks übertönte die Vagheit des Inhalts, der regelmäßig zeitspezifische Bezüge zu religiösen Ersatzbildungen und zu verlorenen oder erschütterten gesellschaftlichen Traditionen, Selbstverständlichkeiten, Unbewußtheiten erkennen ließ. Der Strukturlosigkeit des Begriffs war nur ein einziger fester Kern mitgegeben: die Abgrenzung vom Nicht-Identischen, in welcher Bestimmung auch immer, und insofern ist er im Kern auf Konflikt hin angelegt.“ Niethammers Studie legt sicher die ideologischen Gefahren des Konzepts kollektiver Identität offen, wenn er auch zu einseitig und selbst zu ideologisch argumentiert. Sein eigener Vorschlag, ebd., 628f., „anstatt irgendeine kollektive Identität zu beschwören, ‚wir‘“ zu sagen, ist soziologisch wie semiotisch gleichermaßen unzureichend. Das „wir“ erhält durch das jeweilige Diskursuniversum seiner Verwendung immer eine semantische Bestimmtheit, die kollektive Identität setzt. Wenn z. B eine Gruppe von Menschen, die ein Schalke-Trikot tragen, „wir“ sagt, erhält dieses Personalpronomen die semantische Funktion der kollektiven Identitätsaussage „Wir Schalker“. 5 Vgl. zu diesen und weiteren Positionen die Darstellungen und Literaturangaben bei Strecker, Identität im frühen Christentum? A. a. O., hier 136–140. Vgl. auch Straub, Art. Identität, a. a. O., 289– 293. 6 Strecker, Identität im frühen Christentum? A. a. O., hier 136. 2
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determiniert gebraucht wird. Die von Georg H. Mead7 und dann stärker noch von Erik H. Erikson8 angestoßene Identitätsdebatte in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist so reichhaltig, komplex und strittig geführt worden, dass es schwer fällt, sich in ihr trotz – oder vielleicht auch wegen der zahlreichen und teilweise auch widersprüchlichen Handbücher9 – zurecht zu finden. Zugleich aber kann der Begriff der Identität wissenschaftlich sachgemäß nicht mehr verwendet werden, ohne sich innerhalb der durch diese Diskurse aufgezeigten Verständnismöglichkeiten zu positionieren. Das hohe Maß der Zurückhaltung in den historisch-kritisch orientierten Bibelwissenschaften, sich an inter- bzw. transdisziplinären theoretischen Diskussionen zu beteiligen, führt aber dazu, dass der Begriff dort überwiegend theoretisch ungeklärt einfach irgendwie verwendet wird, was auch Strecker beklagt: „Ungeachtet der kaum noch handhabbaren Bedeutungsvielfalt des Identitätsbegriffs boomt die Identitätsforschung in der ntl. Wissenschaft derzeit mehr denn je. […] Die Komplexität des bis in die Antike zurückreichenden Identitätsdiskurses findet dabei wenig Beachtung. Oft bleibt selbst der Identitätsbegriff im Vagen. Mehr noch, bisweilen scheint sich der Gebrauch des Begriffs lediglich seiner aktuellen Prominenz und offenkundigen Suggestivkraft zu verdanken.“10 Angesichts dieses theoretischen Desasters gibt es nur zwei produktive Möglichkeiten, mit dem Konzept der Vgl. Georg H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, i. O. Mind, Self and Society, 1934. 8 Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt am Main 1973. 9 Vgl. u. a: S. J. Schwarz/K. Luyckx/V. L. Vignoles, edd., Handbook of Identity Theory and Research, 2001; M. R. Leary/J. P. Tangney, edd., Handbook of Self and Identity, 2003; M. Wetherell/C. T. Mohanty, edd., The SAGE Handbook of Identities, 2010; A. Elliott, ed., Routledge Handbook of Identity Studies, 2011; vgl. auch B. Jörissen/J. Zirfas, edd., Schlüsselwerke der Identitätsforschung, Wiesbaden 2010. 10 Christian Strecker, Identität im frühen Christentum? A. a. O., hier: 142f. 7
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Identität wissenschaftlich verantwortlich umzugehen: entweder ist der Begriff der Identität als untauglich aufzugeben, um bessere Alternativen für ihn zu suchen, oder aber seine Vielfältigkeit und Problematiken werden als Hinweis auf die vielfältigen Phänomene und Problemkonstellationen gewertet, die gerade mit der Komplexität und Widersprüchlichkeit der ertragreichen aber nicht zu einem Konsens gelangten Theoriediskussionen in den Blick geraten sind. Diejenigen, die ihn nicht aufgeben wollen, werden aber angesichts der bereits in den Theoriedebatten geleisteten vielschichtigen Denkarbeit gezwungen, ihren Gebrauch des Identitätsbegriffs zu präzisieren und sich damit an dem wissenschaftlichen Identitätsdiskurs der Kulturwissenschaften zu beteiligen und sich reflektiert und ausgewiesen in ihm zu positionieren. Für die theologische Wissenschaft als Ganze gesehen wäre die konsequente Aufgabe des Identitätsbegriffs aber kaum zu kompensieren, gibt es doch eine Reihe von grundlegenden Themenfeldern, die ohne ein reflektiertes Konzept von Identität nicht auskommen werden. Exemplarisch seien drei genannt: Die Schuldfähigkeit des Sünders, die Kontinuität von Gestorbenem und Auferwecktem und die Treue des Gottes Israels. Da ist zunächst einmal das Problem der Sünde zu benennen, das auch die juristische Grundproblematik der Schuldfähigkeit impliziert. Bei jedem juristischen Vorwurf wird zunächst die personale Identität des Angeklagten geklärt. Es würde nicht überzeugen, wenn man etwa den mit einem Blitzfoto belegten Vorwurf zu schnellen Fahrens damit entkräften wollte, dass man angibt: ich bin heute nicht mehr derselbe, der ich war, als ich am Steuer saß. Dass aber die Schuldfähigkeit nicht schon mit der Selbigkeit des Körpers des Angeklagten gegeben ist, sondern vielfältige Argumentationen, Überlegungen, Gutachten zur Feststellung der Schuldfähigkeit des Angeklagten vor Gericht eine Rolle spielen, deutet bereits daraufhin, dass Identität nicht einfach ein dauerhaft vorhandenes Ding ist, wie es sich z. B. in der Metapher vom „Kern“ ausdrückt, sondern nur in der Gestalt
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nachträglicher reflexiver Interpretationen in den Blick geraten kann. Der biblische Gerichtsgedanke, der Ausdruck der Überzeugung von der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes ist, setzt aber wie die juristische Verfolgung von Gesetzesverstößen voraus, dass es eine Kontinuität des Täters gibt, die es bei aller Wandelbarkeit des Menschen erst plausibel werden lässt, sie zu einem Zeitpunkt nach der Tat zur Verantwortung zu rufen und sie gegebenenfalls auch zu bestrafen. Das biblische Konzept des Sünders und des eschatologischen Gerichts können ohne Identitätskonzepte nicht gedacht werden. Das gleiche trifft auf die Auferweckungstheologie zu. Die paulinische Rede von der neuen Schöpfung bis hin zur Idee des neuen Himmels und der Neuen Erde in der Johannesapokalypse ergeben nur Sinn, wenn zwischen dem Vergangenen und dem Neuen eine Kontinuität vorausgesetzt wird. Die Auferweckungstheologie in einer Trauerfeier tröstet ja nicht dadurch, dass den Hinterbliebenen gesagt wird, Gott wird schon neue Menschen schaffen, sondern dass genau dieser Verstorbene neues Leben, ewiges Leben von Gott erhalten wird. Man wird nicht Fehl gehen, wenn man die Produktion der Evangelien auch durch das Bedürfnis der Kontinuität von Gekreuzigtem und Auferwecktem motiviert sein lässt. Der Auferweckte bleibt der Gekreuzigte, auch wenn er gerade nicht in jeder Hinsicht mit ihm identisch ist, weil er ja einen neuen Leib erhalten hat, der nicht identisch mit seinem verweslichen Leib aus Fleisch und Blut ist (vgl. 1 Kor 15). Und nicht zuletzt muss diese Kontinuität auch gerade für den biblischen Gottesbegriff gedacht werden. Der Gott, der den Gekreuzigten vom Tode auferweckt hat, ist derselbe Gott, den Jesus verkündet hat und das ist derselbe Gott, von dem die Heiligen Schriften Israels sprechen und es ist derselbe Gott, zu dem Christinnen und Christen auch heute noch beten. Wie will man diese Treue Gottes zu seiner Schöpfung ohne Konzepte von Identität denken?
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2. Die Unterscheidung von personaler und kollektiver Identität als theoretische Mindestanforderung Die von Strecker angeführten Probleme des Identitätsbegriffs werden potenziert, wenn personale und kollektive Identität unterschiedslos gebraucht werden und damit zu einem Höchstmaß an konzeptionellen Irrungen und Wirrungen führen. Jürgen Straub fordert daher zu Recht, ihre Unterscheidung als Mindestanforderung eines wissenschaftlich reflektierten Umgangs mit Identitätskonzepten zu etablieren.11 „Die Bezugnahme auf eine ‘kollektive Identität’ bringt beträchtliche semantische Verschiebungen mit sich. Die Bedeutung des Begriffs ändert sich durch den Wechsel von der Person auf ein Kollektiv so erheblich, dass es keinen Sinn mehr macht, nach der analogisierenden Übertragung umstandslos davon auszugehen, es sei nach wie vor klar, wovon gesprochen wird, sobald man nun nicht mehr die Identität leiblicher und sozial konstituierter Personen meint, die ein (reflexives) Verhältnis zu sich, ihren Erfahrungen und Erwartungen, Widerfahrnissen und Handlungen, Imaginationen und Wünschen einnehmen können, sondern die Identität von Kollektiven unterschiedlicher Größenordnung – vom Ehepaar über die Firma und Dorfgemeinschaft bis hin zu Nationen, Sprachgemeinschaften oder Kulturen, den Geschlechtern und anderen anonymen Gruppen.“12
Straub, Art. Identität, a. a. O., 278: „Es macht einen grundsätzlichen Unterschied, ob man […] von personaler Identität redet und dabei qualitative Merkmale oder die Form bzw. Struktur des praktischen, kommunikativen Selbstverhältnisses einer Person hat, oder ob man von kollektiver Identität spricht und sich damit (in der einen oder anderen Weise) auf eine Gruppe bezieht.“ 12 Straub, Art. Identität, a. a. O., 290f. Vgl. zur Notwendigkeit dieser Differenzierung auch Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 130–138. Ebd., 131f., schlägt Assmann vor, die „Ich-Identität“ in personale und individuelle Identität zu untergliedern. Ich greife diesen Vorschlag nicht auf, weil sich mit dem Konzept des Individuums mehr zusätzliche Probleme ergeben als gelöst werden. 11
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[Trotz der ideologiekritischen Vorbehalte gegen viele Konzepte kollektiver Identität empfiehlt Straub aber nicht, gänzlich darauf zu verzichten, zumal die weite Verwendung des Syntagmas in den öffentlichen Diskursen sich davon sicher unbeeindruckt zeigte. Man sollte die Rede von kollektiver Identität nicht solchen Demagogen überlassen, die diese Begrifflichkeit mit politischem Kalkül für ihre eigenen, zumeist essentialistisch konstruierten und auf Ausgrenzung Anderer zielenden Mythen benutzen, wie sie etwa im Fremdenhass erfüllten Pegidaschlachtruf – „Wir sind das Volk“ – zum Ausdruck kommen. Dass dieser Ruf, der 1989 einer vielschichtigen freiheitlich orientierten Bürgerbewegung noch dazu diente, für die Öffnung von Grenzen zu demonstrieren, nun von xenophoben Hetzern für ihr Ziel missbraucht wird, Grenzen zu schließen, zeigt nicht nur, wie fragil und prekär der Gewinn kollektiver politischer Freiheit ist, sondern eben auch, wie umkämpft und positionell verschieden eine Grundvokabel kollektiver Identität wie „Volk“ für die je eigenen politischen Visionen und Interessen einer „Wir“13-Gruppe in Anspruch genommen wird. Gerade in Zeiten der Angst vor dem Terror ist die Gefahr groß, alte nationalistische und rassistische Mythen kollektiver Identität neu aufblühen zu lassen, oder gar neue zu kreieren, wie es nach dem 11. September 2001 in den USA geschehen ist und zur Zeit in Europa nicht nur in Polen und Ungarn zu beobachten ist.14] Angesichts der politischen Gefahren der Verwendung des Konzepts der kollektiven Identität, schlägt Straub folgende „alternative Verwendung und Bedeutung“ vor: „Wer in wissenschaftlicher Absicht von kollektiver Identität bzw. der Identität eines Kollektivs spricht, schreibt einer variablen Mehrzahl etwas ihnen Gemeinsames zu. 13 Auch dieses „Wir“ zeigt die Untauglichkeit des Vorschlags Niethammers, Kollektive Identität, a. a. O., 628f., das Konzept „kollektive Identität“ durch das Personalpronomen „Wir“ zu ersetzen. 14 Dass Niethammer, Kollektive Identität, a. a. O., diese Gefahren aber bereits vor 2001 beschrieben hat, zeigt die analytische Hellsichtigkeit seiner Kritik an.
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Er setzt sie nicht in jeder Hinsicht miteinander gleich – das ist, wenngleich geschehen, offenkundig absurd –, sondern in ausgewählten und spezifizierten, explizierten Aspekten. Diese partielle Gleichheit bedeutet keine ‚Wesensgleichheit eines Kollektivs‘, sondern lediglich eine (auch zeitlich limitierte) Gemeinsamkeit, die vielerlei Unterschiede in anderen Hinsichten nicht ausschließt.“15 „Die kollektiv geteilten Merkmale, die eine auf Ähnlichkeit gründende Gemeinsamkeit stiften, sind empirisch feststellbar, wenn auch nicht objektiv reifizierbar. Sie beziehen sich nicht auf periphere, sondern auf relevante, oft auf zentrale Aspekte einer soziokulturellen Lebensform. Es sind die konjunktiven Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte, die Anlässe und Anhaltspunkte für die kommunikative, diskursive Aushandlung und Artikulation kollektiver Identitäten bieten (und keine unveränderlichen ‘natürlichen‘ Merkmale von Menschen).“16 Wenn Straub daraus allerdings die Konsequenz zieht, die Begrifflichkeit der kollektiven Identität sei deshalb nur „im Sinne einer rekonstruktiven, interpretativen Sozialund Kulturwissenschaft zur Beschreibung der interessierenden kollektiven Identität“17 zu verwenden, so bedient er zwar den immer noch weit verbreiteten empiristischen Straub, Art. Identität, a. a. O., 298. Ebd. 301–303 findet sich ein viele Positionen berücksichtigendes Literaturverzeichnis. Darüber hinaus ist das gesamte 5. Kapitel des Handbuches der Kulturwissenschaften dem Grundbegriff der Identität gewidmet, vgl. ebd., 277–363. Aber auch die anderen Kapitel zu den auch in den exegetischen Wissenschaften oftmals theorieschwach verwendeten Grundbegriffen der „Erfahrung“, „Sprache“, „Handlung, „Geltung“ und „Geschichte“ seien ausdrücklich der Lektüre empfohlen. Es würde die exegetischen Diskussionen und Publikationen sicherlich fördern, wenn alle daran Beteiligten zumindest auf dem Theoriestand dieses gelungenen Kulturwissenschaftlichen Handbuches wären. 16 Straub, Art. Identität, a. a. O., 299. Zu Recht hebt Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, a. a. O., 134 hervor, dass jede Identitätsbildung durch „Reflexivwerdung“ entsteht und sich entwickelt und deshalb gleichermaßen für personale wie für kollektive Identität gilt, ebd., 132: „‘Naturwüchsige‘ Identität gibt es nicht.“ 17 Straub, Art. Identität, a. a. O., 299. 15
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Wissenschaftsmythos einer wertfreien, unbeteiligten Beschreibung von Sachverhalten, unterläuft damit aber die Einsicht zeitgenössischer Natur- und Geisteswissenschaften, dass jedwede wissenschaftliche Forschung das zu Erforschende beeinflusst, weil menschlicher Interpretation kein Standpunkt eines Außerhalb möglich ist und es daher immer zur Interaktion zwischen Beobachtetem und Beobachter kommt.18 Damit werden aber auch Geltungs- und Normativitätseffekte erzeugt, denn schon die Bestimmung eines Phänomens als lohnender Untersuchungsgegenstand verleiht ihm Relevanz für die jeweilige Gegenwart des Forschers, und die gewählte Hinsicht auf ihn einen bewertenden Blick, der vielleicht nicht als Normierung gemeint und ausgegeben wird, aber – und 18 Diese Einsicht formuliert in wünschenswerter Klarheit Jörn Rüsen, Art. 6.1. Typen des Zeitbewusstseins – Sinnkonzepte des geschichtlichen Wandels, in: F. Jaeger/B. Liebsch, edd., Handbuch der Kulturwissenschaften 1, a. a. O., 365–384, hier: 365: „Zeit ist eine Grundbestimmung des menschlichen Daseins. Sie umgreift Mensch und Welt, Denken und Sein, Innen und Außen, Kultur und Natur. Sie ist daher eine Fundamentalkategorie (nicht nur) der Kulturwissenschaften. Mit ihrem Zeitverständnis bestimmen diese über Zusammenhang und Unterschied von Kultur und Natur, über die Eigenart des Menschen und seinen Umgang mit seiner Welt und mit sich selbst. Zugleich bestimmen sie auch über sich selbst, über eine ihrer wichtigsten Aufgaben: der Zeit als Phänomen in allen Bereichen des menschlichen Lebens nachzuspüren, sie zu verstehen, zu deuten und zu erklären und sich dabei zu ihr kritisch-rational (methodisch argumentierend) zu verhalten. Die Kulturwissenschaften dürfen dabei nicht übersehen, dass sie mit diesen ihren Erkenntnisleistungen selber ein Vollzug von Zeit sind, ihr auch in der Abständigkeit rationalen Argumentierens genauso angehören wie die Objekte ihrer Erkenntnis. Insofern können sie sich zu ihr nicht neutral zeitenthoben verhalten, sondern sind selber ein Teil der Kultur, die ihren Gegenstandsbereich ausmacht. Indem sie den Sinn, den die Menschen der Zeit abgewinnen oder geben, erforschen, gehören sie selber zu diesem Sinngeschehen der Kultur. […] Will man nicht einen grundsätzlichen kulturellen Relativismus in Kauf nehmen (was letztlich die Kulturwissenschaften als Fachdisziplinen zerstören würde), dann sind besondere Reflexionen und Begründungen notwendig, um Verständigungschancen über Wahrheitsansprüche eröffnen und einlösen zu können.“
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das ist weit problematischer – unterschwellig als Normalisierung funktioniert. Wissenschaftliche Untersuchungen, die sich nicht als perspektivische Positionierung verstehen und als solche zu erkennen geben, sind in ihrer Theoriebildung unterkomplex und anfälliger für ideologische Einseitigkeiten. Viel unbefangener spricht Straub vom Normativen bei der Darstellung des Konzepts der personalen Identität, die er nicht substanzhaft als „Kern“ einer Person, sondern vielmehr als „Aspiration“, als Anhauch versteht, der „prinzipiell unvollständig und unvollendet“19 bleibt: „Identität meint aspirierte, angestrebte, imaginierte Identität, und als solche trägt sie zur Konstitution des Handlungspotentials einer Person bei und motiviert sie zu bestimmten Verhaltensweisen. Identität ist ein normativer, sozialer Anspruch, den Personen an sich und andere stellen können, wohl wissend, dass niemand diesen Anspruch jemals zu erfüllen in der Lage ist. Mit anderen Worten: Es gibt keine Identität ohne Selbstentzug.“20 Was Straub hier so erhellend über personale Identität schreibt, gilt aber auch in mancher Hinsicht für kollektive Identität. Freilich ist seine eindringliche Warnung vor der unbedachten analogisierenden Übertragung von Aspekten des einen Konzepts auf das andere zu berücksichtigen. Der Unterschied zwischen personaler und kollektiver Identität liegt nämlich nicht zuletzt in der ontologischen Verschiedenheit der Instanzen. Personale Identität wird im Leib der jeweiligen Person aus- und umgebildet, während kollektive Identität als intermedialer Prozess verschiedener Leiber gedacht werden muss. Personale Identität ist daher an das Medium des einen, je eigenen Leibes gebunden, während kollektive Identität nur erzeugt werden kann, wenn sie geäußert und über die identifizierende Rezeption diverser Medien zur eigenen personalen Identität von mehreren menschlichen Leibern wird. Personale und kollektive Identität müssen zwar 19 20
Straub, Art. Identität, a. a. O., 280. Straub, ebd., 280f.
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unterschieden werden, sie hängen aber so eng zusammen, dass kollektive Identität nur über personale Identitätsbildung ent- und bestehen kann und personale Identitätsbildung immer schon in der kommunikativen Interaktion mit dem Individuum vorgegebenen Kollektiven wie Familie, Nachbarschaft, Schule, Gemeinde, Vereine etc. geschieht. Fazit: Nicht nur die Unterscheidung von personaler und kollektiver Identität sollte eine Mindestanforderung wissenschaftlichen Gebrauchs dieser Terminologie sein, sondern auch die Klärung der Frage, wie denn beide zusammenhängen. Weil das Konzept kollektiver Identitätsbildung noch umstrittener ist, als das der personalen Identität, setze ich zur Klärung dieser Frage bei der scheinbar einfacheren Konzeption personaler Identität an. 3. Grundpositionen differenztheoretischer Identitätskonzepte Mit der neueren Identitätsforschung21 ist zunächst hinsichtlich des Konzeptes personaler Identität nicht mehr Diese Sicht der Dinge hat bereits Erhardt Güttgemanns in Anschluss an Jacques Lacans Freud-Interpretation in die exegetische Debatte eingebracht, jedoch wurde er diesbezüglich kaum in der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft rezipiert, vgl. Erhardt Güttgemanns, fragmenta semiotico-hermeneutica. Eine Texthermeneutik für den Umgang mit der Heiligen Schrift, Forum Theologiae Linguisticae 9, Bonn 1983, 6. Kapitel: Sigmund Freud: „Authentisches“ Sprechen im Feld von Verdrängung, Verschiebung, Verdichtung und Verneinung – Die psycho-semiotische Anfrage an die Identitäts-Anthropologie, 263–312. Im Rahmen Praktisch-Theologischer Theoriebildung ist zu verweisen auf Henning Luther, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, ThPr 20, 1985, 317–338; ders., „Ich ist ein Anderer“. Die Bedeutung von Subjekttheorien (Habermas, Levinas) für die Praktische Theologie, in: S. Alkier u.a, edd., Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze – Anregungen – Aufgaben, FS Henning Schröer, Rheinbach-Merzbach 1991, 233– 254. Für die philosophische Debatte sei verwiesen auf Manfred Frank, ed., Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt am Main 1988. 21
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von einem „Selbst“ auszugehen, das „wegen irgendwelcher eventueller Konstanzen von ‘etwas’ das ‘gleiche’ bleibt“22. Die Bildung personaler Identität wird besser als prozessuale Aufgabe gedacht, „ohne dass sich noch ein identischer Kern des Selbst ausmachen ließe. Nach einem Kern zu fragen, heißt ohnehin, irreführende substanzielle bzw. am Paradigma der Selbigkeit orientierte Vorstellungen davon ins Spiel zu bringen, wer wir sind. In Anlehnung an Kierkegaard und Heidegger wird dagegen betont: wir sind nicht, sondern geschehen in der Weise des Selbstseins, das sich selbst als radikal fraglich erfährt.“23 Dieses Geschehen des Selbstseins vollzieht sich als „aktive[.] Konstituierungsleistungen eines um sich selbst sorgenden Subjekts“24, die das Auseinanderfallen der Person in verschiedene Selbste verhindern sollen, ohne ihre Differenzen zu verleugnen: „Identität lässt sich treffend als paradoxe Ambition der ‘Einheit ihrer Differenzen’ konzeptualisieren, wobei keine aktive ‘Synthesis Dieses Umdenken in den 1980er Jahren wurde maßgeblich angeregt durch die Identitätskritik des Psychoanalytikers Jacques Lacan und der Philosophen Michel Foucault und Jacques Derrida, die wiederum als Exponenten der viel breiteren Denkbewegung des französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus gelten, vgl. dazu: Francois Dosse, Geschichte des Strukturalismus, 2 Bde., aus dem Franz. v. Stefan Barmann, Hamburg 1996. In der gegenwärtigen neutestamentlichen Forschung wird die Abkehr von einem substanztheologischen Identitätsmodell eindrücklich im Durchgang aller neutestamentlicher Schriften vertreten von Eckart Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament, UTB 2768, Tübingen 2006; vgl. ders., Neues Testament, Theologie und Gesellschaft. Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012; ders., ed., Subjekt Werden. Neutestamentliche Perspektiven und Politische Theorie, TBT 162, Berlin/Boston 2013. Mit Blick auf die aktuelle philosophische Subjektdebatte hebe ich exemplarisch hervor die inspirierende Monographie von Burkhard Liebsch, Prekäre SelbstBezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012. 22 Straub, Art. Identität, a. a. O., 285. 23 Liebsch, Prekäre Selbst-Bezeugung, a. a. O., 315. 24 Jürgen Straub, Art. Identität, a. a. O., 285.
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des Heterogenen’ zur Aufhebung oder Eliminierung dieser Differenzen führen kann.“25 Dieser „Identitätsbegriff kreist um das dauerhafte ‘Paradox’ einer Einheit, die unabschließbar, entzweit, ungreifbar und vor allem zugleich dauerhaft angestrebt und fortwährend unerreicht bleibt.“26 Das Geschehen des Selbstseins vollzieht sich jedoch nicht in einem Innenraum, der von der Begegnung mit den anderen abgeschirmt wäre. Vielmehr ereignet es sich vor und in den Augen der anderen. “Es ist radikal angewiesen darauf, sich als bezeugtes zeigen zu dürfen, ohne darin je einen Beweis dafür liefern zu können, wer es (erkennbar) ist.“27 Personale Identität bildet sich also nicht als ein innerer Besitz aus, sie bedarf vielmehr der Mimesis der Anderen und ihrer Zeichen, Gesten und Blicke, um sich selbst als sich selbst vor sich selbst und vor den anderen bezeugen zu können. Diese Vermittlung durch die Kommunikation mittels Zeichen ist daher konstitutiv nicht nur für kollektive, sondern ebenso für personale Identität: „Zwischen beiden Dimensionen der Identität besteht eine eigentümliche, paradoxe Beziehung. Ich möchte das in der Form zweier Thesen formulieren, die einander scheinbar widersprechen: 1. Ein Ich wächst von außen nach innen. Es baut sich im Einzelnen auf kraft seiner Teilnahme an den Interaktions- und Kommunikationsmustern der Gruppe, zu der er gehört, und kraft seiner Teilhabe an dem Selbstbild der Gruppe. Die Wir-Identität der Gruppe hat also Vorrang vor der Ich-Identität des Individuums, oder: Identität ist ein soziales Phänomen bzw. ‘soziogen’. 2. Kollektive- oder Wir-Identität existiert nicht außerhalb der Individuen, die dieses ‘Wir’ konstituieren und tragen. Sie ist eine Sache individuellen Wissens und Bewußtseins.“28 25 26 27 28
Straub, ebd., 281. Straub, ebd., 280. Liebsch, Prekäre Selbst-Bezeugung, a. a. O., 316. Vgl. dazu Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, a. a. O., 130f.
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Damit kommt zugleich die gesellschaftliche Komponente jeder personalen Identitätsbildung in Betracht,29 als auch deren Generierung durch Zeichenprozesse, die die jeweilige Person nicht erfindet, sondern die ihr mit deren schon längst vorgegebenen differierenden Verwendungen eingeschrieben werden. Der Philosoph und Literaturtheoretiker Michail Bachtin hat diese zeichenvermittelte, kommunikative Bedingung jeder Identitätsbildung vornehmlich mit Blick auf verbalsprachliche Kommunikation bedacht und dabei festgestellt: „Um so verwunderlicher ist es, daß die Philosophie des Wortes und die Linguistik vorzüglich just diesen künstlichen, bedingten Zustand des aus dem Dialog herausgelösten Wortes ins Auge gefaßt und ihn für den Normalzustand gehalten haben (obwohl der Primat des Dialogs über den Monolog oft genug deklariert wird). Der Dialog wurde lediglich als kompositionelle Form des Redeaufbaus untersucht, die innere Dialogizität des Wortes (in Replik wie in monologischer Äußerung) aber, die seine gesamte Struktur, seine semantischen und expressiven Schichten durchdringt, blieb nahezu unbeachtet. […] Das Wort wird im Dialog als seine lebendige Replik geboren, es erlangt seine Form in der dialogischen Wechselwirkung mit dem fremden Wort im Gegenstand. Der Entwurf des Gegenstandes durch das Wort ist dialogisch. Aber darin erschöpft sich die innere Dialogizität des Wortes keineswegs. Nicht nur im Gegen29 Vgl. Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. v. R. Grübel, Frankfurt am Main 1979, 225f.: „Das Thema vom sprechenden Menschen ist im Alltag von großem Gewicht. Auf Schritt und Tritt ist im Alltag von jemandem, der spricht und seinem Wort die Rede. Man kann geradezu sagen: im Alltag wird am meisten über das gesprochen, was andere sagen, – man übermittelt, erinnert, erwägt, erörtert fremde Wörter, Meinungen, Behauptungen, Informationen, entrüstet sich über sie, erklärt sich mit ihnen einverstanden, bestreitet sie, beruft sich auf sie usw. Wenn man den Bruchstücken eines rohen Dialogs auf der Straße, in einer Menge, beim Anstehen, im Foyer usf. genau zuhört, dann hört man, wie oft die Wörter ‚sagt er‘, ‚sagt man‘, ‚sagte er‘ sich wiederholen“.
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stand trifft das Wort auf ein anderes fremdes. Jedes Wort ist auf eine Antwort gerichtet und keines kann dem tiefgreifenden Einfluß des vorweggenommenen Wortes der Replik entgehen. Das lebendige, umgangssprachliche Wort ist unmittelbar auf das Wort der folgenden Replik eingestellt: es provoziert die Antwort, nimmt sie vorweg und formt sich auf sie hin. Obwohl das Wort im Umfeld von schon Gesagtem Gestalt annimmt, ist es gleichzeitig vom noch ungesagten, aber notwendigen und vorweggenommenen Wort der Replik bestimmt. So vollzieht sich jeder lebendige Dialog.“30 Die Einschreibung der Sprache der Anderen in die eigenleibhaftige Identitätsbildung erfolgt demnach nicht nur im Spracherwerb des Kindes. Sie bleibt durch die unhintergehbare31 dialogische Eingebundenheit in private und öffentliche Kommunikation konstitutives Element jedes Selbstverhältnisses, auch dann, wenn das fremde Wort zum „Eigenwort“ wird: „[…] das Unterscheiden von eigenem und fremdem Wort, von eigenem und fremdem Gedanken setzt ziemlich spät ein. Wenn die Arbeit des selbständigen, prüfenden und auswählenden Gedankens beginnt, dann geschieht vor allem eine Trennung des innerlich überzeugenden Wortes vom autoritären und aufgezwungenen Wort und von der Masse der gleichgültigen, uns nicht berührenden Wörter. […] Im Alltag unseres Bewußtseins ist das innerlich überzeugende Wort ein halb eigenes und halb fremdes. Seine schöpferische Produktivität besteht gerade darin, daß es einen selbständigen Gedanken und ein selbständiges neues Wort erweckt, dass es die Massen unserer Wörter von innen her organisiert und nicht in einem isolierten und unbeweglichen Zustand verharrt. Es wird nicht so Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, a. a. O., 172f. Vgl. Bachtin, ebd, 238: „[…] selbst der dürrste und platteste Positivismus kann das Wort nicht neutral, als Ding traktieren und ist gezwungen, nicht nur über das Wort, sondern auch mit dem Wort zu sprechen, um zu dessen ideologischen Sinn vorzudringen, einem Sinn, der einzig dem dialogischen – Bewertung und Antwort einschließenden – Verstehen zugänglich ist.“ 30 31
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sehr von uns interpretiert, es entwickelt sich vielmehr frei weiter, paßt sich an neues Material, an neue Umstände an, erhellt sich wechselseitig mit neuen Kontexten. Darüber hinaus nimmt es eine intensive Wechselwirkung und den Kampf mit anderen innerlich überzeugenden Wörtern auf. […] Die Sinnstruktur des innerlich überzeugenden Wortes ist nicht vollendet, ist offen, in jedem neuen, es dialogisierenden Kontext kann es ganz neue Sinnmöglichkeiten erschließen.“32 Diesen Gedanken bringt Michail Bachtin konzeptionell mit dem ästhetisch-anthropologischen Begriff der Dialogizität zum Ausdruck, der deshalb für die Konzeption eines tragfähigen Identitätsbegriffs von einiger Bedeutung ist, gerade weil er Identität nicht essentialistisch als beständigen Wesenskern im Innenraum einer Person zu begreifen aufgibt, sondern die dauerhafte Angewiesenheit auf den Blick und die Zeichenbildungen der Anderen als kommunikative, semiotische Dynamik von Identitätsbildungsprozessen denken lässt und damit auch eine konzeptionelle semiotische Verbindung zwischen den zu unterscheidenden Konzepten personaler und kollektiver Identität ermöglicht. 33 4. Identität als Zeichenprozess Dass für die Identitätsbildungsprozesse keineswegs nur verbalsprachliche Zeichen eine Rolle spielen, dürfte schon aus dem bisher Geschriebenen deutlich geworden sein. Die dreigliedrige Grundstruktur jedes Zeichens, Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, a. a. O., 232. Vgl. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, a. a. O., 168: „Sprachphilosophie, Linguistik und die auf ihnen beruhende Stilistik lassen jene spezifischen Erscheinungen im Wort fast völlig außer Acht, die durch seine dialogische Orientierung inmitten fremder Aussagen innerhalb derselben Sprache bestimmt werden (der ursprünglichen Dialogizität des Wortes), durch die Orientierung unter anderen, ‚sozialen Sprachen‘ im Rahmen derselben Nationalsprache und schließlich unter anderen Nationalsprachen im Rahmen derselben Kultur, desselben sozioideologischen Horizonts.“ 32 33
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dass etwas für etwas anderes in bestimmter Hinsicht steht, lässt alle Interpretationsprozesse und jede Kommunikation als Zeichenprozess begreifen. Personale und kollektive Identitätsbildung werden damit als dialogische Zeichenprozesse verstehbar,34 in denen die Identität einer Person oder eines Kollektivs immer wieder auf dem Spiel stehen, neu zum Ausdruck gebracht und auch neu entworfen werden müssen, wenn etwa kontingente Ereignisse dazu zwingen oder sich auch andere chronotopische, politische, wirtschaftliche, emotionale Veränderungen der Konstellationen ergeben. „Das Selbst ist kein Prinzip; und es beherrscht sich nicht wie ein Souverän aus eigener Kraft und Macht.“35 Personen wie Kollektive haben sich selbst nicht im Griff, sie verfügen nicht über ihre Zukunft und kennen auch nicht ihre Gegenwart geschweige denn ihre Vergangenheit in Gänze. Sie nehmen sie vielmehr selbst ausschnitthaft, perspektivisch, in den Grenzen ihres je aktuellen chronotopischen Standpunktes wahr. Sie können nicht wirklich wissen, wer sie sind, denn sie wissen nicht, wer sie gewesen sein werden. Schon diese alle Zeitdimensionen umgreifende Konstitution von Identität weist darauf hin, dass Identität nicht substanzhaft sondern als dynamischer Interpretationsprozess gedacht werden muss, der es Personen wie KolVgl. Wolfram Ellenberger, Das Werden des Menschen im Wort. Eine Studie zur Kulturphilosophie Michail M. Bachtins, Zürich 2009, 70: „Jede Realisierung des Bezugs auf Erfahrenes, auch der auf eigene Denk- bzw. Erfahrungsprozesse, ist nach Volosinov zeichenvermittelt. ‚Die Selbstbeobachtung ist das Verstehen des eigenen inneren Zeichens […] Ein Zeichen kann nur mit Hilfe eines anderen Zeichens erhellt werden.‘ Zwischen interindividuell-öffentlicher und innerlich-selbstadressierter Zeichentransformation besteht damit, aus psychologisch-methodischer und philosophischer Sicht, kein qualitativer Unterschied mehr. Und dies gilt umso mehr, als die Ausbildung des individuellen Bewusstseins als Ergebnis einer durch den Prozess der sozialen Interaktion geprägten Zeichenaneignung von ‚außen‘ nach ‚innen‘ konzipiert wird. Die Zeichen, aus und mit denen ein Selbst wird, sind die Zeichen anderer.“ 35 Liebsch, Prekäre Selbst-Bezeugung, a. a. O., 316. 34
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lektiven verwehrt, sich ganz in den Blick nehmen zu können. Sie bleiben sich selbst entzogen, weil weder eine Person noch ein Kollektiv einen unmittelbaren Zugang zu sich selbst haben, sondern auf permanentes Interpretieren angewiesen sind, das nicht nur sie selbst, sondern ebenso die Konstellationen, in denen sie leben – ihre Zeit –, zum Gegenstand hat. „Der Mensch kann die Zeit nicht einfach so lassen, wie sie ist (d.h. wie sie ihm unmittelbar begegnet). Denn er erfährt sie als Einbruch unvorhersehbarer Ereignisse in seiner gedeuteten Welt, kurz: als einen Wandel seiner Welt und seiner selbst, den er erleiden und zu dem er sich verhalten muss, weil er von sich aus noch nicht hinreichend auf sein Handeln sinnhaft bezogen ist.“36 „Identität meint in Bezug auf Zeit genau das Ausmaß von Kohärenz im zeitlichen Wandel des menschlichen Selbstverhältnisses, das die Menschen brauchen, um sinnbestimmt oder kulturell orientiert handeln zu können. Identität hält Selbsterfahrung und Selbstentwurf als Dauer des eigenen Ich oder Wir so zusammen, dass die Leidenserfahrung des Ausgeliefertseins, dass Kontingenz und Tod ausgehalten und zu einem Handeln überwunden werden können, das zugleich normativ motiviert und erfahrungsgestützt erfolgt.“37 Weil Menschen keinen Gesamtblick, keinen Über-Blick auf ihre eigene Geschichte und weniger noch auf die ihrer Kollektive haben, leben sie in der Notwendigkeit, sich selbst zum Gegenstand der Interpretation zu machen. Sie erinnern nicht jeden Moment ihres Lebens, sie gewichten Momente der Erfahrung in der jeweiligen gegenwärtigen Konstellation neu und entwerfen sich auf eine Zukunft, die aufgrund der Kontingenz38 des Lebens nie genauso sein wird, wie sie erwartet wurde. Diese Zeitstruktur menschlicher Identitätsbildungsprozesse Rüsen, Art. Typen des Zeitbewusstseins, a. a. O., 366. Rüsen, ebd., 371. 38 Rüsen, ebd., 366: „Kontingente Geschehnisse sind unvermutet, plötzlich, unverhofft, ereignishaft […] Kontingente Zeiterfahrungen müssen gedeutet werden, weil sie Einfluss auf das Leben der jeweiligen Subjekte nehmen.“ 36 37
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führt erst dann zu einem Freiheitsgewinn, wenn die Grenzen des eigenen Blickpunkts akzeptiert und produktiv genutzt werden: „Identität impliziert die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung (z. B. in Form der Selbstironie), der Selbstreflexion und Selbstkritik.“39 Identität untersteht dem Zwang zur Selbstdistanzierung, weil das Selbst sich wandelt unter den Bedingungen sich verändernder Konstellationen und unvorhersehbarer Ereignisse und sich doch immer wieder neu verstehen muss, wenn es nicht zerrissen werden möchte, sondern sich mittels eines revidierbaren Selbstverhältnisses behaupten will. Die Annahme dieses Zwangs eröffnet aber Möglichkeiten der Selbstentfaltung, die nicht einem reinen Wiederholungszwang geschuldet sind, sondern tatsächlich neues Denken, Umdenken ermöglicht. Die basale Grundbotschaft Jesu in den Evangelien lautet daher: Metanoeite: Umdenken ist möglich, weil eben nicht feststeht, wer wir sind, sondern es sich durch die jeweilige Selbst-Bezeugung im Lebensvollzug erweisen wird, wer wir gewesen sein werden. Christliche Identitätsbildungsprozesse werden daraufhin zielen, sich als Kinder des barmherzigen und gerechten Gottes Israels zu erweisen, der den gekreuzigten Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt hat. Diese christliche Identität kann aber nicht als Besitz, sondern nur als prekäre, auf Bitten angewiesene Gabe und Aufgabe der Selbstauslegung gedacht werden.40 Im konfliktreichen Dialog werden nicht nur die je eigenen Selbstbezeugungen dargestellt, sondern es wird auch darum gestritten, wie die Bezeugung der Zugehörigkeit Straub, Art. Identität, a. a. O., 281f. Vgl. dazu Stefan Alkier, Die Bergpredigt als ermutigende Anweisung zur prekären Selbst-Bezeugung der Kinder Gottes, in: E. Reinmuth, ed., Subjekt werden. Neutestamentliche Perspektiven und politische Theorie, Berlin/Boston 2013, 237–250. Vgl. auch Kristina Dronsch, „Ihr seid Zeugen“ (Joh 15,27). Die johanneische Figur des Zeugen in subjekttheoretischer Sicht, in: E. Reinmuth, Subjekt werden, a. a. O., 195–212; Eckart Reinmuth, Subjekt werden. Zur Konstruktion narrativer Identität bei Paulus, Johannes und Matthäus, in: ders, ed., Subjekt werden, a. a. O., 251–284. 39 40
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zu einem Wir aussehen soll. Darum streiten längst nicht nur die sich unter einem bestimmten Wir Versammelnden, sondern auch Dritte, daran scheinbar gar nicht Beteiligte. Was sich für einen „Christen“ bzw. einen „Juden“ oder einen „Muslim“ gehört oder nicht, darüber diskutieren nicht nur Christen, Juden und Muslime innerhalb ihrer Kollektive. Dass evangelische Christen nicht zum römisch-katholischen Abendmahl eingeladen sind, bezeugt die römisch-katholische Abwertung protestantischer Identität eindrücklich. Wie und ob das 500- jährige Reformationsjubiläum gefeiert und mit den Feierlichkeiten dargestellt und interpretiert wird, diskutieren aber auch solche Dritte in den öffentlichen Medien, die sich selbst keiner religiösen Gruppe zuordnen. Und doch hat der Blick dieser Dritten Auswirkungen auf die Selbstinterpretation christlicher Identität von protestantischen wie römisch-katholischen Christinnen und Christen. Die Beispiele für die kommunikative Aushandlung von kollektiver Identität und ihren Zugehörigkeitsbedingungen ließen sich beliebig erweitern. Man denke nur an die aktuelle Diskussion darum, ob Benzema, einer der Leistungsträger der französischen Fußballnationalmannschaft, aufgrund der Werte, die sie als Kollektiv darstellen soll, für Frankreich bei der Fußballeuropameisterschaft antreten darf oder nicht. Sportlich steht sein Können außer Frage, aber nicht nur Fußballfans und nicht einmal nur Franzosen diskutieren diese Frage der Berechtigung Benzemas zum Kollektiv der Französischen Nationalmannschaft gerechnet zu werden. Solche Beispiele der Aushandlung kollektiver Identität und ihrer Zugehörigkeitsbedingungen zeigen gerade in der Notwendigkeit, immer wieder neu darum zu ringen, dass Identität kein Objekt ist, das ein Subjekt – sei es im Singular oder im Plural – hat, sondern ein Interpretant, der stets neu gebildet werden muss. Identität ist keine Substanz, sondern ein Zeichenprozess. Identität als Zeichenprozess aufzufassen impliziert die Absage an den substanzontologischen Dualismus von Subjekt und Objekt: „Der neuzeitliche Dualismus von
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Subjekt und Objekt hatte u. a. vorausgesetzt, dass diese beiden Größen, Substanzen oder Pole als solche erkennbar seien: So wie sich empirische Gegenstände ausfindig machen und bestimmen lassen, so dann durch eine bemühte Innenansicht auch die Seele des Menschen. Wird Letzteres aber im Wissenschaftsprogress zweifelhaft, so bleibt (in der Zuständigkeit der Wissenschaften) nur noch die Objektivität messbarer Gegenstände – und eine Leerstelle, wo früher einmal die Seele als göttlichmenschliche Substanz gedacht wurde und wo heute die Psychologie über Therapien mühsam Ersatz zu schaffen sucht bzw. den objektivierenden Zugriff auch an dieser Stelle zum Zuge bringt.“41 Eine Alternative zu diesem essentialistischen SubjektObjekt-Denken hat schon vor Bachtin Charles Sanders Peirce mit seiner kategorialen Semiotik entwickelt. Es ist das maßgebliche Verdienst Hermann Deusers, mit seiner Entdeckung der kategorialen Semiotik Charles Sanders Peirces und deren religionsphilosophische und theologische Perspektiven bei gleichzeitigem Interesse an den Schriften Sören Kierkegaards einen neuen theologischen und religionsphilosophischen Denkweg eingeschlagen zu haben, der aus der essentialistischen Sackgasse eines binären Subjekt-Objekt-Denkens herausführt. Grundlegende Bedeutung dafür kommt dem triadischen Zeichenkonzept zu, das Realität schon dadurch neu zu begreifen lehrt, dass es die Zeichen selbst als unhintergehbares relationales Phänomen der Realität denkt und nicht mehr als substanzontologisch vorgestelltes und daher als minderwertig eingestuftes, bloß mediales Instrumentarium, dessen sich eine die Dinge an sich nie wirklich in den Blick bekommende Erkenntnisanstrengung notwendiger aber eben nicht hinreichender Weise bediene.42 Hermann Deuser, Warum haben nur Menschen Religion? Über Zeichen der Evolution, Bilder der Kultur und Symbole des Geistes, in: ders., Religion: Kosmologie und Evolution. Sieben religionsphilosophische Essays, Tübingen 2014, 1–19, hier: 14. 42 Vgl. dazu Gesche Linde, Zeichen und Gewißheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs, RPTh 69, Tü41
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Zeichen sind nämlich nicht lediglich mehr oder weniger brauchbare Mittel zur Abbildung von Realität, sie sind selbst Bestandteil der Realität. Zeichen sind im Realitätskonzept kategorialer Semiotik die Art und Weise, wie sich die Phänomene der Wahrnehmung als Phänomene der Wahrnehmung zeigen.43 Realität wird daher folgerichtig von Deuser in Abkehr von der transzendentalphilosophischen Kategorienlehre44 kategorial-semiotisch als Zeichenprozess analysiert: „Erfahrene und erfahrbare Wirklichkeit überhaupt – universalienrealistisch verstanden – tritt auf als 1. pure Möglichkeit, 2. die ‚rohe Wirklichkeit von Dingen und Tatsachen‘ und 3. die Bindungsfähigkeit im Herstellen von Zusammenhängen, was genau die Leistung eines Zeichens ausmacht: als solches einen Gegenstand mit einer diesen bezeichnenden Interpretation zu verbinden. Die Semiotik gibt eben nicht nur eine Strukturbeschreibung von Wahrnehmungs-, Erkenntnis- oder Sprachvorgängen, sondern sie bildet als dreigliedrige Struktur die Realität ab – so wie wir sie erbingen 2013. Linde legt ebd., 276–335, plausibel dar, dass es die Zeichenkonzeption Augustins ist, auf die dieses defizitäre Zeichenkonzept bereits zurückgeht. 43 Hermann Deuser, Kategoriale Semiotik und Pragmatismus, in: ders., Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Religion in Philosophy and Theology 12, Tübingen 2004, 20– 37. Ebd., 32: „Zeichen sind demnach nicht einfach nur die materialen Vehikel, die für etwas anderes stehen, sondern die kategoriale Semiotik beschreibt auf der Basis von Zeichenvermittlungen den umfassenden, schlusslogisch und gemäß der Zeichenstruktur gegliederten Prozess von Repräsentationsleistungen. In diesen allein ist die so genannte Außenwelt menschlich zugänglich. Dass unsere Konklusionen bezüglich der Evolution aller Wirklichkeit selbst hypothetisch bleiben, zeigt nur, dass menschliches Denken die Gegenstandswelt nicht hervorbringt […], wohl aber an ihrer Entwicklung Anteil hat.“ Vgl. auch die komplexe Darstellung der Zeichenkonzeptionen von Martin Luther und Charles Sanders Peirce bei Gesche Linde, Zeichen und Gewißheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs, RPTh 69, Tübingen 2013. 44 Vgl. zur Geschichte der Kategorienlehre Klaus Oehler, Einleitung, in: Aristoteles, Kategorien, übers. u. erl. v. Klaus Oehler, Aristoteles Werke in Deutscher Übersetzung 1. I, Berlin 1984, 37–56.
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fahren und weiterbilden. Die Realität ist ein Zeichenprozess.“45 Deusers Religionsphilosophie eröffnet auf der Basis dieses kategorial-semiotischen Realitätskonzepts die auch für die Probleme der Bibelwissenschaften produktive Möglichkeit, Identität als Zeichenprozess zu denken: „Dass Menschen sich […] verhältnisbildend und immer prozesshaft erfahren, d. h. nicht von festen Polen, Substanzen oder Faktizitäten allein ausgehen können, ist eine Entdeckung, die Peirce (der Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph) Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts gemacht und als Zeichenrelation des Erkennens, Denkens und Seins des Menschen nachgewiesen hat. Eine Zeichenvermittlung ist demnach nicht nur ein Verständigungsmittel, so wie etwas als ein Zeichen für ein Objekt und beide vermittelnd für eine zugehörige – im Falle des Menschen: geistige – Interpretation stehen; Menschen empfinden sich vielmehr selbst als reale Zeichenprozesse, weil sie zu sich selbst keinen irgendwie unmittelbaren Zugriff haben. Das Selbstverhältnis, wie Kierkegaard es exponierte, hat semiotisch (zeichentheoretisch) gesehen dann den Zuschnitt eines zeichenvermittelten (gefühlten, wahrgenommenen, erkannten, gedachten etc.) Objektbezugs (im leibseelischen Verhältnis), der als solcher nicht nur vorliegt, sondern auch bearbeitet und immer neu erfasst werden muss – als Aufgabe des geistigen Verhältnisses (Peirce: Interpretantenrelation) des Selbst, das sich genau so definieren lässt.“46 Hermann Deuser, Einleitung: American Philosophy, in: ders., Gottesinstinkt, a. a. O., 16. Vgl. auch ders., Kategoriale Semiotik und Pragmatismus, in: ders., Gottesinstinkt, a. a. O., 32: „Das Ineinanderliegen von logischen Schlussformen und kategorialer Zeichenstruktur in der Entwicklung der Gemeinschaft der Menschen ist alles, worauf menschliche Erfahrung setzen kann. Was unter diesen Bedingungen sich darstellt, in Zeichenereignissen repräsentiert wird, ist die Realität.“ 46 Hermann Deuser, Warum haben nur Menschen Religion? A. a. O., 15. 45
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Fazit: Aus diesen Überlegungen ergeben sich die folgenden Definitionsversuche der metasprachlichen Konzepte von personaler und kollektiver Identität: Personale und kollektive Identität existieren nicht als vorliegende Objekte, die einen unveränderlichen Kern haben, der einfach nur gezeigt werden könnte. Es handelt sich vielmehr um Interpretationsprozesse, die im Wandel der Zeiten und angesichts von Kontingenz und Tod nach Kontinuitäten und Zusammenhang fragen. Personale Identität interpretiert die eigene leibhaftige Existenz als Zusammenhang in der Vielfalt ihrer Lebensvollzüge. Sie bezeugt sich selbst nicht nur durch verbale Zeichen, sondern durch jede von ihr vollzogene Darstellung. Die Reduktion auf nur eine Zeichenart, etwa im Konzept narrativer Identität auf Sprache oder in diesem Fall sogar auf nur eine Textsorte ist eine unzureichende Reduktion von Identitätsbildungsprozessen. Das Tragen der Haartracht, die bevorzugte Kleidung, der Wohnstil, die Weisen der Partizipation am wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und politischen Leben, die Einhaltung oder Durchbrechung von Umgangsformen, die Auswahl der Freunde und Feinde sind allesamt Interpretanten der eigenen leibhaftigen Existenz. Personale Identität ist das metasprachliche Konzept des notwendigen Versuches, in der unübersichtlichen Vielzahl dieser Selbstbezeugungen Kontinuität zu erleben. Sie ist damit voll und ganz an den je eigenen Leib und die je eigenen Interpretationen der Selbstbezeugung gebunden. Kollektive Identität hingegen kann von Innen und Außen artikuliert werden, denn sie ist medial nicht an den je eigenen Leib gebunden. Dass sich dabei die Interpretationen von Außenansichten und Innenansichten ergänzen aber auch erheblich widersprechen können, braucht hier wohl kaum mit Beispielen belegt zu werden. In jedem Falle aber werden Kollektive von solchen Personen gebildet, die sich innerhalb ihrer personalen Identität zwar stets partiell und in unterschiedlichen Graden, aber dennoch soweit mit Aspekten einer Gruppe identifizieren, dass sie sich in ihrer Selbst-Bezeugung mehr
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oder auch weniger als Mitglieder eines Kollektivs darstellen. Die Grenzziehungen sind hinsichtlich kollektiver Identität extrem schwierig, denn es gibt Fälle, wo jemand dazugehören möchte, es ihm das Kollektiv, zu dem er gehören möchte, aber verweigert. Es gibt andererseits Fälle, in denen jemand bestreitet zu einem bestimmten Kollektiv zu gehören, andere ihm aber genau das unterstellen. Ich schlage daher vor, die „Wir“-Identität als Identifizierung mit einem auch von anderen ausgesprochenen Wir und die „Sie“-Identität als von außen vollzogenen Akt der Zuschreibung von Identifikation zu unterscheiden. 5. Schlussfolgerungen für die Interpretation kollektiver Identitätsbildungsprozesse in den Schriften des Neuen Testaments Von entscheidender Bedeutung für die Verwendung des Konzepts der Identität in den Bibelwissenschaften ist es, in der exegetischen und historischen Arbeit die Instanzen und Medien personaler und kollektiver Identitäten zu differenzieren und hinsichtlich kollektiver Identitäten „Wir“ und „Sie“ (3. P. Pl) zu unterscheiden und die jeweiligen Konsequenzen ihrer verschiedenartigen semiotischen Bedingtheit zu bedenken. Die an den je individuellen Leib gebundene personale Identität biblischer Akteure, insofern sie einst Menschen aus Fleisch und Blut waren, ist nur noch durch das kollektive Medium der Schrift zugänglich – ihre vergangene leibhaftige personale Identität ist aufgrund ihres erfolgten Todes nicht mehr wahrnehmbar. Wer immer auch etwas über die Identität etwa des Paulus schreibt, muss sich klar machen, dass der Ort seiner personalen Identität – sein Leib – nicht mehr da ist, sondern nur noch medial transformiert und zudem höchst ausschnitthaft durch den medialen Zeichenraum fragmentierter Schriften erfolgt – Schriften, die aber in unüberwindbarer Weise nicht Paulus sind, sondern – und auch das ist schon bei einigen der ihm zugeschriebenen Schriften strittig – mehr oder
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weniger zuverlässige Reproduktionen einiger seiner schriftlichen Äußerungen. Wer eine kollektive christliche Identität rekonstruieren möchte, muss in Rechnung stellen, dass alle überlieferten Schriften Äußerungen solcher vergangenen und als solche nicht mehr zugänglichen personalen Identitäten mit ihren jeweiligen prekären, prozesshaften Selbstverhältnissen, Aspirationen, Imaginationen, Wünschen, Ängsten, Hoffnungen sind – und gerade das macht diese Schriften für die historische Arbeit interessant und unersetzlich. Nicht essentialistische Kurzschlüsse wie etwa die statisch gedachte Zuschreibung eines Evangeliums – etwa das Matthäusevangelium – zu einer fixen judenchristlichen Identität oder – etwa das Lukasevangelium – zur heidenchristlichen Identität, sondern die in diesen Schriften gerade als Schriften dargestellten Identitäten sind historische Zeugnisse frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse. Damit wird aber keineswegs einer bloß subjektiven Relativierung der neutestamentlichen Schriften das Wort geredet. Hätte nur der Verfasser der jeweiligen Schrift seinem Entwurf kollektiver Identität zugestimmt und niemand sonst, wären diese Schriften nicht überliefert worden. Das Faktum aber, dass sie überliefert wurden, ist das ausschlaggebende Argument dafür, dass es Menschen gegeben haben muss, die den schriftlichen Entwürfen christlicher Versammlungen und Gemeinschaften, wie sie auch jetzt noch in den biblischen Texten zu erlesen sind, soweit zugestimmt haben, dass sie diese Texte auch als Ausdruck ihrer eigenen personalen Identität betrachteten. Was es daher zunächst zu untersuchen gilt, wenn man frühchristliche Identitätsbildungsprozesse historisch untersuchen möchte, sind nicht nur die Inhalte, sondern auch ihre Medien und die Strategien der Schreibweisen der neutestamentlichen Schriften, mit denen kollektive Identität generiert wurde, bzw. generiert werden sollte. Identitätsbildung ist dabei auch als Prozess von Positionierung und Normierung zu denken.
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Die normative Fragestellung kann historische Forschung aber auch deshalb nicht ausblenden, weil die Forschenden, die sie betreiben, selbst nur chronotopisch begrenzte Blicke auf diese Texte werfen können und zwar nur innerhalb der Grenzen ihrer eigenen leibhaftigen, prozessualen personalen Identität. Daher gilt für die exegetische und historische Forschung, dass die Kollektive, die sie mittels methodischer Verfahren in den Blick bekommt, ausschließlich als „Sie“-Identität untersucht werden können. Kein Exeget, kein Historiker der Gegenwart ist aufgrund seines eigenen leibhaftigen chronotopischen Blickpunktes in der Lage, den re/konstruierten Gruppen als soziologische Größen der Vergangenheit betrachtet beizutreten, auch dann nicht, wenn die eigenen Überzeugungen des Interpreten Ausdruck eines überzeitlichen „Wir“-Gefühls sein sollten, das aus einer identifizierenden Aneignung etwa der Rede vom „Leib Christi“ gespeist wird. Für kritische Forschung gilt nach wie vor die Unterscheidung zwischen Ausleger und Auslegungsgegenstand als Grundbedingung der Erkenntnis. Die Sensibilität für das eigene Beteiligtsein an der Wahrheitsfrage unterläuft diese kritische Differenzierung gerade deswegen nicht, weil sie sich nur dadurch wappnen kann, den gegebenen und zu interpretierenden Phänomenen nichts als die eigenen Konstruktionen überzuwerfen und damit das zu verstellen, was durch methodische Arbeit klarer gesehen werden kann. II. Epistemologische Grundlagen und terminologische Probleme der Rekonstruktion frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse 1. Die überlieferten Zeichen als epistemologische Vorgabe Wer Identitätsbildungsprozesse untersuchen möchte, bedarf überlieferter Zeichen, die daraufhin interpretiert
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werden können. Da personale Identität an die Leiber der Personen gebunden ist, können keine wissenschaftlich verantwortbaren Aussagen über die personale Identität von verstorbenen Personen getroffen werden. Forschungen etwa zur „personalen Identität“ der historischen Person Judas sind nicht möglich, weil es dazu keine zu interpretierenden Zeichen gibt, denn die Texte, in denen Judas als Akteur auftritt, sind nicht Judas, sondern geäußerte Zeichen, sekundäre Interpretationen, die mit Blick auf die personale Identitätsfrage nicht überprüfbar sind, weil der Ort seiner personalen Identität – sein Leib – wissenschaftlicher Forschung nicht zugänglich ist. Die Person Judas ist nicht mehr in ihrer medialleibhaftigen personalen Identität erforschbar, weil ihre Existenzbedingung – der Leib des Judas – nicht mehr existiert. Diese unüberwindbare Grenze der Identitätsforschung führt dann nicht in einen Agnostizismus, wenn man sie vollends akzeptiert und dann nach alternativen Zeichen fragt, die der Forschung als Grundlage ihrer Wissensbildung dienen können. Davon gibt es reichliche: Bildzeichen, Musikzeichen und vor allem Schriftzeichen. Die ältesten unter ihnen sind Schriftzeichen. Für die neutestamentliche Wissenschaft sind davon die bedeutsamsten die kanonischen Evangelien, weil diese zugleich als die ältesten Judaszeichen gelten. Auch wenn man sich noch so sicher sein mag, dass diese ältesten Judasschriftzeichen in mancher Hinsicht zuverlässige Interpretanten der Person Judas sind, so dürfen sie nicht mit dem dynamischen Objekt, das diese Interpretationen ausgelöst hat, nämlich die Person Judas selbst, verwechselt werden. Die mediale Transformation von einem lebendigen Leib in einen Schriftkörper ist nämlich zugleich der Wechsel von einem Medium personaler in ein Medium kollektiver Identität. Der schriftliche Judas, auch wenn er noch so gut getroffen sein sollte, ist nicht mehr die Person Judas, sondern Be-
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standteil des kulturellen Gedächtnisses47 derjenigen, die diese Schriften rezipieren. Das gilt aber nicht nur für solche Personen, die keine eigenen Schriften hinterlassen haben, sondern auch für Personen wie Paulus. Selbst seine als sicher von ihm geschrieben angesehenen Briefe sind nicht Paulus, sondern die Transformation des Mediums personaler Identität in das Schriftmedium kollektiver Identität durch diese schriftlichen Äußerungen des Paulus. Die Briefe des Paulus sind Äußerungen und als solche Äußerungen sind sie Transformationen seiner personalen Identität in das Medium der Schrift. Durch diesen Akt der verbalen – im Falle des Diktierens der Briefe – oder – im Falle derjenigen Passagen, die er mit eigener Hand geschrieben haben sollte – der handschriftlichen Äußerungen wird das Geäußerte abgelöst von der an den je eigenen Leib gebundenen Prozesshaftigkeit personaler Identität und überführt in die kollektive Zugänglichkeit des Mediums des Schriftkörpers. Weil die Briefe des Paulus und die Evangelien aber überliefert wurden, sind sie Zeichen kollektiver Identitätsbildungsprozesse, denn ihre Überlieferung setzt voraus, dass diese Schriften für eine zunächst unbestimmte Menge von Personen so wichtig waren, dass sie nicht nur einmal gelesen und dann weggeworfen wurden, sondern nicht nur weitergegeben, sondern auch vervielfältigt und dann im Prozess der Kanonbildung anderen Schriften gegenüber als normgebend ausgezeichnet worden sind. Die textkritische Tatsache, dass mehr als 5000 Textzeugen48 neutestamentlicher Schriften bekannt sind, ist der Vgl. dazu Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. A. a. O., 48–65: vgl. auch, Stefan Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, WUNT 134, Tübingen 2001, 82–86. 48 Bedauerlicherweise gibt es auch keine originalen Handschriften christlicher Texte aus dem 1. Jh., sondern nur Abschriften von Abschriften – ein Sachverhalt, der zur Textkritik zwingt und der zudem zur Behutsamkeit exegetischer, historischer und theologischer 47
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empirische Beweis dafür, dass diese Schriften schon bald zu Medien kollektiver Identitätsbildungsprozesse wurden. Diese Prozesse haben aber bis heute kein Ende gefunden. Auch heute noch werden sie gelesen und der Mühe wert geschätzt, weitergegeben zu werden. Das Medium der Schrift ist nämlich anders als das Medium des menschlichen Leibes dazu in der Lage, kopiert und vervielfältigt zu werden und damit Zeiten und Räume zu überwinden. Die chronotopischen Möglichkeiten der Schrift sind ganz andere als die eines menschlichen Leibes. Diesen chronotopischen Möglichkeiten des Mediums der Schrift verdanken es auch heutige Leser noch, in Zustimmung, Kritik und Fortschreibung sich in den Prozess kollektiver Identitätsbildung hineinzubegeben, der mit dem vergangenen Akt der Äußerung der Personen angestoßen worden ist. Weil aber jeder Rezipient qua medialer Bedingung Teil dieses Prozesses ist, selbst wenn er beschließt, diese Schriften nicht mehr zu lesen, wird die kollektive Identität dieser Schriften nicht lediglich historisch rekonstruiert, sondern eben immer fortgebildet und zwar solange, bis sich nicht mehr genügend Rezipienten finden, die diese Schriften zu ihrer eigenen Sache machen, wie es im Laufe der Zeit mehr als 90 % der antiken Schriften ergangen ist. Jede Überlieferung ist auf Kollektive angewiesen, auch wenn sie noch so klein sind wie etwa diejenigen, die sich heute noch mit dem GilgameschEpos auseinandersetzen. Die Interpretation der kollektiven Identitätsbildung in diesen Schriften ist Teil der kollektiven Identitätsbildung durch diese Schriften. Die Gemeinschaft der Erforscher des Gilgamesch-Epos verdankt sich der Wirksamkeit des Gilgamesch-Epos und nicht sich selbst. Den neutestamentlichen Schriften kommt hinsichtlich der Erforschung frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse Forschung anleiten sollte – nicht zum Agnostizismus oder Konstruktivismus, was letztlich keinen Unterschied macht.
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deswegen so unschätzbare Bedeutung zu, weil es keine anderen Zeichen gibt, die auf Christusanhänger im ersten Jahrhundert n. Chr. zurückzuführen sind und heute noch existierten. Es mag durchaus sein, dass Christusanhänger auch schon im 1. Jahrhundert eigene Lieder gesungen haben, eigene Bilder gemalt haben, eigene Symbole auf Stein oder Holz geritzt haben und damit kollektive Identitäten erzeugt haben, nur sind sie nicht mehr zugänglich und fallen daher als Zeichen komplett aus. Es gibt keine Inschrift, kein Gebäude, kein Kleidungsstück aus dem 1. Jahrhundert, das als „christlich“ identifiziert werden könnte und damit heutiger Forschung als epistemische Grundlage der Rekonstruktion von Identitätsbildungsprozessen von Christusanhängern im 1. Jh. n. Chr. dienen könnte. Und deswegen scheint es geraten, sich der für alle historische Forschung geltenden Einsicht eines der Großmeister dieses Faches zu erinnern und ihre epistemologische Tragweite zu bedenken: „Der erste Schritt zur richtigen historischen Erkenntnis ist die Einsicht, daß sie es zu tun hat mit einer Gegenwart von Materialien. Da sind Schriftsteller, Akten, Monumente, Gesetze, Zustände, Überbleibsel aller Art, von denen wir freilich wissen, daß ihr Ursprung in andere und andere Zeiten hinaufreicht; aber sie liegen uns so gegenwärtig vor, daß wir sie erfassen können, und nur weil sie noch in der Gegenwart stehen, können wir sie erfassen und u. a. als Material historischer Forschung benutzen.“49 „Es ist in unserer wie in jeder Wissenschaft, daß von der richtigen Würdigung der Erkenntnisquelle alles abhängt; ein wissenschaftliches Arbeiten beginnt erst dann, wenn man sich dieses Bedürfnisses bewußt geworden ist.“50 Johann G. Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Textausgabe v. Peter Leyh, Stuttgart 1977, 9. 50 Ebd. 11. Vgl. auch ebd. 421f.: „Alle Empirie beruht auf der ‚spezifischen Energie‘ der Sinnesnerven, durch deren Erregung der Geist nicht ‚Abbilder‘, aber Zeichen von den Dingen draußen, die diese Erregung hervorgebracht haben, empfängt. Er entwickelt sich so 49
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2. Terminologische Probleme Über die Fachgrenzen hinweg verleitet die gewohnheitsmäßige Einteilung der antiken Menschen in Juden, Christen und Heiden dazu, das durch Ämter und überregionale synodale dogmatische Entscheidungen geprägte katholische Christentum der späteren Jahrhunderte in die Texte des 1. Jahrhunderts hineinzulesen. Dadurch werden normative Abgrenzungen, wie sie schon in der Apokalypse des Johannes, bei Ignatius von Antiochien, bei Tatian, Tertullian und anderen zu finden sind, zu deskriptiven Präsuppositionen historischer Forschung. Dass es sich bei dieser begrifflichen Trias aber um eine rein christliche Perspektive auf die antike römische Welt handelt, die nicht die historischen Gegebenheiten im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts n. Chr. angemessen wieder gibt, kann nicht bestritten werden. Mit diesen Begriffen werden kollektive Identitäten gesetzt, die kaum Anhalt an den überlieferten Zeichen haben. Für den Begriff des Christentums schreibt Udo Schnelle: „Der Begriff ‚Christentum‘ ist eine Deutungskategorie, die sich aus der Wirkungsgeschichte der Bewegung ergibt, am Anfang aber von deren Mitgliedern nicht verwendet wurde. Apg 11,26c […] und die Paulusbriefe zeigen allerdings, dass zwischen 50 und 60 n. Chr. die neue Bewegung ein Bewusstsein von ihrer Andersartigkeit und Eigenständigkeit entwickelte […] Deshalb wird für die unmittelbaren Anfänge der Bewegung von Christusgläubigen gesprochen […], d. h. von Menschen, die an Jesus von Nazareth glaubten, Christusanhänger waren. Erst die paulinische Mission schafft die Voraussetzungen und das Bewusstsein einer eigenständigen Größe […], Systeme von Zeichen, in denen ihm sich die Dinge draußen entsprechend darstellen, – eine Welt von Vorstellungen, in denen er, fort und fort sie in neuen Wahrnehmungen berichtigend, erweiternd, steigernd, die Welt draußen hat, so weit er sie haben kann, sie haben muß, um sie zu fassen und wissend, wollend, formend zu beherrschen.“
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die sich dann in den synoptischen Evangelien ihre Gründungserzählungen schafft […] Ab diesem Zeitpunkt ist die Bezeichnung ‘frühes Christentum’ eine historische Kategorie, für die Zeit davor wird sie vermieden oder in einem umgangssprachlichen Sinn gebraucht.“51 Schnelles terminologische Entscheidung, von Christusgläubigen oder Christusanhängern zu sprechen und damit den Kollektivbegriff des Christentums zu ersetzen, trägt der Diversität der in den neutestamentlichen Schriften formulierten Interpretationen der Nachfolge Christi weit mehr Rechnung, als die Rede vom Christentum. Sie hat auch den Vorteil, einen im Fach Alte Geschichte und auch in der neutestamentlichen Wissenschaft bereits eingeführten, wenn auch nicht von der Mehrheit verwendeten Begriff zu gebrauchen, der der regionalen Verschiedenheit von Christusanhängern im 1. Jh. n. Chr. eher Rechnung trägt, als die verallgemeinernde statische Identität suggerierende Wortbildung auf -tum. Aber handelt es sich bei den Christusanhängern des 1. Jahrhunderts wirklich um eine Bewegung und nicht vielmehr um zahlreiche und miteinander streitende Individuen und Gruppen? Zeigen nicht gerade die Anstrengungen der neutestamentlichen Schriften, normative Entwürfe davon vorzulegen, was es denn heißt, Christus als den auferweckten Gekreuzigten zu glauben, wie unübersichtlich, divers und zerstritten Christusanhänger und ihre Versammlungen darüber waren, womit denn der Glaube an Christus kombinierbar ist und womit eben nicht? Der in den paulinischen Briefen eingeschriebene Paulus jedenfalls vertritt kein Christentum, das als Gegenbegriff zum Judentum taugte, und seine Bemühungen, Versammlungen von Christusanhängern zu gründen und von da aus die Verbreitung des Evangeliums von Jesus Christus zu betreiben, zeigt nur an, dass er, der Jude, mit seiUdo Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion, Göttingen 2015, 26.
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nen Briefen überregional die Überzeugung kommunizierte, Jude zu sein solle kombiniert werden mit Christusgläubiger zu sein, Christusanhänger und Verehrer anderer Gottheiten als des Gottes Israels zu sein, sei aber nicht kombinierbar. Das Bewusstsein, eine neue Bewegung zu etablieren, sagt noch nichts über deren Kombinierbarkeit bzw. Exklusionsansprüche aus. Ansonsten dürften Qumran-Essener – falls es sie gegeben hat – auch nicht mehr als Juden begriffen werden, denn in den ihnen zugeschriebenen Schriften findet sich ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Abgrenzungsbedürfnis gegenüber dem praktizierten Jerusalemer Tempelkult ihrer Zeit. Die paulinischen Briefe sind jedenfalls keine Zeugnisse eines Christentums in Abgrenzung zum Judentum, sondern vielmehr Zeugnis einer jüdischen Interpretation des Gottes Israels, der die Verehrung dieses Gottes mit der Verehrung des auferweckten gekreuzigten kombiniert und beide in den narrativen Zusammenhang des Evangeliums, des Wortes vom Kreuz bringt. Der in den Briefen eingeschriebene Christusanhänger Paulus bleibt Jude. Er kann mit seiner Interpretation sogar auch die gelegentliche Partizipation an Mählern anderer Kulte begründen, da er offensichtlich verschiedene Modi und Grade der Partizipation bedenkt und sie auch kommuniziert (vgl. 1 Kor 8–10). Aber auch noch die Apostelgeschichte des Lukas kann nicht als Zeugnis des vollzogenen “Parting of the Ways“ begriffen werden. Apg 2,22 werden alle Zuhörer von Petrus gleichermaßen als „Männer Israels“ angesprochen. Diesen Sprachgebrauch wählt Lukas auch für Paulus im pisidischen Antiochien und fügt dort noch die Gottesfürchtigen hinzu (vgl. Apg 13,16): Und im Zusammenhang von Apg 21,37–22,4 lässt Lukas Paulus seine Identität dahin klären, dass er kein Ägypter, sondern Judäer, geboren in Tarsus sei; und schließlich bezeichnet er sich in 22,25–29 als einen römischen Menschen. Nirgends aber lässt Lukas Paulus, Petrus oder
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sonst einen Christusanhänger von sich selbst sagen: Christianos eimi.52 Tobias Nicklas53 kommt daher mit guten Argumenten zu der Auffassung, dass das ganze Konzept des “Parting of the Ways“ überdacht werden muss und unter Einbeziehung gerade auch der christlichen Schriften des 2. Jahrhunderts durch komplexere Modelle ersetzt werden sollte, gerade weil die Voraussetzung dieses Konzepts zweier sich gegenüberstehender kollektiver Identitätsblöcke der Quellenlage widerspricht. Daher sei zumindest für das erste Jahrhundert besser von „Christusan-hängern“ zu sprechen und die Kombinationsmöglichkeiten und konkretisierenden Auslegungen im Einzelfall lokal zu prüfen. Dass aber nicht nur der Begriff des Christentums, sondern auch der singulare Gebrauch des Abstraktums „Judentum“ hoch problematisch ist, wurde bereits vielfach erörtert. Samaritaner etwa als Juden zu bezeichnen, obwohl Juden ihnen absprachen, überhaupt zum Volk Israel zu gehören und sie selbst in Inschriften diesen Begriff nicht als Selbstbezeichnung wählen, ist nur ein Beispiel unter anderen, das von der Unterkomplexität und ideologischen Schieflage dieses Kollektivbegriffs für das 1. Jh. n. Chr. zeugt. Dass der Begriff des Heidentums schließlich eine kollektive Identität in Abgrenzung zu Judentum und Christentum setzt, die es mit größter historischer Wahrscheinlichkeit niemals gegeben hat, sei hier zumindest noch angemerkt, um dafür zu plädieren, diese Begriffe als das 52 Vgl. Michael Wolter, Das Lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte, in: C. Breytenbach/J. Schröter, edd., Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung, FS. Eckhard Plümacher. Leiden/Boston 2004, 253–284, hier: 284: „Lukas ist auf der Suche nach einer Identität für das Christentum, und er sucht sie innerhalb der symbolischen Sinnwelt des jüdischen Wirklichkeitsverständnisses, und genau daraus bezieht die lukanische Geschichtskonstruktion ihr spezifisches Profil.“ 53 Tobias Nicklas, Jews and Christians? Second Century ‘Christian’ Perspectives on the ‘Parting of the Ways’, Tübingen 2014.
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zu erkennen, was sie sind: Anachronistische Ideologeme christlicher Positionen, wie sie in der Ausbildung katholischen Christentums ab dem 2. Jh. n. Chr. strategisch und wertend eingesetzt worden sind. Mindestens für das 1. Jh. n. Chr. sind diese Konzepte dreier abgrenzbarer Großkollektive für die exegetische wie für die historische Arbeit insgesamt ungeeignet. Der Begriff des Christentums sollte in der kritischen Forschung nur noch als umbrella term benutzt werden, der dann zeitlich und lokal differenziert werden kann, um anzugeben, für welches chronotopische Feld er jeweils gebraucht wird. So könnte „Frühchristentum“54 weiter gebraucht werden, um grob anzuzeigen, dass man sich mit der Entstehungsgeschichte befasst. Lokale Zusätze wie „europäisches Christentum“ fokussieren den Blick dann auf geographische Grenzen. Diese chronotopischen Bestimmungen dürfen aber nicht essentialistisch verstanden werden. Sie sollten ausschließlich indexikalisch benutzt werden, um die Ausschnitthaftigkeit auf ein in deskriptiver Hinsicht hochkomplexes, unübersichtliches Phänomen anzuzeigen, das in keiner Definition aufgeht. In vergleichbarer Weise sollte man für Juden, Samaritaner, Essener und andere „jüdische“ Gruppen den umbrella term Israeliten gebrauchen. Samaritaner verstanden sich als Verehrer des Gottes Israels, aber nicht als Juden.55 Die Bezeichnung „Juden“ sollte für solche Israeliten vorbehalten sein, die ihren kultischen Mittelpunkt im Jerusalemer Tempel sahen. Den despektierlichen Begriff der Heiden sollte man gänzlich aufgeben und auch nicht durch einen anderen Begriff ersetzen, wie etwa „antiker Mensch“ oder „Hellenisten“ oder „Römer“ bzw. „Griechen“. Christusanhänger und Israeliten waren auch „antike Menschen“ und Vgl. Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 83, Tübingen 1993, 261–266. Vgl. dazu Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums, a. a. O., 25f.; Strecker, Identität im frühen Christentum, a. a. O., 160. 55 Vgl. Martina Böhm, Art. Samaritaner, www.wibilex.de. 54
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die meisten von ihnen „Hellenisten“. Nicht wenige waren „Griechen“ oder „Römer“. Vielleicht macht es Sinn, die Mehrheitsbevölkerung im Imperium Romanum lediglich kultisch von Israeliten und frühen Christen zu unterscheiden mit dem umbrella term „Polis- und Landkulte“. Diese drei Regenschirmbegriffe der Israeliten, der frühen Christen und der Polis-und Landkulte dürften als metasprachliche Konzepte genügen, um abkürzend und vereinfachend historische Linien zu ziehen.56 Für ein differenziertes Verständnis kollektiver Identitäten im Imperium Romanum ist es umso wichtiger, die objektsprachlichen Terminologien zu untersuchen, denn nur so wird man der historischen Vielfalt und Komplexität, wie sie die überlieferten Zeichen zu erkennen geben, auch nur annähernd gerecht. Mit umso größerer exegetischer wie terminologischer Sorgfalt und Behutsamkeit sind die einzigen Zeichen von Christusanhängern aus dem ersten Jahrhundert nach Christus – neutestamentliche Schriften – daraufhin zu untersuchen, wie sie Prozesse befördern, die zu kollektiven Identitäten von Christusanhängern beitragen bzw. beitragen sollen. Diese wird kritische Forschung aber ausschließlich als „Sie“-Identitäten zu beschreiben haben.
Dass die Problematik bei Konzepten kollektiver Identitäten wie „Judenchristentum“ oder Heidenchristentum nochmals erheblich verschärft wird, haben zwar viele Arbeiten klar herausgestellt, ohne aber zur Genüge rezipiert worden zu sein. Ich nenne nur Carsten Colpe, Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam, ANTZ 3, Berlin 1989, 38–58. 90–122; Hella Lemke, Judenchristentum zwischen Ausgrenzung und Integration. Zur Geschichte eines exegetischen Begriffs, Hamburger Theologische Studien 25, Münster u.a 2001. Weitere Literatur zu dieser Problematik findet sich dort.
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III. Strategien und Verfahren kollektiver Identitätsbildung im Medium der Schrift Aus dem bisher Gesagten ergibt sich die Notwendigkeit, die Frage nach der Identität des Frühchristentums zu transformieren und zu konkretisieren in die Frage nach kollektiven Identitätsbildungsprozessen von Christusanhängern mittels der Kommunikation von Zeichen. Diese Frage ist dann weiter zu präzisieren mittels lokaler, temporaler und medialer Indizes. Die folgenden Skizzen fragen nach solchen Identitätsbildungsprozessen, die mittels der im Neuen Testament gesammelten Schriften untersucht werden können. Temporal gesehen wird damit das erste Jahrhundert n. Chr. und zwar primär die zweite Hälfte des 1. Jh. n. Chr. ins Auge gefasst. Aufgrund der Unsicherheit in den Datierungsfragen der einzelnen Schriften kann das nur eine ungefähre Angabe sein, denn mit großer Wahrscheinlichkeit wurden einige der neutestamentlichen Schriften in den ersten Jahrzehnten des 2. Jh.s abgefasst. Es gibt bezüglich der Abfassung der überwiegenden Mehrheit der neutestamentlichen Schriften den minimalen Forschungskonsens, dass die Paulusbriefe, die Evangelien und die Apostelgeschichte in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts zu datieren sind, und dieser temporale Index genügt für die folgenden Skizzen, die nur andeuten sollen, welche Prozeduren nun notwendig wären, um die Frage nach frühchristlichen Identitätsbildungsprozessen im Medium der Schrift zu bearbeiten. Lokal gesehen haben wir es mit Schriften zu tun, die auf dem Gebiet des Imperium Romanum entstanden sind. Auch dieser minimalste Forschungskonsens genügt für die folgenden Ausführungen, auch wenn es plausibel erscheint, dass der überwiegende Teil der neutestamentlichen Schriften in Kleinasien abgefasst wurde. Entscheidend ist nun, dass die Untersuchung zumindest auf Begriffsungetüme wie „Judenchristentum“ oder „Heidenchristentum“ verzichtet, denn diese nebulösen metasprachlichen Konzepte verstellen den Zugang zu
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den überlieferten Zeichen, weil sie in bizarrer Weise mit essentialistischen Identitätsmarkern operieren und diese den zu untersuchenden Texten überstülpen. Zu Recht bemerkt Carsten Colpe: „Der häufig geübte Brauch, Judenchristentum im Gegensatz zu Heidenchristentum zu definieren, trägt nicht viel aus, weil in das letztere mit dem Heidenbegriff auch noch ein grober Anachronismus hineingekommen ist.“57 Hella Lemke hat in wünschenswerter Klarheit auch die ideologischen Probleme insbesondere des erst im englischen Deismus des 17. Jahrhunderts entstandenen Begriffs des Judenchristentums herausgearbeitet und zu Recht nahegelegt, dieses Konzept als forschungsuntauglich nicht weiter zu bemühen: „Immer wieder erscheint die Aussage, daß das Judenchristentum ‘naturgemäß`, aufgrund seiner ‘Eigenbrödelei und Schrulligkeit’ oder seiner ‘Verhaftung’ mit dem Judentum verkümmern und absterben mußte. Das Judenchristentum sei eine einmalige und beschränkte Größe geblieben, da es durch den ‘gottgewollten’ Übergang der Verkündigung zu den Heiden aufgehoben worden sei.“58 Zu begründen ist hinsichtlich der Frage nach frühchristlichen Identitätsbildungsprozessen noch die Beschränkung auf das Medium Schrift, denn sicher war die schriftliche Kommunikation nicht die primäre und überwiegende Kommunikationsform der Christusanhänger im 1. Jh. n. Chr., auch wenn man neuerdings wieder entdeckt, dass gerade das Maß an Schriftlichkeit und der sich in den Schriften zeigende Gestaltungswille ein hohes Maß an Bildung unter den Christusanhängern des 1. Jh. n. Chr. begründet vermuten lässt.59 Die Christusanhänger im ersten Jahrhundert werden ihren Glauben auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht haben. Das Colpe, Das Siegel der Propheten, a. a. O., 41. Lemke, Judenchristentum zwischen Ausgrenzung und Integration, a. a. O., 50. 59 Vgl. z. B Udo Schnelle, Das frühe Christentum und die Bildung, NTS 61, 2015, 113–143. 57 58
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Frühchristentum war sicher keine Buchreligion,60 aber die einzig überlieferten Zeichen der Christusanhänger aus dem 1. Jh. n. Chr. sind Schriftzeichen. Für die religionsgeschichtliche Frage nach den weiteren Verläufen frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse im 2. und 3. Jh. n. Chr. wird es unabdingbar sein, nicht nur alle erreichbaren christlichen Schriften einzubeziehen, wie es etwa in innovativer Weise Tobias Nicklas in vielen Beiträgen auch zu ganz entlegenen Apokryphen in die Forschung einbringt und damit das Konzept des ”Parting of the Ways“ als zu grobschlächtig kritisiert. Er fordert vielmehr zu Recht darüber hinaus, alle erreichbaren Zeichen einzubeziehen, um die Erfahrungsräume christlicher Identitätsbildungsprozesse nicht auf schriftliche Kommunikation zu reduzieren.61 Die am Anfang dieses Aufsatzes formulierte Leitthese, frühchristliche Identitätsbildungsprozesse erfolgten im Medium der Schrift, muss daher folgendermaßen präzisiert werden. Frühchristliche Identitätsbildungsprozesse erfolgten auch im Medium der Schrift und für das 1. Jh. n. Chr. existieren keine anderen Medien frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse, die wir deshalb nur höchst ausschnitthaft und nur im Medium der überlieferten Schriften studieren können. Aber immerhin: diese Schriften wurden überliefert, und sie geben einigen Aufschluss über Identitätsbildungsprozesse, wenn sie semiotisch-kritisch interpretiert und nicht als Abbild essentialistisch konstruierter Identitäten missverstanden werden. 1. Briefliche Kommunikation als Ausbildung kollektiver Identität durch dialogische Fortschreibungsprozesse Als älteste überlieferte Zeichen des Christentums gelten zu Recht einige Paulusbriefe. Es ist in der Forschung zwar umstritten, welche der Briefe, die Paulus als Absender darstellen, wirklich von Paulus formuliert worden sind, aber zumindest hinsichtlich des 1 Thess, Gal, 1 und 60 61
Vgl. Nicklas, Jews and Christians, a. a. O. Vgl. Nicklas, Jews and Christians, a. a. O.
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2 Kor, Röm, Phlm und Phil gibt es einen berechtigten weitreichenden Forschungskonsens, diese Briefe als echte Briefe des Paulus zu begreifen.62 Umstrittener hingegen ist, ob die jeweils genannten Mitabsender Anteil an der Formulierung hatten, oder sie lediglich als Schreiber des von Paulus Diktierten dienten. Die Frage nach kollektiven Identitätsbildungsprozessen im Medium der Schrift wird vom letzteren Problem insofern berührt, als damit die Frage aufgegeben ist, ob sich die Paulusbriefe ausschließlich einem Einzelnen verdanken, oder ob schon bei den Abfassungsprozessen zumindest teilweise von dialogischen Schreibprozeduren auszugehen ist, an denen nicht nur Paulus beteiligt war. Aber wie auch immer der Schreibprozess vorgestellt wird, in jedem Fall – und darauf kommt es hier an – handelt es sich bei den echten Paulusbriefen um wirkliche Briefe, die die räumliche und zeitliche Distanz zwischen Absender und Adressat überbrücken und sie dadurch medial verbinden. Es lässt sich mit einiger historischer Sicherheit sagen, dass die überlieferten Paulusbriefe nur den Auszug aus einer weit größeren brieflichen Kommunikation zwischen dem mobilen Paulus und seinen Begleitern auf der einen und den angeschriebenen Vgl. zur aktuellen Paulusforschung Richard B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, London 1989, ders., The Faith of Jesus Christ. The Narrative Substructure of Galatians 3:1–4:11, Michigan 20022; Christian Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive, FRLANT 185, Göttingen 1999; Stefan Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, WUNT 134, Tübingen 2001; Eckart Reinmuth, Paulus. Gott neu denken. Biblische Gestalten 9, Leipzig 2004; Francis Watson, Paul and the Hermeneutics of Faith, London u. a, 20162; Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/Boston 20142; Jörg Frey/Benjamin Schließer, edd., Die Theologie des Paulus in der Diskussion. Reflexionen im Anschluss an Michael Wolters Grundriss, BThS 140, Neukirchen-Vluyn 2013; Oda Wischmeyer, ed., Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen/Basel 2006; Friedrich W. Horn, ed., Paulus Handbuch, Tübingen 2013. 62
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ortsansässigen städtischen Versammlungen von Christusanhängern auf der anderen Seite darstellen. Es ist zwar hoch bedauerlich, dass kein einziger Brief an Paulus erhalten ist, aber Passagen wie 1 Kor 7,1 zeigen in wünschenswerter Klarheit an, dass Paulus auch Briefe empfangen hat. Durch diese wechselseitige schriftliche Kommunikation entsteht ein beschriebener Raum, der nicht nur die jewielige ortsgebundene Versammlung von Christusanhängern mit Paulus und seinen Mitarbeitern verbindet, sondern über die überregionale Mobilität der Paulusgruppe auch Verbindungen unter den städtischen, bzw. regionalen Versammlungen herstellt. Die an dieser brieflichen Kommunikation zwischen mehreren städtischen Christusversammlungen und einem mobilen Zentrum einer Gruppe von Christusanhängern Beteiligten konnten sich als Netzwerk der Wirksamkeit des sie verbindenden Evangeliums von Jesus Christus erfahren, das in seiner Konkretisierung strittig und interpretationsbedürftig blieb (vgl. 1 Kor 1,11–14; Gal 1,6–9) und daher auf dauerhafte dialogische Kommunikation angewiesen war. Diese Permanenz der Kommunikation stellt die daran Beteiligten trotz aller Differenzen in ein Kollektiv, das sich genau dadurch definieren lässt, dass es untereinander kommuniziert. Die Überbleibsel dieser schriftlichen kollektiven Kommunikation bezeugen auch die Intensität der mündlichen, leibhaftigen Kommunikation. Der oder die Verfasser der Paulusbriefe nimmt bzw. nehmen vielfach Bezug auf die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus, wie sie Paulus vor Ort gestaltet hat, und es lohnt sich, die Darstellung seiner Performance in den Briefen (vgl. etwa 1 Thess 1,1–2,20)63 als dargestellte Performance eigens Stefan Alkier, Der 1. Thessalonicherbrief als kulturelles Gedächtnis, in: G. Sellin/F. Vouga, edd., Logos und Buchstabe. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Judentum und Christentum der Antike, TANZ 20, Tübingen/Basel 1997, 175–194; Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus, a. a. O., 93–98. 63
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zu untersuchen. Aber genau das ist die semiotisch-kritische Einsicht in die mediale Gebundenheit von Kommunikation: die leibhaftige Performance mündlicher Kommunikation lässt sich nicht mehr als solche erforschen, sondern ausschließlich als Element der Darstellung und Argumentation in schriftlicher Überlieferung. Das gilt freilich nicht nur für die paulinische Missionspredigt, sondern für alle Bezugnahmen auf leiblichmündliche Kommunikation wie etwa in 1 Kor 1,11: „Denn es ist mir bekannt geworden über euch, meine Geschwister, von den Leuten der Chloe, dass Streitereien unter euch sind.“ Solche Passagen sind von großem Interesse für die Frage nach kollektiven Identitätsbildungsprozessen im frühen Christentum. Es besteht keinerlei Anlass dazu, die Existenz einer Gruppe um Chloe zu bestreiten oder sie konstruktivistisch zu verflüchtigen. Wir können und müssen solche referentiellen Passagen für historische Rekonstruktionsversuche nutzen, aber semiotisch-kritische Forschung muss die medialen Bedingungen und Grenzen der Erforschbarkeit ihrer Forschungsobjekte in Rechnung stellen. Es ist nicht wissbar, was genau die Leute der Chloe Paulus erzählt haben. Auch die Gruppe um Chloe und ihre leibhaftige Kommunikation entzieht sich der Forschung. Sie erscheint ausschließlich im Medium der Schrift. Aber auch als solche ist sie historisch interessant für die Frage nach Identitätsbildungsprozessen, denn sie bezeugt nicht nur, dass es neben der Paulusgruppe auch andere mobile Gruppen von Christusanhängern gab, sondern auch, dass deren überregionale Kommunikation Bestandteil der brieflichen Kommunikation des Paulus geworden ist und deshalb die mittels der überlieferten Paulusbriefe erforschbaren Identitätsbildungsprozesse als intermediale Kommunikation zu denken sind, in denen die Briefe eine wichtige, raum(über)greifende Rolle spielten, aber sicher nicht die einzige. Das wird auch daran sichtbar, dass die Paulusbriefe und wohl auch die Briefe an Paulus nicht mit einem unpersönlichen öffentlichen Briefservice verschickt wurden,
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wie wir es heute benutzen, sondern von Personen, die selbst Teil des Kollektivs der miteinander kommunizierenden Christusanhänger waren, und weit mehr als bloße Briefzusteller. Sie werden vielmehr in den Briefen des Paulus nicht nur als leibhaftig agierende Kommunikatoren des Evangeliums dargestellt, sondern, wie etwa im Falle des Epaphroditus als Wunderzeichen des die Mitarbeiter des Paulus beschützenden Gottes Israels (vgl. Phil 2,19–30)64. 2. Etablierung kollektiver Räume mittels simulierter brieflicher Kommunikation Die Effekte brieflicher Kommunikation werden auch von Schriften genutzt, die sicher nicht als echte Briefe gelten können. Ein gutes Beispiel dafür ist die Johannesapokalypse, deren Gattung umstritten ist, sicher aber briefliche Elemente enthält.65 Mit dem paulinischen Briefformular66 wird in Apk 1,4 ein offener Brief gestaltet. Als Absender fungiert Johannes mit seinem puren Eigennamen. Kein Attribut zeichnet ihn gegenüber seinen Adressaten aus, die als sieben Versammlungen (ekklesiai) von Christusanhängerinnen und -anhängern in der Asia mit diesem offenen Brief kollektiv angeschrieben werden (vgl. 1,4). Die Gemeinsamkeit von Absender und Adressaten wird in 1,9 explizit herausgestellt. Sie bilden unabhängig von ihrer lokalen Verortung eine Gemeinschaft derjenigen, deren prekäre Identität durch die paradoxe Erfahrung von irdischer Bedrückung (thlipsis) und Anteilhabe an der himmlischen Königsherrschaft Gottes (basileia) bestimmt wird und diese Spannung aushalten in derselben BeharrlichVgl. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus, a. a. O., 257. 65 Vgl. Martin Karrer, Die Johannesoffenbarung als Brief. Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort, FRLANT 140, Göttingen 1986. 66 Vgl. Traugott Holtz, Die Offenbarung des Johannes übers. u. erkl. K.-W. Niebuhr, ed., NTD 11, Göttingen 2008, 20. 64
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keit (hypomone), mit der Jesus Christus Himmel und Erde vermittelnd seine Zeugenschaft lebte. Die in den einzelnen Sendschreiben aufblitzende konfliktreiche Polyphonie innerhalb der Versammlungen von Christusanhängerinnen und -anhängern lässt deutlich werden, dass es sich dabei um eine „imaginierte Gemeinschaft“67 handelt, zu deren Realisierung die Johannesapokalypse normativ anleiten will. Dass die einzelnen Sendschreiben jeweils an den „Engel“ der Versammlung adressiert sind, also einen himmlischen68 Akteur anschreiben, entspricht dieser imaginierten Gemeinschaft mit einer kollektiven Identität, die aus der Interaktion von Himmel und Erde entworfen wird. Kein „Gemeindevorsteher“ und schon gar nicht „die Gemeinde selbst“69 könnte mit der einenden Autorität eines himmlischen Adressaten ausgestattet werden, der die Einheit der Versammlung der Christusanhängerinnen und -anhänger an ihrem jeweiligen Ort angesichts ihrer Streitigkeiten symbolisch behütet und einfordert. Die komplexen Verfahren der Adressierung in der Apk reflektieren die Vgl. Craig Calhoun, Indirect Relationsships and Imagined Communities, in: P. Bourdieu/J. Coelman, edd., Social Theory for a changing Society, New York 1991, 95–121. Zum soziologischen Begriff der Gemeinschaft vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 2005 (erstmals erschienen 1887); Bernhard Schäfers/Bianca Lehmann, Art. Gemeinschaft, in: J. Kopp/B. Schäfers, edd., Grundbegriffe der Soziologie, Wiesbaden 201010, 81– 83. Ich danke meinem Frankfurter Kollegen Ferdinand Sutterlüty für diese Literaturhinweise. 68 Bruce J. Malina/John J. Pilch, Social-Science Commentary on the Book of Revelation, Minneapolis 2000, 49: “Chapters 2 and 3 contain seven dispatches from the celestial Jesus mediated by John the astral prophet. They are directed to the sky servants of the various assemblies of those loyal to Jesus Messiah in Asia Minor. These sky servants function as guardian celestial beings, not unlike the lesser astral deities of non-Israelites, whose task it was to protect and preserve segments of the land and their populations. They were known in the Israelite tradition as ‘guardian angels’ (see Tob 5:4–21; Matt 18:10).” Vgl. auch Dan 12,1. 69 Heinz Giesen, Die Offenbarung des Johannes, übers. u. erklärt, RNT, Regensburg 1997, 97. 67
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mehrdimensionale Kommunikationssituation der durch die Schrift des Sehers imaginierten Christusgemeinschaft. ekklesia darf daher auch nicht anachronistisch als eine institutionalisierte „Gemeinde“ mit eingespielten Amtsstrukturen und fixer Örtlichkeit aufgefasst werden. Die ekklesiai sind keine „Kirchen“70. Vielmehr meint dieser antike terminus technicus der Polisordnung71 eine lokal und zeitlich begrenzte „Versammlung“, die einberufen und wieder aufgelöst werden muss (vgl. Apg 19,23–40, insbes. 32. 39f.). Die in den Sendschreiben erkennbaren Streitigkeiten werden nicht zuletzt darum gegangen sein, wer denn legitimerweise zu den Versammlungen der Christusanhänger und -anhängerinnen gehört und welche Stimmen darin Gehör finden. Auch die kreishafte geographische Anordnung der in der Apk adressierten sieben Versammlungen „längs der großen Verbindungsstraße, die von Ephesus aus nach Norden führte“72, und die Siebenzahl selbst symbolisieren geometrisch und arithmetisch – raum- und zahlenmetaphorisch – eine durch die Schrift der Apokalypse gesetzte, aber nicht historisch vorauszusetzende kollektive Einheit der Christuszeugen in der römischen Provinz Asia. Diese sieben Versammlungen von Christusanhängerinnen und -anhängern waren nämlich keineswegs die einzigen in der Asia. Hierapolis und Kolossai werden nicht erwähnt, obwohl dort schon für das erste Jh. n. Chr. 70 Gegen Joseph L. Mangina, Revelation. Brazos Theological Commentary on the Bible, MI 2001, 54, der ekklesia dezidiert als “church” auffasst und diesen Begriff dann anachronistisch füllt. In vielerlei Hinsicht bietet Mangina interessante Interpretationen der Apk an, allerdings zieht sich der Anachronismus seines ekklesiaBegriffs durch den ganzen Kommentar. 71 Vgl. Gerhard Schrot, Art. Ekklesia, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden (1979), Bd. 2, 222f. 72 Hermann Lichtenberger, Die Apokalypse, ThKNT 23, Stuttgart 2014, 74. Lichtenberger führt ebd. weiter aus: „Betrachtet man die Lage an dieser Straße, so wird der Charakter eines Rundbriefes schlagartig klar.“
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Christusgemeinschaften belegt sind.73 Das Mäandertal wird komplett ausgeblendet, obwohl etwa in der Darstellung der Apostelgeschichte des Lukas sogar Beziehungen zwischen Ephesus und Milet angedeutet sind (vgl. Apg 20,17–40, insbes. 32.39f.). Auch die nordwestliche Asia wird ausgeblendet, obwohl es nach Apg 20,6ff auch Christusanhänger in Troas gab.74 Legt dieser historische Befund offen, dass die Siebenzahl programmatisch und nicht deskriptiv eine imaginierte Gemeinschaft von Christusanhängerinnen und -anhängern in der römischen Provinz Asia um die Jahrhundertwende75 zeichnet, so gerät das normative Anliegen der Komposition der sieben Sendschreiben im Rahmen der Johannesapokalypse in den Blick. Es geht darum, angesichts der Diversität der lokalen Problemlagen (thlipsis) sich zusammen als gegliederte Einheit der Königsherrschaft (basileia) Gottes und seines Christus zu erweisen und zwar nach innen wie nach außen. Umdenken (metanoeo) ist das Gebot der Stunde, sich ganz aus der gemeinsamen Zeugenschaft heraus zu verstehen und angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, diese „prekäre Selbst-Bezeugung“76 als Zeugen Jesu Christi auszuhalten (hypomone; vgl Apk 1,9). Die Sendschreiben wollen normativ erzeugen, was in Apk 1,9 scheinbar deskriptiv vorausgesetzt ist: Die kollektive Identität der Vgl. Ulrich Huttner, Early Christianity in the Lycus Valley, ECAM 1, Ancient Judaism and Early Christianity – Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums 85, Leiden/Boston 2013. 74 Ich danke Alexander Weiß für diesen Hinweis. 75 Weder die Frühdatierung der Apokalypse in die Zeit Neros, noch die Spätdatierung in die Zeit Hadrians vermögen zu überzeugen. Die größte historische Plausibilität kommt Datierungen in die Regierungszeit Domitians, Nervas und Trajans zu, wobei die Zeit Trajans deswegen mehr für sich hat, weil in ihr über den Briefwechsel des Plinius mit Trajan tatsächlich Drangsale und Gerichtsprozesse gegen Christusanhänger belegt sind; vgl. Plinius, Epistulae X. 96f. 76 Vgl. den innovativen Beitrag zur Identitätsdebatte von Burkhard Liebsch, Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012. 73
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Christusanhänger- und anhängerinnen als mutige und beharrliche Zeugen und Zeuginnen des auferweckten und inthronisierten Durchbohrten in der römischen Provinz Asia (Apk 1,4) und darüber hinaus (vgl. Apk 1,3). Sie sollen nicht nur die Gemeinschaft der Bedrückten, sondern die Gemeinschaft der gemeinsam Hoffenden bilden, weil sie durch die Johannesapokalypse das prospektive konnektive Wissen um die heilvolle Zukunft im Neuen Jerusalem für alle Völker erfahren. Die Johannesapokalypse will kollektive Identität stiften, indem sie retrospektiv auf die Geschichte des Durchbohrten blickt und damit ein kollektives Gedächtnis setzt und voraussetzt, und prospektiv das erwartete Heil als konnektive Struktur kollektiven eschatologischen Wissens entwirft. Die Konsequenz aus dieser retrospektiven und prospektiven kollektiven Identitätssetzung für die Gegenwart ist es, die antagonistischen Strukturen in den jeweiligen lokalen Gegebenheiten offenzulegen und ihnen Rechnung zu tragen, damit sie überwunden werden und nicht den Weg in das unermessliche Heil des auf die Erde herabkommenden himmlischen Jerusalems versperren. 3. Intertextuelle Schreibverfahren als positionierende Fortschreibungen Der Klassiker der bisherigen neutestamentlichen Intertextualitätsforschung, Richard B. Hays’, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, hat nicht nur wegweisend maßgebliche intertextuelle Referenzen der Paulusbriefe zu den Heiligen Schriften Israels nachgewiesen – an die 90 Zitate und noch mehr Allusionen –, sondern diese auch einem neuen hermeneutischen Verständnis zugeführt. Hays konnte aufzeigen, dass Paulus nicht lediglich einzelne Verse der Heiligen Schriften Israels willkürlich aus ihrem Zusammenhang herausreißt, sondern deren Kontext eine bedeutsame Rolle für die paulinischen Argumentationen spielen. Die paulinischen Briefe werden somit zu einem Resonanzraum der Schrift, die durch die neue Perspektive des Wortes vom Kreuz in Konti-
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nuität und Diskontinuität zur Tradition steht. Die wechselseitige Berührung des Sinnpotentials der paulinischen Schriften einerseits und der Heiligen Schriften Israels andererseits kann dabei nicht schematisch als Mimesis rabbinischer Hermeneutik und Methodik enggeführt werden, sondern muss Kontext für Kontext mit Blick auf die jeweiligen Sinneffekte als transformierende Fortschreibung erforscht werden, die gegenüber den Bezugstexten Position bezieht. Über die intertextuelle Referenz paulinischer Briefe zu verschiedenen Texten des Tenach hinaus, zeigen u. a. Hays, Eckart Reinmuth und Michael Schneider77 auf, dass das intertextuelle Netz der paulinischen Briefe insgesamt eine narrative Hermeneutik und Epistemologie erzeugt, die vom Anfang der Welt über die Geschichte Israels und die Erwartung des Endes reicht. Der Dreh- und Angelpunkt dieses intertextuell erzeugten narrativen Rahmens ist das „Wort vom Kreuz“ (1 Kor 1,18). Mit seinem intertextuellen Schreibverfahren zielt Paulus aber nicht nur auf die Kontinuität der Treue des Gottes Israels, vielmehr schreibt er seine Adressaten in die von ihm ausgewählten und interpretierten Heiligen Schriften Israels ein. So begreift er in Röm 4 Abraham als Vater aller Glaubenden, dessen Glaube ihm als Gerechtigkeit angerechnet wurde und bezieht diese Vaterschaft explizit auf seine Leser, die er unabhängig davon, ob sie Israeliten sind oder aus anderen Völkern stammen, in eine „Wir“-Identität gebildet aus Absender und Adressaten integriert: „Doch nicht allein um seinetwillen steht in der Schrift, dass der Glaube ihm angerechnet wurde, sondern auch um unseretwillen: er soll auch uns angerechnet 77 Hays, Echoes, a. a. O.; ders., The Faith of Jesus Christ. The Narrative Substructure of Galatians 3:1 – 4:11, a. a. O.; Eckart Reinmuth, Narratio und argumentatio – zur Auslegung der Jesus-ChristusGeschichte im ersten Korintherbrief. Ein Beitrag zur mimetischen Kompetenz des Paulus, ZThK 92, 1995, 13–27; Michael Schneider, Gottes Gegenwart in der Schrift. Intertextuelle Lektüren zur Geschichte Gottes in 1 Kor, NET 17, Tübingen/Basel 2011; Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus, a. a. O.
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werden, die wir an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt hat. Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt.“ Aber nicht nur Paulus, sondern vielmehr der überwiegende Teil der neutestamentlichen Schriften nutzt intertextuelle Schreibverfahren und eröffnet durch diese Fortschreibungsprozesse der Heiligen Schriften Israels eine kollektive Identität für diejenigen Christusanhänger, die in der Auferweckung des Gekreuzigten denselben Gott als Handelnden wissen, von dem die Heiligen Schriften Israels sprechen. Wie bedeutend intertextuelle Schreibverfahren für die Abfassung frühchristlicher Schriften waren, sieht man auch am Beginn des Matthäusevangeliums, mit dem dann später der neutestamentliche Kanon insgesamt eröffnet wurde. Die Genealogie des Mt erzeugt ein intertextuelles Verweissystem, in dem die gelisteten Namen als narrative Abbreviaturen dienen, die durch ihre Auswahl und ihre Unterbrechungen die Rezeption der Heiligen Schriften Israels steuern und von da aus den Sinnhorizont des Mt als Ganzes entwerfen. Die sich durch das ganze Mt ziehenden Zitate und Anspielungen Heiliger Schriften Israels verlangen danach, nicht nur die jeweiligen Zitate isoliert zu betrachten, sondern das Mt als Ganzes mit den Schriften, die durch die Zitate, Anspielungen und narrativen Abbreviaturen eingespielt werden, intertextuell zu korrelieren und nach den damit erzeugten Sinneffekten zu fragen. Auch das Markusevangelium eröffnet sein Diskursuniversum mit der Herstellung eines intertextuellen Verweissystems. Indem es den „Anfang des Evangeliums“ (Mk 1,1) bei „Jesaja“ verortet, verlangt es danach, als Fortsetzung und legitimer Abschluss der Prophetie Jesajas gelesen zu werden. Das von Mk Jesaja zugeschriebene Mischzitat in Mk 1,2f lässt das Schreibverfahren des Mk als generative Intertextualität klassifizieren, die allein an der Performanz seiner Erzählung interessiert ist.
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Anders als Mt und Mk entwirft Lk mit dem Anfang seines Evangeliums mittels typologischer Intertextualität einen historiographischen Horizont. Seine referentiellen intertextuellen Verweise sind kaum weniger gewichtig als die seiner Vorgänger, auf die er sich bereits im Proömium intertextuell anknüpfend und abgrenzend bezieht. Die Heiligen Schriften Israels werden als Verstehensvoraussetzungen nicht nur des lukanischen Doppelwerks, sondern der Jesus-Christus-Geschichte (E. Reinmuth) als solcher eingeführt. Die Schrift als Schlüssel der Erkenntnis (Lk 11,52) verlangt eine durchgehende parallele intertextuelle Lektüre der lukanischen Schriften und der Heiligen Schriften Israels. Erst dieser intertextuelle Lektüreakt führt laut Lk 24,27 zum Verstehen des Ereigniszusammenhangs von Kreuz und Auferweckung, sowie der in der Apostelgeschichte dargestellten Ausgießung des Heiligen Geistes (vgl. Apg 2, 16–21) und Ausbreitung des Evangeliums über die Grenzen des Volkes Israels hinaus (Apg 15,14–17). Dabei verfolgt Lukas eine Reihe verschiedener intertextueller Schreibverfahren, die von Mimesis (Lk 7,11–17), über Zitate und Allusionen, bis zur midraschartigen Neuerzählung (Apg 7) und zur Schriftreflexion (Lk 11,52; 24,27) reichen, um nur einige wichtige Verfahren zu benennen. Das Johannesevangelium setzt mit seiner intertextuellen Verschränkung mit der Schöpfungstheologie ein, wie sie insbesondere in Gen 1,1–2,4a als Schöpfung durch das göttliche Wort inszeniert wird (Joh 1,1–4). Diese kosmologische Perspektive prägt das gesamte johanneische Schrifttum, die Apk inbegriffen. Obwohl auf den ersten Blick weniger referentielle Bezugnahmen auf die Heiligen Schriften Israels zu beobachten sind, als es bei den Synoptikern oder in den paulinischen Briefen der Fall ist, ist die intertextuelle Verortung der johanneischen Schriften hermeneutisch wie theologisch keinesfalls geringer einzuschätzen. Das Johannesevangelium erzählt seine Geschichte als Erfüllung der Heiligen Schriften Israels und gleichermaßen als Erfüllung der Worte Jesu, weil
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beide die Autorität des Leben schaffenden Geistes des Wortes Gottes präsentieren (Joh 2,22; vgl. 17,12; 18,9).78 Die Apk teilt mit dem Johannesevangelium nicht nur die kosmologische Perspektive, sondern auch die Zurückhaltung hinsichtlich direkter Zitate aus den Heiligen Schriften Israels. Dennoch kann die Apk als die neutestamentliche Schrift mit den meisten intertextuellen Allusionen zu den Schriften Israels, aber auch zu den Synoptikern und der neutestamentlichen Briefliteratur gewertet werden. Nicht zuletzt zum Johannesevangelium weist sie bedeutsame intertextuelle Relationen auf, die darauf verweisen, dass sie teils als Erfüllung des Johannesevangeliums, teils als dessen Fortsetzung konzipiert wurde (vgl. Joh 1,51; Apk 19,11). Bzgl. der Apk ist es besonders ertragreich, nicht nur referentielle, sondern auch typologische79 intertextuelle Relationen ins Blickfeld zu nehmen, da erst dann die zahlreichen Bezüge auch zu griechischer und lateinischer Literatur auffallen. Letzteres ist noch immer ein Desiderat der Forschung. So unterschiedlich die Theologien und auch die intertextuellen Schreibverfahren der neutestamentlichen Schriften sind, so erzeugen sie doch allesamt damit eine verbindende, weil verbindliche Perspektive. Christusanhänger kann nur der sein, der die Heiligen Schriften Israels als Erkenntnishorizont des Evangeliums von Jesus Christus respektiert und den Gott, von dem Jesus von Nazareth sprach, als den Gott erkennt, der den Gekreuzigten vom Tod auferweckt und neues, ewiges Leben geschenkt hat und diesen Gott mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott Israels identifiziert. Die johanneischen Erfüllungszitate können mit Hartwig Thyens epochalem Johanneskommentar zudem als intertextuelle Disposition des Johannesevangeliums begriffen werden, die es als Kommentar zu den Synoptikern verstehen lässt. So wird etwa Joh 5,47 verständlich als intertextueller Kommentar zu Lk 16,31, vgl Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005. 79 Vgl. dazu Susanne Holthuis, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Stauffenburg Colloquium 28, Tübingen 1993, 51–88. 78
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4. Narrative Identität – Kollektive Gedächtnisbildung – Etablierung konnektiven Wissens – Etablierung konnektiver Handlungsorientierung Mit dem intertextuellen Schreibverfahren der neutestamentlichen Schriften werden zugleich eine Reihe von Identitätsbildungsprozessen qua Schrift befördert, die allesamt normativen Charakter tragen und es verdienen und erfordern, separat und in ihrer Bezogenheit aufeinander untersucht zu werden. Als verbindende Perspektiven von Christusanhängern werden nämlich Grunderzählungen in die kollektiven Identitätsbildungsprozesse der Christusanhänger und ihrer Versammlungen eingeschrieben wie die Abrahamgeschichten, die Josephsgeschichte, Exodus, Königsgeschichten um David, Salomo und andere Könige, Prophetengeschichten um Elia, Jesaja und andere Propheten, Exilsgeschichten, die zudem auch allesamt als kollektive Gedächtnisbildung dienen. Es wird mit diesen intertextuellen Bezugnahmen zugleich verbindliches Wissen etabliert wie etwa das Wissen um Gott als barmherzigen und gerechten Schöpfer, und nicht zuletzt werden mit der Akzeptanz der Moseerzählungen auch die Gebote der von Mose empfangenen Gesetzestafeln zur gemeinschaftsbildenden Handlungsorientierung verpflichtend einbezogen. Mit dem in den neutestamentlichen Schriften erkennbaren Gestaltungswillen werden aber auch neue Erzählungen, Gedächtnisbildungen, Wissensschätze und Handlungsorientierungen angeboten, die diejenigen Verehrer des Gottes Israels, die zugleich Christusanhänger sein wollen von denjenigen unterscheidet, die die JesusChristus-Geschichte nicht als Grundlage eines neuen Denkens begreifen. Die Ausbildung narrativer Identität gehört sicher zu den tragenden Identitätsbildungsprozessen von Personen wie von Kollektiven. Der Trend der gegenwärtigen Identitätsforschung steht aber in der Gefahr, narrative Identität über zu betonen und aus den vielen verschiedenen Wei-
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sen der Zeichenprozesse mit ihren vielfachen Darstellungsformen und -medien einseitig herauszuheben. Möglicherweise fördert ein konstruktivistisches Denken diesen Trend, der mit der Überbetonung der Konstruktion von Erzählungen und dem Gebrauch ahistorischer Zeichenkonzepte gleichermaßen den referentiellen wie den normativen Aspekt von Zeichenprozessen verkennt. Trotz der Gefahr dieses verengenden Trends möchte ich abschließend auf die identitätsbildende Basiserzählung christlichen Glaubens eingehen und entgegen jeglicher konstruktivistischer Trends die normative These in den Raum stellen, dass das Evangelium von der Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth durch den Gott Israels nicht nur historisch gesehen in maßgebender Weise christliche Identitätsbildungsprozesse generiert hat, sondern jede Evangelische Theologie – sei sie protestantisch, römisch-katholisch oder orthodox – dazu beitragen soll, dass genau diese Erzählung die Basis christlicher Identitätsbildungsprozesse bleiben soll. Die in vielen verschiedenen Versionen ausgeführte Basiserzählung frühchristlicher Christusanhänger, die zugleich als Grundlage neuen Denkens auch das Handeln neu orientieren soll, ist die Geschichte von Kreuzigung und Auferweckung Jesu Christi. Ihre Grundstruktur wird in 1 Kor 15,1–5 als konnektive Struktur gemeinsamen Wissens nicht nur von Absender und Adressaten dieses Briefes an die Korinther dargestellt, sondern als übergreifender Identitätsmarker etabliert. Schon Paulus habe diese Erzählung von anderen empfangen, gebe sie nun weiter und die angeschriebenen Christusanhänger sollen sich daran als Fundament ihres Glaubens genau halten. Das Evangelium von Jesus Christus ist das Wort vom Kreuz als Erzähl- und Überzeugungszusammenhang der Auferweckung des Gekreuzigten. Diese Erzählung ist nach Röm 1,14–17 wirksame Kraft Gottes, da sie Gott, Mensch und Kosmos so sehen lässt, wie sie wirklich sind: Gott der barmherzige und gerechte Schöpfer erzeugt und ermöglicht Leben selbst über den Tod hinaus. Es gibt keine Macht, die Gott in seiner Lebensmacht be-
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grenzen könnte. Nur wer das Gott zutraut und nicht klein von ihm denkt, gibt Gott die Ehre und preist ihn als seinen Schöpfer. Damit ist aber die rechte Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf hergestellt und dieses durch das Vertrauen in die Geschichte von Kreuzigung und Auferweckung Jesu Christi angestoßene Zutrauen zu Gott ist der Glaube, den Gott als Gerechtigkeit allen Sündern zurechnet. Die Evangelien führen auf je eigene Weise, zum Teil auch auf sich widersprechende Weise poetisch aus, was in 1 Kor 15,3b–5 als narrative Abbreviatur angelegt ist. Aber auch alle anderen neutestamentlichen Schriften kommen ohne diese Basiserzählung nicht aus, auch wenn sie sie nicht alle gleichermaßen explizit einbringen. Das Evangelium von der Auferweckung des Gekreuzigten durch den Gott Israels ist die Grunderzählung personaler christlicher Identitätsbildung, die durch die identifizierende Rezeption dieser Erzählung zu kollektiven Identitätsbildungen maßgeblich beiträgt und von der aus dann die Heiligen Schriften Israels im Laufe der kanonischen Prozesse zum Alten Testament werden. Das Evangelium vom auferweckten Gekreuzigten ist das Neue Testament, das aber nicht in einer einzigen Gestalt vorhanden ist, sondern in der dialogischen Vielfalt seiner Performanzen Gestalt annimmt und wirkt.80 Dass die 27 neutestamentlichen Schriften, die allesamt das Evangelium von Jesus Christus voraussetzen, darstellen, diskutieren, interpretieren und bejubeln aus der Vielfalt der Zeichenbildungsprozesse, von Christusanhängern des 1. und des anfänglichen 2. Jahrhunderts ausgewählt, überliefert und schließlich kanonisiert wurden, ist der historische Beweis dafür, dass diese Schriften gerade in ihrer dialogischen Vielfalt nicht nur vereinzelte personale Identifizierungen erfahren haben, sondern zu kollektiven Identitätsprozessen führten, die bis in unsere Vgl. zur Begründung dieser These Stefan Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments, NET 12, Tübingen/Basel 2010. 80
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Gegenwart hineinreichen und auch noch zukünftig wirksam sein werden. Damit soll historisch keineswegs bestritten werden, dass es auch ganz andere Interpretationen dessen gab, wie die Verehrung Jesu Christi dargestellt und mittels dieser Darstellungen interpretiert werden soll. Vieles ist hier denkbar und auch Vieles ist durch apokryphe Schriften des 2. und 3. Jahrhunderts belegt. Das meiste aber davon ist vergessen, weil es keine Zeichen ausgebildet hat, die zu so vielen identifizierenden Rezeptionen geführt hätten, wie die später kanonisierten Schriften. Dass aber auch der Kanonisierungsprozess nicht die Notwendigkeit der stetigen Interpretation und der dialogischen Auseinandersetzung darüber abschließen konnte, wie dieses Evangelium bezeugt werden soll, zeigt an, dass jede Auseinandersetzung damit, sei sie nun wissenschaftlich oder laienhaft, zustimmend oder ablehnend, wahrnehmend oder ignorierend eine personale wie kollektive Identität ausbildende Positionierung gegenüber diesem Evangelium ist, die entweder durch das eschatologische Handeln Gottes am Jüngsten Tag vollendet oder durch die komplette Ignoranz der Menschheit beendet werden wird. Evangelische, Katholische und Orthodoxe Theologie als Wissenschaft hat nicht zuletzt die Aufgabe, letzteres zu verhindern, indem sie die interpretierende Wahrnehmung der biblischen Texte als sinnvollen und wahrheitsfähigen Beitrag zur Erschließung der Wirklichkeit in die öffentlichen Diskurse argumentativ plausibel einbringt. Das wird ihr aber weiter nur gelingen, wenn sie sich auf die öffentlichen, fächerübergreifenden Diskurse unter anderem auch über Konzepte von Identität einlässt, mitdenkt, mitdiskutiert.
Susanne Plietzsch
Repräsentanz des Heiligen: Torarolle und Person in rabbinischen Diskursen zu Mischna Megilla 3,1
“Respecting the dead is related to honoring the corpse, just as a burning Bible would be. The ashes and all that is left are not thrown away but must be retrieved and buried. … A dead body is exactly the same, and we must protect its dignity. … It was created in God’s image and in his likeness, and therefore man’s image must be kept … and not tortured, humiliated, or harmed.” Aus einem Interview mit einem ZAKA-Freiwilligen1
Die Torarolle (sefer torah) und die menschliche Person werden innerhalb der rabbinischen Literatur und der jüdischen Tradition wechselseitig miteinander identifiziert. Die Ehrung, die der Torarolle zukommt, ist mit der Ehrung einer hochgestellten Person vergleichbar: Man steht auf, wenn die Torarolle aus dem Toraschrein genommen wird,2 man wendet sich ihr zu, wenn sie vor der Lesung in der Synagoge herumgetragen wird. Sie ist in Tücher wie in Kleidungsstücke gehüllt; im aschkenasischen Judentum erinnern diese an wertvolle Gewänder, dort trägt sie auch eine Krone. Es wird darauf geachtet, dass die Nurit Stadler, Yeshiva Fundamentalism. Piety, Gender, and Resistance in the Ultra-Orthodox World, New York 2009, 145–146 (Hervorhebung: S.P.). Das Zitat ist einem Interview entnommen, das die Autorin mit einem ZAKA-Freiwilligen führte (ZAKA, hebr.: זק״א, זיהוי קרבנות אסון/Identifizierung von Katastrophenopfern). Es ist zu vermuten, dass das englische „Bible” eine ungenaue Übersetzung ist. Auf Hebräisch hat der Interviewte sicher von einem sefer torah, einer Torarolle gesprochen. 2 bQid 33b. 1
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Torarolle nicht Zeugin bestimmter körperlicher Vorgänge wird: das Verrichten der Notdurft, der Schlaf3 und der Geschlechtsverkehr4 sind in ihrem Beisein zu unterlassen; auch darf sie nicht zu einem Begräbnis oder auf einen Friedhof mitgeführt werden, um daraus zu lesen.5 Wenn die Torarolle abgenutzt und rituell unbrauchbar geworden ist, wird sie nicht einfach weggeworfen, sondern aufbewahrt und schließlich begraben.6 Im Unterschied zu der üblichen Praxis, die Tora nicht zu einem Begräbnisort zu bringen, geht Adiel Kadari auf rabbinische Überlieferungen zu einem Trauer- bzw. Begräbnisritual ein, bei der eine Torarolle auf die Bahre des Toten gelegt wird.7 Ein Verweis darauf findet sich in bBQ 17a, zusammen mit dem deutenden Satz: „Dieser hat erfüllt, was in jener geschrieben steht“ ()קיים זה מה שכתוב בזה,8 bzw. in der Analogisierung des Sarges mit dem Toraschrein.9 Bereits die talmudischen Quellen diskutieren diese Praxis kritisch, lokalisieren sie in der Vergangenheit und sind mehr an ihrer Symbolik interessiert. Auch die mittelalterliche halachische Literatur setzt sich damit auseinander, einige Autoritäten gestatten diesen Brauch in Ausnahmefällen und unter starken Restriktionen, andere – wie Maimonides – verbieten ihn.10 Kadari betont, “that placing the Torah scroll on the bier is connected with the identifying of the deceased with the Torah scroll, and is an expression of sorrow
bSuk 41b. bBer 25b–26a. 5 bBer 18a; vgl. bSota 43 b; bBer 3b. 6 Vgl. Maimonides: Hilkhot Tefillin, Mezuzah and Sefer Torah 10,2– 11. Vgl. Ronald L. Eisenberg, Jewish Traditions. A JPS Guide, Philadelphia 2004, 438–456; vgl. auch Paul Morris, The Embodied Text: Covenant and Torah, Religion 20:1, 1990, 77–87: 77–78. 7 Adiel Kadari, ‘This One Fulfilled What Is Written in That One’. On an Early Burial Practice in its Literary and Artistic Contexts, JSJ 41, 2010, 191–213. Kadari geht nicht auf Details ein; wenn ich seine Ausführungen richtig verstehe, wird eine zusammengerollte Torarolle zu dem Verstorbenen auf die Bahre gelegt und mit einem Tuch bedeckt. 8 Vgl. ebd. 193. 9 Z. B. MekhY, Wajehi Beschallach, Petichta; tSota 4,7; vgl. Kadari, ‘This One Fulfilled What Is Written in That One’, 192. 10 Kadari, ‘This One Fulfilled What Is Written in That One’, 195. 3 4
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that joins the loss of the Torah with the death of the deceased.”11 Er zieht auch die Möglichkeit der Deutung dieser Praxis als Profanisierungsritual in Betracht,12 das als Ausdruck der Intensität des Verlustes verstanden werden müsste. Jedenfalls wird der Verlust der Person über den (symbolischen) Verlust der Torarolle vermittelt.13
Das rabbinische Argument für all dies ist, dass der Torarolle als Gegenstand Heiligkeit eigen ist. Etwas Göttliches, das Leben selbst ist in ihr präsent,14 nicht nur im Inhalt und auch nicht nur in der festgelegten Buchstabengestalt, sondern in der ganz konkreten Rolle, und somit auch in dem Material, das unmittelbar mit ihr in Berührung kommt, wie die textile Umhüllung oder der Toraschrein. Die korrekt geschriebene Torarolle gilt als eine genaue Kopie der ersten, von Mose geschriebenen Torarolle, die die Worte enthält, die Mose am Sinai von Gott empfangen (und während der vierzig Jahre in der Wüste aufgeschrieben) hatte (Dtn 31,24–25).15 In der Torarolle berühren sich die menschliche und die göttliche Sphäre – die letztere wird zugänglich. Kadari, ‘This One Fulfilled What Is Written in That One’, 198– 199. 12 Ebd., 205, vgl. die dort diskutierte Literatur. 13 Die existenzielle und in gewisser Weise tabuisierte Nähe – oder gar: inszenierte tabuisierte Austauschbarkeit – von Person und Torarolle findet sich ganz anders gelagert auch in bGit 56b, der Beschreibung des Eindringens des Titus in das Allerheiligste: „Er ergriff eine Hure und trat in das Allerheiligste ein; er breitete eine Torarolle aus und beging eine Übertretung auf ihr.“ Während in bBQ 17a die Gleichsetzung von Torarolle und Verstorbenem als Ausdruck der Verzweiflung selbstbestimmt vollzogen wird, geht es in bGit 56b um einen Gewaltakt. Im Grunde ist es dort die Torarolle, die „vergewaltigt“ wird, die Person der Hure dient „nur“ dazu, das zu versinnbildlichen. 14 Kadari verweist auf die häufige Verknüpfung von „Tora“ und „ewigem Leben“ in rabbinischen Texten wie auch in der Liturgie, vgl. ebd., 198. 15 Vgl. z. B. DtnR 9,4; vgl. Barbara A. Holdrege, Veda and Tora. Transcending the Textuality of Scripture, Albany 1996, 359–360. 385–386. Zur Diskussion der Exaktheit der Textüberlieferung innerhalb der jüdischen Tradition vgl. Barry Levy, Fixing God’s Torah. The Accuracy of the Hebrew Bible Text in Jewish Law, Oxford 2001. 11
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In diesem Beitrag soll die auf mMeg 3,1 basierende rabbinische Diskussion über den Verkauf einer Torarolle im palästinischen und im babylonischen Talmud (im Folgenden: pT und bT) untersucht werden. Es soll anhand der folgenden Textlektüren gezeigt werden, dass der Topos von der unüberbietbaren Heiligkeit der Torarolle zuverlässig auf einen Diskurs der Würde der menschlichen Person verweist. Welche Relation besteht zwischen diesen beiden Diskursen? Diese Frage kulminiert in der ausführlich diskutierten Problemstellung, ob es erlaubt sei, eine Torarolle zu verkaufen, um mit dem Erlös den Lebensunterhalt des oder der Verkaufenden zu sichern. Mit einer solchen Problemkonstellation wird die Radikalität der israelitisch-jüdischen Tradition und ihre bedingungslose Wertschätzung des physischen, individuellen Lebens einerseits vor Augen geführt, andererseits aber herausgefordert. Sollte es nicht selbstverständlich sein, dass die Torarolle um des Lebensunterhalts willen verkauft werden dürfe? Aber: Würden dann nicht die Bedürfnisse der Einzelperson das religiöse Symbol- und Wertesystem außer Kraft setzen können? Die rabbinischen Autoren werfen ein Problem auf, das ihre theologischen Konzepte von Grund auf in Frage stellt. Es wird während der Lektüre zu fragen sein, in welches wechselseitige Verhältnis die Autoren Torarolle und menschliche Person bringen, welche Spannungen und Probleme dabei auftreten und welche Lösungen vorgeschlagen werden. Zum Methodischen: Was die Fortschreibung dieser Problemstellung innerhalb der rabbinischen Literatur betrifft, so greift die hier vorgetragene Argumentation teilweise auf Jacob Neusners Darstellung der Herausbildung und Nuancierung des Begriffes Tora zurück. Neusner wies auf das erweiterte Bedeutungsspektrum des Begriffs Tora im bT hin: Tora steht dort für ein über bloßes Wissen hinausreichendes Gesamtkonzept und eine heilsstiftende Lebenshaltung, die Theorie und Praxis um-
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fasst.16 Diese Beobachtung soll hier dahingehend konkretisiert werden, dass die Torarolle als symbolisches Objekt nun jenseits ihres Inhalts anthropologisiert und universalisiert werden kann und somit als Metapher für die menschliche Person überhaupt, nicht nur für den Toragelehrten oder die israelitische Person, zu stehen kommt. Der bT kann Menschen in ihrer körperlichen Existenz die Würde einer Torarolle zuerkennen. Neusner zeigt die Erweiterung des Bedeutungsspektrums des Terminus‘ Tora vom materiellen Objekt der Torarolle bis hin zur Metapher (oder eben: Chiffre) einer Lebenshaltung – “from scroll to symbol”17. Ausgehend von einem eher materialen Begriffsverständnis in der Mischna ist ein erster Meilenstein dieser Entwicklung der erstmals im pT auftretende Vergleich des Toragelehrten mit einer Torarolle; die Würde des Gelehrten kann nun explizit von der Dignität der Torarolle abgeleitet werden.18 Die palästinischen Rabbinen verstehen sich idealerweise als Inkarnationen der Tora, die ähnlich wie die Rolle selbst, die göttliche Mitteilung in der Gesellschaft verkörpern und sinnlich erfahrbar repräsentieren. So wird beispielsweise von einem alten Rabbi, der die Tora nicht mehr kennt, weil er vergesslich oder dement geworden ist, gesagt, dass er wie bisher zu ehren sei, weil er ja (immerhin noch) wie ein Toraschrein sei – ein Behältnis der Torarolle, selbst wenn diese, die Lehre, in ihm nicht mehr greifbar sei (yMQ 3,1 [81d]). Geburt und Sterben einer jeden Person können im bT mit der Torarolle metaphorisch ausgedrückt werden. Jeder Mensch habe schon vor seiner oder ihrer Geburt die ganze Tora gelehrt bekommen und danach wieder vergessen (bNid 30b). Und wer einen Menschen sterben sieht ,
Z. B. in Jacob Neusner, The Doctrine of Torah, in: Neusner/Avery-Peck, eds., The Blackwell Companion to Judaism, Oxford 2005, 193–211: 210; vgl. auch: Jacob Neusner, Torah in Judaism, the Classical Statement, in: J. Neusner/A. Avery-Peck/W. S. Green, eds., The Encyclopaedia of Judaism, vol. IV, Leiden 2005, 2724–2734. 17 Ebd. 18 Jacob Neusner äußerte diesen Gedanken m.E. erstmals in ders., Is the God of Judaism Incarnate?, Religious Studies 24,2, 1988, 213– 238: 213–220. 16
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ist wie einer, der die Verbrennung einer Torarolle mit ansehen muss (bMQ 25a).19
I. Mischna: Die Torarolle als die „Seele“ der Synagoge (mMeg 3,1) mMeg 3,120 (1) בני העיר שמכרו רחובה של עיר לוקחין בדמיו בית הכנסת בית הכנסת לוקחין תיבה תיבה לוקחין מטפחות מטפחות לוקחין ספרים ספרים לוקחים תורה (2) אבל אם מכרו תורה לא יקחו ספרים ספרים לא יקחו מטפחות מטפחות לא יקחו תיבה תיבה לא יקחו בית הכנסת בית הכנסת לא יקחו את הרחוב
Die Stadtbewohner, die den Stadtplatz verkauft haben, erwerben für dessen Erlös die Synagoge. Die Synagoge – sie erwerben einen Toraschrein. Einen Toraschrein – sie erwerben Tücher.21 Tücher – sie erwerben Schriftrollen.22 Schriftrollen – sie erwerben eine Torarolle. Aber: Wenn sie eine Torarolle verkauft haben, erwerben sie keine Schriftrollen. Schriftrollen – sie erwerben keine Tücher. Tücher – sie erwerben keinen Toraschrein. Einen Toraschrein – sie erwerben keine Synagoge. Eine Synagoge – sie erwerben keinen Stadtplatz.
Vgl. aber yMQ 3,7 (83b); dort wird der Gelehrte mit der Torarolle verglichen. 20 Text: Michael Krupp, Megilla/Rolle, in: ders., ed., Die Mischna. Textkritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar, Jerusalem 2002. Übersetzung und Gliederung: S.P. 21 Zum Einwickeln der Torarolle. 22 Einzelne Buchrollen des Pentateuchs oder anderer biblischer Bücher. 19
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וכן במותריהן (3) אין מוכרים את משלרבים ליחיד מפני שמורידים אותו מקדושתו דברי רבי מאיר אמרו לו אם כן לא מעיר גדולה לעיר קטנה
169 Und so ist es auch mit den Überschüssen.23 Man verkauft nicht (die Synagoge) von vielen einem Einzelnen, weil man sie (damit) in ihrer Heiligkeit herabsetzen würde, Worte des Rabbi Meir; man antwortete ihm: Wenn es so ist, könnte man (sie) auch nicht aus einer großen Stadt in eine kleine verkaufen.
Während sich der gesamte Mischnatraktat Megilla mit der Durchführung der liturgischen Schriftlesung befasst, geht das dritte Kapitel (mMeg 3,1–3) auf ihren Ort, die Synagoge, ein. In mMeg 3,1 wird das Prinzip vermittelt, dass, wenn ein Sakralgegenstand verkauft wird oder verkauft werden muss, nur ein Objekt mit höherer Sakralität dafür erworben werden darf, nicht aber eines mit geringerer. Die Mischna veranschaulicht dies, indem sie uns in ihrem ersten Abschnitt gleichsam auf einen Weg vom Stadtplatz in die Synagoge hinein mitnimmt. Dabei steigert sich die Heiligkeit der aufgezählten Objekte immer weiter, bis dahin, dass wir zum Toraschrein gelangen und die in Tücher eingewickelte Torarolle aus ihrem Schrein holen. Nachdem auf diese Weise das Höchstmaß der Heiligkeit erreicht ist, wird der umgekehrte Weg beschritten, der eine klare via negativa darstellt: Es wird nur gesagt, was bei einer eventuellen Veräußerung der Sakralgegenstände nicht erworben werden könnte. Der zweite Abschnitt von mMeg 3,1 ist eine paradoxe Kausalkette, die mit einer unmöglichen Situation beginnt; es gibt nichts, was man für eine Torarolle kaufen könnte.
Evtl. vorhandene Überschüsse nach der Veräußerung eines niederrangigen Sakralgegenstandes für einen höherrangigen dürfen nicht für weniger Heiliges aufgewendet werden.
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Die Hierarchie der Heiligkeiten, die mMeg 3,1 inhaltlich wie textstrukturell vor Augen führt,24 ist eher ein theologisches Ideal als eine Darstellung konkreter Handlungsmöglichkeiten. Beide Ansätze werden in mMeg 3,1–3 miteinander verknüpft: Im dritten Abschnitt von mMeg 3,1 und besonders in mMeg 3,2 wird das klar erkennbar; dort findet sich zum einen der Gedanke, dass Synagogen überhaupt nicht verkauft werden sollten, zum anderen aber auch die Lehrmeinung, dass sie außer zu Zwecken, die sexuell tabuisiert (wie eine Mikwe) oder anstößig sind (wie eine Toilette oder eine Gerberei), durchaus verkauft werden könnten.25 David Kraemer betont, dass es in mMeg 3,1–3 nicht um an sich „heilige Orte“, sondern um Objekte und mehr noch um Aktivitäten geht, die die Sakralität des Ortes ausmachen. Das was die Akteure und Akteurinnen der jüdischen Tradition (mit ihren Ritualgegenständen) tun, macht z. B. die Synagoge zu einem heiligen Ort. Auch auf diese Weise stehen sich Torarolle und Person bzw. Gemeinde gegenüber: “So what we have here is not a hierarchy of sacred places but a hierarchy of sacred activities and objects, with occasional prayer at the bottom and the Torah scroll at the top. The ark and the wrappings are sacred because they are used to protect the Torah scroll, and the synagogue is sacred because it is used for the reading of scripture and perhaps for prayer. The fact that the community gathers there, and that the community of Israel is itself both sacred and a source of sacredness, is also reason for the elevated status of the synagogue. That the activity hallows the place – that the place is rendered holy only by the activity that takes place there – does not mean that its holiness is necessarily transitory, for the Mishnah obviously claims a residual sacredness for the synagogue, even when its use for sacred community purposes is no longer possible (as when it has been destroyed). But the residual sacredness can also be removed, as the community has the power to sell a synagogue for most and perhaps all purposes, depending upon which opinion one follows.26 Again, the holiness of
Vgl. Steven Fine, This Holy Place. On the Sanctity of the Synagogue during the Graeco-Roman Period, Notre Dame 1997, 38. Vgl. zur Diskussion von mMeg 3,1–3: Seth Schwartz, Imperialism and Jewish Society 200 B.C.E. to 640 C.E., Princeton 2001, 230–235. 25 Vgl. auch den Mischnakommentar des Maimonides. 26 Vgl. mMeg 3,2. 24
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Repräsentanz des Heiligen
the place seems to be a product of the will of the community, a will expressed in its use or non-use of the place.”27
Der in mMeg 3,1 beschriebene Weg von außen nach innen lässt die Torarolle auf das Allerheiligste im Tempel verweisen;28 beide ermöglichen den Kontakt mit der Gottheit. Die Heiligkeit der Torarolle ist irreduzibel.29 Sie verifiziert und bekräftigt die Heiligkeit der Synagoge und die Identität derer, die an den Aktivitäten in ihr beteiligt sind. – Mit mMeg 3,1 korrespondiert mMeg 3,3, die der funktionierenden eine zerstörte Synagoge gegenüberstellt, deren vergangene Heiligkeit aber nach wie vor präsent ist; dies steht im Widerspruch zu einer gänzlich profanen Nutzung: mMeg 3,3 ועוד אמר רבי יהודה בית הכנסת שחרב אין מספידים לתוכו אין מפשילים לתוכו חבלים ואין פורסים לתוכו מצודות ואין שוטחים על גגו פרות ואין עושין אותו קפנדריא שנאמר והשימותי את מקדשיכם קדושתן אף כשיהו שוממים עלו בו עשבים
Und weiter sagte Rabbi Jehuda: Eine Synagoge, die zerstört ist – man hält in ihr keine Trauerreden, man dreht in ihr keine Seile, man spannt in ihr keine Netze, man breitet auf ihrem Dach keine Früchte (zum Trocknen) aus und man nutzt sie nicht als Abkürzung, denn es ist gesagt (Lev 26,31): Und ich werde eure Heiligtümer veröden lassen – ihre Heiligkeit bleibt, auch wenn sie verwüstet sind. Wenn in ihr Gras wächst,
David Kraemer, Rabbinic Judaism. Space and Place, London 2016, 133–134. 28 Vgl. Fine, This Holy Place, 41–42. Zur imitatio templi vgl. auch ders.: Art and Judaism in the Graeco-Roman World. Toward a New Jewish Archaeology, Cambridge 2005, 207. 29 Vgl. Schwartz, Imperialism and Jewish Society, 232. 27
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לא יתלוש מפני עגמוות נפש
reißt man es nicht aus, wegen des Seelenschmerzes.
Der beabsichtigte literarische Kontrast zwischen der im Gebrauch befindlichen Synagoge mit ihren heiligen Gerätschaften in mMeg 1,3 und der zerstörten Synagoge in mMeg 3,3 ist offensichtlich. Eine besondere strukturelle Übereinstimmung von Negativqualifikationen ist zwischen dem zweiten Teil von mMeg 3,1 und mMeg 3,3 zu beobachten: Fünf – die Zahl der Bücher der Tora – Objekten, die nicht gekauft werden können, wenn die Torarolle verkauft wurde, stehen fünf profane Tätigkeiten gegenüber, die in der zerstörten Synagoge nicht ausgeübt werden dürfen. Eine zerstörte Synagoge wird damit strukturell einer Synagoge, in der sich keine Torarolle befindet, gleichgestellt. Indirekt gibt mMeg 3,3 sogar eine Erklärung für den paradoxen Prozess des unmöglichen Verkaufs in 3,1: Die Profanisierung des Sakralen kann nicht gelingen, weil Heiligkeit als zeitlose Größe bestehen bleibt! Eine gewaltsam zerstörte, nicht mehr genutzte Synagoge kann nur ein schmerzliches Leerzeichen darstellen und als solches verweist es auf den zerstörten Tempel. Seth Schwartz argumentiert überzeugend, dass in mMeg 3,1–3 zwei Diskurse miteinander verknüpft würden. Er beobachtet eine “occasional slippage between the formalism of rabbinic theory and the presumably popular, nonrabbinic sense that synagogues are rather like temples, […]”.30 Mit der genannten textstrukturellen Übereinstimmung zwischen mMeg 3,1 und 3,3 könnte man dieses Argument dahingehend fortführen, dass es den rabbinischen Autoren gelang, beide Diskurse miteinander zu verbinden: Einerseits griffen sie das populäre Verständnis der Heiligkeit der Synagoge, welche die Heiligkeit des Tempels spiegelte, auf – insbesondere das Zitat Lev 26,31 in seinem Kontext, das Tempeldiskurse auf die Synagoge überträgt, ist ein sehr starkes Signal dafür; andererseits gestalteten sie den Text so, dass die Heiligkeit des Synagogenraumes zwar auch die Gebete der Gemeinde, aber vor allem durch die Anwesenheit der Torarolle entsteht, die das Allerheiligste symbolisiert.
30
Schwartz, Imperialism and Jewish Society, 237.
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Die Torarolle wird von den rabbinischen Autoren gleichsam als die „Seele“ der Synagoge dargestellt, sie ist unter den gegebenen dezentralen Bedingungen das materielle Objekt, das die Identität derer, die sich auf sie beziehen, speist. Synagoge und Torarolle lassen Körper und Seele assoziieren, was durch die indirekten Referenzen auf den Tempel noch verstärkt wird, der in der frühjüdischen und rabbinischen Überlieferung als Metapher des menschlichen Körpers gilt.31 Der Fall, dass Besitzer von Torarollen diese aus privaten Interessen bzw. Notlagen verkaufen wollten oder müssten, wird in mMeg 3,1 gar nicht explizit benannt. Es findet kein offener Wechsel aus dem Bereich des religiösen Symbolsystems in den des Alltags statt. Der Verkauf einer Torarolle bleibt eine Un-Möglichkeit. Diese deutliche Leerstelle im Text hat jedoch etwas äußerst Subversives, insbesondere, da die Hierarchie der Sakralobjekte ausgerechnet über den Nicht-Verkauf der Torarolle diskutiert wird. Indem diese Möglichkeit verdeckt wird, weist die Mischna gerade darauf hin und provoziert die Frage, was geschehen würde und was möglich wäre, wenn die Torarolle doch verkauft würde. II. Palästinischer Talmud: Wertehierarchien – die (fast) unüberbietbare Heiligkeit der Torarolle (yBik 3,7 [65d]) Im pT wird die Frage, ob und in welchem Fall eine Torarolle legitimerweise verkauft werden darf, am Schluss des Traktats Bikkurim besprochen,32 dessen Thema die Erstlingsfrüchte, die von Schawuot bis Sukkot zu den Vgl. dazu: Menahem Kister, Hellenistic Jewish Writers and Palestinian Traditions. Early and Late, in: M. Kister/H. I. Newman/M. Segal/R. A. Clements, eds., Tradition, Transmission, and Transformation from Second Temple Literature through Judaism and Christianity in Late Antiquity, Leiden 2015, 150–178: 153–156, dort Diskussion von Philo Opif. 47 (137), 1Kor 6,19 und Joh 2,21. 32 Die palästinische Gemara zu mMeg 3,1 thematisiert den Fall des Verkaufs einer Torarolle nicht. 31
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Priestern im Tempel in Jerusalem gebracht wurden, sind. Der Ansatzpunkt für den Diskurs des Verkaufs der Torarolle findet sich in mBik 3,12; dort wird festgestellt, dass ein Priester, der Erstlingsfrüchte erhält, diese zum Kauf einer Torarolle einsetzen dürfe.33 Die Gemara yBik 3,7 (65d) entwickelt daraus die umgekehrte Frage: Gibt es Fälle, in denen eine Torarolle verkauft werden dürfte? Konkret wird das Thema in Gestalt einer Anfrage an Rabban Schimon ben Gamaliel, dem rabbinischen Narrativ zufolge Vorsitzender des Sanhedrin bis zur Tempelzerstörung,34 entfaltet, und zwar so, dass Rabbinen späterer Generationen ganz unterschiedliche Versionen seiner Antwort übermitteln. Es werden drei Fragen an Rabban Schimon ben Gamaliel gerichtet: yBik 3,7 (65d)35 (1) ר' ינאי בשם ר' חייה בר ווא שאלו רבן שמען בן גמליאל מהו שימכור אדם ספר תורה לישא אשה אמר לון אין ללמוד תורה אמר לון אין מפני חייו ולא אגיבון
Rabbi Jannai (sagte) im Namen des Rabbi Chija bar Wa: Sie fragten Rabban Schimon ben Gamaliel: Wie ist es (einzuschätzen), dass ein Mensch eine Torarolle verkauft, um eine Frau zu heiraten? Er sagte zu ihnen: Ja (das ist erlaubt). Um Tora zu lernen? Er sagte zu ihnen: Ja (das ist erlaubt). Um seines Lebens(unterhalts) willen? Und er antwortete ihnen nicht.
Vgl. zum textkritischen Befund dieser schwierigen Stelle: Daniel Stökl ben Ezra, Bikkurim/Erstlinge, in: M. Krupp, ed., Die Mischna. Textkritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar, Jerusalem 2011. 34 Zur aktuellen Diskussion über die Historizität des Sanhedrin vgl. Lester Grabbe, Sanhedrin, Sanhedriyyot, or Mere Invention, JSJ 39, 2008, 1–19. 35 Text: Hs. Leiden, nach: P. Schäfer/H.-J. Becker, eds., Synopse zum Talmud Yerushalmi, Bd. I/6–11, Tübingen 1992. Übersetzung und Gliederung: S.P. 33
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(2) ר' יונה בשם ר' חייא בר ווא שאלו את רשב"ג מהו שימכור אדם ספר תורה לישא אשה אמר לון אין ללמוד תורה אמר לון אין מפני חייו לא שאלון ולא אגיבון
(2a) על דעתיה דר' יונה ניחא לא שאלון ולא אגיבון על דעתיה דר' יוסי אין שאלון ליה ולמה לא אגיבון (3) כי אתא ר' חנניה ר' פינחס ר' יוחנן בשם רבן שמעון בן גמליאל מוכר הוא אדם לישא אשה 'וללמוד תור וכל שכן מפני חייו (4)36 תני המדיר את בנו לתלמוד תורה מותר למלות לו חבית שלמים ולהדליק לו את הנר ר' יעקב בר אידי בשם ר' יונתן 36
Rabbi Jona (sagte) im Namen des Rabbi Chija bar Wa: Sie fragten Rabban Schimon ben Gamaliel: Wie ist es (einzuschätzen), dass ein Mensch eine Torarolle verkauft, um eine Frau zu heiraten? Er sagte zu ihnen: Ja (das ist erlaubt). Um Tora zu lernen? Er sagte zu ihnen: Ja (das ist erlaubt). Um seines Lebens(unterhalts) willen? Sie fragten ihn nicht, und er antwortete ihnen nicht. Aus der Sicht des Rabbi Jona ist das akzeptabel – sie fragten ihn nicht und er antwortete ihnen nicht. (Aber) aus der Sicht des Rabbi Josse: Wenn sie ihn fragten, warum antwortete er ihnen nicht? Als Rabbi Chananja kam, (sagten) Rabbi Pinchas (im Namen des) Rabbi Jochanan im Namen des Rabban Schimon ben Gamaliel: Wenn dieser Mensch (die Torarolle) verkauft, um eine Frau zu heiraten, oder um Tora zu lernen – dann doch erst recht um seines Lebens(unterhalts) willen! Es wird gelehrt: Wer seinen Sohn durch ein Gelübde zum Torastudium bestimmt – es ist ihm (dem Sohn) erlaubt, ihm (dem Vater) ein Fass mit Wasser zu füllen und ihm eine Lampe anzuzünden. Rabbi Jaakow bar Idi (sagt) im Namen des Rabbi Jonathan:
Vgl. bNed 38b; tBekhorot 6,11; vgl. auch yBeza 2,1 (61b).
176 אף לוקח לו חפציו מן השוק ופליגין כאן באיש כאן באשה אם היה אדם מסויים עשו אותו כאשה (4a) מעשה באדם אחד שהדיר את בנו לתלמוד תורה 'ובא מעשה לפני ר יוסי בן חלופתא ותיר לו למלאות חבית שלמים ולהדליק לו את הנר (5) תני המוכר ספר תורה שלאביו אינו רואה סימן ברכה לעולם וכל המקיים ספר תורה בתוך ביתו עליו הכתוב אומר הון ועושר בביתו וצדקתו עומדת לעד
Susanne Plietzsch Er holt ihm auch seine Dinge vom Markt. Hier streiten sie (die Gelehrten), Ob es um einen Mann oder um eine Frau geht.37 Wenn es ein hochgestellter Mann war, hat man ihn einer Frau gleichgestellt.38 Eine Begebenheit mit einem Menschen, der seinen Sohn durch ein Gelübde zum Torastudium bestimmte, und die Sache kam vor Rabbi Josse ben Chalafta, und er erlaubte ihm (dem Sohn), ihm (dem Vater) ein Fass mit Wasser zu füllen und ihm eine Lampe anzuzünden. Es wird gelehrt: Wer die Torarolle seines Vaters verkauft, wird niemals ein Zeichen des Segens sehen.39 Aber jeder, der eine Torarolle in seinem Haus behält, über ihn sagt der Schriftvers (Ps 112,3): Wohlstand und Reichtum in seinem Haus, und seine Gerechtigkeit besteht für ewig.
(1) Verglichen mit dem Mischnatext erfolgt nun ein Wechsel der Diskursebene und der Bereich des Profanen rückt ins Blickfeld: Statt um eine Hierarchie der Heiligkeiten geht es nun um eine Hierarchie der Werte. Was ist – im Bereich des Alltagslebens – so viel wert, dass man dafür sogar eine Torarolle verkaufen dürfte? Im Namen des Rabban Schimon ben Gamaliel wird eine dreiteilige 37 Gemeint ist, ob Rabbi Jaakow bar Idi von einem Mann oder einer Frau sprach, der oder die das den Sohn betreffende Gelübde abgelegt hat. Von einem Mann kann erwartet werden, dass er selbst zum Markt geht. 38 Als hochgestellter Mann muss er – wie eine Frau – nicht selbst zum Markt gehen. 39 Vgl. tBik 2,15; vgl. bMeg 27a.
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Antwort überliefert, die einen Spannungsbogen zwischen kollektiven und individuellen Werten und Bedürfnissen umfasst. Rabban Schimon ben Gamaliel sagt zunächst, dass eine Torarolle verkauft werden kann, um die Eheschließung und das Torastudium zu ermöglichen – vermutlich, wenn keine anderen Mittel dafür zur Verfügung stehen. Das physische wie auch das geistige Weiterbestehen der Gemeinschaft würde damit als höherwertig als die Torarolle selbst betrachtet. Aber gilt das auch für den Lebensunterhalt einer Einzelperson? Hier soll folgende Deutung der Passage vorgeschlagen werden: Wenn die rabbinischen Autoren Rabban Schimon ben Gamaliel auf diese letzte Frage nicht antworten lassen, so kann dieser Hinweis auf ihre Brisanz und Subversivität kaum deutlicher sein. Es geht um nichts weniger als eine mögliche Höherschätzung des Individuums vor dem das Kollektiv konstituierenden religiösen Symbolsystem! Die Autoren wissen, dass es die ethische Radikalität der israelitischjüdischen Tradition erforderte, auch die dritte Frage zu bejahen. Sie wissen aber auch um die „Gefahr“, die der kollektiven Identität damit drohen würde. (2) Die Gemara fährt mit einer zweiten Version derselben Anfrage fort, in der die Frage nach der Werterelation von Torarolle und Lebensunterhalt (angeblich) gar nicht gestellt wurde. Diese Abfolge des ersten und zweiten Abschnittes mit ihrer Steigerung der Uneindeutigkeit und Verweigerung der Antwort stellt eine Verstärkung der Frage nach dem Individuum dar und markiert einmal mehr die brisante Stelle des Diskurses. Die rabbinischen Autoren kreieren selbst (!) eine Gesprächssituation, in der niemand zu sagen wagt, dass das Individuum im Zweifelsfall mehr wert ist als das Kollektiv! (3) Auch in der anschließenden dritten Version des Gesprächs schweigt Rabban Schimon ben Gamaliel. Diesmal jedoch wird eine Antwort ermittelt, die allerdings uneindeutig bleibt, indem sie nur aus zweiter Hand ist: Nach Ansicht seiner Hörer habe Rabban Schimon ben Gamaliel die Antwort auf die dritte Frage aus den Antworten auf die beiden ersten geschlossen: Wenn der phy-
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sische und geistige Fortbestand der Gemeinschaft so wichtig ist, dass man dafür die Torarolle verkaufen kann, dann doch umso mehr der Lebensunterhalt des Individuums! In der letzten Version der Erzählung wird ein Kunstgriff angewendet, der die „gefährliche“ Frage umschifft: die Wertschätzung des Kollektivs setze ja die Wertschätzung des Individuums voraus, diese würde jene begründen. Es braucht Individuen um zu heiraten, Tora zu studieren und den Fortbestand der jüdischen Gemeinschaft zu sichern. Den Autoren gelingt es damit, das Individuum nicht zu verraten und gleichzeitig – ob pro forma oder nicht, bleibt unausgesprochen – die Priorität des Kollektivs zu wahren. (4) An diesen Argumentationsgang schließt sich die Erörterung eines weiteren möglichen Interessenkonflikts an, dessen logische Verbindung zum vorigen vorhanden, aber nicht sofort offensichtlich ist. Es geht nicht einmal um eine Torarolle, wohl aber um eine Kollision der Pflichten. Die Gemara wirft die Grundsatzfrage auf, ob das Torastudium die Elternehrung einschränke. Dies sei nicht der Fall, wird geschlossen; selbst wenn ein Vater ein Gelübde abgelegt haben sollte, dass sein Sohn seine gesamte Zeit dem Torastudium zu widmen hätte, würde es diesem Gelübde nicht widersprechen, dass der Sohn für den Vater gewisse Dienste erledigte. Damit wird die brisante Ausgangsfrage nach möglichen Interessenkonflikten zwischen Individuum und Kollektiv abschließend abgewandelt. Sie erscheint nun in der Form, dass das Torastudium ein Individuum von Pflichten am Kollektiv befreien könnte! Es wird ein Vater oder auch eine Mutter „entworfen“, der oder die den Sohn zum Torastudium bestimmt, sich aber dadurch selbst in ein Dilemma gebracht hat: Wer Tora studiert, kann nicht gleichzeitig Arbeiten für die Eltern verrichten! Die brisante Frage, die hier aufgeworfen wird, ist, ob das Torastudium nicht das Individuum vor familiären Verpflichtungen schützt. Der Konflikt wird jedoch zugunsten der Eltern entschärft: Der Sohn „darf“ – respektive: muss –
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auch als angehender Toragelehrter die Eltern zumindest symbolisch bedienen. Wir haben es bis hierher mit zwei Diskussionssträngen zu tun. Zum einen: Für die Heirat und das Torastudium darf eine Torarolle verkauft werden – für den eigenen Lebensunterhalt eher nicht, zumindest sollte nicht darüber gesprochen werden. Zum anderen: Das Studium der Tora darf nicht so aufgefasst werden, dass es die Elternehrung ausschließen würde. In beiden Fällen dieses palästinischen Diskurses wird nach dem Individuum gefragt, nach dessen Rechten gegenüber dem religiösen Symbolsystem und dem sich darauf beziehenden Kollektiv. Mit erkennbarer Subversivität wird dieses Problem aufgeworfen, um gleich darauf abgeschwächt zu werden bzw. Sprachlosigkeit auszulösen. (5) Der zuletzt genannte Konflikt zwischen Torastudium und Elternehrung löst sich dann auf, wenn die Loyalität mit dem Vater und mit der Torarolle, die empirische familiäre und die religiöse Autorität, als einander verstärkend und nicht mehr im (potentiellen) Konflikt gedacht werden können. Ging es bis dahin um einen paradigmatischen männlichen Israeliten, der eine Torarolle verkaufen wollte oder musste, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (oder aber das Toralernen ausnutzte, um seine Eltern nicht bedienen zu müssen), so hat sich die Situation nun geändert: Nun ist es gerade die Torarolle in seinem Haus, die Wohlstand und Reichtum gewährleistet, idealerweise die Torarolle seines Vaters. Wenn jedoch – als Abschluss der Frage nach dem Lebensunterhalt des Einzelnen – die religiösen und familiären Instanzen Tora und Familienoberhaupt als einander stützend beschrieben werden, demonstrieren die Autoren damit, dass die zuvor geführten Diskurse zugunsten des für sich stehenden Individuums nicht argumentativ außer Kraft gesetzt, sondern nur zugedeckt werden können. In der Fortschreibung der Diskussion des Verkaufs der Torarolle im bT lässt sich ein weiterer Perspektivwechsel beobachten. Dort wird die Torarolle aus einem Ge-
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genüber der (israelitischen) Person zu einer Metapher des Menschen überhaupt. III. Babylonischer Talmud: Die Heiligkeit der Torarolle in Analogie zur menschlichen Person (bMeg 26b– 27a) Im bT wie im pT erscheint die Torarolle als heiligstes Objekt der Gemeinschaft Israel, doch finden sich nun Texte, in denen ihr personhafte Qualitäten zugeschrieben werden. Der Abschnitt bMeg 26b–27a, der mMeg 3,1 diskutiert, enthält zwei solche Aspekte: zum einen den Gedanken, dass eine abgenutzte Torarolle zu begraben ist, zum anderen, dass die eigene Torarolle nicht gegen eine andere, vermeintlich bessere eingetauscht werden darf. 1. Heiligkeit und Totenunreinheit (bMeg 26b) Die talmudische Argumentation beginnt, indem ein Grundprinzip genannt und entfaltet wird: Zur Erfüllung von Geboten benötigte Gegenstände, dürfen, wenn sie ausgedient haben, weggeworfen werden, Objekte hingegen, die mit dem Heiligen, sprich der Torarolle, in Kontakt gekommen sind, müssen aufbewahrt werden.40 Mit letzteren sind die Umhüllungen und Behältnisse des heiligen Textes – der Torarolle, ihrer Repräsentation in Tefillin und Mesusa, sowie der sonstigen kanonischen Eine klare Beschreibung dieser Unterscheidung in bMeg 26b formuliert Joshua Kulp im “Shiurim Online Beit Midrash”: “This baraita outlines what religious items may be thrown away and what must be stored away. The sukkah, lulav, shofar and tzitzit are items used to perform a mitzvah, but when the mitzvah is completed they are not inherently holy. They may be thrown away. However, anything used around a scroll of Scripture is holy and must be put in the geniza. As we shall see, holiness here is equated with the Torah scroll.” (Hervorhebung: S.P.) (http://learn.conservativeyeshiva.org/megillah-daf-kaf-vav-part-5/, Zugriff am 16.4.2016). 40
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Bücher gemeint, wie auch Gegenstände, die im Rahmen des synagogalen Toravortrags in Kontakt mit der Torarolle und den biblischen Büchern kommen. Wie wirkt sich diese Heiligkeit in dem Raum, in dem sich die genannten Objekte befinden, aus? bMeg 26b41 (1) תנו רבנן תשמישי מצוה נזרקין תשמישי קדושה נגנזין ואלו הן תשמישי מצוה סוכה לולב שופר ציצית ואלו הן תשמישי קדושה ספרים42דלוסקמי תפילין ומזוזות ותיק של ספר תורה ונרתיק של תפילין ורצועותיהן (2) אמר רבא מריש הוה אמינא האי כורסיא
Es lehrten unsere Weisen: Was für die Gebotserfüllung benutzt wird, wird weggeworfen, was der Heiligkeit dient, wird verwahrt (nignasin). Diese sind es, die für die Gebotserfüllung benutzt werden: Sukka, Lulav, Schofar, Zizit; und diese sind es, die der Heiligkeit dienen: Kästen43 für (Tora-)rollen, Tefillin und Mesusot, ein Behältnis für eine Torarolle und ein Futteral für Tefillin und ihre Riemen. Rava44 sagte: Ursprünglich sagte ich: dieses Pult –
41 Text: Ausgabe Romm, Wilna 1880–1886; Übersetzung und Gliederung: SP. 42 Jastrow zufolge (A dictionary of the Targumim, the Talmud Babli and Yerushalmi, and the Midrashic literature, New York 1950) ist לוּס ְק ָמא ְ ְדvom griechischen γλωσσόκομον abgeleitet, vgl. 2Chron 24,8 LXX; MT hat dort: ארון. 43 So Steinsaltz ( ;)ארגזRaschi erklärt לוּס ְק ָמא ְ ְדals textiles Behältnis (אמתחת, )שק. 44 Vgl. Moshe Beer, Rava, in: Encyclopaedia Judaica. M. Berenbaum/F. Skolnik, eds., 2nd ed., Vol. 17., Detroit 2007, 118–119. Gale Virtual Reference Library: http://go.galegroup.com/ps/ i.do?id= GALE%7CCX2587516482&v=2.1&u=salzburg&it=r&p=GVRL&sw =w&asid=0bcf28761a1cc5acf27cc65a7165d051 (Zugriff: 15. 5. 2016).
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תשמיש דתשמיש הוא ושרי כיון דחזינא דמותבי עלויה ספר תורה אמינא תשמיש קדושה הוא ואסור
es ist Gebrauchsgegenstand eines Gebrauchsgegenstandes,45 und es ist erlaubt (es fortzuwerfen). Als ich aber sah, dass man die Torarolle darauf legt,46
ואמר רבא מריש הוה אמינא האי פריסא תשמיש דתשמיש הוא כיון דחזינא דעייפי ליה ומנחי סיפרא עלויה אמינא תשמיש קדושה הוא ואסור
Und Rava sagte: Ursprünglich sagte ich: Dieser Vorhang – er ist Gebrauchsgegenstand eines Gebrauchsgegenstandes. Als ich aber sah, dass man ihn zusammenfaltet und eine (Tora-)rolle darauf legt, sagte ich: Er dient der Heiligkeit und es ist verboten (ihn wegzuwerfen).
ואמר רבא האי תיבותא דאירפט מיעבדה תיבה זוטרתי שרי כורסייא אסיר
sagte ich: Es dient der Heiligkeit und es ist verboten (es wegzuwerfen).
Und Rava sagte: Dieser zerbrochene Toraschrein – daraus einen kleinen Toraschrein zu machen, ist erlaubt, ein Pult – (das) ist verboten.
ואמר רבא האי פריסא דבלה למיעבדיה פריסא לספרי שרי לחומשין אסיר
Und Rava sagte: Dieser Vorhang, der abgenutzt ist, daraus eine Umhüllung für (Tora-)rollen zu machen, ist erlaubt, für Pentateuchrollen – (das) ist verboten.
ואמר רבא הני זבילי דחומשי
Und Rava sagte: Diese Körbe für die Rollen einzelner Pentateuchrollen und die Kisten für die (Tora-)rollen Sie dienen der Heiligkeit und werden
וקמטרי דספרי תשמיש קדושה
Üblicherweise wird die Torarolle nicht direkt auf das Pult, sondern auf eine darüber gebreitete Decke gelegt. 46 Es kann vorkommen, dass die Torarolle das Pult berührt. 45
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נינהו ונגנזין
verwahrt.
פשיטא מהו דתימא הני לאו לכבוד עבידן לנטורי בעלמא עבידי קא משמע לן (3) ההוא בי כנישתא ברומאי דהוה פתיח לההוא אידרונא דהוה מחית ביה מת והוו בעו כהני למיעל לצלויי התם אתו אמרו ליה לרבא
Das versteht sich von selbst! Was, wenn du sagst: Sie sind nicht zur Ehre angefertigt worden, sondern nur zum Schutz?
אמר להו דלו תיבותא אותבוה
Er sagte zu ihnen: „Hebt den Toraschrein an und setzt ihn (dort)48 nieder, denn er ist ein Holzgerät, das angefertigt wurde, um stehen zu bleiben; und ein Holzgerät, das angefertigt wurde, um stehen zu bleiben, empfängt keine Unreinheit, sondern es bildet eine Barriere vor der Unreinheit.“49
דהוה ליה כלי עץ העשוי לנחת וכלי עץ העשוי לנחת אינו מקבל טומאה וחוצץ בפני הטומאה אמרו ליה רבנן לרבא והא זמנין דמטלטלי ליה
Deshalb lässt er es uns hören. Jene Synagoge der römischen (Juden), die nach einem Raum hin offen war, in den man einen Toten gelegt hatte:47 Es wollten Priester eintreten, dort zu beten. Sie kamen und sagten es Rava.
Da sagten die Gelehrten zu Rava: „Er wird aber manchmal bewegt,
So entsteht ein so genanntes „Zelt“, d. h. ein durch ein gemeinsames Dach gekennzeichneter unterteilter Raum, der insgesamt von Unreinheit betroffen ist, vgl. dazu Mira Balberg, Purity, Body, and Self in Early Rabbinic Literature, Berkeley 2014, 33; vgl. auch die ausführliche Darstellung dieser Problematik bei Kraemer, Rabbinic Judaism, 101–114. 48 An die Tür bzw. den Übergang zwischen der Synagoge und ihrem Nebenraum. 49 Vgl. bJom 21b; bChag 26b; bMen 29a. 96b; vgl. bBB 19a. Vgl. zum Begriff der Barriere ( )חוצץBalberg, Purity, Body, and Self in Early Rabbinic Literature, 70–73. 47
184 כי מנח ספר תורה עלויה והוה ליה מיטלטלא מלא וריקם אי הכי לא אפשר
Susanne Plietzsch wenn man eine Torarolle darauf legt und somit (ist) er (ein Gerät, das) gefüllt und leer bewegt wird.“ (Er sagte zu ihnen:) „Dann ist es nicht möglich.“
Zunächst wird in (1) das Prinzip der Unterscheidung von Instrumenten der Gebotserfüllung und in sich selbst heiligen Objekten erläutert; letztere sind ausschließlich solche, auf denen der Toratext für den liturgischen Gebrauch geschrieben wurde, d. h. neben der Torarolle selbst auch Tefillin und Mesusot. In (2) folgen – wohl nicht zufällig fünf50 – Aussprüche Ravas; diese nehmen liturgische Geräte in Augenschein, die üblicherweise nur mittelbar, manchmal aber eben auch direkt in Kontakt mit der Torarolle kommen. Es werden genannt: das Vorlesepult, der Vorhang im oder vor dem Toraschrein, der Toraschrein selbst, wieder der Vorhang in oder vor dem Toraschrein und Körbe, in denen Torarollen oder einzelne Pentateuchrollen aufbewahrt werden. Damit wird – ähnlich wie schon in mMeg 3,1 – ein Weg hin zur Torarolle und wieder von ihr weg beschrieben. Die Aussprüche Ravas stellen fest, dass diese Objekte nicht nur als Gebrauchsgegenstände betrachtet werden dürfen, sondern an der Sakralität der Torarolle Anteil haben. Demzufolge ist darauf zu achten, dass, wenn sie abgenutzt sind, sie nicht als ein Objekt von geringerer Heiligkeit weiterverwendet werden. Sie dienen zwar dem Schutz der Torarolle, haben aber darüber hinaus an ihrer Ehre ( )כבודAnteil und bilden gleichsam die Kontaktzone zwischen der Torarolle und der profanen Welt, in der die Begegnung mit dem Heiligen möglich wird. In diesem Raum wird die Heiligkeit von der Torarolle aus übertragen und breitet sich aus, wie sonst nur die Unreinheit. Es schließt sich eine Beispielerzählung an (3), in der diese sich ausbreitende Heiligkeit der Torarolle gewis50 So in der Ausgabe Wilna bzw. im Erstdruck Venedig 1520; vgl. aber Hs. München 95.
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sermaßen auf ihre Wirksamkeit hin überprüft wird. Die Torarolle wird mit der Präsenz eines menschlichen Leichnams konfrontiert, der sich in einem an die Synagoge angrenzenden und zu ihr hin offenen Raum befindet. Damit klingt, anders als in yBik 3,7, eine direkte Analogie zwischen Torarolle und Person an.51 Welches Problem wird nun aufgeworfen? Die gesamte Synagoge ist durch den in ihrem Nebenraum befindlichen Leichnam totenunrein und Kohanim, Juden aus priesterlichen Familien, dürften somit die Synagoge nicht betreten. Rava schlägt als Abhilfe vor, den Toraschrein in die betreffende Türöffnung zu stellen und damit eine Barriere ( )חוצץgegen die Unreinheit zu schaffen. Als eine solche könnte ein feststehendes Holzgerät dienen, das dann als Abgrenzung zwischen der Quelle der Unreinheit und den Räumen, die sie durchdringen würde, aufgefasst würde.52 Der Topos des feststehend konzipierten Holzgerätes, das eine Barriere gegen Unreinheit bildet, leitet sich aus einer Diskussion des Verses Lev 11,32 ab, die feststehende Holzgeräte sowohl von beweglichen Geräten und textilen Objekten als auch von Geräten, die gefüllt oder leer bewegt werden, unterscheidet (vgl. bChag 26b).53 Mit dem Aufgreifen dieses Topos wird außerdem an den Schaubrottisch im Tempel erinnert. In bChag 26b (vgl. auch bJom 21b und bMen 29a. 96b) wird darüber diskutiert, ob der Schaubrottisch im Tempel als eine Barriere gegen Unreinheit verstanden werden kann, handelt es sich doch mit Ez 41,22 um ein feststehendes Holzobjekt (bChag 27a). Doch da andererseits in Lev 24,6 vom r e i n e n Tisch gesprochen wird, schließt bChag 26b, dass dieser grundsätzlich auch unrein sein könnte, bzw. als empfänglich für Unreinheit verstanden werden 51 Vgl. Kadari, ‘This One Fulfilled What Is Written in That One’, wie Anm. 7. 52 Auch, wenn die Anordnung der Einrichtungsgegenstände von vornherein so wäre, würde die Unreinheit nicht in den Synagogenraum eindringen können und die Priester könnten dort beten. 53 Zur halachischen Diskussion dieses Themas ist außerdem bBB 19b anzuführen; dort geht es darum, dass ein Objekt, das eine Barriere gegen die Unreinheit bilden soll, keinem anderen Zweck dienen darf.
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muss. Zudem wird in bChag 26b festgehalten, dass der Schaubrottisch bewegt und erhoben worden sei, um den Wallfahrenden das allezeit frische Brot zu zeigen. Es stellt sich also im Laufe des talmudischen Diskurses heraus, dass der Schaubrottisch keine Barriere gegen die Unreinheit darstellt, sondern es vielmehr ein Wunder war, wenn er ständig kultisch rein blieb.
Welche Aussage wird getroffen, wenn in bMeg 26b der Toraschrein mit dem Schaubrottisch im Tempel verglichen wird? Beiden Objekten ist gemeinsam, dass sie kein wirksames Gegengewicht gegen die Totenunreinheit bilden. Ravas Vorschlag, den als feststehend gedachten Toraschrein – und wir müssen annehmen: in seiner gewohnten Funktion als Behältnis der Torarolle – so im Raum zu platzieren, dass er den Übergang zwischen beiden Räumen verschließt, wird abgewiesen, da der Toraschrein eben doch zuweilen, sowohl gefüllt als auch leer, bewegt wird. Der Toraschrein ist zumindest potentiell dynamisch und nicht statisch. Sollte der Vergleich so gelesen werden, dass, wenn schon der Toraschrein kein Gegengewicht gegen die Totenunreinheit sein kann, doch auch festgehalten werden muss, dass es der Schaubrottisch auch nicht war? Die Argumentation schafft aber zumindest theoretisch eine paradoxe Situation: Wenn Ravas Vorschlag denn akzeptabel gewesen wäre, wäre mit dem Toraschrein die Torarolle in die Position gekommen, im Grenzbereich zwischen Synagoge und Außenwelt die Totenunreinheit fernzuhalten. Die Gemara entwirft in bMeg 26b, obwohl es an der Textoberfläche um den Toraschrein geht, eine Analogie zwischen der Torarolle und dem in ihrem Nebenraum befindlichen Toten, wobei die Heiligkeit der Torarolle einerseits und die Totenunreinheit andererseits einander entgegenwirken. Die Lebensnähe der rabbinischen Autoren lässt sie eine Begründung dafür finden, dass die Heiligkeit der Torarolle die Realität und Wirksamkeit des Todes nicht fernhalten kann. Die formale Begründung ist die Beweglichkeit des Toraschreins, der
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allenfalls als temporärer und nicht als dauerhafter „Raumteiler“ gelten kann. Während mMeg 3,1 einen Weg vom Stadtplatz zur Torarolle in der Synagoge beschritt, ist die Diskussion von bMeg 26b im Inneren der Synagoge angesiedelt. Während mMeg 3,1 eine Bewegung von außen nach innen beschreibt, fügt bMeg 26b die von der Torarolle ausstrahlende Heiligkeit hinzu. Die Objekte, die zur Ausstattung der Torarolle gehören, haben an deren Heiligkeit Anteil und bilden eine Kontaktzone zwischen der Torarolle und der profanen Welt. Bei aller Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem kann eine Begegnung der Gegensätze nicht ausgeschlossen werden. Die Präsenz der Torarolle im Toraschrein ist dabei nicht geeignet, die Totenunreinheit aus dem Synagogenraum auszuschließen. Heiligkeit der Torarolle und menschliche Vergänglichkeit werden miteinander verglichen, Torarolle und vergänglicher Mensch spiegeln einander. 2. Das Begraben der Person und der Torarolle (bMeg 26b) Wenn die Diskussion gleich darauf mit der Frage nach der letzten Verwendung abgenutzter Buchrollentücher bzw. Torarollentücher und dem Begraben abgenutzter Torarollen fortgesetzt wird, befinden sich Torarolle und verstorbene Person nicht mehr in verschiedenen Räumen. Sie sind nun in unmittelbarer Nähe und umhüllen einander. Dabei ist nicht eindeutig festgelegt, wessen Heiligkeit Priorität besitzt: (4)
אמר מר זוטרא מטפחות ספרים שבלו עושין אותן תכריכין למת מצוה וזו היא גניזתן (5) ואמר רבא
Mar Sutra sagte: Die Tücher von (Tora-)rollen, die abgenutzt sind, man macht sie zu Leichentüchern für Pflichttote, und das ist ihre Verwahrung (genisatan). Und Rava sagte:
188 ספר תורה שבלה גונזין אותו אצל תלמיד חכם ואפילו שונה הלכות אמר רב אחא בר יעקב ובכלי חרס שנאמר ונתתם בכלי חרש למען יעמדו ימים רבים
Susanne Plietzsch Eine Torarolle, die abgenutzt ist, man verwahrt sie bei einem Gelehrten, sogar wenn er (nur) Halachot lernte. Raw Acha bar Jaakow sagte: Und in einem Tongefäß, denn es ist gesagt (Jer 32,14): Und du sollst sie (pl.) in ein Tongefäß geben, damit sie viele Tage erhalten bleiben.
(4) Die abgenutzten Tücher heiliger Schriftrollen umgeben nicht mehr das abgenutzte heilige Buch, sondern den Leichnam, den „abgenutzten Menschen“, und zwar den „Pflichttoten“, für dessen Bestattung keine Verwandten sorgen. „Das ist ihre Genisa“, die Aufbewahrung, die den Tüchern als heiligen Gerätschaften zusteht. Doch paradoxerweise besteht diese darin, dass sie ihrerseits den Leichnam aufbewahren. Die heiligen Tücher werden damit einer weiteren – heiligen – Verwendung zugeführt. Sie bringen die Bedeutung des Pflichttoten zum Ausdruck, der die Dignität einer Torarolle bekommt. Die Würde der Person und die der Torarolle werden hier literarisch und ganz praktisch zusammengebracht. (5) Während der in verschlissene Tücher eingehüllte Pflichttote selbst gleichsam eine Torarolle ist, wird dem Gelehrten eine unbrauchbar gewordene Torarolle mitgegeben, so dass auch hier beide aufeinander verweisen; die abgenutzte Torarolle wird zu einer dem Gelehrten ebenbürtigen Grabbeigabe, selbst in dem Fall, dass jener im Leben gar nicht den Pentateuch, sondern „nur“ Halachot beherrscht hätte. Das Zitat Jer 32,14, das Jeremias Sicht auf den bevorstehenden Sieg der Babylonier über Jerusalem aufgreift, steht dabei für eine Perspektive, die über die Unabwendbarkeit des Todes hinaus reicht: Es wäre töricht ihn zu leugnen, er ist unabwendbar, von Gott gewollt und – im Denken Jeremias und der Autoren – eine Strafe für Verfehlungen. Dennoch wird hier in
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chiffrierter Form eine Sichtweise eröffnet, die über die Bestrafung hinaus reicht: Jer 32,13 Und ich befahl Baruch vor ihren Augen: 14 So spricht JHWH der Heerscharen, der Gott Israels: Nimm diese Briefe, diesen Kaufbrief, sowohl den versiegelten als auch diesen offenen Brief, und lege sie in ein Tongefäß, damit sie viele Tage erhalten bleiben! 15 Denn so spricht JHWH der Heerscharen, der Gott Israels: Es werden wieder Häuser, Felder und Weinberge in diesem Land gekauft werden.
Kurz vor der Machtübernahme der Babylonier kauft Jeremia symbolisch ein Feld und lässt sowohl das offene wie auch das versiegelte Exemplar des Kaufvertrages gut verwahren. Sind im talmudischen Text der Gelehrte und die Torarolle das offene und das versiegelte Exemplar des Vertrages zwischen Gott und Israel, Gott und der Welt? – Der Pflichttote und der in Ehren begrabene Gelehrte: die Würde beider kommt zur Sprache, indem sie direkt oder metaphorisch mit der Torarolle in Kontakt gebracht werden. 3. Eine Torarolle ist nicht austauschbar (bMeg 27a) Ein weiterer Aspekt innerhalb der Diskussion von mMeg 3,1, anhand dessen Torarolle und Person vergleichbar werden, ist die Exklusivität jeder einzelnen Torarolle. In bMeg 27a wird die bereits aus dem pT bekannte Grundsatzfrage nach dem Verkauf einer Torarolle erneut aufgegriffen. Sie wird jedoch nun ganz anders akzentuiert als dort: Wie wäre es zu bewerten, fragt die babylonische Gemara, wenn eine Torarolle verkauft und für den Erlös eine andere erworben werden soll? Das wäre, wenn man die Mischna zugrunde legt, einer der wenigen denkbaren Fälle, in dem eine im eigenen Besitz befindliche Torarolle verkauft werden könnte.54 54 Ein anderer Fall wäre der des Schreibers, der eine Torarolle von vornherein zum Verkauf anfertigt, vgl. bPes 50b.
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bMeg 27a (1) אבל מכרו תורה לא 'יקחו ספרים וכו
„Aber: Wenn sie eine Torarolle verkauft haben, erwerben sie keine Schriftrollen usw.“ (mMeg 3,1)
איבעיא להו מהו למכור ספר תורה ישן ליקח בו חדש כיון דלא מעלי ליה אסור או דלמא כיון דליכא לעלויי עילוייא אחרינא שפיר דמי (2) תא שמע אבל מכרו תורה לא יקחו ספרים ספרים הוא דלא הא תורה בתורה שפיר דמי
Man fragte ihn: Wie ist es (einzuschätzen), eine alte Torarolle zu verkaufen, um für sie eine neue zu erwerben? Ist es verboten, weil es (die Heiligkeit) nicht steigert? Oder ist es etwa, weil keine weitere Steigerung der Steigerung (der Heiligkeit) möglich ist, rechtmäßig?
מתניתין דיעבד כי קא מיבעיא לן לכתחלה
Die Mischna lehrt es im Nachhinein, aber wir fragen, (ob es) von vornherein (erlaubt ist).
תא שמע גוללין ספר תורה במטפחות חומשין וחומשין במטפחות נביאים וכתובים אבל לא נביאים וכתובים במטפחות חומשין ולא חומשין במטפחות ספר תורה
Komm und höre: Man wickelt eine Torarolle in Tücher für Pentateuchrollen und Pentateuchrollen in Tücher für Propheten und Schriften, aber keine Prophetenbücher und Schriften in Tücher für Pentateuchrollen
(3)
קתני מיהת
55
Komm und höre: „Aber: Wenn sie eine Torarolle verkauft haben, erwerben sie keine Schriftrollen.“ Keine Schriftrollen, aber eine Torarolle um eine Torarolle, das ist rechtmäßig!
und keine Pentateuchrollen in Tücher für die Torarolle.55 Er lehrt in jedem Fall:
Vgl. yMeg 3,1; tMeg 3,12.
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גוללים ספר תורה במטפחות חומשין
Man wickelt eine Torarolle in Tücher für Pentateuchrollen.
מטפחות חומשין אין מטפחות ספר תורה לא
(In) Tücher für Pentateuchrollen – ja, (in) Tücher einer (anderen) Torarolle – nein.
אימא סיפא ולא חומשין במטפחות ספר תורה הא תורה בתורה שפיר דמי אלא מהא ליכא למישמע מינה (4) תא שמע מניחין ספר תורה על גבי תורה ותורה על גבי חומשין וחומשין על גבי נביאים וכתובים אבל לא נביאים וכתובים על גבי חומשין ולא חומשין על גבי תורה
(Aber:) Sage den Schlusssatz: Und keine Pentateuchrollen in Tücher für eine Torarolle. Das hieße, dass Tora gegen Tora rechtmäßig wäre.56 Aber: Davon ist nichts abzuleiten.
הנחה קאמרת שאני הנחה דלא אפשר דאי לא תימא הכי מיכרך היכי כרכינן והא קא יתיב דפא אחבריה
Das Darauflegen, wovon du sprichst – das Darauflegen ist ein Sonderfall, weil es nicht anders möglich ist.58 Wenn du das nicht sagen würdest, wie sollten wir sie zusammenrollen? Dabei kommt doch auch ein Blatt auf dem anderen zu liegen!59
Komm und höre: Man legt eine Torarolle auf eine Torarolle und eine Torarolle auf Pentateuchrollen und Pentateuchrollen auf Propheten und Schriften, Aber nicht Propheten und Schriften auf Pentateuchrollen und nicht Pentateuchrollen auf eine Torarolle.57
Dass also die Torarolle in den Tüchern ausgetauscht werden könnte. 57 Vgl. yMeg 3,1; tMeg 3,12. – Nach dem Beginn dieser Lehre wäre eine Torarolle gegen eine andere austauschbar. 58 Beim Übereinanderlagern von Torarollen (z. B. im Toraschrein) kommt keine Rangordnung zum Ausdruck, da es aus Platzgründen erforderlich ist. 56
192 אלא כיון דלא אפשר שרי הכא נמי כיון דלא אפשר שרי (5)
Susanne Plietzsch Deshalb: Weil es nicht (anders) möglich ist, ist es erlaubt. So ist es auch hier:60 Weil es nicht (anders) möglich ist, ist es erlaubt.
תא שמע דאמר רבה בר בר חנה אמר רבי יוחנן משום רבן שמעון בן גמליאל לא ימכור אדם ספר תורה ישן ליקח בו חדש
Komm und höre, denn Rabba bar bar Chana sagte: Rabbi Jochanan sagte im Namen des Rabban Schimon ben Gamaliel:
התם משום פשיעותא כי קאמרינן כגון דכתיב ומנח לאיפרוקי מאי
Dort61 sagte man es wegen der Fahrlässigkeit. Wir aber fragen: Wenn sie schon geschrieben ist und zur Einlösung bereitliegt, was ist dann?
תא שמע דאמר רבי יוחנן משום רבי מאיר אין מוכרין ספר תורה אלא ללמוד תורה ולישא אשה
Komm und höre, denn Rabbi Jochanan sagte im Namen des Rabbi Meir: Man verkauft keine Torarolle,
שמע מינה תורה בתורה שפיר דמי
Lerne daraus: Tora um Tora ist ebenfalls rechtmäßig!
(6)
דלמא שאני תלמוד שהתלמוד מביא לידי מעשה
Ein Mensch soll keine alte Torarolle verkaufen, um eine neue zu erwerben.
außer, um Tora zu lernen oder um eine Frau zu heiraten.62
Aber ist nicht das Lernen ein Sonderfall, weil das Lernen zum Tun führt?
Wenn Torarolle nicht über Torarolle zu liegen kommen dürfte, wäre das Einrollen der Torarolle unmöglich! 60 Bei der Lagerung von Torarollen im Toraschrein. 61 In seinem ursprünglichen Zusammenhang. 62 Vgl. bBB 151a. 59
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אשה נמי
(7)
לא תהו בראה לשבת יצרה אבל תורה בתורה לא
193 Eine Frau (zu heiraten ist) auch (ein Sonderfall): Nicht als Öde hat er sie geschaffen, zum Bewohnen hat er sie gebildet (Jes 45,18). Aber Tora um Tora – nein.63
תנו רבנן לא ימכור אדם ספר תורה אף על פי שאינו צריך לו
Es lehrten unsere Weisen: Ein Mensch soll keine Torarolle verkaufen, auch wenn er sie nicht (mehr) braucht.
יתר על כן אמר רבי שמעון בן גמליאל אפילו אין לו מה יאכל ומכר ספר תורה או בתו אינו רואה סימן ברכה לעולם
Mehr noch als das sagte Rabban Schimon ben Gamaliel: Selbst wenn er nichts zu essen hat, Und er verkauft eine Torarolle oder seine Tochter – er wird niemals ein Zeichen des Segens sehen.64
(1) Formal greift die Gemara gerade an der Stelle auf die Mischna zu, an der diese offenlässt, wofür denn die Torarolle, für die doch gar nichts erworben werden kann, verkauft worden wäre. Ein solcher Verkauf könnte aus demselben Grund verboten wie erlaubt sein: Verboten, weil man nichts Heiligeres für die Torarolle erwerben würde (weil nichts Heiligeres vorstellbar ist), oder erlaubt, weil man gar nichts Heiligeres als eine Torarolle kaufen kann. Es folgen fünf Komm-und-höre-Sprüche65; die ersten drei entwerfen Argumentationsansätze, mit denen der Verkauf einer Torarolle für eine andere legiDies sind zwei Sonderfälle, aus denen sich nicht ableiten lässt, dass der Verkauf einer Torarolle für eine andere akzeptabel wäre. 64 Vgl. tBik 2,15. 65 Die in der rabbinischen Argumentation häufig verwendete Formel „komm und höre“ leitet die Beantwortung einer Frage unter Rückgriff auf tannaitisches oder anderes Überlieferungsmaterial ein, vgl. Wilhelm Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur (zwei Teile), Leipzig 1899/1905, Ndr. Hildesheim 1965, Teil 2, 221. 63
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timiert werden soll; alle drei weisen ein Höchstmaß an Abstraktion auf, gehen aber letztendlich ins Leere. (2) Zuerst wird ein wortwörtliches Verständnis des Mischnatextes versucht, der im Erzähltempus spricht: Man könnte aus dem Mischnatext schließen, dass, wenn die Torarolle schon verkauft wurde ()מכרו, nur eine weitere dafür erworben werden könne. Die Gemara verweist aber darauf, dass eine lediglich im Nachhinein mögliche Legitimation – vielleicht nach einem Verkauf in Unkenntnis der Bestimmungen – nicht das Ziel der Argumentation sein könne; dieses müsste eine generelle Legalität sein. (3) Das folgende Argument zielt auf das Verhältnis der verschiedenrangigen Schriftrollen zu ihren Umhüllungen ab und beginnt damit, dass die Hüllen von Schriftrollen eines bestimmten Heiligkeitsrangs nicht für das Einwickeln niederrangiger Buchrollen verwendet werden dürfen. Die Skala der heiligen Bücher und die Skala ihrer Umhüllungen werden hier gewissermaßen parallel in unterschiedliche Richtungen verschoben, mit dem Ziel, dass verschiedene Kombinationen und Ausschlussmöglichkeiten zustande kommen. Wenn es heißt: „Man wickelt eine Torarolle in Tücher für Pentateuchrollen“, kann das so gelesen werden, dass man sie nicht in Tücher einer anderen Torarolle wickelt. Genauso gut kann aber der Satz „aber keine Pentateuchrollen in Tücher für eine Torarolle“ so gelesen werden, dass man sehr wohl eine Torarolle in Tücher einer anderen Torarolle wickelt. Dann könnten dieselben Torarollentücher unterschiedliche Torarollen umhüllen – eine Torarolle könnte (unbemerkt in den Tüchern) gegen eine andere Torarolle ausgetauscht werden. Diese Argumentation wird insgesamt abgewiesen; es wird bestritten, dass davon etwas abgeleitet werden könne. (Dies wird nicht begründet; der Grund könnte darin liegen, dass Argument und Gegenargument genau gleich viel Gewicht haben.) (4) Das dritte Argument arbeitet damit, in welcher Reihenfolge die verschiedenen heiligen Schriftrollen übereinander gelagert werden dürfen. Dabei wird eine Gleich-
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zeitigkeit zweier Systeme entwickelt: Der Gedanke der – horizontalen – Gleichrangigkeit der Torarollen trifft auf die Möglichkeit ihrer – vertikalen – Lagerung übereinander. Obwohl alle Torarollen gleichrangig sind, dürfen sie übereinander gelagert werden! Es wird argumentiert, dass die Torarollen, die sich gemeinsam an der Spitze der Hierarchie der Schriftrollen befinden, untereinander keine Rangordnung aufweisen würden; insofern wären sie austauschbar und eine könnte für eine andere verkauft werden. – Wiederum wird jedoch die Vorgehensweise des Arguments abgelehnt, da das Stapeln von Torarollen im Toraschrein ausschließlich praktisch begründet sei. Dürfte tatsächlich keine Stelle des Pergaments der Torarolle eine andere berühren, wäre es unmöglich, eine Torarolle überhaupt zu rollen! Somit scheitert auch dieser Versuch, aufgrund der grundsätzlichen Gleichrangigkeit der Torarollen die Möglichkeit einer willkürlichen (und wechselnden) Auswahl zu begründen. Alle drei Argumentationen scheitern schlussendlich. Die eigene Torarolle kann somit nur als unveräußerlich gedacht werden. Im Laufe der Diskussion wird die eigene Torarolle fast extrem personalisiert; die Beziehung zu ihr wird ähnlich exklusiv wie eine zwischenmenschliche Beziehung oder eine Ehe. (5) Die Gemara lässt einen vierten, auf Rabban Schimon ben Gamaliel zurückgehenden Komm-und-höre-Spruch folgen, der zunächst daran zweifeln lässt, weshalb die vorher diskutierten Argumente überhaupt angeführt wurden. Seiner eigentlich unmissverständlichen Antwort auf die Ausgangsfrage folgt jedoch ein weiterer Versuch, eine Nische für den Verkauf der alten Torarolle für eine neue zu kreieren. Ursprünglich, so die Gemara, sei dieser Spruch gesagt worden, um zu verhindern, dass eine alte Torarolle verkauft, dann aber doch fahrlässigerweise keine neue erworben würde. Was wäre aber, wenn die alte Torarolle erst dann verkauft wird, wenn die neue schon bestellt, geschrieben und zur Abholung bereitstünde? Dann könnte das Geschäft ja nicht mehr rückgängig gemacht
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werden. – Ist es damit gelungen, einen Fall zu konstruieren, in dem der Verkauf einer Torarolle akzeptabel wäre? Die Problemlage wird hier so dargestellt, als ob der worst case darin bestünde, dass jemand überhaupt ohne Torarolle bliebe. Wenn dem so wäre, sollte es in der Tat ausreichend sein, wenn eine neue Torarolle sicher bereitläge und der Austausch der Torarollen so reibungslos wie möglich geplant werden könnte. Aber eine solche Sichtweise würde das eigentliche Problem verkennen: Es geht nicht darum, dass der Besitzer der alten Torarolle ganz ohne Torarolle bleiben könnte, sondern es soll betont werden, dass eine solche grundsätzlich nicht austauschbar ist. Ihre Relation zu der sie besitzenden Person ist höher zu gewichten als das Anliegen, den Text des Pentateuchs von einer nicht nur rituell tauglichen, sondern auch gut lesbaren und sogar ästhetisch ansprechenden Rolle lesen zu können. Wenn man eine Torarolle besitzt, hat genau diese den Vorrang. Damit ist jegliche Argumentation für einen möglichen Torarollentausch unhaltbar geworden. (6) Das wird im nun folgenden fünften Komm-und-höreSpruch gut erkennbar, dessen Thematik schon aus yBik 3,7 bekannt ist. Dieses letzte Argument geht folgendermaßen vor: Es gibt zwei – bereits bekannte – Situationen, in denen der Verkauf einer Torarolle erlaubt sei: um Tora lernen zu können (d. h. um sich von der Arbeit freistellen zu können oder um einen Lehrer zu bezahlen), oder um als Mann heiraten zu können, d. h. den Brautpreis zu bezahlen. Wenn nun Torarolle, Lernen und Heirat gleichwertig sind, müssen folglich auch Torarolle und Torarolle gleichwertig sein – Tora um Tora ist ebenfalls rechtmäßig! Dies wird allerdings abgewiesen, weil der Verkauf der Torarolle in diesen Fällen je eigene „Tatbestände“ darstellen. Das Torastudium und die Eheschließung sind jeweils für sich genommen die einzigen Sonderfälle, in denen die Gemara den Verkauf einer Torarolle für legitim hält. Damit ist wieder der physische und der geistige Erhalt der Gemeinschaft angesprochen.
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(7) Die Abschlusswendung nimmt formal und inhaltlich Bezug auf yBik 3,7 (5).66 Die Gemara spricht kein explizites Verbot aus, sondern zieht sich auf eine Ermahnung zurück: Es bringe keinen Segen, die eigene Torarolle – oder die eigene Tochter! – zu verkaufen, selbst in Notsituationen. Verglichen mit yBik 3,7 (5) wird die Torarolle hier nicht mit der vorausgehenden, Normativität beanspruchenden Generation verbunden (die Torarolle seines Vaters), sondern mit der nachfolgenden, abhängigen (die Tochter als Metapher für die Torarolle, oder umgekehrt). Die Tochter als Inbegriff der Abhängigkeit, deren Verkauf jedoch im Bereich des Möglichen (vgl. Ex 21,7) und argumentativ verwendbar ist, verweist m.E. zwischen den Zeilen auf die Ehefrau, die in der ausführlich behandelten Exklusivitätsthematik deutlich wahrzunehmen ist. Auch wenn die rabbinischen Autoren den Ehemann nicht zur Monogamie verpflichteten, ist der „Verkauf“ einer Ehefrau unvorstellbar. Mit dieser Analogie arbeitet der gesamte Abschnitt aus bMeg 27a. Seine Ausgangsfrage: „Wie ist es einzuschätzen, eine alte Torarolle zu verkaufen, um für sie eine neue zu erwerben?“ wird folgerichtig mit keiner der versuchten Argumentationsmöglichkeiten positiv beantwortet. Weder ist es möglich, weil es nichts Heiligeres gibt, noch ist es unmöglich, weil es nichts Heiligeres gibt. Die Antwort liegt vielmehr darin, dass die eigene Torarolle einen ganz persönlichen, materialen Zugang zum Heiligen ermöglicht, weshalb sie als Objekt unersetzlich ist. Der bT bietet keine definitive halachische Entscheidung in dieser Frage, es geht vielmehr darum, die theologischen und symbolischen Implikationen eines Torarollenverkaufs in ihrem gesamten Facettenreichtum auszuloten. Die mittelalterlichen halachischen Kodizes sprechen bei Torarollen in Gemeindebesitz von einem Verkaufsverbot, nicht aber bei solchen in Privatbesitz – gerade verschieden von der talmudischen Schwerpunktsetzung bei der Individualisierung der Torarolle. Einige Dezisoren erlauben einen 66 Die Diskussion der Bezüge zu tBik 2,15 liegt nahe, würde aber in diesem Beitrag zu weit führen.
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Verkauf in bestimmten Notsituationen, etwa, um Gefangene auszulösen oder um Kranken zu helfen.67 Maimonides formuliert in Übereinstimmung mit bMeg 27a in Mischne Tora (Hilkhot Sefer Torah 10,2): „Es ist dem Menschen verboten, eine Torarolle zu verkaufen, selbst wenn er nichts zu essen hat.68 Selbst wenn er mehrere Torarollen besitzt, selbst (in dem Fall, dass er) eine alte (Torarolle verkaufen will), um dafür eine neue zu erwerben. Niemals verkaufe man eine Torarolle, außer in zwei Fällen: Von ihrem Erlös Tora zu lernen oder von ihrem Erlös eine Frau zu heiraten. Das bedeutet, dass es keinen anderen Fall gibt, (eine Torarolle) zu verkaufen.“69
IV.
Zusammenfassung: Die Torarolle als Chiffre
In den Textlektüren konnte beobachtet werden, dass Torarolle und menschliche Person im rabbinischen Denken aufeinander verweisen. Insbesondere verweist die Heiligkeit der Torarolle als textförmige Repräsentanz Gottes auf die Heiligkeit und unveräußerliche Integrität der Person. Der angemessene Umgang mit der Torarolle wird anhand eines wertschätzenden Umgangs mit einer Person dargestellt – sie darf nicht verkauft werden, sie ist nicht austauschbar, sie wird begraben. Die Wertschätzung eines Menschen ist in den Texten die einzige literarische Möglichkeit, um die Bedeutung der Torarolle zu verdeutlichen und zu vermitteln. Kann deshalb gesagt werden, dass die Wertschätzung der Torarolle in ihrer symbolischen Bedeutung eine Chiffre ist, die die faszinierende Unverfügbarkeit jeder Person mitteilbar macht, Eine kurze Zusammenfassung der halachischen Grundlagen zu diesem Thema findet sich in: Koren Talmud Bavli, The Noé Edition, vol. 12 Tractate Ta’anit, Tractate Megillah, 377. 68 Die Erklärung von Rabbi Samuel Tanhum Rubinstein in der Ausgabe Rambam La-Am, Jerusalem 1972, lautet: „[…] Und es ist klar, dass in einem Fall von (erforderlicher) Lebensrettung, wie z. B. wenn er sein Leben nicht mehr erhalten kann und vor Hunger vergeht, es ihm erlaubt ist zu verkaufen. Hier wird von einem gesprochen, dessen Nahrungsmittel begrenzt sind, der aber noch nicht in Lebensgefahr geraten ist.“ (Übersetzung: S.P.). 69 Text: Rubinstein, Rambam La-Am (Übersetzung: S.P.). 67
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für die es sonst keine Ausdrucksmöglichkeit gegeben hätte? Wenn das der Fall wäre, käme dem Verzicht auf die De-Chiffrierung eine wichtige Bedeutung zu, denn nur so kann das religiöse Symbolsystem in der ihm zuerkannten Dignität fortbestehen. Die rabbinischen Autoren weichen dem Dilemma zwischen Chiffre und Dechiffrierung, zwischen Torarolle und Person, das sich in der Frage manifestiert, ob eine Torarolle für die Sicherstellung des Lebensunterhalts verkauft werden darf, nicht aus. In yBik 3,7 (65d) wird dies als existenzielle Frage: – מפני חייוum seines Lebens(unterhalts) willen? formuliert. Das Schweigen der rabbinischen Autoren an diesem Punkt der Auseinandersetzung ist mehr als beredt: Muss nicht der Person der Vorzug gegeben werden und setzt dies nicht letztendlich das religiöse Symbolsystem außer Kraft? Und steht dann nicht folgerichtig sogar das Individuum vor dem Kollektiv? Die in diesem Beitrag vorgestellten Texte aus dem palästinischen und babylonischen Talmud setzen sich mit dieser Problemstellung auseinander, wohl wissend, dass die Radikalität der biblisch-israelitischen Tradition und des rabbinischen Denkens keine Abstriche an der Wertschätzung der Person zulassen kann. Der palästinische und der babylonische Talmud finden dabei unterschiedliche Wege des Umgangs mit diesem Dilemma: Während im palästinischen Talmud die Torarolle das Gegenüber der israelitischen Person bleibt, erhält sie im babylonischen Talmud deutlich personhafte Züge – sie ist gleichsam die ideale Person. Sie verkörpert die Unvergänglichkeit, auch wenn sie sich in der empirischen Realität nicht gegen die Totenunreinheit durchsetzen kann (bMeg 26b). Insofern ist es folgerichtig, dass die Beziehung zu ihr etwas Unwiderrufliches hat und nicht der Nützlichkeit oder Willkür unterworfen sein soll (bMeg 27a). Der palästinische wie der babylonische Talmud lösen die Spannung zwischen Individuum und religiösem Symbolsystem, zwischen individueller Lebensgestaltung und kollektiver Identität so auf, dass von letzterer behauptet wird, dass sie erstere
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stützt. Wenn das „Behalten der Torarolle“ auch in Notsituationen Segen bringt, erübrigt sich die Frage, ob sie, wenn es um den Lebensunterhalt geht, verkauft werden dürfe. Wenn die Torarolle die Metapher für die menschliche Seele ist, ist sie in der Tat unverkäuflich; die Tatsache jedoch, dass dieser Vergleich ausgesetzt werden muss, wenn es um das Toralernen oder die Eheschließung geht, zeigt, dass es den rabbinischen Autoren bewusst war, dass ein religiöses Symbolsystem das alltägliche empirische Leben nicht abbilden und schon gar nicht beherrschen kann. Das Objekt Torarolle wird in den hier gelesenen Texten zu einer Chiffre für einen individuellen Würdediskurs, den explizit zu führen außerhalb des Diskursrahmens der rabbinischen Autoren gelegen wäre. Anhand der Torarolle jedoch wird es möglich zu sehen und davon zu sprechen, dass die Einzigartigkeit und unwiderrufliche Präsenz eines Individuums ebenso unfassbar und unverfügbar ist wie die Heiligkeit einer Torarolle.