Mittel-, Nord- und Osteuropa 9783412328658, 3412147990, 9783412147990


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Mittel-, Nord- und Osteuropa
 9783412328658, 3412147990, 9783412147990

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Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für* Günter Mühlpfordt Band 6 Mittel-, Nord- und Osteuropa

Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt zum 80. Geburtstag herausgegeben von

Erich Donnert Band 6

Foto Frank Roth, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt Band 6

Mittel-, Nord- und Osteuropa

Herausgegeben von

Erich Donnert

§ 2002

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Europa in der Frühen Neuzeit: Festschrift für Günter Mühlpfordt / hrsg. von Erich Donnert. Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau Bd: 6. Mittel-, Nord- und Osteuropa. - 2002 ISBN 3-412-14799-0

© 2002 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 91 39 00, Fax (0221) 91 39 011 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Tönisvorst Druck und Verarbeitung. Strauss Offsetdruck GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 3-412-14799-0

Inhaltsverzeichnis VORWORT DOKUMENTATION ZUR MITTELDEUTSCHEN FRÜHNEUZEITKULTUR. Aus Anlaß der Auszeichnung von Günter Mühlpfordt mit dem Eike-vonRepgow-Preis (Mitteldeutschland-Preis) der Landeshauptstadt Magdeburg und der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, „für herausragende Verdienste um die Erforschung der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands"

XI

1

Aufsätze zur Frühneuzeit in Mittel-, Nord- und Osteuropa SIEGFRIED BRÄUER, BERLIN Protestierende - Protestanten Zu den Anfängen eines geschichtlichen Grundbegriffs im 16. Jahrhundert

91

MANFRED RUDERSDORF, LEIPZIG Die Reformation und ihre Gewinner Konfessionalismus, Reich und Fürstenstaat im 16. Jahrhundert

115

IRENE ROCH-LEMMER, HALLE Die Chorgestühlbrüstung in der Annenkirche zu Eisleben Ein Beitrag zur protestantischen Ikonographie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts

143

HARTMUT ZWAHR, LEIPZIG Frühneuzeitliche Existenz in einem Mikrokosmos V o m Landespatriotismus zum nationalen Bekenntnis. Das Beispiel der Lausitzer Sorben

165

UWE SCHIRMER, LEIPZIG Staatlichkeit und Steuerverfassung in der Oberlausitz in der frühen Neuzeit

181

PAUL GRIMLEY KUNTZ, ATLANTA, U S A Leibniz' Weltformel

203

ORTRUN RIHA, LEIPZIG Die Dialektik der europäischen Aufklärung zwischen Pietismus und naturwissenschaftlichem Fortschritt

211

RAINER ENSKAT, HALLE Die Aufklärung der Urteilskraft

215

URSULA NIGGLI, ZÜRICH Kants Philosophiebegriff

229

VI

Inhaltsverzeichnis

REGINA M E Y E R , H A L L E

Die Kantsche Philosophie im Lehrbetrieb der Universität Halle am Ende des 18. Jahrhunderts

237

HANS-JOACHIM K E R T S C H E R / G Ü N T E R SCHENK, H A L L E

Reflexionen über Georg Friedrich Meiers „Frühe Schriften" Ästhetik-Kunstkritik-christliche Poetik

289

IRENA STASIEWICZ-JASIUKOWA, WARSCHAU

War Kazimierz Narbutt ein Wolffianer?

315

H O L G E R BÖNING, BREMEN

Das Ringen um „Volkston" und „Volksbeifall" in der deutschen Aufklärung Theorien der Popularität von den ersten Anfängen in der gemeinnützigökonomischen Publizistik bis zu Johann Christoph Greiling

325

VOLODYMYR O . ABASNIK, CHARKIV, UKRAINE

Johann Baptist Schad (1758-1834), Professor der Philosophie an den Universitäten Jena und Charkov

349

BIRGIT SCHOLZ, B E R L I N

Russische Historiographie auf neuen Wegen - Von Tatiscev zur Archäographischen Kommission

381

H A N F . VERMEULEN, LEIDEN

Ethnographie und Ethnologie in Mittel- und Osteuropa Völker-Beschreibung und Völkerkunde in Rußland, Deutschland und Österreich (1740-1845)

397

M A R E R A N D , TARTU, ESTLAND

Die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften betreffende Autographen in den Sammlungen der Universitätsbibliothek Dorpat/Tartu

411

PETER HOFFMANN, NASSENHEIDE/GALINA I . SMAGINA, ST. PETERSBURG

Zur Frühgeschichte der Universitätsausbildung in Rußland Gerhard Friedrich Müllers „Vorschlag zu einem Reglement für die Universität bey der Kayserlichen Academie der Wissenschaften" vom Jahre 1748

419

GOTTFRIED ZIRNSTEIN, LEIPZIG

Karl von Linné (1707-1778), Erfasser der Organismenwelt der Erde

437

ANDREJ K . SYTIN, ST. PETERSBURG

Karl von Linnés Klassifizierung russischer Pflanzen

443

THOMAS N I C K O L / W I E L A N D HINTZSCHE, H A L L E

Der Naturforscher Goethe und Rußland

449

ALOYS H E N N I N G , B E R L I N

Medizinische Wissensschöpfung im Rußland der Frühen Neuzeit Der Anteil deutschsprachiger Mediziner

477

Inhaltsverzeichnis

VII

ALOYS HENNING, BERLIN Zur weiblichen Metaphorik des Auges als Angstchiffre in der abendländischen Geschichte

481

KLAUS SCHILLINGER, DRESDEN Reichsgraf Hans von Löser (1704-1763) auf Schloß Reinharz - ein Liebhaber und Förderer des wissenschaftlichen Instrumentenbaus

529

WOLFRAM KAISER, HALLE Arzneischatz und Anfänge einer pharmazeutischen Industrie in der Heilkunde des 18. Jahrhunderts

549

ARINA VÖLKER, KÜHLUNGSBORN Die Anfänge der Pockenschutzimpfung in den mitteldeutschen Territorien des 18. Jahrhunderts

561

ALEXANDER LICHTSANGOF, ST. PETERSBURG Deutsche Einflüsse auf die Entwicklung des Apothekenwesens im St. Petersburg des 18. Jahrhunderts

573

ANNA M. IVACHNOVA, ST. PETERSBURG/NATALIA DECKER UND INGRID KÄSTNER, LEIPZIG Zur Geschichte der St. Petersburger Apothekerfamilie Poehl

577

REGINE PFREPPER, LEIPZIG Der deutsch-russische Pharmazeut und Chemiker Tobias Lowitz (1757-1804) Neue Materialien zur Biographie

587

GÜNTER ULBRICHT, BERLIN Spielpädagogik des Philanthropismus

607

GÜNTER ULBRICHT, BERLIN Heinrich Stephani (1761-1850) - ein großer Pädagoge der Aufklärung in Bayern

617

GERHARD RICHWIEN, HALLE Das Erbe der Orden Symbolwelt der Aufklärungszeit und ritterliches Identifikationsmuster im akademischen Korporationswesen

627

LIANE MÜLLER, LYON Artig, aber nicht schön Zur Struktur von Adjektivartikeln in den Wörterbüchern von Matthias Kramer, Johann Leonhard Fischer und Johann Christoph Adelung

651

BIRGIT DOMBECK, LEIPZIG Ausgewählte Aspekte der sprachlichen Gestaltung der ethischen Aufklärungsschriften Karl Friedrich Bahrdts für Bürgertum und Gesinde

671

VIII

Inhaltsverzeichnis

HANS-WERNER ENGELS, HAMBURG Johann Friedrich Ernst Albrecht (1752-1814) Bemerkungen zu seinem Leben, seinen politischen Romanen und seiner Publizistik

685

HELGA E. LÜHMANN-FRESTER, HOYA „Obidah" - eine frühe Erzählung Katharinas II. Mit Anmerkungen über „gelehrte Frauenzimmer"

721

GABRIELA LEHMANN-CARLI, HALLE/MICHAEL SCHIPP AN, POTSDAM/ SILKE BROHM UND PETER BRÜNE, BERLIN Zensur in Rußland Von der zweiten Hälfte des 18. bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts

739

JÖRG-PETER FINDEISEN, TRIER Das Hungerjahr 1771 in Schwedisch-Pommern Ein bislang unbekannter Briefbestand im Reichsarchiv Stockholm

775

MARTIN PETERS, BONN Revolution und Gleichgewicht: Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) und seine politische Position 1797-1804

787

UDO DRÄGER, HALLE Steins Reformpartei im Staatsapparat

799

UDO DRÄGER, HALLE Der Anteil der Bauern an der Durchsetzung der Steinschen Agrarreform vom April zum Oktober 1808

819

Beiträge zur eurasisch-amerikanischen Entdeckungsgeschichte ERICH DONNERT, HALLE Russische Entdeckungsreisen und Forschungsexpeditionen in den Stillen Ozean im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert

837

ALIX O'GRADY, VICTORIA, KANADA Baltische Forschungsreisende, Seefahrer und Administratoren in Sibirien und im nordpazifischen Raum

869

GERT RÖBEL, MÜNCHEN Die Eroberung Sibiriens

873

ILSE JAHN, BERLIN Zoologische Ergebnisse von Daniel Gottlieb Messerschmidts Sibirienreise 1720-1727

887

JUDIF' CH. KOPELEVIC, ST. PETERSBURG Die Petersburger Akademie der Wissenschaften und ihre Expeditionen im 18. Jahrhundert

893

Inhaltsverzeichnis

IX

CAROL URNESS, MINNESOTA, U S A

Die Erste Kamcatka-Expedition unter Vitus Bering 1725-1730

899

THOMAS NICKOL/WIELAND HINTZSCHE, HALLE

Die Zweite Kamcatka-Expedition 1733-1743 und das Laster in Sibirien

903

IRINA V. BRENEVA (F), ST. PETERSBURG

Gerätebau an der Petersburger Akademie der Wissenschaften

919

TAT'JANA S. FEDOROVA, ST. PETERSBURG

Bau von Paketbooten für die Zweite Kamcatka-Expedition

925

N I N A I. NEVSKAJA, ST. PETERSBURG

Die Astronomie auf der Zweiten Kamcatka-Expedition

927

NATASHA OKHOTINA-LIND, KOPENHAGEN

Zwei Pläne zur Verbesserung der Lebensbedingungen auf Kamcatka Ein Vergleich der Ansichten und Vorschläge von Bering und Steller

931

PETER ULF M0LLER, ÄRHUS

„Der Welt wahrheitsgetreu berichten". Peder von Häven über Bering, Spangberg und die beiden Kamcatka-Expeditionen

937

WOLFGANG CZEGDA, BRÜHL, BADEN

Das Pallas-Eisen und die Anfänge der Meteoritenkunde

943

CORNELIA LÜDECKE, MÜNCHEN

Meteorologische Messungen im 18. Jahrhundert

951

WOLFRAM DOLZ, DRESDEN

Geodätische Meßinstrumente und -methoden im 18. Jahrhundert

955

JAMES R. GIBSON, TORONTO, KANADA

Die Stellersche Seekuh und das russische Vordringen von Sibirien nach Amerika 1741-1768

963

KAREN E . WILLMORE/MARGRITT A . ENGEL, ANCHORAGE, ALASKA

Probleme der Wiedergabe von Stellers deutschen Texten im Englischen

979

MARTIN STUBER, BERN

Forschungsreisen im Studierzimmer Zur Rezeption der Großen Nordischen Expedition bei Albrecht von Haller und Samuel Engel

983

STEFAN HÄCHLER, BERN

Albrecht von Hallers wissenschaftliche Beziehungen zu Rußland

997

GUDRUN BUCHER, GÖTTINGEN

Gerhard Friedrich Müllers Unterricht, was bey Beschreibung der Völker, absonderlich der Sibirischen, in acht zu nehmen vom Jahre 1740

1005

X

Inhaltsverzeichnis

DITTMAR DAHLMANN, BONN Die „fremden Völker" Alaskas und Sibiriens in deutschsprachigen Reisebeschreibungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts

1011

ERICH KASTEN, BERLIN Ethnizität bei den Itelmenen Politische und kulturelle Hintergründe und Entwicklungen

1017

ERICH DONNERT, HALLE Die Billings-Sarycev-Expedition in den Nordostpazifik 1785-1793 und der Naturforscher Carl Heinrich Merck

1023

IGOÄ A. ARZUMANOV, ULAN-UDE, RUSSLAND Anfänge der russisch-orthodoxen Mission im Baikalgebiet Das Leben des heiligen Innokentij, des ersten Bischofs von Irkutsk 1727-1731

1037

ERICH DONNERT, HALLE Russische Kolonisation im nordpazifischen Raum von der Mitte des 18. bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts Zur Wirksamkeit der Russisch-Amerikanischen Kompanie

1039

VIOLA KÖNIG, BERLIN Zum Handel im Nordpazifik

1055

AMIRA. CHIZAMUTDINOV, VLADIVOSTOK, RUSSLAND Deutsche im Russischen Fernen Osten

1071

JEAN-LOUP ROUSSELOT, MÜNCHEN Die Münchner Aleutische Sammlung als Teil der Königlichen „Transatlantischen" Sammlungen

1081

GÜNTER MÜHLPFORDT Dank an Herausgeber, Beiträger, Referenten, Mitwirkende, Verlag und Förderer

1087

Autorenverzeichnis

1113

Vorwort Band 6 der Festschrift für Günter Mühlpfordt „Europa in der Frühen Neuzeit" - Band 1 bis 4 erschienen 1997, Band 5 folgte 1999 - beginnt mit der Dokumentation „Mitteldeutsche Frühneuzeitkultur", aus Anlaß der Auszeichnung von Günter Mühlpfordt mit dem Eike-von-Repgow-Preis (Mitteldeutschland-Preis) der Stadt und Universität Magdeburg. Der Hauptteil besteht aus Aufsätzen zur Frühneuzeit Mittel-, Nord- und Osteuropas, von der Reformation bis zur Spätaufklärung, in Anlehnung an Forschungsbereiche des Geehrten. Ein Sonderteil über die frühneuzeitlichen Entdeckungen der Europäer von Rußland aus (durch Russen, Deutsche, Ukrainer, Dänen, Engländer, Schweden, Norweger, Niederländer, Schweizer, Franzosen, Griechen, Italiener u.a.) enthält weitere Beiträge und Berichte zu Forschungsreisen und Erkundungen in Osteuropa, Nordasien, im nordpazifischen Raum, in Nordwestamerika (Alaska) und Kalifornien, besonders in Sibirien und auf Kamcatka. Die meisten der entdeckungsgeschichtlichen Beiträge gehen auf eine von den Franckeschen Stiftungen in Halle veranstaltete Tagung zurück. Für ihre Überlassung hat der Herausgeber den Herren Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Raabe, Dr. Wieland Hintzsche und Dr. Thomas Nickol zu danken. Den Band beschließt der Dank von Günter Mühlpfordt. Für den vorbereiteten Schlußband sind insbesondere vorgesehen: eine Zusammenfassung und Einschätzung der Ergebnisse des Sammelwerkes, Betrachtungen zum Stand der Frühneuzeitforschung, Bemerkungen zur europäischen Aufklärung, Nachrufe auf verstorbene Frühneuzeitforscher, das Schriftenverzeichnis Günter Mühlpfordt und das Personenregister zu allen Bänden der Festschrift. Erich Donnert

Dokumentation zur mitteldeutschen Frühneuzeitkultur Aus Anlaß der Auszeichnung von Günter Mühlpfordt mit dem Eike-von-RepgowPreis (Mitteldeutschland-Preis) der Landeshauptstadt Magdeburg und der O t t o von-Guericke-Universität Magdeburg „für herausragende Verdienste um die Erforschung der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands"

Übersicht Teil 1:

D i e Festveranstaltung in Magdeburg zur Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises am 28. O k t o b e r 1999

Sinn und Zweck des Eike-von-Repgow-Preises für kulturgeschichtliche Mitteldeutschland-Forschung Eike von Repgow Das sächsisch-magdeburgische Recht und seine Verbreitung. Kriterien der Preisvergabe Eike-von-Repgow-Preis für Forschungen zur Kultur in und aus Mitteldeutschland an Günter Mühlpfordt Pressekonferenz mit Oberbürgermeister Dr. Polte zum Eike-von-Repgow-Preis Die Johanniskirche, ein historisches Wahrzeichen Magdeburgs - sein neues Kulturzentrum, die Stätte der Preisübergabe Programm, Redner und Umrahmung der Veranstaltung Oberbürgermeister Willi Polte: Begrüßung Ministerin Karin Schubert: Grußwort Rektor Klaus E. Pollmann (Universität Magdeburg): Einführende Worte Karlheinz Blaschke: Laudatio auf Günter Mühlpfordt Klaus E. Pollmann, Willi Polte: Überreichung der Ehrenurkunde Günter Mühlpfordt: Dank für Eike-von-Repgow-Preis Günter Mühlpfordt: Der Kulturherd Mitteldeutschland im frühneuzeitlichen Europa 1502-1817 (Festvortrag) Empfang des Oberbürgermeisters für den Preisträger. Die Mitteldeutschland-Idee und ihre geschichtlichen Grundlagen. Zur mitteldeutschen Identität

Teil 2:

S. 2

S. S. S. S.

2 3 3 4

S. 4 S. 8 S. 9 S. 10 S. 11 S. 13 S. 14 S. 16 S. 21 S. 23

S. 25

S. 36

Medienresonanz zum Preis für Forschungen über mitteldeutsche Kulturgeschichte zusammengestellt von Monika Wagner

Gerald Christopeit, Michael Schmidt, Claudia Klupsch, A. Kraaz u. a.: Magdeburger Pressespiegel zum Eike-von-Repgow-Preis 1999 Karola Waterstraat, Margarete Wein u. a.: Hallesches Echo auf den Magdeburger Mitteldeutschland-Preis

S. 37 S. 38

S. 42

2

Übersicht

Meldungen der Nachrichtenagenturen über Preis und Preisträger Bonner und andere auswärtige Publizistik zum Mitteldeutschland-Preis Fernsehen und Hörfunk über die Preisvergabe

Teil 3:

Widerhall der Auszeichnung

S. 44 S. 46 S. 47

S. 47

Reinhard Höppner, Karin Schubert u. a.: Magdeburger Glückwünsche zur Ehrung mit Eike-von-Repgow-Preis Gunnar Berg, Rainer Enskat, Reinhard Kreckel, Manfred Lemmer, Heiner Lück, Michael G. Müller, Manfred Riedel, Hermann-Josef Rupieper, Günter Schenk u. a.: Hallesche Gratulationen von und außerhalb der Universität. Diskurs über Guericke, Christian Wolff und die Entdeckung von 1761 Auswärtige und ausländische Reflexe der Preisverleihung Wilhelm Schaaf: Nachklang beim „diamantenen Abitur" an Stätten der Frühneuzeit Gunnar Berg, Werner Binnewies, Karlheinz Blaschke, Dietrich Grille, Manfred Lemmer, Rolf Lieberwirth, Heiner Lück, Ulrich Neuhäußer-Wespy, Hermann-Josef Rupieper: Gedenken an die verstorbene Ehefrau und Mitarbeiterin des Preisträgers Neue mitteldeutsche Wissenschaftspreise nach der Magdeburger Initiative Teil 4:

A s p e k t e der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur

Klaus E. Pollmann: Stadt und Universität Magdeburg ehrten Günter Mühlpfordt mit Eike-von-Repgow-Preis Günter Mühlpfordt: 1. Magdeburg, die Rechtswissenschaft und die mitteldeutsche Frühneuzeitkultur - von Luther bis Goethe 2. Venus versus Mars - Eine friedliche Entdeckung im Siebenjährigen Krieg (1761). Mit Vorschau: Venus vor der Sonne 2004 und 2012 3. Das frühneuzeitliche Kulturzentrum Mitteldeutschland und seine Prioritäten - Eine Frühneuzeitkultur mit modernisierenden Innovationen 4. Frühneuzeitliche Kulturbewegungen aus Mitteldeutschland und ihre Wege in die Welt 5. Mitteldeutsches Weltkulturerbe - Denkmale aus Früher Neuzeit

Teil 1: Die Festveranstaltung in Magdeburg zur Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises am 28. Oktober 1999 Sinn u n d Z w e c k des E i k e - v o n - R e p g o w - P r e i s e s f ü r k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e Mitteldeutschland-Forschung

S. 48

S. 49 S. 54 S. 57

S. 58 S. 58 S. 60

S. 60 S. 61 S. 65 S. 69 S. 81 S. 87

2

Übersicht

Meldungen der Nachrichtenagenturen über Preis und Preisträger Bonner und andere auswärtige Publizistik zum Mitteldeutschland-Preis Fernsehen und Hörfunk über die Preisvergabe

Teil 3:

Widerhall der Auszeichnung

S. 44 S. 46 S. 47

S. 47

Reinhard Höppner, Karin Schubert u. a.: Magdeburger Glückwünsche zur Ehrung mit Eike-von-Repgow-Preis Gunnar Berg, Rainer Enskat, Reinhard Kreckel, Manfred Lemmer, Heiner Lück, Michael G. Müller, Manfred Riedel, Hermann-Josef Rupieper, Günter Schenk u. a.: Hallesche Gratulationen von und außerhalb der Universität. Diskurs über Guericke, Christian Wolff und die Entdeckung von 1761 Auswärtige und ausländische Reflexe der Preisverleihung Wilhelm Schaaf: Nachklang beim „diamantenen Abitur" an Stätten der Frühneuzeit Gunnar Berg, Werner Binnewies, Karlheinz Blaschke, Dietrich Grille, Manfred Lemmer, Rolf Lieberwirth, Heiner Lück, Ulrich Neuhäußer-Wespy, Hermann-Josef Rupieper: Gedenken an die verstorbene Ehefrau und Mitarbeiterin des Preisträgers Neue mitteldeutsche Wissenschaftspreise nach der Magdeburger Initiative Teil 4:

A s p e k t e der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur

Klaus E. Pollmann: Stadt und Universität Magdeburg ehrten Günter Mühlpfordt mit Eike-von-Repgow-Preis Günter Mühlpfordt: 1. Magdeburg, die Rechtswissenschaft und die mitteldeutsche Frühneuzeitkultur - von Luther bis Goethe 2. Venus versus Mars - Eine friedliche Entdeckung im Siebenjährigen Krieg (1761). Mit Vorschau: Venus vor der Sonne 2004 und 2012 3. Das frühneuzeitliche Kulturzentrum Mitteldeutschland und seine Prioritäten - Eine Frühneuzeitkultur mit modernisierenden Innovationen 4. Frühneuzeitliche Kulturbewegungen aus Mitteldeutschland und ihre Wege in die Welt 5. Mitteldeutsches Weltkulturerbe - Denkmale aus Früher Neuzeit

Teil 1: Die Festveranstaltung in Magdeburg zur Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises am 28. Oktober 1999 Sinn u n d Z w e c k des E i k e - v o n - R e p g o w - P r e i s e s f ü r k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e Mitteldeutschland-Forschung

S. 48

S. 49 S. 54 S. 57

S. 58 S. 58 S. 60

S. 60 S. 61 S. 65 S. 69 S. 81 S. 87

Sachsenspiegel und Magdeburger Stadtrecht („Sachsenrecht")

3

Stadt und Universität Magdeburg stifteten den Eike-von-Repgow-Preis, den sie seit 1998 jährlich für Arbeiten zur Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands vergeben. Er soll der Förderung von Wissenschaft und Schrifttum über Deutschlands Mitte dienen.

Eike von R e p g o w Der Preis ist nach Eike von Repgow (um 1180 - nach 1232)1 benannt, dem aus Anhalt gebürtigen, möglicherweise an der Magdeburger Domschule ausgebildeten, jedenfalls mit Magdeburg verbundenen Verfasser des Sachsenspiegels. Seine Familie besaß zur Zeit von dessen Niederschrift ein Haus in Magdeburg. Eike von Repgow, ein Lehnsmann des Erzbischofs von Magdeburg, auch des Stiftsvogts von Quedlinburg, Graf Hoyer auf Falkenstein, schrieb sein berühmtes Rechtsbuch, eine Aufzeichnung altsächsischen Gewohnheitsrechts, nach dem Stand im Hochmittelalter, um 1225, zuerst in Latein und dann auf Niederdeutsch (Elbostfälisch). Eike war ein Anwalt der Freiheit. Er forderte gleiches Recht und Freiheit für jedermann. Dabei berief er sich auf die altgermanische Freiheit: Bei den Altvorderen seien ,alle Leute frei' gewesen („alle de lüde vri"). 2

Das sächsisch-magdeburgische R e c h t und seine V e r b r e i t u n g Auf den Sachsenspiegel als Landrecht wirkte und von ihm wurde wechselseitig beeinflußt das auch als „Sachsenrecht" bezeichnete Magdeburger Stadtrecht. Sachsenspiegel und Magdeburger Recht fanden weite Verbreitung in Staaten und Städten Mittel- und Osteuropas, bis Holland im Westen und Livland im Nordosten, bis nach Weißrußland und in die Ukraine (zudem ins Ukrainische übersetzt). Sie waren auch während der Frühen Neuzeit in Geltung, namentlich in Mittel-, Nord-, Ost-, Süd- und Westdeutschland sowie in Ostmittel- und Osteuropa (Polen, Böhmen, Mähren, Slowakei, Ungarn, Baltikum, Weißrußland, Westukraine).3 Gegen zentralistischen Absolutismus und wider adlige Magnaten wehrten sich Städte der Habsburgermonarchie, im polnisch-litauischen Staat und anderswo, indem sie auf die Freiheiten pochten, die ihnen ihr sächsisch-magdeburgisches Recht gewährte und vielfach tatsächlich verschaffte oder sicherte: Das „Sachsenrecht" verbriefte ihnen Selbstverwaltung und Eigenständigkeit. Darauf beriefen sich freiheitlich gesinnte Bürger in der Frühneuzeit wie im Spätmittelalter. Zur direkten Anwendung des Sachsenspiegels und Magdeburger Rechts kam die ihrer Ubersetzungen, Bearbeitungen (in Holland, Köln, Breslau, Augsburg und andernorts), Fortbildungen und Verwertungen. So ist der „Deutschenspiegel", ein süddeutsches Rechtsbuch um 1274, teils eine oberdeutsche Übertragung, teils freie Bearbeitung des Sachsenspiegels. Noch verbreiteter war der auf dem Sachsenspiegel und weiteren Rechtsquellen beruhende 1

2

J

Die ungefähre Angabe „nach 1232" erscheint gesicherter als die Datierungen „nach 1233" oder „um 1233". Da Eike von Repgow 1233 letztmalig bezeugt ist, kann er noch im selben Jahr verstorben sein, jedenfalls nicht vor 1233, was der Ausdruck „um 1233" als möglich unterstellt. Die Formulierungen „ca. 1 1 8 0 - " und „etwa 1 1 8 0 - " deuten zu sehr auf 1180 als eventuelles Geburtsjahr. (Jahre davor und danach kommen ebenfalls in Frage). Ähnlich lehrte im Halle der Aufklärung Christian Wolff: „Alle Menschen sind von Natur gleichberechtigt] und frei." Luthers Urteil über die fünf Mose zugeschriebenen biblischen Schriften, als „der Juden Sachsenspiegel", zeigt, in welchem Ansehen das Werk des .Spieglers' zu Beginn der Neuzeit stand: Eike gleichsam der Moses der Deutschen - sein Rechtsbuch eine Art deutsches Grundgesetz.

Willi Polte, Klaus E. Pollmann

4

„Schwabenspiegel" (aus Augsburg um 1275), nach dem man beispielsweise auch in der Schweiz Recht sprach und der ins Lateinische, Französische, Tschechische übersetzt wurde. Insgesamt ergab sich eine riesige wirkungsgeschichtliche Dimension des „Sachsenrechts". Sachsenspiegel und Magdeburger Recht blieben teilweise bis 1899 und länger in Gebrauch - im Deutschen Reich bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches ab 1900, so in Thüringen, Anhalt, Wolfenbüttel, Lüneburg und Holstein mit SachsenLauenburg. In einigen Gegenden und an manchen Orten Deutschlands und Polens behauptete sich sächsisch-magdeburgisches Recht sogar noch darüber hinaus. Auch im lettischen Gesetzbuch von 1937 lebte es fort. Kein anderes privates deutsches Rechtsbuch erreichte je eine so weite und lange Geltung. Darin sind die Rechtsbücher des sächsischmagdeburgischen Rechtskreises einzigartig. Damit bieten die Rechtsquellen Sachsenspiegel und Magdeburger Recht Musterbeispiele für die Deutschland- und Europawirkung mitteldeutschen Denkens.

Kriterien der Preisvergabe Bei der Vergabe des Eike-von-Repgow-Preises wird auch Wert darauf gelegt, daß der Preisträger „Untersuchungsergebnisse über die Wirkung der historischen Region Sachsen auf den west- und osteuropäischen Raum" vorgelegt hat. Das ist in vielen Arbeiten von Günter Mühlpfordt der Fall.4 Mühlpfordt bekam den Eike-von-Repgow-Preis „für herausragende Verdienste um die Erforschung der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands".5 Mit diesem Preis wollen die Stifter die Mitteldeutschland-Forschung fördern, vorrangig auf dem Gebiet der Kulturgeschichte. Der Preisträger soll sich in seinem „wissenschaftlichen oder literarischen Werk insbesondere mit der historischen Region Sachsen als Thema der Geschichte, der Rechtsgeschichte, der Germanistik oder der Sozialwissenschaften in herausragender Weise beschäftigt" haben „oder durch besondere wissenschaftsorientierte Leistungen zur Erforschung der historischen Region Sachsen ausgewiesen" sein.' Günter Mühlpfordt wurde mit dem Preis ausgezeichnet als „hervorragendster Kenner der mitteldeutschen Kulturgeschichte, insbesondere der Frühen Neuzeit". 7 So wird mit dem Eike-von-Repgow-Preis die Absicht verfolgt, die Mitteldeutschland-Forschung, vornehmlich im kulturgeschichtlichen Bereich, anzuregen, ihr zusätzliche Impulse zu geben.

E i k e - v o n - R e p g o w - P r e i s f ü r F o r s c h u n g e n z u r K u l t u r in u n d aus M i t t e l d e u t s c h l a n d an G ü n t e r M ü h l p f o r d t Das Kuratorium des Eike-von-Repgow-Preises beschloß am 29. April 1999, diesen begehrten Preis Günter Mühlpfordt für seine Arbeiten zur mitteldeutschen Kulturgeschichte zuzuerkennen. Damit würdigen Stadt und Universität Magdeburg vor allem die Forschungsergebnisse von Mühlpfordt über die mitteldeutsche Frühneuzeitkultur wie

4 5

' 7

Willi Polte und Klaus E. Pollmann an Günter Mühlpfordt, 18. Mai 1999. Wortlaut der Ehrenurkunde für Günter Mühlpfordt vom 28. O k t o b e r 1999. Willi Polte und Klaus E. Pollmann an Mühlpfordt, 18. Mai 1999. Klaus Erich Pollmann, Stadt und Universität Magdeburg ehrten Günter Mühlpfordt, in: Magdeburger Wissenschaftsjournal 4 (1999), H e f t 2, S. 35. Ebenso unten S. 60 f.

Eike-von-Repgow-Preis an Günter Mühlpfordt

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auch über deren Ausstrahlung auf Deutschland, Europa - besonders das östliche - , Amerika und teilweise auf weitere Erdteile. Am 18. Mai 1999 richteten die beiden Stifter des Eike-von-Repgow-Preises, der Oberbürgermeister von Magdeburg, Dr. Willi Polte* und der Rektor der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg, Prof. Dr. Klaus E. Pollmann,' ein gemeinsames Schreiben an Günter Mühlpfordt. Darin teilten sie ihm mit, daß er mit dem Preis ausgezeichnet wurde, und beglückwünschten ihn zu dieser Würdigung seines wissenschaftlichen Lebenswerkes. Oberbürgermeister und Universitätsrektor erläuterten dem Preisträger das Anliegen des Preises, der Forschern und Autoren auf dem Gebiet der mitteldeutschen Geschichte und Kultur zugedacht ist. Die Ehrung sei für außergewöhnliche Leistungen bei der Erkundung und Darstellung mitteldeutscher Vergangenheit bestimmt, auch für literarische Werke. Man wolle dadurch „die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands [...] fördern", die Forschung stimulieren. „Zugleich soll der Preis an die Verbindung dieses Raums mit anderen Teilen Europas erinnern." Daher das schon erwähnte Desiderat: „Untersuchungsergebnisse über die Wirkung der historischen Region Sachsen auf den west- und osteuropäischen Raum sind erwünscht." Weiter schrieben Polte und Pollmann an Mühlpfordt: „Das Kuratorium hat am 29. April 1999 die Entscheidung über die Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises 1999 gefällt. Es ist uns eine große Freude, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass das Kuratorium Sie, sehr geehrter Herr Professor Mühlpfordt, als Träger des Eike-von-Repgow-Preises 1999 nominiert hat. Mit diesem Preis möchten die Landeshauptstadt Magdeburg und die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Ihre zahlreichen Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte des mitteldeutschen Raums insbesondere in der Frühen Neuzeit würdigen, die Ihren Ruf als namhaftester Kenner dieses Gebietes begründet haben. Auch die politische Diskriminierung, der Sie seit den 50er Jahren ausgesetzt waren, hat Sie letztlich nicht an Ihren erfolgreichen Forschungen hindern können. [...] Wir dürfen Sie [...] herzlich zu dieser Wahl beglückwünschen [...] Wir beabsichtigen, die festliche Veranstaltung zur Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises am [...] 28. Oktober 1999 [...] durchzuführen. [...] Zugleich bitten wir Sie, innerhalb der Verleihungsveranstaltung einen Festvortrag zu halten."10 Maßgebend für die Zuerkennung des Preises waren die Ergebnisse und Erkenntnisse von Mühlpfordt auf dem Gebiet der Frühneuzeitforschung. Als interdisziplinär arbeitender Kulturhistoriker hat er nach Magdeburger Einschätzung die mitteldeutsche Frühneuzeitkultur umfassend erforscht. Das gelte vor allem für seine beiden großen Spezialgebiete: Mitteldeutsche Reformation (Reformationen aus Mitteldeutschland) und Mitteldeutsche Aufklärung. Die Verbindung von Reformation und Aufklärung, als zwei Aufgipfelungen einer zusammenhängenden geschichtlichen Entwicklung in Mitteldeutschland, ist ein Leitgedanke der Forschung von Mühlpfordt. Seinen Hauptarbeitsbereich stellt die Mitteldeutsche Aufklärung dar, mit ihren beiden Brennpunkten Leipzig und Halle - der Halle-Leipziger Aufklärung - als Kern und den Aufklärungsuniversitäten Leipzig, Halle und Jena als Grunddreieck. All dem maßen die Entscheidungsträger bei der Vergabe des Preises Bedeutung bei.

* Oberbürgermeister Willi Polte war fast 11 Jahre im Amt (1991-2001) und Präsident des Städte- und Gemeindebundes Sachsen-Anhalts. ' Der Historiker Klaus E. Pollmann wurde im Juli 2000 als Rektor der Otto-von-Guericke-Universität wiedergewählt und im gleichen Jahr Präsident der Landesrektorenkonferenz von Sachsen-Anhalt. 10 Willi Polte und Klaus E. Pollmann an Günter Mühlpfordt, 18. Mai 1999

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Willi Polte, Klaus E. Pollmann

Daß Mitteldeutschland über fünf lange Zeit hochstehende Universitäten auf engem Raum verfügte - in der Reihenfolge der Gründung: Erfurt, Leipzig, Wittenberg, Jena und Halle - , war einzigartig, hob Mühlpfordt hervor. Die mitteldeutschen lutherischen Großuniversitäten Leipzig, Wittenberg, Jena und Halle waren, das zeigte er auf, im Gesamtrahmen der Frühneuzeit die meistbesuchten des deutschen Kulturraumes und nächst der Pariser Sorbonne zeitweise die größten Kontinentaleuropas. Selbst Hohe Schulen wie die zu Salamanca, Leiden, Bologna, Padua, Montpellier wurden von ihnen in Lehrkörper und Studentenzahl übertroffen. Auch die Schulgeschichte, als Teil der Bildungsgeschichte, wurde von Mühlpfordt in seine Forschungen einbezogen. Mitteldeutsche Gymnasien vermittelten solide Wissensgrundlagen für das Universitätsstudium. Absolventen solcher Schulen brachten beachtliche Kenntnisse an die Universitäten mit. Eine der bedeutendsten dieser Gelehrtenschulen war die in Magdeburg-Kloster Berge, wo Gestalten der Geistesgeschichte wie der Schwabe Wieland ihre Ausbildung erhielten. In der Kombination von Schul- und Hochschulwesen besaß Mitteldeutschland das dichteste Bildungsnetz überhaupt. Einzig Holland und Teile Norditaliens kamen ihm darin nahe. Starkes Gewicht wurde bei der Auszeichnung von Mühlpfordt mit dem Eike-vonRepgow-Preis, wie bereits angedeutet, auch darauf gelegt, daß er die Rezeption mitteldeutscher Wissenschaft und Technik, Literatur und Kunst, namentlich der Frühneuzeit, in Deutschland, Europa und Amerika, zum Teil auch in anderen Kontinenten deutlich gemacht hat, am detailliertesten ihre Ausstrahlung auf das östliche Europa (Ostmittel-, Nordost-, Ost- und Südosteuropa). Auf Magdeburgs relevanten Platz im Rahmen der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur hat Mühlpfordt oft hingewiesen. Seine persönlichen Kontakte mit der Magdeburger Wissenschaft und dem Magdeburger Publikationswesen reichen in die Jahre 1967 und 1968 zurück. Die neuerliche Verbindung mit Magdeburg im Jahr 1999 kam für Mühlpfordt völlig überraschend. Er hat sich nicht um den Preis beworben und versichert, nicht das Geringste in dieser Richtung unternommen zu haben. Zudem machte keiner der Eingeweihten ihm zuvor auch nur die leiseste Andeutung. Das ,Geheimnis' wurde so streng gewahrt wie selten bei einer Auszeichnung. Daher war die Entscheidung des Kuratoriums, das den halleschen Kulturhistoriker aus einer Reihe von Anwärtern und Bewerbern auswählte, für ihn ganz unerwartet - eine .Prämierung' ohne jedes Zutun des Erkorenen. Am 23. Juni 1999 fragte Rektor Pollmann bei Mühlpfordt an, ob er den Preis annehme. Mühlpfordt bejahte ohne Zögern. Hallescher Groll gegen die politisch erfolgreichere Landeshauptstadt liegt ihm fern. Für ihn als Bürger der „Kulturhauptstadt Halle" - eine hohe Verpflichtung, die keine Anmaßung sein darf - haben die gemeinsamen Belange der Hallenser und Magdeburger eindeutig den Vorrang vor Rivalitätskomplexen. Der Oberbürgermeister von Magdeburg - einer jungen Landeshauptstadt, die vor mehr als tausend Jahren zur Reichshauptstadt ausersehen war - hat durch die Stiftung des Eike-von-Repgow-Preises einen Schritt zur Identitätsfindung und zur Belebung des Gemeinschaftsbewußtseins der Mitteldeutschen getan. Die aufstrebende GuerickeUniversität, mit ihren neun Fakultäten und bereits über 7000 Studenten, unter ihrem Rektor Pollmann, hat das Verdienst, die neue .Trophäe der Wissenschaft' mitgeschaffen zu haben. So gesehen erscheint die Vergabe des Magdeburger Preises an einen Hallenser zugleich als ein Händedruck zwischen Magdeburg und Halle. Wer als Bürger der Wissenschaftsmetropole Halle die Fortschritte des nördlichen Nachbarn mit Sympathie beobachtet, mag deshalb in der Auszeichnung von Mühlpfordt zugleich eine freundliche

Eike-von-Repgow-Preis an Günter Mühlpfordt

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Geste gegenüber der im Wettstreit um die Hauptstadtwürde unterlegenen Saalestadt erblicken. Bewohnern der Saalestadt ist zu raten, sich mit der Niederlage im Ringen und Rangeln um den Hauptstadtstatus neidlos abzufinden und sich, statt zu grollen oder zu schmollen, mit dem Rang und Ruf als Kulturhauptstadt zu bescheiden. Wenn die Hallenser weder zürnen noch scheel nach Magdeburg schauen, sondern sich desto mehr auf kulturelle Eigenleistungen konzentrieren, um dem verpflichtenden Namen und Anspruch als Kulturhauptstadt gerecht zu werden, erweisen sie sich selbst den besten Dienst." Die Rivalität zwischen Halle und Magdeburg ist ja kein Einzelfall. Ähnlich stehen sich in Sachsen Dresden und Leipzig als Nebenbuhler gegenüber, in Thüringen Erfurt und Weimar bzw. Jena, in Mecklenburg-Vorpommern Schwerin und Rostock, in Nordrhein-Westfalen Düsseldorf und Köln, in den Niederlanden Den Haag und Amsterdam, in Polen Warschau und Krakau, in Rußland Moskau und St. Petersburg, in Südafrika Pretoria und Kapstadt sowie Johannesburg, in Australien Canberra und Sydney sowie Melbourne, in Kanada Ottawa und Montreal, in den USA Washington und New York. Auch andere deutsche Kultur- und Wirtschaftszentren mußten ihren Hauptstadt-Ehrgeiz begraben, so Karlsruhe, Kassel, Darmstadt, Braunschweig, Oldenburg, Lübeck. Das möge betrübte Hallenser trösten.12 Lange nach der Entscheidung des Kuratoriums als Jury erfuhr der Preisträger, wer den ersten Anstoß gegeben hatte: Prof. Dr. Hermann-Josef Rupieper vom Institut für Geschichte an der Martin-Luther-Universität, zuvor Professor der Freien Universität Berlin und der Universität Marburg. 13 Herr Rupieper, der auch als Dekan des Fachbereichs Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Halle-Wittenberg amtierte, benannte Mühlpfordt für den Preis. Sein Antrag fand Anklang und die Zustimmung der Entscheidungsträger. Am 4. Oktober 1999 informierte Hermann-Josef Rupieper Mühlpfordt brieflich, daß er ihn „für diesen Preis vorgeschlagen habe und ich mir keinen würdigeren Repräsentanten Mitteldeutschlands vorstellen kann". Mühlpfordt schätzt Herrn Rupieper als außerordentlich tätigen, ja unermüdlichen, produktiven und scharfsinnigen Geschichtsforscher, ist mit ihm aber weder persönlich näher bekannt noch beruflich verbunden. Der Antragsteller hat ganz aus eigener Initiative gehandelt. Herr Rupieper war einer jener Fachhistoriker, die innerhalb oder außerhalb des Kuratoriums für Mühlpfordt votierten. Drei von ihnen - Professoren der Universitäten " Als historische Reminiszenz verbleibt den Hallensern, daß die Erzbischöfe und Administratoren von Magdeburg ihre Residenz in Halle aufschlugen, daß danach auch die Verwaltung des Herzogtums Magdeburg ihren Sitz in Halle hatte, bis sie 1714 aus militärischen Sicherheitsgründen nach Magdeburg verlegt wurde, und daß die Salz- und Saalestadt „Halle in Sachsen" hieß, ehe sie in „Halle im Magdeburgischen" umbenannt wurde. 12 Als Sinnbild des Näherrückens von Elbemetropole und Saalekapitale kann gelten, daß ein Jahr nach jenem Festakt, am 30. November 2000, die Autobahn Magdeburg - Halle vom Bundeskanzler und vom Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt (der Mühlpfordt zum Repgow-Preis gratulierte) dem Verkehr übergeben wurde. Durch sie sind die beiden wichtigsten Städte Sachsen-Anhalts - nun (wenn staufrei) nur noch eine knappe Autostunde voneinander entfernt - zu wirklichen Nachbarn geworden, wie Ministerpräsident Reinhard Höppner bei der Eröffnung betonte. Magdeburg und Halle müssen am gleichen Strang ziehen, um beide wieder aufzublühen und Mitteldeutschland voranbringen zu helfen. 13 Gratulant in Band 1, S. XVIII der Festschrift, Teilnehmer des ersten Ehrenkolloquiums im Dezember 1997 und am Empfang danach, Gastprofessor in den Vereinigten Staaten. Hermann-Josef Rupieper gratulierte auch zum zweiten Ehrenkolloquium - der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg - für Mühlpfordt, über „Universitäten und Wissenschaft in Deutschlands Mitte", im Oktober 2001, und zur Überreichung des diamantenen Doktordiploms an ihn bei diesem Anlaß. (Tagungsband in den „Abhandlungen der Philologisch-historischen Klasse" dieser Akademie, Leipzig/Stuttgart).

Willi Polte

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Halle, Magdeburg und Dresden - hatten ein Jahr zuvor, am 24. April 1998, in Halle den Vortrag von Mühlpfordt über Mitteldeutschland als Kulturherd der Frühneuzeit14 gehört (beim Kolloquium zum 65. Geburtstag seines ehemaligen Schülers Walter Zöllner15). Diese drei waren Hermann-Josef Rupieper (Halle) als Antragsteller, Klaus Erich Pollmann (Magdeburg) als Mitstifter des Preises und Mitentscheider seiner Vergabe sowie Karlheinz Blaschke (Dresden) als fachlich zuständiger Laudator und kompetenter Kenner der sächsisch-mitteldeutschen Geschichte. In jenem Vortrag von 1998 legte Mühlpfordt seine Sicht von Wurzeln und Grundlagen, Werden und Entfaltung der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur dar, von den Ursachen ihres Aufschwungs, ihren Erscheinungsformen wie auch von der Verbreitung mancher ihrer Werke und Werte, Entwicklungen und Entdeckungen, Errungenschaften und Erkenntnisfortschritte über Deutschland, Europa, Amerika und die Welt: Mitteldeutschland als Wiege von Kulturbewegungen der Frühneuzeit. In der anschließenden Aussprache fragte Hermann-Josef Rupieper nach Demokratisierungsbestrebungen im frühneuzeitlichen Mitteldeutschland. Hierzu führte Mühlpfordt Näheres aus: über Mitteldeutschland als Entstehungs- und Ausgangsgebiet frühneuzeitlicher Demokratiebewegungen und demokratischer bzw. gezielt demokratisierender Bemühungen und Tendenzen, von der Frühreformation bis zur Spätaufklärung - als Heimat von Reformbewegungen und der gesamtdeutschen freiheitlichen Einigungsbewegung, von den Universitäten Halle, Leipzig und Jena aus, ab 1786 bis zur Wartburgbewegung von 1817, mit Fort- und Nachwirken im Vormärz, in der Revolution von 1848-1850 und später.

Pressekonferenz mit Oberbürgermeister Dr. Polte zum Eike-von-Repgow-Preis Am 27. Oktober 1999, dem Vortag der Überreichung des Preises, gab Oberbürgermeister Dr. Polte eine Pressekonferenz. Er erläuterte den Journalisten Sinn und Anliegen des Eike-von-Repgow-Preises und begründete die Entscheidung des Preiskuratoriums für Mühlpfordt. Der Preis diene zur Förderung der „Erforschung der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands", legte der Oberbürgermeister in Übereinstimmung mit Universitätsrektor Prof. Pollmann und zugleich in dessen Namen dar. Neben den wissenschaftlichen Leistungen des Preisträgers betonte er „die Einheit von Lehre und Leben" bei Mühlpfordt - ein Sachverhalt, den während der Veranstaltung am nächsten Tag auch Laudator Karlheinz Blaschke, Rektor Klaus E. Pollmann und Ministerin Karin Schubert unterstrichen. Mühlpfordt habe, was er lehrte, selbst vorgelebt. Er habe durch seine Haltung beherzigt und bekräftigt, was er als Hochschullehrer und Autor vertrat. Indem Mühlpfordt sich nicht den Direktiven der SED-Oberen beugte, die auf Verzerrung der historischen Wahrheit hinausliefen, sondern auf sachlicher Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit beharrte, bewies er nach einhelliger Auffassung dieser vier Redner der Festveranstaltung Charakterstärke und „Standhaftigkeit". So schilderten Oberbürgermeister, Ministerin, Rektor und bis ins Einzelne der Laudator den Preisträger als Ver-

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Günter Mühlpfordt, Mitteldeutschland als Kulturherd der Frühneuzeit. Von der Wittenberger Reformation bis zur Weimarer Klassik, in: Historische Forschung in Sachsen-Anhalt. Ein Kolloquium anläßlich des 65. Geburtstages von Walter Zöllner, Hg. Heiner Lück/Werner Freitag, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 5 3 - 8 8 ( = Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologischhistorische Klasse, Band 76, Heft 3); vgl. Text zu Anm. 37, S. 37. Beiträger in Band 4 der Festschrift (S. 7 2 3 - 7 3 2 ) und Gratulant in Band 1 (S. X X ) .

Programm, Redner, Umrahmung

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körperung der „Einheit von Lehre und Leben". Diese Einschätzung fand auch Widerhall in der Presse. Der Magdeburger „Generalanzeiger" etwa zitierte den Oberbürgermeister: „,Zu seiner wissenschaftlichen Arbeit muß man auch seinen Charakter beachten. Die Einheit von Lehre und Leben hat sich bei Professor Mühlpfordt vollzogen.'"16 Redner und Medien stimmten darin überein, daß Mühlpfordt vor allem für die junge Generation ein Vorbild sei.

Die J o h a n n i s k i r c h e , ein historisches W a h r z e i c h e n Magdeburgs - sein neues K u l t u r z e n t r u m , die Stätte der Preisübergabe Bei der Wahl der Örtlichkeit für die Überreichung des Preises hatten die Veranstalter, voran Oberbürgermeister Polte, eine glückliche Hand. Als Stätte der Preisübergabe wurde die wiedererstandene Johanniskirche ausgewählt. Diese älteste Pfarrkirche Magdeburgs ist bereits vor mehr als tausend Jahren bezeugt (941). Im Aufbruch der Frühreformation predigte der Magdeburger Domschüler Martin Luther in ihr (1524). Zweimal wurde die Johanniskirche in Kriegen zerstört - im Dreißigjährigen Krieg durch Tillys Heer (1631) und im Zweiten Weltkrieg durch Bomben (Januar 1945). Beidemal ist sie wiederaufgebaut worden. So versinnbildlicht die Johanniskirche wie ein Phönix Magdeburgs Zählebigkeit. Dies traditionsreiche Wahrzeichen der Stadt erinnert sowohl an die Blüte im Hochmittelalter, an das Magdeburg der Ottonen, der Sachsenkaiserzeit, als es faktisch Reichsmetropole war - zur „Theutonum nova metropolis" ausersehen17 - , wie an die Reformation und damit an den Auftakt der Neuzeit, aber auch an die Schrecken zweier furchtbarer Kriege, als Mahnung und Warnung. Es entspricht der nunmehrigen Bestimmung des stattlichen Gebäudes zum Kulturzentrum, daß die Preisverleihung an dieser Stelle erfolgte. Der weiträumige Saal bot einen würdigen Rahmen. Die Verlegung des Festakts in diese Baulichkeit trug Symbolcharakter. Uber 1000 Jahre nach dem Bau der Kirche, fast 500 Jahre nach Luthers Predigt, vollzog sich die Veranstaltung an der Schwelle eines neuen Jahrtausends und an historischer Stätte.18 Kurz vor der Preisübergabe war der Wiederaufbau vollendet. Am 2. Oktober 1999 wurde die Johanniskirche als neues Kulturzentrum Magdeburgs eingeweiht. 1058 Jahre nach ihrer ersten Nennung, 475 Jahre nach Luthers Auftreten in ihr, 26 Tage nach ihrer Wiedereröffnung und drei Tage vor dem alljährlichen Reformationsgedenken fand im gleichen Monat in dieser Ecclesia rediviva die feierliche Überreichung des Preises statt. Noch ein weiteres zeitliches Zusammentreffen trug zur Festlegung der Preisübergabe auf die zweite Oktoberhälfte bei: Am 17. Oktober schloß die Bundesgartenschau 1999 ihre Pforten, die 25. ihrer Art. Zu ihrem Standort war Magdeburg als Mittelpunkt der fruchtbaren Börde und des Gartenbaus erkoren worden. Über 2.300.000 Besucher stan-

" A. Kraaz, Politisch verfolgter Historiker erhält „Repgow-Preis". Hallenser Wissenschaftler für Forschungsarbeit ausgezeichnet, in: Generalanzeiger am Sonntag (Magdeburg), 31. Oktober 1999, Seite „Magdeburg". " Helmut Beumann, Theutonum Nova Metropolis. Studien zur Geschichte des Erzbistums Magdeburg in ottonischer Zeit, Hg. Jutta Krimm-Beumann. Geleitwort Ernst Schubert, Köln/Weimar/Wien 2000, 259 S. (= Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 1). " Im gleichen Monat erschien das Bändchen „Der Teufelspakt. Sagen um die Johanniskirche in Magdeburg", neu erzählt von Ludwig Schumann.

Willi Polte

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den zu Buche, eine Rekordzahl, die sich auch die Magdeburger Organisatoren der Schau zugute halten konnten. Neue Brücken und Straßen wurden aus diesem Anlaß gebaut. Magdeburg gewann auch dadurch an Profil. Die Stadt prangte noch im Schmuck der gerade zu Ende gegangenen Gartenschau, als am 28. Oktober die Teilnehmer der Festveranstaltung zur Johanniskirche strömten. Programm, Redner und Umrahmung der Veranstaltung Im vollbesetzten Festsaal des neuen Kulturzentrums folgten annähernd 500 Zuhörer den Ausführungen der Redner und den musikalischen Darbietungen. Die musikalische Umrahmung entsprach dem geschichtlichen Hintergrund: Musik der Frühen Neuzeit erklang - Choräle vom Beginn dieser Großepoche, aus der Reformationszeit, und eine Vertonung von Georg Philipp Telemann aus ihrer zweiten Hälfte, der Aufklärungsära . Damit wurde auch eine künstlerische Einstimmung gegeben. Die vier Redner vor der Überreichung des Preises akzentuierten vier verschiedene Seiten des Preisträgers: Der Oberbürgermeister würdigte den unbeugsamen Gelehrten; die Ministerin stellte den Reformationsforscher in den Mittelpunkt; der Rektor hob den Kulturhistoriker der Frühen Neuzeit hervor; der Laudator rückte den Aufklärungsforscher in den Vordergrund.

Einladung festlichen Verleihung des

Eike-von-Repgow-Preises

Programm

ChorHi der Reforj»ation;>2eit Vocalc (insort „labia vocal i»" Begrüßung lir. Willi Polte Öheibiirgcmicistcr der Landeshauptstadt Magdeburg Graßwnrt Karin Sehvfetrt Ministenn der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt

Der Obcriwigenneistcr der Landeshauptstadt Magdcbuig und der Rektor der Gtto-von-Giiericke-Univcrsiiai M&gdeburg geben sicii die Ehre, Sie zur Verleihung des

FJke-von-Repgöw-Preises 1999 • ^ Herrn Prof. Ör. Günter Mühlpfordt einzuladen.

Cra&wort Prof. ör. Klaus E. follmaon Rektor dei Otto-vpR-Guericko-ünivcijufit !i»ii?nhche Madrigale Voculcotmrt „tabia voratia*"

Der akademische Festakt findet am Donnerstag, (km 28. Oktober 199?, um 17.C0 Uhr in der Jobanniskirrhe,

Laudatio Prof. Dr. Karlheinz H'aschk? "Prof. i.R. fiir Landcsgcschichte an der Twhnischen Universität Dresden

jskobstrsße, Magdcbutg, stall

Pw-isübergafe« Dr. Willi Polie Prof. Dr. Klaus E. Pollmann Festvortrag des PreistrSgers Prof. Br. Günter Mühfpierdt

Landeshauptstadt Magdeburg Otto-von-Gucricke-UnivcrsitSt Magdeburg

¿Ach Herr, straf mich nicht ir. deinem Zorn" Voiionupg des 6. Psalms von Georg Philipp Telsm'ann Vocakonsort,.labia vocaiia*' Magdeburger ÖarockoVchester

f/ Prof Of tCUüE PuMmiftf

Als erster ergriff Oberbürgermeister Dr. Willi Polte das Wort. Er begrüßte die so zahlreich erschienenen Gäste und zeichnete den Weg vom Verfasser des Sachsenspiegels zur Mitteldeutschland-Forschung der Gegenwart und zum Preisträger nach. Dr. Polte ging sowohl auf den Zusammenhang von Magdeburg und seiner Johanniskirche ein als auch auf den zwischen Reformation, Reformationsforschung und Preisträger.

Begrüßung

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WILLI P O L T E , O B E R B Ü R G E R M E I S T E R D E R S T A D T M A G D E B U R G Begrüßung der Gäste anlässlich der gemeinsamen Verleihung des Eike-vonRepgow-Preises durch die Landeshauptstadt Magdeburg und die Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg, in der Johanniskirche zu Magdeburg, am 28.10.1999 Die soeben verklungenen Choräle der Reformationszeit haben uns für einen Augenblick in einen Gemütszustand versetzt, wie er vielleicht die Menschen bewegte, als am 26. Juni 1524 Dr. Martin Luther in dieser Kirche zu den Magdeburgern sprach. Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren, willkommen in der wieder aufgebauten ältesten Stadtkirche Magdeburgs. Ich begrüße zur zweiten Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises die Ministerin der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt, Frau Karin Schubert. Ich begrüße den Rektor der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, seine Magnifizenz Herrn Prof. Erich Pollmann sehr herzlich. So wie es der Gründungsgedanke vorsieht, werden wir auch heute gemeinsam diesen Preis verleihen. Mein ganz besonderer Gruß gilt heute dem diesjährigen Preisträger, Herrn Prof. Dr. Günter Mühlpfordt, emeritierter Professor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ich begrüße aus Dresden ganz herzlich den Laudator, Herrn Prof. Dr. Karlheinz Blaschke, Professor i. R. für Landesgeschichte an der Technischen Universität Dresden. Willkommen in Magdeburg. Ich begrüße die Damen und Herren Stadträte und alle Ehrengäste des heutigen Abends hier in der Johanniskirche. Seit dem 2. Oktober dieses Jahres gehört dieses Gebäude wieder in das „steinerne Archiv" der Landeshauptstadt Magdeburg. Diese Kirche steht als Symbol und Sachzeugin inhaltsreicher Epochen deutscher und magdeburgischer Geschichte. In Deutschlands Mitte stand nicht nur die Wiege der deutschen Kultur. Zur Zeit führt eine mehrteilige Serie im M D R eindrucksvoll durch die Historie dieses Landstriches. Die populäre Aufarbeitung unserer Geschichte ist eine wichtige Seite des Umgangs mit Forschungsergebnissen. Denn: für die Identität mit der Region werden vor allem diese spannenden Ereignisse prägend sein. Der Würdigung von Forschungsarbeit zur mitteldeutschen Geschichte gilt der heute zu verleihende Eike-von-Repgow-Preis. In diesem Jahr stand der Name des großen Rechtsgelehrten mehrmals im öffentlichen Interesse. Seinem Denkmal, 1937 vom Bildhauer Heinrich Grimm auf Wunsch der Stadtväter geschaffen und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Justizpalast aufgestellt, drohte der Verfall. Zu Repgows Zeiten musste ein Mann noch in der Bürgerrolle verzeichnet sein, um Bürgerrechte wahrnehmen zu können. Heute ist das etwas einfacher. Jede Bürgerin und jeder Bürger der Stadt Magdeburg ist eingeladen, sich am demokratischen Prozess der kommunalen Selbstverwaltung zu beteiligen. Und so hat Prof. Krause vom Rechtsmedizinischen Institut unserer Universität die Rettung des Repgowschen Denkmals initiiert. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass zur heutigen Preisverleihung der Namengeber des Preises am alten Standort seinen Platz wieder einnehmen konnte. Idee war und ist es, mit diesem Preis die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands und des Gebietes der mittleren Elbe zu fördern. Wir haben auch 1999 einen würdigen Preisträger gefunden.

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Willi Polte; Karin Schubert

Es ist ein schönes Zusammenspiel der Geschichte, dass wir an diesem bedeutenden Ort der Reformation, den die Johanniskirche für Magdeburg darstellt, einen Wissenschaftler ehren, der sich um die Reformationsforschung verdient gemacht hat. Der Historiker Prof. Mühlpfordt fühlt sich der Wahrheitssuche verpflichtet. Über drei Jahrzehnte waren Sie, sehr geehrter Herr Professor, einem Berufsverbot und persönlichen Repressalien ausgesetzt. Ihr objektives Suchen nach der Wahrheit in der Geschichte ist wohl eine „lutherische Eigenschaft". Ihre Rehabilitierung 1990 kann nur ein Teil der Aufarbeitung des Umganges mit Wissenschaftlern in der DDR sein. Eine weitere Tatsache scheint kein Zufall bei der Entscheidung für den diesjährigen Repgow-Preisträger zu sein. Sie, Herr Professor Mühlpfordt, charakterisierten Ihre wissenschaftlichen Forschungen bereits 1956 als „Brückenschlag" im Sinne der „natürlichen Mittlerfunktion des deutschen Volkes zwischen östlichen und westlichen Ländern". Auf dieser „Brücke" wächst dem deutschen Volk und besonders den Deutschen in den neuen Bundesländern heute eine wichtige politische Aufgabe zu. Das Gelingen der deutschen Einheit und des globalen Friedens wird in hohem Maße davon abhängen, wie es dem Westen gelingt, die Länder des östlichen Europa in den gesamteuropäischen Integrationsprozess einzubeziehen. Ich darf Sie, Herr Prof. Mühlpfordt, nochmals in Magdeburg willkommen heißen, an dieser Stätte der Reformation, und hoffe, der Wiederaufbau der Johanniskirche findet auch bei Ihnen ein Wohlgefallen. Ich möchte noch einmal auf den Gründungsgedanken dieses Preises hinweisen. 1999 haben die beiden Magdeburger Hochschulen so viele neue Studienanfänger wie nie zuvor immatrikuliert. 10 600 Studenten sind in unsere Stadt „unterwegs". Magdeburg wird auch als Studienstandort immer attraktiver. Ein Grund hierfür ist sicher der Ruf unserer Otto-von-Guericke-Universität. Studentenfreundlich mit einem funktionierenden Campus ausgestattet, bietet sie beste Möglichkeiten für Wissenschaft und Lehre. Beide, Stadt und Universität, suchen Wege zueinander, in beiderseitigem Interesse. Der Eike-von-Repgow-Preis ist Teil einer gegenseitigen Wahrnehmung, die künftig noch viele Aktionsfelder bietet. Auch die Johanniskirche sollte immer wieder ein Ort sein, wo Stadt und Universität sich begegnen. Heute sehen die ehrwürdigen Mauern der Pfarrkirche St. Johannis eine würdevolle Preisverleihung, die erstmalige Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises in diesem Gotteshaus. Ich darf mich für Ihre Anwesenheit bedanken und wünsche uns eine gute, eindrückliche Veranstaltung.

Nachdem der Beifall für den Oberbürgermeister verklungen war, sprach die Vertreterin der Landesregierung Sachsen-Anhalt, Justizministerin Karin Schubert." Die Ministerin richtete Grußworte an den Preisträger und die Anwesenden. Sie machte das Auditorium auf den Zusammenhang zwischen dem Lebenswerk von Günter Mühlpfordt und der Rechtsanschauung Eikes von Repgow aufmerksam. Außerdem zog sie, wie der Oberbürgermeister,

" Die seit 1994 amtierende Ministerin Karin Schubert war im Jahr 2000 zur Direktorin des deutschen Bundesrates ausersehen. Im gleichen Jahr erhielt sie eine Auszeichnung für ihren Einsatz zugunsten des Rechtsschutzes der Kinder („Anwalt des Kindes"). Bei Umfragen stand Frau Schubert unter den Landesministern in der Wählergunst kontinuierlich an zweiter Stelle der Beliebtheitsskala. Im Januar 2002 folgte Karin Schubert der Berufung zur Senatorin für Justiz nach Berlin.

Grußwort

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die Verbindungslinie vom lutherischen Erbe und Ethos der Stätte des Festakts zur Reformationsforschung von Mühlpfordt, einem Hauptbereich seiner wissenschaftlichen Tätigkeit:

K A R I N SCHUBERT, MINISTERIN DES LANDES S A C H S E N - A N H A L T G r u ß w o r t anlässlich der V e r l e i h u n g des E i k e - v o n - R e p g o w - P r e i s e s an H e r r n Prof. Dr. G ü n t e r M ü h l p f o r d t , am 2 8 . 1 0 . 1 9 9 9 Sehr geehrter Herr Professor Mühlpfordt, hochansehnliche Festversammlung, wir haben uns heute zusammengefunden, um einen bedeutenden Historiker unseres Landes für seine Verdienste um die Erforschung von Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands mit dem Eike-von-Repgow-Preis der Stadt Magdeburg und der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg auszuzeichnen. Mit dieser Ehrung wollen Stadt und Universität Magdeburg zugleich an Eike von Repgow erinnern, den Verfasser des Sachsenspiegels, des wohl bedeutendsten und einflussreichsten Rechtsbuchs im deutschen Mittelalter. Herr Professor Mühlpfordt, als international anerkannter Historiker sind Sie im Verlauf von nunmehr sechs Jahrzehnten mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten insbesondere zur Geschichte der Reformation und der Mitteldeutschen Aufklärung hervorgetreten. Sie haben dabei die Universitäten Wittenberg und Halle sowie den sächsisch-anhaltischen Raum in das Blickfeld der geschichtswissenschaftlichen und kulturhistorischen Forschung gerückt. Mit Professor Mühlpfordt wird heute eine Persönlichkeit geehrt, die sich in ihrem Bestreben mit dem Anliegen Eikes von Repgow, des Schöffen, Richters und Geschichtsschreibers aus dem anhaltischen Reppichau, verbunden weiß. Zwar ging es Eike von Repgow, als er um 1220 den Sachsenspiegel verfasste, in erster Linie darum, dem Bedürfnis der Menschen nach geschriebenem Recht Rechnung zu tragen. Er hat mit der Niederschrift des Sachsenspiegels aber zugleich ein Stück Zeitgeschichte überliefert. Es wäre sicherlich nicht richtig, ihn deshalb als einen der ersten Historiker des mitteldeutschen Raumes zu bezeichnen, was er tatsächlich war, falls er auch die „Sächsische Weltchronik", die erste Prosachronik in deutscher Sprache (in Niederdeutsch), verfasst hat. Sicher ist jedoch, dass uns mit seinem Werk eine wichtige historische Periode unserer Region nahe gebracht wurde. So gesehen ist unser heutiger Preisträger, Herr Professor Mühlpfordt, in die Fußstapfen Eikes getreten, indem auch er die Kulturgeschichte des mitteldeutschen Raumes wissenschaftlich aufbereitet hat, und dies in einer Weise, die ihm den Ruf als namhaftester Kenner dieses Gebiets eingebracht hat. Herr Professor Mühlpfordt, wie bemerkt, sehe ich Gemeinsamkeiten Ihrer Persönlichkeit mit der Eikes von Repgow. Eike von Repgow tritt uns in der Vorrede seines Sachsenspiegels als rechtschaffener und standhafter Zeitgenosse entgegen, der sich wegen seines Bemühens um eine für alle geltende Rechtsordnung vielerlei Anfeindungen ausgesetzt sah. Und dennoch hat er sein Ziel unbeirrt, und wie wir wissen, erfolgreich weiterverfolgt. Standhaftigkeit und Beharrlichkeit waren es auch bei Professor Mühlpfordt, die ihn sehr schwierige Zeiten überstehen ließen, in einem Deutschland, in dem es an der Tagesordnung war, politisch Andersdenkende mundtot zu machen. Seit den 50er Jahren war er politischer Diskriminierung ausgesetzt, die in einem 1962 ausgesprochenen Berufsverbot als Hochschullehrer gipfelte, das bis 1989 in Kraft blieb. Dennoch hinderte ihn das nicht, seine Forschungen mit Erfolg fortzusetzen.

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Karin Schubert; Klaus E. Pollmann

Ihr persönliches Schicksal, H e r r Professor Mühlpfordt, ist eine beeindruckende Demonstration des stillen Widerstands, der in seiner Beharrlichkeit das SED-Regime überdauert hat. Dieser Beharrlichkeit und Standhaftigkeit bei der Verfolgung eigener Ideale gelten mein ganz besonderer Respekt und meine Anerkennung. Sie haben damit nicht nur einen hervorragenden Ruf als Historiker erworben. Sie haben damit auch eine Vorbildfunktion eingenommen, die gerade für die jungen Menschen an unseren Universitäten und Schulen ganz besonders wichtig ist. D a f ü r danke ich Ihnen. H e r r Professor Mühlpfordt, ich bin mir sicher, Eike von Repgow, könnte er in der heutigen Feierstunde unter uns sein, würde in Ihnen einen würdigen Laureaten des nach ihm benannten Preises und einen Bewahrer seines Andenkens sehen. Sehr geehrter H e r r Professor Mühlpfordt, ich wünsche Ihnen und uns, dass Ihr unermüdlicher Eifer bei der Erforschung der Kulturgeschichte Mitteldeutschlands auch in Zukunft nicht versiegen wird und Sie uns noch vieles aus jener Zeit berichten können.

N a c h d e m die beiden ersten Redner - Oberbürgermeister Dr. Polte und Ministerin Schubert - die Reformationsforschung von Mühlpfordt hervorgehoben hatten, legten die beiden nächsten - Rektor Prof. Pollmann und Laudator Prof. Blaschke - den Akzent auf sein anderes Hauptgebiet, die Aufklärungsforschung. Klaus E. Pollmann lenkte die Aufmerksamkeit des Auditoriums auf eine frühe direkte Beziehung des Preisträgers zu Magdeburg. Sehr sinnvoll begann er seine Ausführungen mit einem Auszug aus Veröffentlichungen von Mühlpfordt in den Jahrgängen 1967 und 1968 der Zeitschrift der „Technischen Hochschule O t t o von Guericke Magdeburg". 20 Diese astronomiegeschichtlichen Aufsätze handeln von der Entdeckung der Atmosphäre des Planeten Venus im Juni 1761:

KLAUS E R I C H P O L L M A N N , REKTOR DER O T T O - V O N - G U E R I C K E UNIVERSITÄT MAGDEBURG Einführende Worte „Im Morgengrauen des 6. Juni 1761 blickten ungezählte Augenpaare gespannt zum Himmel, u m Zeugen eines außergewöhnlichen Vorgangs zu werden. Alle Fernrohre waren auf die aufgehende Sonne gerichtet. Außer den Fachastronomen saßen auch H u n d e r te von .Liebhabern der Sternkunde' und .andre Freunde der Wissenschaften' hinter den .Sehrohren', wie man damals sagte, oder schauten durch gefärbte bzw. angerußte Gläser zur Sonne. Wer sich im Besitz eines Beobachtungsinstruments und einer Projektionsvorrichtung befand, sah sich .von vielen Umstehenden' umringt, die ein seltenes Himmelsschauspiel miterleben wollten. So war es in Magdeburg, Leipzig, in Petersburg und an vielen anderen Orten.

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Vgl. unten in Teil 4, S. 65-68, den Beitrag „Venus versus Mars - Eine friedliche Entdeckung im Siebenjährigen Krieg (1761). Mit Vorschau: Venus vor der Sonne 2004 und 2012".

Einführende Worte

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Was die allgemeine Aufmerksamkeit so stark auf sich zog, war ein astronomisches Ereignis, das sich nach 122 Jahren zum ersten Mal wiederholte: Die Venus bewegte sich vor der Sonne vorbei." 2 ' Warum zitiere ich das? weniger, um an den Augusttag 1999 zu erinnern, an dem ebenfalls alle Augen wie gebannt gen Himmel blickten, um eine Sonnenfinsternis zu beobachten; auch nicht nur, weil der 6. Juni 1761 ein markantes Datum der Wissenschaftsgeschichte ist, vor allem im Hinblick auf den sich anbahnenden Diskurs von europäischen Dimensionen; vielmehr deshalb, weil sich 1761 daran ein intensiver Austausch von Erkenntnissen und Theorien einer Reihe von Laienastronomen anschloß, die der Mitteldeutschen Aufklärung zugerechnet werden können, 3 davon im preußischen Mitteldeutschland, 2 im sächsischen. Den Anstoß hatte der Magdeburger Konventuale Georg Christoph Silberschlag, Lehrer am Gymnasium Kloster Berge, mit seiner Entdeckung der Venusatmosphäre gegeben. Im 6. Jahr des Siebenjährigen Krieges, in dem sich Preußen und Sachsen feindlich gegenüberstanden, sollte Venus statt Mars die Stunde regieren. Die große astronomische Begebenheit und der Erkenntnisfortschritt waren für den Chronisten wie eine Antizipation des europäischen Friedens. Es gibt einen weiteren Grund dafür, warum ich Sie in die Zeit der Aufklärung zurückversetze. Wer hier mit einer gesamteuropäischen Perspektive den Blick auf die Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte des mitteldeutschen Raumes richtet, ist unser heutiger Preisträger. Günter Mühlpfordt hat die zitierten Aufsätze an der damaligen Technischen Hochschule Otto von Guericke veröffentlicht, in ihrer Wissenschaftlichen Zeitschrift, in den Jahren 1967/68. Das verdient hervorgehoben zu werden, auch deshalb, weil Günter Mühlpfordt damals schon seit fünf Jahren von seiner Professur an der Alma mater halensis entfernt worden, mit Berufsverbot belegt worden war. Ihn hat die bereits in den frühen 50er Jahren einsetzende politische Verfolgung nicht in die Resignation getrieben. Was ihn davor bewahrt hat, war die Hingabe an die Wissenschaft. Sein ohne Professorengehalt, ohne Hilfsmittel, ohne den befruchtenden Kontakt mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs und den internationalen Fachkollegen entstandenes Œuvre ist bewundernswert. Günter Mühlpfordt verdient den Eike-von-Repgow-Preis, weil er Herausragendes zur Erforschung der historischen Region Sachsen geleistet, weil er immer ein besonderes Augenmerk auf die wechselseitigen Beziehungen zu den osteuropäischen Kulturräumen gerichtet hat, weil er zeitlebens ein unbeugsamer, aufrechter Gelehrter gewesen ist. Der wohl intimste Kenner des mitteldeutschen Kulturraums zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert verlangt als Laudator den besten Kenner der sächsischen Landesgeschichte, Karlheinz Blaschke, der wie der Preisträger erst nach der friedlichen Revolution die akademische Anerkennung gefunden hat, die ihm bis 1989 aus politischen Gründen versagt worden war.

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Aus: G. Mühlpfordt, Die Entdeckung der Venusatmosphäre durch Magdeburger Astronomen. Unbekannte Veröffentlichungen mitteldeutscher Aufklärer - die frühesten gedruckten Nachweise der Venusatmosphäre („Magdeburgische Zeitung" und Leipziger „Neuestes aus der Gelehrsamkeit", Juni 1761), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Otto von Guericke Magdeburg 11 (1967) Heft 5/6, S. 737-753. Zitat S. 737.

Klaus E . Pollmann; Karlheinz Blaschke

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Sächsisch und mitteldeutsch, das sind keine Synonyme, aber sie gehören eng zusammen. Karlheinz Blaschke hat gesagt: „Alle Wasser Mitteldeutschlands fließen nach Magdeburg." Das ist ein Symbol für Magdeburgs Bedeutung in der mitteldeutschen Geschichte. Die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg hat sich Anerkennung und Reputation erworben, aber sie ist ein Kind der Moderne. Als Institution fehlt ihr die Tradition der mitteldeutschen Universitäten, die Günter Mühlpfordt so gründlich erforscht hat. Was ihr als Institution fehlt, kann und muß sie sich erwerben. Dies ist in der Stadt Magdeburg verpflichtend und sinnfällig zugleich. Und so dringen wir in der Geschichte rückwärts über die Lichtfreunde, Georg Christoph Silberschlag, Otto von Guericke, die Reformatoren, die Klosterschulen bis zu den Ursprüngen des Kultur- und Geisteslebens vor. Und natürlich bis zu dem Verfasser des Sachsenspiegels, desjenigen Rechtssystems, das von Magdeburg aus seinen Erfolgsweg in alle Richtungen genommen hat, zu Eike von Repgow, der sich an der Otto-von-Guericke-Universität mehr und mehr angenommen fühlen darf.

Einen weitgespannten Überblick über die mitteldeutsche Geschichte, von den Sachsenkaisern und von Eike bis zur Gegenwart, mit Einblicken in das Lebenswerk von Mühlpfordt, bot anschließend Prof. Karlheinz Blaschke (Dresden) in seiner Laudatio.22 Er zeichnete den historischen Hintergrund des Festakts. Karlheinz Blaschke verband dies mit einer Würdigung der Leistungen von Mühlpfordt als Aufklärungsforscher. Er zeigte die Mitteldeutsche Aufklärung als Forschungsschwerpunkt des Preisträgers auf. Zugleich prangerte er dessen politische Verfolgung an. Als enger Fachkollege von Mühlpfordt in der mitteldeutschen Geschichte mit dessen Schaffen vertraut und als ebenfalls politisch Verfolgter ein Schicksalsgefährte, „Leidensgenosse" von ihm, war Karlheinz Blaschke der zweifach berufenste, denkbar kompetenteste Laudator. Das folgende Zeugnis dieses anerkannt besten lebenden Kenners der Geschichte Sachsens verdient festgehalten zu werden: „Gerade in der Beschäftigung mit dem Lebenswerk von Günter Mühlpfordt ist mir die herausragende Bedeutung Mitteldeutschlands für die deutsche Geschichte wieder deutlich geworden." Hier Blaschkes Darlegungen:

KARLHEINZ BLASCHKE, DRESDEN Laudatio auf Günter Mühlpfordt zur Verleihung des Eicke von RepgowPreises in der Johanniskirche zu Magdeburg, am 28. Oktober 1999 Neben einigen deutschen Königen und Kaisern des Mittelalters dürften nur wenige Gestalten aus dieser Zeit einen im volkstümlichen Geschichtsbewußtsein so bekannten Namen tragen wie Eicke von Repgow. Als Mensch steht er nur undeutlich vor unseren Augen, nur sechs Urkunden aus dem anhaltischen und meißnischen Raum aus den Jahren 1209 bis 1233 legen von ihm Zeugnis ab. Sein Familienname weist auf das Dorf Rep-

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Prof. Blaschke, Träger des Bundesverdienstkreuzes, wurde im März 2000 zum Vorsitzenden der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig gewählt und ist seit April 2000 auch gewählter Präsident der 1779 gegründeten Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz, die ihrem Gründungsjahr nach die fünfte fortlebende deutsche Akademie der Wissenschaften ist (nach Berlin, Göttingen, Erfurt und München).

Laudatio auf Günter Mühlpfordt

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pichau in Anhalt hin, als Vasall der Erzbischöfe von Magdeburg ist er nachgewiesen. Uber seinen gesellschaftlichen Stand, seinen Beruf und seine Ausbildung liegen keine Angaben vor, doch erweist er sich als ein für seine Zeit überdurchschnittlich gebildeter Mensch, der auch der lateinischen Sprache kundig war. Weitaus deutlicher als seine Person ist sein Werk bekannt. Der von ihm verfaßte Sachsenspiegel ist das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters. Es entstand um das Jahr 1225 in seiner lateinischen Urfassung, auf Anraten des Grafen Hoyer von Falkenstein übersetzte es Eicke ins Deutsche. Sein Inhalt ist das allgemeine sächsische Recht, wie es sich als Gewohnheitsrecht im östlichen Grenzgebiet des alten Herzogtums Sachsen entwickelt hatte. Obwohl es als eine private Aufzeichnung zu verstehen ist, wurde es doch bald als ein allgemein anerkanntes Gesetzbuch behandelt, weil es offensichtlich einem Bedürfnis entsprach. Vom Rhein bis zum Dnjepr wurde es in vielen Handschriften verbreitet und in mehrere Sprachen des europäischen Ostens übersetzt. Der Bedarf nach einem solchen Rechtsbuch ergab sich in einer komplizierter gewordenen Gesellschaft, die im Zuge einer starken Bevölkerungszunahme und einer sozialen Differenzierung, also einer quantitativen und qualitativen Weiterentwicklung, neue Regelungen des Zusammenlebens erforderte. Auf den Handelsstraßen wanderte das nunmehr festgeschriebene sächsische Recht als eine friedliche und vorbildliche Botschaft aus der damals neuen Mitte Deutschlands nach Osteuropa, wo es bis ins 19. Jahrhundert in der Rechtsprechung angewandt wurde. Wo es ankam und angenommen wurde, bezeugte es die schöpferische intellektuelle Kraft Mitteldeutschlands, als dessen bedeutendste geistig-kulturelle Leistung im Mittelalter es angesehen werden kann. Es strahlte auf den ganzen deutschen Sprachraum und Osteuropa aus. Das Recht bestimmt die Grundordnung der Gesellschaft, regelt ihren Zusammenhalt und ihr Zusammenleben, sorgt für den Frieden und sichert das Recht des einzelnen gegen Willkür; als Gewohnheitsrecht wird es allgemein anerkannt und gesichert. Die Universität Halle-Wittenberg ist wegen ihrer Nähe zum Ursprungsgebiet des Sachsenspiegels als Standort für seine Erforschung besonders geeignet. Hier haben sich Rolf Lieberwirth und nach ihm sein Nachfolger Heiner Lück der weiteren wissenschaftlichen Arbeit an diesem Werk gewidmet, das zu einem wesentlichen Teil die geschichtlich begründete Identität Mitteldeutschlands und des heute bestehenden Landes Sachsen-Anhalt mitbestimmt. Die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, zu deren mitteldeutschem Einzugsgebiet die Heimat des Spieglers gehört, unterhält seit 1994 in Leipzig eine eigene Forschungsstelle zur Textgeschichte der SachsenspiegelGlosse in Verbindung mit dem Unternehmen der Monumenta Germaniae Historica. Die weitere Erforschung von Eickes Werk gehört in sein Ursprungsland an Saale und Elbe, sie ist für die Glaubwürdigkeit eines mitteldeutschen Kulturbewußtseins unverzichtbar. Die Verleihung des Eicke von Repgow-Preises in der Stadt Magdeburg enthält das Bekenntnis zum identitätsstiftenden Rang seines Namenspatrons und dessen Werkes, des Sachsenspiegels. 300 Jahre nach Eicke hat Mitteldeutschland erneut seine schöpferische Kraft auf dem Gebiet von Geist und Kultur bewiesen. Die lutherische Reformation läßt sich biographisch und topographisch an den tragenden Personen und den wichtigsten Handlungsorten in diesem Gebiet festmachen. Von hier ging der geistliche Anstoß aus, hier entfaltete sie ihre erste breite gesellschaftliche Wirkung. Mitteldeutschlands führende Rolle in der Reformation ist unbestritten, das Kurfürstentum Sachsen wurde zu ihrem Wegbereiter auf der Ebene der Reichspolitik, die wettinischen Kurfürsten waren ihre frühesten und mächtigsten Förderer.

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Karlheinz Blaschke

N o c h m a l s 200 Jahre später keimte auf dem Mutterboden der Reformation die deutsche Aufklärung auf, in der wiederum Mitteldeutschland an vorderster Stelle stand. D a mit ist die Ebene erreicht, auf der das Lebenswerk von Günter M ü h l p f o r d t angesiedelt ist. E s umfaßt in starker Vereinfachung ausgedrückt Mitteldeutschland und die A u f k l ä rung als ein T h e m a mit Variationen: die A u f k l ä r u n g im mitteldeutschen R a u m und die Bedeutung Mitteldeutschlands für die Aufklärung. Dabei ergibt sich sofort die Anbindung an das Recht: Indem die A u f k l ä r u n g v o n der Vernünftigkeit der Welt ausging, forderte sie eine humane Rechtspflege, z o g sie die Bauernbefreiung nach sich, entdeckte sie die Mündigkeit des Menschen und k a m zur Formulierung des Naturrechts, aus dem die Forderungen nach dem Menschenrecht und den Bürgerrechten hervorgingen. D i e neue geistige Welt war v o n Reformlust erfüllt, v o m Glauben an die Macht der Erziehung beseelt und mit d e m Auftrag zur Ausbreitung der Bildung ausgestattet. Günter Mühlp f o r d t hat in diesem weiten Themenfeld einige G e d a n k e n und Erscheinungen besonders beachtet: die Tatsache, daß v o n Irrtümern Wege zu neuer Erkenntnis führen können, die Bedeutung v o n Widersprüchen, die Wirkung v o n Utopien, die Stellung der Außenseiter und der radikalen Reformer, die Verfolgung widerständiger Geister und die Toleranz. Wenn er dem Einsatz der Gelehrten für das Recht, für die Wahrheit und die Verbesserung der Welt besondere Aufmerksamkeit widmete, so kann das als Zeichen seiner persönlichen Betroffenheit und seines individuellen Schicksals verstanden werden. Seine eigenen schmerzlichen Erlebnisse und Erfahrungen erscheinen zu neuen Erkenntnissen über den Inhalt der A u f k l ä r u n g sublimiert. U b e r allem steht das E t h o s des Gelehrten mit dem Ziel, die Wahrheit zu erkunden. In der Vermittlung seines Wissens legt G ü n t e r M ü h l p f o r d t eine bemerkenswerte K r a f t des sprachlichen A u s d r u c k s an den T a g . Mitteldeutschland bezeichnet er als „ K u l turherd", weil hier die fünf mitteldeutschen Universitäten als Zentren v o n H u m a n i s m u s und A u f k l ä r u n g gewirkt haben. D e r R a u m erscheint ihm als „ H a u p t a c h s e " und „Brennp u n k t " der großen Geistesbewegung, in der die „mitteldeutschen lutherischen Großuniversitäten" Halle, Jena, Leipzig u n d Wittenberg die entscheidenden Triebkräfte darstellten. D a b e i unterstreicht er die wenig beachtete Tatsache, daß die Universitäten Halle, J e n a und Leipzig v o n 1700 bis 1790 nach ihren Studentenzahlen an der Spitze aller 31 deutschen Universitäten standen. E s ist ein hohes Verdienst Günter M ü h l p f o r d t s , in seinem umfangreichen Lebenswerk die Bedeutung Mitteldeutschlands für die deutsche Kultur-, Bildungs- und Geistesgeschichte eindrucksvoll herausgestellt und seine kulturelle Ausstrahlung bis nach St. Petersburg unterstrichen zu haben. Damit ergibt sich eine Parallele z u m weiten osteuropäischen Wirkungsfeld des Sachsenspiegels. D i e Aufklärung bleibt dabei jedoch nicht auf die geistige Kultur beschränkt, sie wird vielmehr als weites Feld der F o r s c h u n g mit Naturwissenschaften, Medizin, Technik und Pädagogik begriffen. H i e r hat ein universaler Gelehrter die europäische Geistesbewegung der Frühen N e u z e i t in kongenialer Begabung erfaßt und dabei nahezu eine leibnizische intellektuelle Dimension erreicht. Bei der Beurteilung eines Gelehrtenlebens kann es nicht nur u m die Seitenzahl seiner Publikationen gehen, sie muß sich auch auf sein menschliches Verhalten beziehen. D a s Wort des Freiherrn v o m Stein trifft durchaus zu: „In großen Situationen entscheidet Charakter mehr als Geist und Wissen." D i e wissenschaftlichen Leistung allein w ü r d e schon eine hohe Auszeichnung und E h r u n g rechtfertigen, d o c h k o m m t noch mehr hinzu: die persönliche Haltung, die U n b e u g s a m k e i t des Charakters, die sittliche Bewährung in einer feindlichen Umwelt. Als beim A u f b a u des protestantischen Kirchenregiments zu Beginn der Reformation die lutherischen Visitationskommissare durchs L a n d zogen, u m die Geistlichkeit auf ihre Rechtgläubigkeit hin zu überprüfen, beurteilten sie jeden ein-

Laudatio auf Günter Mühlpfordt

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zelnen nach „Lehre und Leben", nach theologischer Ausrichtung und Fähigkeit auf der einen, nach Charakter und Lebensführung auf der anderen Seite. In dieser zweiten Hinsicht hat Günter Mühlpfordt einem hochangesetzten Maßstab entsprochen, indem er engstirnigen, gehässigen Parteifunktionären widerstanden, jahrzehntelange seelische Belastungen ausgehalten und schreiendes Unrecht ertragen hat. Es wird immer sein Geheimnis bleiben, wie er damit fertiggeworden ist und welche geistig-geistliche Ausrichtung ihm die Kraft zum Durchstehen gegeben hat. Nach der Befreiung von aller N o t und Qual stellt sich zunächst die Frage nach einer Wiedergutmachung im herkömmlichen Sinne. Aber kann das alles einfach „wieder gut" gemacht werden, was diesem Menschen angetan worden ist? Ein gütiges Lebensschicksal hat ihn ein so hohes Alter erreichen lassen, daß er das Ende des Regimes der Unterdrückung und des ideologischen Terrors erleben konnte. Die materielle Verwahrlosung eines Landes läßt sich wieder in Ordnung bringen, ein zerstörter Lebensplan läßt sich nicht wieder gut machen, denn das Leben wiederholt sich nicht, es wird nur einmal gelebt. Aber es läßt sich die Genugtuung erleben, daß das Durchhalten und Widerstehen öffentliche Anerkennung finden. Die Vorbildwirkung, die von einer solchen Haltung ausgeht, verdient hohe Würdigung, zumal sie allein um der Sache selbst willen und ohne jede Aussicht auf irgendeinen Erfolg oder ein absehbares Ende erbracht worden ist. In einem wohlverstandenen Sinne ist Günter Mühlpfordt ein Märtyrer gewesen, ein Mensch in der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes, der Zeugnis ablegt für eine Sache, der er sich ganz verschrieben hat. Eine solche Haltung ordnet sich in zeitlos gültige Verhaltensnormen ein, die überall dort zum Tragen kommen, wo der einzelne Mensch von herrscherlicher Gewalt in seinem Gewissen bedroht ist. Die Parallelen dazu liegen auf der Hand. Unter der Gewaltherrschaft des Kaisers Nero gab der Stoiker Seneca, der später selbst eines ihrer Opfer wurde, einem bedrohten Freunde den beschwörenden Rat: „... bleibe auf deinem Posten und hilf durch deinen Zuspruch; und wenn man dir die Kehle zudrückt, bleibe auf deinem Posten und hilf durch dein Schweigen". Günter Mühlpfordt hat sich zu Wort gemeldet, wo immer das möglich war, und er hat dort geschwiegen, wo er schweigen mußte, aber er ist immer auf seinem Posten geblieben, den Gleichgesinnten eine Ermutigung, den Schwankenden ein Zuspruch, den Machthabern ein Ärgernis. Hier ist ein Mann im Widerstehen gegen ein unmenschliches System ganz auf sich allein gestellt nur seinem Gewissen gefolgt und hat sich damit in die Nachfolge einer Gewissensethik begeben, die in der aus Mitteldeutschland erwachsenen Reformation ihren Ursprung hat und am 18. April 1521 auf dem Reichstag zu Worms in einer weltgeschichtlichen Stunde wirksam geworden ist: „... derhalben ich nichts mag noch will widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und gefährlich ist. Gott helf mir, Amen". So lauten die schriftlich überlieferten Worte Luthers am Schluß seiner Rechtfertigung vor Kaiser und Reich. Inmitten einer Umgebung, in der billige Anpassung, Opportunismus, Karrierestreben, Denunziation, Spitzeldienst, Feigheit und Lüge herrschten, hat Günter Mühlpfordt die unaufgebbaren sittlichen Werte bewahrt, die den Gliedern der Gelehrtenrepublik seit eh und je als Leitlinien ihres Handelns vorschweben, einer Gemeinschaft von Menschen, die es immer und überall dort gibt, wo der vereinzelte Träger traditioneller Werte sich nicht der Macht und Gewalt beugt. Günter Mühlpfordt ist auf diese Weise zu einer moralischen Autorität geworden. Mit aufrechtem Gang ist er gradlinig seinen Weg gegangen und hat öffentliche Angriffe und Anfeindungen wegen seiner zutiefst wissenschaftlichen Gesinnung ausgehalten, die in den Augen der Machthaber eine ideologische Todsünde war: Akademismus, Idealismus, Liberalismus, Sozialdemokratismus, Klerikalismus, geographi-

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Karlheinz Blaschke; Willi Polte; Klaus E. Pollmann

scher Determinismus und ideologische Koexistenz mit westlichen Fachkollegen. Am Ideal der deutschen Einheit hielt er unverbrüchlich fest. Brücken zu schlagen und der Verständigung zu dienen war stets sein Ziel. Aufforderungen zu entwürdigender und erniedrigender Selbstkritik im Parteistil der SED wies er von sich. Er ertrug Acht und Bann, Boykott und Diskriminierung, aber in allen Gefährdungen bewies er stoischen Gleichmut. Das terroristische Regime der SED hat mannigfache Formen von Widerwillen und Widerstand hervorgerufen. Größte Achtung gebührt denjenigen, die den Mut und die Kraft zum politischen Kampf aufbrachten und dabei ihre Freiheit und ihr Leben aufs Spiel setzten. Demgegenüber ist es Sache des Gelehrten, mit den Waffen des Geistes für Freiheit, Recht und Menschenwürde einzutreten und der Wahrheit zu dienen. Es hat manchen gegeben, der sich in seiner Gesinnung mit Günter Mühlpfordt verbunden fühlte und ihm ein Stück seines Weges gefolgt ist, aber es würde schwerfallen, einen Zweiten zu finden, der so kompromißlos vorwärtsgeschritten und vor der totalen Konfrontation nicht zurückgewichen ist. Wir anderen haben uns irgendwie an die Verhältnisse anzupassen gesucht, haben hier oder dort eine Nische gefunden, die uns das Uberwintern in der Hoffnung auf einen künftigen Frühling ermöglicht hat, von dem keiner wußte, ob und wann er kommen würde. Im besten Mannesalter von 40 Jahren mit Berufsverbot belegt zu werden, aller Wirkungsmöglichkeiten beraubt und von der Zensur geknebelt zu sein - mußte man das nicht als eine totale Katastrophe erleben? Im Umfeld der mitteldeutschen Wissenschaftler ist kein Zweiter zu erkennen, der Günter Mühlpfordt in den bösen Jahren der SED-Herrschaft im Erdulden und Erleiden von Unrecht und Willkür der Mächtigen, im Widerstehen gegen die Vergewaltigung des Geistes, in seiner großartigen sachlichen Leistung und seiner charakterlichen Standhaftigkeit gleichgekommen wäre. Es gereicht ihm zur Ehre, daß er vom Chefdiktator der SED zum persönlichen Feind gemacht worden ist. Die Wissenschaft in Mitteldeutschland ist ihm auch für das Verbleiben im Lande tiefen Dank schuldig, denn nur hier konnte er bei körperlicher Anwesenheit und in enger gefühlsmäßiger Bindung die Kulturgeschichte dieses Raumes erforschen, beschreiben und damit sein Wissen fruchtbar machen. Sein höchst eindrucksvolles, gedruckt vorliegendes Gesamtwerk ist ein rechter Sachsenspiegel, in dem sich das sächsische Mitteldeutschland seiner selbst bewußt werden kann. Er hat sich nicht verbittert zurückgezogen, sondern ist überall dort aufgetreten, wo ihm eine Möglichkeit geboten war, oft nur im kleinen, bescheidenen Rahmen am Rande der DDR, im Windschatten des ideologielastigen Betriebes der SED-Geschichtswissenschaft, wo mutige, an der Sache orientierte Fachkollegen ihn zur Mitarbeit heranzogen. Er hat sich eingebracht und damit etwas verändert, um den Boden vorzubereiten, auf dem die friedliche Revolution des Herbstes 1989 aufgehen konnte. Diese Revolution hat neben anderen Ergebnissen auch die Gültigkeit des Rechts wiederhergestellt. Mit diesem Begriff ist die innere Verbindung zwischen dem namengebenden Patron des heute zu verleihenden Preises und seinem Empfänger Günter Mühlpfordt hergestellt. Bei Günter Mühlpfordt erscheint das Recht in einer überzeugenden Einheit von Lehre und Leben. Er hat das jahrzehntelang erlittene Unrecht in der stummen Berufung auf die unaufgebbaren Rechte des Menschen, des Bürgers, des Wissenschaftlers ertragen und mit seiner Haltung das gekränkte, das geschundene Recht eingefordert. Eicke von Repgow, Günter Mühlpfordt und das Recht - das ist ein großes Thema für diese unsere Feierstunde. Sie gilt der Ehrung eines Mannes, der in der Nachfolge der Gewissensethik eines Martin Luther steht und etwas von dem universalen Geist eines Gottfried Wilhelm Leibniz ahnen läßt. Das ist der mitteldeutsche Urgrund dieses Lebens und Wirkens. Gerade in der Beschäftigung mit dem Lebenswerk von Günter Mühlpfordt ist mir die herausragende Bedeutung Mitteldeutschlands für die deutsche Geschichte wieder

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Die Ehrenurkunde

deutlich geworden. Auch das ist sein Verdienst, diesem deutschen Landstrich um Erzgebirge, Thüringer Wald, Harz und Fläming, an Saale und mittlerer Elbe das ihm eigene Gewicht zugesprochen und ihn als eine geistig-kulturelle Einheit verstanden zu haben, die ungeachtet aller zufälligen, unnatürlichen und unsinnigen Grenzen in Wirklichkeit besteht. Alle Wasser Mitteldeutschlands fließen nach Magdeburg - man kann gerade an diesem Ort von Mitteldeutschland schwärmen. Hier stand vor tausend Jahren eine in ihren Grundmauern noch erhalten gebliebene ottonische Kaiserpfalz, hier nahm das Magdeburger Stadtrecht seinen weit nach Osteuropa wirkenden Ausgang und hier erinnert einer der größten gotischen Dome an die Bedeutung einer Stadt, die einmal als das Dritte Rom gedacht war. Der Eicke von Repgow-Preis ist dazu bestimmt, die geschichtliche Wirkung der historischen Region Sachsen in der Kultur- und Rechtsgeschichte und ihre Ausstrahlung nach Osteuropa neu in das Bewußtsein der Gegenwart zu bringen. Günter Mühlpfordt hat sich um dieses Land verdient gemacht. Überreichung der Ehrenurkunde Die Ansprache des bedeutenden Dresdner Fachkollegen von Mühlpfordt in der mitteldeutschen Geschichtswissenschaft erzeugte, wie schon die Begrüßungsworte der drei Vorredner, eine Atmosphäre der Anteilnahme und, im Einklang mit der musikalischen Einstimmung, Ergriffenheit. In dieser Atmosphäre erfolgte die feierliche Überreichung des Preises. Rektor Pollmann verlas die Ehrenurkunde und übergab sie an Mühlpfordt, der zugleich ein prächtiges Bukett erhielt. Oberbürgermeister Polte überreichte ihm eine Statuette des Bildhauers Heinrich Apel, die Eike von Repgow darstellt. Unter dem Beifall des Publikums beglückwünschten ihn beide zu der Auszeichnung. Die Ehrenurkunde lautet und das Begleitschreiben von Oberbürgermeister und Rektor besagt: Für herausragende Verdienste um die Erforschung der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands und des Gebietes der mittleren Elbe wird Herrn Prof. Dr. Günter Mühlpfordt der EIKE-VON-REPGOW-PREIS der Landeshauptstadt Magdeburg und der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg verliehen. Magdeburg, den 28. Oktober 1999 [gez.] W. Polte Der Oberbürgermeister

[gez.] K. Pollmann Der Rektor

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Günter Mühlpfordt

Rektor Prof. Dr. Klaus Erich Pollmann (rechts) verliest die Ehrenurkunde für Eike-von-RepgowPreisträger Prof. Dr. Günter Mühlpfordt (Mitte). Links Oberbürgermeister Dr. Willi Polte.

Dank

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Überreichung des Eike-von-Repgow-Preises an Günter Mühlpfordt (Mitte) durch Oberbürgermeister Dr. Polte (links) und Rektor Prof. Pollmann (rechts). 21

In bewegten Worten dankte der Preisträger den an der Preisvergabe Beteiligten, seinen Magdeburger Gastgebern insgesamt und dem Laudator: GÜNTER MÜHLPFORDT Dank für Eike-von-Repgow-Preis Herr Oberbürgermeister, Frau Ministerin, Magnifizenz, Herr Domdechant Professor Blaschke, hochansehnliche Festversammlung! Zunächst möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Mein erster Dank gilt den Stiftern des Eike-von-Repgow-Preises, Herrn Oberbürgermeister Dr. Willi Polte und dem Rektor der Otto-von-Guericke-Universität, Magnifizenz Professor Dr. Klaus Erich Pollmann, den beiden Sachwaltern des von Stadt und Universität gemeinsam verliehenen Preises. Außerordentlichen Dank schulde ich Herrn Professor Dr. Hermann-Josef Rupieper von der Martin-Luther-Universität für seinen Vorschlag und den Mitgliedern des Kuratoriums zur Vergabe des Eike-von-Repgow-

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Aufnahmen: Frau Albrecht (Otto-von-Guericke-Universität), Herr Letz und Frau Sachsenweger (beide Stadtverwaltung Magdeburg). Die Fotos stellten zur Verfügung Monika Wagner von Kulturamt Magdeburg beim Oberbürgermeister und Waltraud Rieß, verantwortliche Redakteurin des „Magdeburger Wissenschaftsjournals". Erstes Foto auch in: Magdeburger Wissenschaftsjournal 4 (1999), Heft 2, S. 35.

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Günter Mühlpfordt

Preises für ihre Entscheidung. Unter diesen war es Herr Professor Dr. Erhard Forndran, der einen Anstoß zur Stiftung des Preises gab. Vielen Dank gleichfalls für die freundlichen Worte vom Herrn Oberbürgermeister, von Frau Ministerin Karin Schubert - eine besondere Ehre - , vom Herrn Rektor und für die Laudatio von Herrn Professor Dr. Karlheinz Blaschke. Mit Oberbürgermeister Dr. Polte, der so viel für die Belebung des Geschichtsbewußtseins der Magdeburger und der Mitteldeutschen insgesamt tut, weiß ich mich eins im Bemühen, zur Identitätsfindung der Mitteldeutschen von ihrer Geschichte her beizutragen. Magnifizenz Pollmann hat dankenswerterweise die alte Verbundenheit meiner Forschungen mit Magdeburg veranschaulicht, an einem Auszug aus meinen Aufsätzen über „Die Entdeckung der Venusatmosphäre durch Magdeburger Astronomen", in Jahrgang 1967 und 1968 der Zeitschrift der Technischen Hochschule Magdeburg. Der Oberbürgermeister und die Frau Ministerin zeigten meinen Forschungsschwerpunkt Mitteldeutsche Reformation auf, der Rektor und Professor Blaschke mein Hauptarbeitsgebiet Mitteldeutsche Aufklärung. Die Verbindung von Reformations- und Aufklärungsforschung sowie beider mit der über Barockkultur, Klassizismus, Klassik und Frühromantik, über Reform-, Einheits- und Freiheitsbewegungen zu einem Gesamtbild der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur in ihren Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen schwebt mir seit langem als Ziel vor. Herrn Blaschke, dem hervorragenden Kenner sächsischer Geschichte, meinem Fachkollegen in der mitteldeutschen Geschichte und, ich darf wohl sagen Schicksalsverwandten, bin ich sehr dankbar, daß er sich als Laudator zur Verfügung gestellt hat und von Dresden angereist ist. So viel Anerkennung nach schweren und bitteren Jahrzehnten der politischen Diskriminierung meiner wissenschaftlichen Arbeit hat mich sehr berührt, fast überwältigt. Daher ist der heutige Tag für mich eine große Genugtuung - ein Höhepunkt meines Lebens als Wissenschaftler. Ich danke den Magdeburgern und ihrem Gast aus Dresden, danke besonders Herrn Oberbürgermeister Polte und Herrn Rektor Pollmann, daß sie mir diesen Ehrentag bereitet haben. [Starker Beifall.] Die Auszeichnung betrachte ich als Verpflichtung, mich ihrer würdig zu erweisen. Sie ist mir Ansporn, weiterhin nach Kräften über die mitteldeutsche Kultur der Frühen Neuzeit, von Luthers bis zu Goethes Zeit, zu forschen und zu schreiben. Hauptsächlich gedenke ich mich auch künftig meinem Lebensthema zu widmen: der Mitteldeutschen Aufklärung und ihrer Europawirkung, so ihren vielfältigen Beziehungen zum östlichen Europa.24

Es folgte der Festvortrag von Mühlpfordt, über den Kulturherd Mitteldeutschland im frühneuzeitlichen Europa. Der Vortragende stellte an den Beginn seiner Ausführungen ein Urteil des Universalgelehrten der Aufklärung Christoph Adelung.25 Der Germanist und Kulturhistoriker Adelung erkannte klar den hohen Stand und die Bedeutung der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur, ihre führende Rolle im deutschen Sprach- und Kulturraum.

24 25

Erstdruck in: Magdeburger Wissenschaftsjournal, Jahrgang 4 (1999), Heft 2, S. 36. Vgl. Günter Mühlpfordt, Adelung als Wegbereiter der Kulturgeschichtsschreibung, in: Storia della Storiografia, Heft 11, Milano [Mailand] 1987, S. 2 2 ^ 5 ; derselbe, Adelung als Kultur- und Wissenschaftshistoriker, in: Sprache und Kulturentwicklung im Blickfeld der deutschen Spätaufklärung, Hg. Werner Bahner, Berlin 1984, S. 4 0 - 5 4 (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse 70/4).

Kulturherd Mitteldeutschland

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GÜNTER MÜHLPFORDT Der Kulturherd Mitteldeutschland im frühneuzeitlichen Europa (1502-1817) 26 Das mittlere Deutschland ist die blühendste Provinz der deutschen Cultur. Adelung (1782)2'

Der Pommer Adelung - der bedeutendste Germanist seiner Zeit und Verfasser der ersten deutschen Kulturgeschichte der Menschheit - stand mit diesem Urteil nicht allein. Seine Auffassung teilten kompetente Nicht-Mitteldeutsche. Adelung datiert die mitteldeutsche Kulturblüte seit der Wittenberger Reformation. Ohne zu verkennen, daß Wurzeln und Anfänge des kulturellen Aufstiegs Mitteldeutschlands weit ins Mittelalter zurück reichen, erblickt er gleich vielen seiner Zeitgenossen in der Mitteldeutschen Reformation, von Wittenberg aus, den Beginn der neuzeitlichen Geistesgeschichte. Tatsächlich gewann und behauptete die Bildungslandschaft um Mittelelbe und Saale in der geistigen Kultur der Frühneuzeit eine überragende Stellung, mit mannigfacher, weiträumiger Ausstrahlung. Mitteldeutschland nahm eine Spitzenposition ein; es war in vielem wegweisend und maßgebend: -

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in der Sprache, durch Ausbildung seines neuhochdeutschen schriftsprachlichen Musterdeutsch zur Hochsprache, als Kultursprache, Literatursprache, Sprache der Wissenschaft; im Erziehungs- und Bildungswesen, durch das hohe Niveau seiner Schulen und Universitäten sowie des Privatunterrichts (Erzieher, Hauslehrer. Hofmeister), mit Philanthropismus und Neuhumanismus als pädagogisch-didaktischen Reformbewegungen, insgesamt mit dem dichtesten territorialen Bildungsnetz überhaupt; in einer Anzahl von Wissenschaften, sowohl Geistes- oder Kultur- als auch Naturwissenschaften; in der auf Wissenschaft beruhenden Technik („Mechanik"), vor allem im Bergbau und Hüttenwesen (Metallurgie), überdies in Handwerken, besonders im Textilgewerbe; im religiösen Leben, durch neue Glaubensinhalte und deren Ausdrucksformen in kirchlicher und Volksfrömmigkeit, vorrangig durch die lutherische Konfessionskultur; in mehreren Künsten, am ausgeprägtesten in der Musik, religiöser wie weltlicher; im Schrifttum, durch wissenschaftliche, schöngeistige, religiöse und technische Literatur; im Publikationswesen, durch seine Druckereien und Verlage, Bücher und Zeitschriften - mit Leipzig an der Spitze - , als Voraussetzungen und Medien, Multiplikatoren für die rasche und großräumige Verbreitung von Wissen und neuen Ideen; schließlich, mittels Schulen und Schriften, in der Volksbildung.

Festvortrag, anläßlich der Überreichung des Eike-von-Repgow-Preises „für herausragende Verdienste um die Erforschung der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands", am 28. Oktober 1999 in der Johanniskirche zu Magdeburg, dem neuen Kulturzentrum der Elbestadt. (Der Erstdruck, in: Magdeburger Wissenschaftsjournal 4,1999, Heft 2, S. 37-43, ist hier etwas erweitert.). [Johann Christoph Adelung], Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, Leipzig 1782, 2. Auflage [unter Adelungs Namen] 1800, S. 447 und 449.

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Mitteldeutsche der Frühneuzeit gelangten zu neuartigen Erkenntnissen und Ergebnissen, machten Entdeckungen und Erfindungen. Ihre Erstleistungen verschafften ihnen Prioritäten. Werke und Werte der Wissenschaft und Technik, der Literatur und Kunst aus jener Zeit verdankt Deutschland, verdanken Europa und die Menschheit Mitteldeutschen und Menschen mit mitteldeutscher Bildung. Mitteldeutsches Kulturschaffen der Frühneuzeit und modernisierende geistigkulturelle Neuerungen von damals aus dem sächsisch-thüringischen Raum waren vielfach maßgeblich für ein weites deutsches und europäisches Umfeld, dann auch für Teile Nordamerikas. In manchem erlangten sie globale Bedeutung. In einigem haben sie bis heute Bestand. Das bezeugen die Weltgeltung der lutherischen Reformation, die Beliebtheit von weltlicher und Kirchenmusik aus Mitteldeutschland in allen Erdteilen, das Fortund Nachwirken von mitteldeutscher Aufklärung, Naturforschung und Technik, von klassischer und frühromantischer Literatur, Philosophie, Philologie und Kunst mitteldeutschen Ursprungs. Auch zu anderen Zeiten wies das Mittelelbe-Saale-Gebiet geistig-kulturelle Kristallisationspunkte von überregionaler Relevanz auf. Aber nie zuvor und nie danach besaß es als Ganzes eine dermaßen effiziente Anziehungs- und Ausstrahlungskraft wie während der Generationenfolge von Luther bis Goethe. Als Ballungsraum mit hochgradiger Verstädterung und demzufolge überdurchschnittlicher Bevölkerungsdichte stellte das frühneuzeitliche Mitteldeutschland nicht nur im geographischen, sondern auch im demographischen, wirtschaftlichen und geistigen Sinn eine Zentralregion dar: Es war Mittelland und Mittlerland, Durchgangsgebiet und Bindeglied. Neben Kulturwissenschaften gediehen hier die Naturwissenschaften. Bergund Hüttenwerke der mitteldeutschen Randgebirge und im Innern der Region, auch Textilgewerbe und Handwerke, darunter Kunsthandwerk, sowie Handel und Wandel der Messestädte und anderer gewerbereicher Orte forderten und förderten Naturforschung und Technik. All das zog Begabte in geistig-kulturelle Berufe, die anderswo in der Landwirtschaft verblieben, zum Militär oder in die Fremde gingen. Die Kulturlandschaft zwischen Harz und Erzgebirge verfügte in jener Großepoche wirklich über das dichteste Bildungsnetz. Ein geregelter mitteldeutscher Bildungsgang gemäß lutherischem Arbeits-, Berufs- und Bildungsethos - das in der Heimat der Reformation mehr befolgt wurde als außerhalb - begann mit häuslicher Ausbildung durch den Vater, bisweilen auch die Mutter, als erste Lehrer und wurde in wohlhabenden Familien durch Hauslehrer oder Privatlehrer fortgesetzt. Er führte von der deutschen Schule - der Volksschule als Grundschule - zur Lateinschule oder zum Gymnasium, im Idealfall einem Heimgymnasium mit Ganztagserziehung, und weiter zur Universität. Mitteldeutschland war mit Gymnasien und Lateinschulen übersät. Von weither strömten Schüler an seine viel gepriesenen „Gelehrtenschulen". An ihnen wurde humanistisches Wissen vermittelt. Von diesem festen Unterbau der akademischen Ausbildung brachten angehende Studenten solide Kenntnisse an die Universitäten mit. Eine der angesehensten mitteldeutschen „Gelehrtenschulen" war die in MagdeburgKloster Berge. 1776-1786 kamen elf Prozent ihrer Schüler aus dem Baltikum. 28 Manche spätere Berühmtheit erhielt an diesem Magdeburger Gymnasium eine gediegene Schulbildung. Wie Adelung aus Pommern empfingen in Kloster Berge die Grundlagen für ihr Universitätsstudium der Schwabe Christoph Martin Wieland - der nachmalige Professor

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Arvo Tering (Tartu [Dorpat]), Est-, Liv- und Kurländer an auswärtigen Gymnasien im 17. und 18. Jh., in: Europa in der Frühen Neuzeit, Hg. Erich Donnert, Band 5, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 475. 477. 487 f.

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der Universität Erfurt und Weimarer Klassiker der hessische Reformminister und antiabsolutistische Publizist Friedrich Karl v. Moser, der Universalhistoriker Matthias Schröckh aus Osterreich, der Wolfenbütteler Reformationsforscher Christian August Salig und viele weitere. Das Beispiel Wieland zeigt, daß Magdeburg auch Bausteine zur Weimarer Klassik lieferte. Ein Gymnasiallehrer von Kloster Berge, Georg Christoph Silberschlag, entdeckte 1761, wie ich 1967-68 in der Zeitschrift der Technischen Hochschule Magdeburg nachwies, die Atmosphäre des Planeten Venus. 2 ' Große der Wissenschaft und Literatur wie Fichte und Klopstock besuchten das Internatsgymnasium Schulpforte bei Naumburg, andere wie Geliert und Lessing die Landesschule Meißen, noch andere gleich dem „Vater der deutschen Aufklärung" Pufendorf die in Grimma bei Leipzig. Auch das Gymnasium Zittau, am Südostpfeiler der Mitteldeutschen Aufklärung, hatte hohes Niveau. Zu seinen Schülern zählten der Begründer der Popularaufklärung im europäischen Maßstab Johann Hübner und der Schwabe Jakob Stählin, später Leiter der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Alle diese Gestalten der Geistesgeschichte studierten danach in Leipzig, drei von ihnen außerdem in Jena; denn noch anziehender als Mitteldeutschlands Schulen waren seine Universitäten. Sie galten als die besten. Weit über die Reichsgrenzen hinaus gehörte es zum guten Ton, an einer „sächsischen", das hieß mitteldeutschen Universität zu studieren, möglichst sogar an zwei, noch besser an drei. Wer in Leipzig studierte oder studiert hatte, suchte auch Halle, Jena, Wittenberg studienhalber auf und umgekehrt. Mitteldeutschland besaß fünf Universitäten auf engem Raum, in der Reihenfolge der Gründung: Erfurt, Leipzig, Wittenberg, Jena und Halle. Das war einmalig. Keine Region vermochte dieser geistigen Pentarchie und ihrem schulischen Unterbau Gleichwertiges an die Seite zu stellen. Einzig Holland und Teile Norditaliens kamen dem Netzwerk der mitteldeutschen Bildungslandschaft an Dichte nahe. Die vier lutherischen Hauptuniversitäten Wittenberg, Leipzig, Jena und Halle waren die größten Mitteleuropas. Sie wurden dermaßen geschätzt, daß sie zu den meistbesuchten Generalstudien Europas zählten. Dies ist um so bemerkenswerter, als es in den Einheitsstaaten England, Frankreich, Spanien, Schweden, Rußland nur wenige Hochschulen gab, im staatlich zersplitterten deutschen Sprachraum hingegen über 40. Daß die mitteldeutschen Universitäten nahe beieinander lagen, erleichterte Kontakte, begünstigte das Zusammenwirken und löste einen leistungssteigernden gesunden Wettbewerb aus. Den Studenten war es dadurch eher möglich, Universität und Fach zu wechseln. Zur Leipziger Messe blieb die Universität Halle geschlossen, und Professoren wie Studenten begaben sich mit der Kutsche, zu Fuß oder hoch zu Roß nach Leipzig, um Neuerscheinungen und damit den jüngsten Stand der Wissenschaft kennenzulernen.

" Günter Mühlpfordt, Die Entdeckung der Venusatmosphäre. Unbekannte Veröffentlichungen mitteldeutscher Aufklärer, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule O t t o von Guericke Magdeburg, Jahrgang 11 (1967), H e f t 5-6, S. 737-753. Auf S. 752 Faksimile der Magdeburgischen Zeitung vom 13. Juni 1761 mit der Meldung (weltweit frühester Bericht über die Entdeckung). Die zweite Folge meiner Abhandlung über „Die Entdeckung der Venusatmosphäre durch Magdeburger Astronomen" erschien im Jahrgang 12 (1968), H e f t 1, S. 169-180 der Zeitschrift der Technischen Hochschule Magdeburg. Auf S. 178-180 sind die Berichte der „Magdeburgischen Zeitung" vom 20. Juni, 4. Juli, 18. Juli und 21. November 1761 über den Vorübergang des Planeten Venus vor der Sonne am 6. Juni 1761 abgedruckt, darunter ein Gedicht auf den Venusdurchgang. Das seltene astronomische Ereignis wiederholte sich 1769, 1874 und 1882. Es steht für 2004 und 2012 erneut bevor, wenn Venus für den Augenschein der Erdbewohner wieder die Sonne passiert (zwischen Sonne und Erde sich vor der Sonne vorbei bewegt). Vgl. unten in Teil 4, S. 65-68, den Beitrag „Venus versus Mars".

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Die höchsten Studentenzahlen wies bis zum Dreißigjährigen Krieg Wittenberg auf, im Zeitalter der Aufklärung Halle. Leipzig stand meist an zweiter Stelle, 1700-1790 hinter Jena an dritter. Während der Frühneuzeit insgesamt aber war Leipzig die frequentierteste Alma Mater. Der Zeitraum 1502-1817 ist der des Bestehens der Universität in Wittenberg, der einzigen an der Elbe, da Dresden, Magdeburg und Hamburg noch keine Hohe Schule besaßen. Wittenberg behauptete sich bis 1651 auf dem ersten Platz unter den Universitäten Mitteleuropas. Im Laufe des Aufklärungszeitalters fiel die Leucorea zwar auf den sechsten Platz zurück, hatte aber immer noch mehr Studenten als über 30 andere deutsche Hochschulen. Sie behielt bis zuletzt geistigen Rang. Wittenbergs Bedeutung für die Aufklärung Europas war trotz seines Rufes als Trutzfeste der Orthodoxie erheblich. Wittenberger Gelehrte wirkten durch ihre Vorlesungen und Schriften aufklärend auch in Ungarn, der Slowakei, in Siebenbürgen, Polen, Litauen, in Kur-, Liv- und Estland, in Rußland und der Ukraine. 30 Die drei universitären Hochburgen der Mitteldeutschen Aufklärung aber waren Jena, Leipzig und Halle. An ihnen lernten auch ausländische Studenten aus fast ganz Europa, besonders aus dem östlichen. Vier der sechs meistbesuchten Universitäten Mitteleuropas waren im Zeitraum 1700-1790 mitteldeutsche, mit Halle, Jena und Leipzig auf den drei ersten Rängen. Absolventen nichtmitteldeutscher Hochschulen unternahmen Bildungsreisen an mitteldeutsche, oft zu längeren Studienaufenthalten. Dem regulären Universitätsstudium folgte die postgraduale Bildungsreise oder, bei Adligen, Kavalierstour zu anderen, vorzugsweise mitteldeutschen Hochschulen und ins Ausland. Das weitete den Horizont. Wenn es der väterliche Geldbeutel erlaubte, reiste der junge Adlige oder wohlhabende Bürgersohn in Begleitung eines Hofmeisters mit abgeschlossenem Studium als Betreuer und Aufseher. Studenten aus gut situierten Familien hatten schon während ihres normalen Studiums einen, nach Möglichkeit mitteldeutschen Hofmeister. Die Tätigkeit als Hofmeister oder Hauslehrer, heutigen Tutoren vergleichbar, diente der Uberbrückung des Intervalls bis zur festen Anstellung, war Zwischenstation vor dem Ubergang ins eigentliche Berufsleben. Auch einige der Größten des geistigen Mitteldeutschland, wie die Vorklassiker aus Mitteldeutschland Klopstock und Lessing, die Klassiker in Mitteldeutschland Wieland und Herder, begannen als Hauslehrer oder Hofmeister. Professuren außerhalb Mitteldeutschlands wurden im weiten Rund mit mitteldeutschen Lehrkräften besetzt. Musterbeispiele bieten die neuen Großuniversitäten Göttingen und Berlin, die als geistige und personelle Pflanzstätten der mitteldeutschen Universitäten viel von diesen übernahmen. Der Lehrkörper der Universität Göttingen kam in den ersten 30 Jahren ihres Bestehens nach meinen Feststellungen zu etwas über 81 Prozent, reichlich vier Fünfteln von den Hohen Schulen Mitteldeutschlands. Der freiheitliche Geist der Universität Göttingen wurde ihr von den mitteldeutschen Aufklärern Heumann, Gundling und Thomasius eingeflößt. Diese forderten Freiheit der Lehre als Vorbedingung für das Aufblühen der Wissenschaften. Christoph August Heumann, ein Anhänger von Thomasius, gab den Anstoß zur Gründung der Universität Göttingen und wurde ihr erster Professor. Der Organisator und Kurator dieser Universität, Gerlach Adolf von Münchhausen, hat an der Juristischen Fakultät Halle bei Gundling und Thomasius studiert. Sein Lehrer Gundling forderte kühn Lehrfreiheit. Nach den Vorstellungen hallescher Rechtslehrer J

° Ders., Wittenberg und die Aufklärung. Zu seiner Bedeutung für die Kulturgeschichte der Frühneuzeit, in: 700 Jahre Wittenberg, Hg. Stefan Oehmig, Weimar 1995, S. 329-346.

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baute der Kurator Göttingen als Juristenuniversität auf. Selbst die wenigen Göttinger Professoren nichtmitteldeutscher Herkunft waren Adepten der Mitteldeutschen Aufklärung. So sind auch Schlözer und Lichtenberg kritische Aufklärer mitteldeutscher Prägung gewesen. Schlözers kritische Geschichtsschreibung erzielte Widerhall bis nach Rußland, Skandinavien, im Baltikum, in Polen, Böhmen und besonders in Ungarn. Eine zweite für die Geistesgeschichte Deutschlands und Europas - für Schul- und Universitätsgeschichte sogar im Weltmaßstab - hochbedeutsame Verpflanzung mitteldeutscher Geistigkeit an eine zukunftsvolle neue Universität erfolgte nach Berlin. Bei deren Aufbau wiederholte sich der Vorgang, daß man Professoren aus Halle, Jena, Leipzig berief und sie zu Rektoren und Dekanen wählte oder ernannte. Fichte, Reil, Schleiermacher, Friedrich August Wolf, Christoph Wilhelm Hufeland gehörten zu ihnen. Die Brüder Humboldt hatten Erzieher und Hauslehrer, Schul- und Gymnasiallehrer, Universitäts- und Akademielehrer aus der Halle-Leipziger Aufklärung und bildeten sich in Jena, Weimar, Erfurt, Leipzig, Dresden weiter. Alexander entwickelte sich an der Bergakademie Freiberg zum innovativen Naturforscher, der er in globalen und kosmischen Dimensionen wurde. Wilhelm reifte dank und mithilfe seiner mitteldeutschen Lehrer zum Urheber des modernen humanistischen Gymnasiums und des neuhumanistischen humboldtschen Universitätstyps, mit der Einheit von Forschung und Lehre, der noch heute weltweit gilt, auch in den Vereinigten Staaten und Kanada, in Japan und Südafrika, bis Australien und Neuseeland. Vorstufen und Vorgänger dessen waren mitteldeutsche Gymnasien und Universitäten der Aufklärungszeit. Mit dem hohen Stand des Bildungswesens verquickt war die reiche Entfaltung des Publikationswesens in Mitteldeutschland: Höhere Bildung bewirkte mehr Bücher; mehr Bücher brachten höhere Bildung. Vor allem in Leipzig wurden leistungsfähige Druckereien und ein mustergültiger Verlagsbuchhandel aufgebaut, mit reichen Sortimenten. Leipzig überflügelte schließlich alle seine Konkurrenten im deutschen Buchwesen. Nirgends hat man zeitweise so viel gedruckt wie in Mitteldeutschland. So manche Siege von Reformation und Aufklärung wurden mit mitteldeutschen Lettern erfochten. Die Wirkung der Reformatoren, Luthers zumal, war nicht zuletzt dem Eifer ihrer mitteldeutschen Drucker zu verdanken. Manuskripte Luthers wurden mitunter noch am gleichen Tage gedruckt. Aufklärer wie Christian Thomasius, Christian Wolff, Christoph Gottsched, Christian Fürchtegott Geliert waren auf Leipziger und hallesche Verlage angewiesen, die sich für die Sache der Aufklärung engagierten. Die Unmenge deutscher Aufklärungs-Zeitschriften hatte ihr Schwergewicht gleichfalls in Mitteldeutschland. Mitglieder, Korrespondenten und Kandidaten der Deutschen Union, eines geheimen Aufklärerbundes zu kulturellen Zwecken, zur „Vervollkommnung der Wissenschaften", mit demokratischen Grundsätzen und Zielen, den der mitteldeutsche Aufklärer Karl Friedrich Bahrdt (1740-92) ab 1786 ins Leben rief, gaben nach meinen Ermittlungen mindestens 164 Zeitschriften heraus. Die Deutsche Union wurde als Korrespondenzgesellschaft aufgebaut. Dies ist bezeichnend dafür, daß auch die Briefkultur in Mitteldeutschland und von Mitteldeutschland aus intensive Pflege erfuhr. Gebildete Frauen zählten zu den eifrigsten Briefschreibern. Mitteldeutschland war das Bildungszentrum einer lesenden und schreibenden Nation. Leibniz betonte, daß es in Sachsen prozentual mehr Gebildete gab als irgendwo sonst. Preußen berief sächsische Lehrer, um den Unterricht zu verbessern. In der ausgiebigen Pflege der Briefkultur und des Buchdrucks als deutscher Eigenart zeichneten sich besonders Mitteldeutsche aus. Darin waren sie sozusagen die deutschesten Deutschen. So stellte die Deutsche Aufklärung eine ausgesprochene Bildungsbewegung dar, mit starken Impulsen von Mitteldeutschland her. Damals gab es viele Lesegesellschaften,

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Forschergemeinschaften, Forschungsakademien, Dichterkreise, Künstlerzirkel, Sozietäten von Gelehrten und Gebildeten, zu den verschiedensten Zwecken - wissenschaftlichbildenden, gesellig-kulturellen, gemeinnützig-sozialen und karitativen wie auch religiösen, wirtschaftlichen und politischen, bis zu Logen und Geheimbünden mit freiheitlichdemokratischen Zielen. In alledem taten sich Mitteldeutsche und Adepten der mitteldeutschen Bildungswelt hervor. Mitteldeutschland war Sekundärherd der kontinentalen Freimaurerei, mit den Ausgangspunkten Jena, Halle, Leipzig, Dresden, Gotha, Altenburg und Magdeburg. Verschiedene Richtungen der Reformfreimaurerei und des Parafreimaurertums verbreiteten sich von Mitteldeutschland über den Kontinent. Von Magdeburg nahm ein freiheitlichdemokratischer Logenverband als Freimaurersystem seinen Ausgang, der sein Zentrum in Kroatien und Ungarn fand. Dies erklärt sich daraus, daß im Siebenjährigen Krieg kroatische und ungarische Offiziere in preußische Kriegsgefangenschaft gerieten und in oder bei Magdeburg die Freimaurerei kennenlernten.31 Freimaurer prägten die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Der amerikanische Freimaurer Franklin gewann den Magdeburger Friedrich v. Steuben für den Freiheitskampf der Amerikaner und verschaffte ihm das Vertrauen des Freimaurers Washington, der den Freimaurer Steuben zum Generalinspekteur des amerikanischen Heeres berief. Steuben organisierte bekanntlich die Befreiung Amerikas von der Kolonialherrschaft. Er führte die amerikanischen Truppen zum Sieg und wurde damit Geburtshelfer der Weltmacht von heute. Durch eine Vielzahl von Kanälen strömte mitteldeutscher Einfluß in alle Himmelsrichtungen, besonders nach dem Norden, Nordosten, Osten und Südosten Europas, aber auch nach dem Süden, Westen, Nordwesten und Südwesten des Erdteils. Er verzweigte sich noch weiter über das Erdenrund. Von Mitteldeutschland gingen neun Reformationen aus, mit trans- und interkontinentaler Ausstrahlung. Zu ihnen allen gab Luther den ersten Anstoß. Seine Reformation war und blieb die weitaus wichtigste. Mitteldeutsche betrieben lutherische Weltmission, womit volksbildend-kulturelle und karitativ-medizinische Tätigkeit wie auch wissenschaftliche Forschung verbunden waren. Herzog Ernst der Fromme von Gotha, der Schirmherr der Jenaer Anfänge der Deutschen Aufklärung seit 1653, organisierte Mission mit Kulturpropaganda und Reformvorschlägen in Moskowien und Äthiopien. Bewunderung verdient die pietistische Weltmission von den Franckeschen Stiftungen aus, bis Südindien, Sibirien und Amerika, nicht minder die ebenfalls weltweite der vom Pietismus abgezweigten Herrnhuter Brüdergemeine Zinzendorfs, eines Zöglings der Franckeschen Stiftungen und Wittenberger Studenten. Ungemein stark war die In- und Auslandswirkung der Mitteldeutschen Aufklärung. Deren Lehren wurden auch an auswärtigen Hochschulen und auswärtigen höheren Schulen vorgetragen. Ein Beispiel aus Eikes von Repgow Fach bietet der Justitiar der Zarenregierung und wissenschaftliche Sekretär der Petersburger Akademie der Wissenschaften Professor Friedrich Heinrich Strube, ein Anhänger von Thomasius, des streitbaren Juristen, der von Halle aus der Aufklärung zum Durchbruch verhalf. Strube hat an der Universität Helmstedt zu Füßen mitteldeutscher Professoren gesessen. Auch der Braunschweiger Philanthropist und Germanist Joachim Heinrich Campe hörte in Helmstedt, noch vor seinem halleschen Studium, mitteldeutsche Gelehrte, so den Aufklä"

Ders., Mitteldeutschland als Sekundärherd des kontinentalen Freimaurertums 1738-1817, in: Leipzig und Sachsen. Beiträge zur Stadt- und Landesgeschichte. Siegfried Hoyer zum 70. Geburtstag, Hg. Karl Czok/Volker Titel, Beucha 2000, S. 6 8 - 8 2 .

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rungstheologen aus Leipzig Wilhelm Abraham Teller, der für Campes Bildungs- und Lebensweg entscheidend war. Wie Teller in Helmstedt und dann in Berlin, Campe in Braunschweig, Hamburg, Berlin, verkündeten viele von Kathedern außerhalb Mitteldeutschlands Lehren der Mitteldeutschen Aufklärung. In den meisten Fachwissenschaften waren Mitteldeutsche und Gelehrte mit mitteldeutscher Bildung führend. Sie leiteten umwälzende Neuerungen in Richtung auf moderne kritische Wissenschaft ein. Dadurch kam es in den Einzelwissenschaften zu sogenannten Fachrevolutionen oder Paradigmenwechseln. Maßgeblich war Mitteldeutschland in der Pädagogik, dieser Kerndisziplin des Aufklärertums. Zur geradezu klassischen Erziehungsreform der Aufklärung gedieh der Philanthropismus. Seine Wurzeln liegen vor allem in Jena, Erfurt, Halle und in Leipzig, wo sein norddeutscher Begründer Bernhard Basedow studierte. Seine Blüte und Nachblüte erlebte der Philanthropismus in Dessau, bei Gotha und anderwärts in Thüringen. Von Mitteldeutschland verbreitete er sich in die Schweiz und die Niederlande, nach England und Frankreich, nach Skandinavien, ins Baltikum, bis St. Petersburg und Finnland. Die Leiter des Dessauer Zentral-Philanthropins Basedow und sein Nachfolger Heinrich Wolke erhielten Berufungen der als anhaltische Prinzessin geborenen russischen Kaiserin Katharina II. in Rußlands neue Hauptstadt. Wolke folgte dem Ruf. Er errichtete und leitete das Petersburger Philanthropin. Philosophie und Theologie wurden auf mitteldeutschem Boden weiterentwickelt die Philosophie durch den Wolffianismus, durch Fichte, durch Jenaer, Leipziger und hallesche Kant-Interpreten, durch die jungen Schelling und Hegel in ihrer Jenaer Zeit, durch Karl Krause, den philosophischen Klassiker der spanischsprachigen Länder Europas und Amerikas. Vier Stufen der Aufklärungstheologie lösten einander von Mitteldeutschland aus ab: theologischer Wolffianismus, Neologie, rationaler Supranaturalismus und theologischer Rationalismus. Entscheidende Rollen spielten mitteldeutsche Gelehrte auch in der Staats-, Rechts-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaft. In den mitteldeutschen Historisch-Staatsrechtlichen Schulen waren Rechtslehre und Geschichtskunde zu einer etatistisch-juristisch ausgerichteten Gesamtwissenschaft verbunden. In Eikes von Repgow Wissenschaft vollbrachten Mitteldeutsche und in Mitteldeutschland Gebildete Spitzenleistungen. Die halleschen Professoren der Rechte Thomasius, Samuel Stryk der Altere, Justus Henning Böhmer, Gundling, Ludewig, Heinecke latinisiert Heineccius - und Nettelbladt waren ein Siebengestirn aufklärender Jurisprudenz. Thomasius, Stryk und ihre Schüler setzten sich mit sichtbaren Erfolgen für ein humaneres Strafrecht ein, wie in Leipzig Karl Ferdinand Hommel, in Wittenberg Augustin Leyser. Nettelbladts Lehrer Christian Wolff, der in seiner zweiten halleschen Periode (1740-54) Ordinarius für Natur- und Völkerrecht war, bereicherte die Rechtslehre durch sein achtbändiges Naturrecht („Jus naturae") und sein Völkerrecht („Jus gentium"). Alle Menschen sind von Natur gleich(berechtigt) und frei, lehrte Wolff. Pufendorf, Thomasius, Wolff, Nettelbladt und ihre Anhänger verfochten neue Naturrechtslehren, Vorstufen der Forderung nach den Menschenrechten. Bei Karl Friedrich Bahrdt und seiner Deutschen Union ging das hallesche Naturrecht direkt in die Forderung nach den Menschenrechten und in die Proklamierung einer „freien Republik" über. Mitteldeutsche Rechtsgelehrte fanden Anklang in großen Teilen Europas. Mehrere von ihnen waren europaweit und in Amerika als Autoritäten anerkannt. So begegneten sich die Lehren der halleschen Juristen Thomasius, Gundling, Nettelbladt und Heineccius auch in St. Petersburg und Moskau. Heineccius galt als Koryphäe im römischen und germanischen Recht. Bis Süditalien und sogar in Lateinamerika berief man sich auf ihn

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und richtete sich nach ihm. Nettelbladt wurde ins Russische übersetzt, Heineccius ins Spanische. Die Altertumskunde stieg in der Mitteldeutschen Aufklärung, danach durch deren Göttinger „Senker" und ihren Berliner „Steckling" zu einer sowohl historisch-kritischen wie philologisch-kritischen und archäologisch fundierten Gesamtwissenschaft von der Kultur der Antike auf. Aus ihr entwickelte sich der Halle-Leipziger Neuhumanismus, der auf Wegen über Göttingen und über das humboldtsche Berlin zu einer Weltkultur reifte. Die Klassische Archäologie und Kunstgeschichte Winckelmanns, der Lehren aller drei Hauptuniversitäten der Mitteldeutschen Aufklärung in sich aufnahm, waren wichtige Zweige davon. An der Spitze stand Mitteldeutschland in den Naturwissenschaften Chemie, Mineralogie, Geologie, Paläontologie, in Montanistik und Metallurgie, in Technologie und Technik. Auch in der Astronomie gelangen Mitteldeutschen der Frühneuzeit bedeutsame Beobachtungen und Theorien. Der Wittenberger Professor aus Leipzig Daniel Titius (Tietz) stellte die „Titius-Reihe" auf, eine Gesetzmäßigkeit über die Entfernungen Planeten - Sonne. Magdeburger und Halberstädter Amateurastronomen entdeckten, wie erwähnt, die Venusatmosphäre. Jenaer, Leipziger, Wittenberger und hallesche Gelehrte zeichneten sich als Vorkämpfer des Heliozentrismus aus, zu dem sich auch Guericke bekannte. Mehr als ein Dutzend neue Wissenschaften und zusätzliche Fachgebiete entsprossen der Mitteldeutschen Aufklärung. Nach Chemie und Montanistik wurde auch die Geologie durch mitteldeutsche Gelehrte zu einer Wissenschaft. Wie zur Reformationszeit der Chemnitzer katholische Humanist Georg Agrícola die wissenschaftliche Mineralogie und Montanistik begründet hatte, wie in der Frühaufklärung der hallesche Professor G. Ernst Stahl mit seiner Phlogistontheorie das Zeitalter der wissenschaftlichen Chemie herbeiführte, so errichtete während der Spätaufklärung der Professor der Bergakademie Freiberg Abraham Gottlob Werner durch seine Neptunismus-Theorie - über die Entstehung von Gesteinen aus Meeresablagerungen - Fundamente der wissenschaftlichen Geologie. Die mitteldeutsch gebildeten Geographen Christoph Cellarius, Johann Hübner Vater und Sohn, Anton Friedrich Büsching (Zögling der Franckeschen Stiftungen, Absolvent der Universität Halle), Carl Ritter aus Quedlinburg setzten die Anerkennung der Erdkunde, namentlich der Neuzeit-Geographie als vollwertiges Gymnasialfach und Universitätsdisziplin durch. Otto von Guericke, den Gottsched an den Beginn der Deutschen Aufklärung stellte und den ich 1956 als einen Markstein auf Deutschlands „Weg zur Denkfreiheit" kennzeichnete,32 gewann den Magdeburger Advokaten Wilhelm Homberg, der wie Guericke in Jena und Leipzig insbesondere die Rechte studiert hatte, für die experimentelle Naturforschung. Homberg sattelte um, wurde in Wittenberg zum Dr. med. promoviert und entwickelte sich zum größten Chemiker Frankreichs. Er war Leibarzt und Laborleiter des Regenten von Frankreich Philipp, des Nachfolgers Ludwigs XIV. Mit Hilfe eines Brennspiegels des Oberlausitzer Frühaufklärers Tschirnhaus erschloß Homberg unbekannte chemische Verbindungen und Elemente. Brennspiegel von Tschirnhaus dienten von Paris bis Petersburg wie in Wien und Italien zu naturwissenschaftlichen Experimenten. Mit ihnen wurden aufsehenerregende Ergebnisse erzielt, wodurch Chemie und Physik, besonders die Optik, vorankamen. Hombergs Theorie des Lichts war eine Vorstufe der Phlogistonlehre G. Ernst Stahls. Dessen Theorie der Chemie wurde von Fachleuten 12

In: Jahrbuch für Geschichte ... Ost- und Mitteleuropas, Band 1, Hg. Günter Mühlpfordt, Halle 1956, S. 69.

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in allen Erdteilen übernommen. Sie führte zu wichtigen chemischen Entdeckungen. Drei Mitteldeutsche: Tschirnhaus, Homberg und Leibniz, waren die ersten deutschen Mitglieder der Pariser Akademie der Wissenschaften. Auch in die Geistes- oder Kulturwissenschaften brachten Gelehrte von mitteldeutschen Universitäten moderne Arbeitsmethoden ein. Halles Zöglinge Büsching und Süßmilch begründeten mit quantitativen Untersuchungsmethoden Wirtschaftsstatistik und Bevölkerungsstatistik. Frühmoderne Staats- und Rechts-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaft wurden aus Leipzig, Halle, Jena an andere Universitäten und an die Höfe getragen. Reformen des Aufgeklärten Absolutismus in Preußen und anderen deutschen Territorien, in der Habsburgermonarchie, im Russischen Reich, in Skandinavien, in Italien, Spanien, Portugal, auch Reformen in Polen waren durch mitteldeutsche Aufklärungsgelehrte wie Thomasius, Wolff, Wolffianer, Karl Ferdinand Hommel angeregt und von aufklärenden mitteldeutschen Kameralisten, besonders von Justi inspiriert. Gottsched, der in Philosophie und Naturlehre Wolffianer war, in der Rechtschreibung sich an den halleschen Francke-Mitarbeiter Hieronymus Freyer hielt, und andere Halle-Leipziger literarische Aufklärer schufen neue Sprach-, Literatur-, Theater- und Kunsttheorien, verbesserten insbesondere die Poetik. Die Ästhetik ist als selbständige Wissenschaft das Werk der Hallenser Alexander Gottlieb Baumgarten (später in Frankfurt/Oder) und Georg Friedrich Meier. Wolff und Wolffianer wie A. G. Baumgarten begründeten außerdem die empirische Psychologie. Auch die neuzeitliche Musikwissenschaft ist mitteldeutschen Ursprungs. Zwei mitteldeutsche Wissenschaftshistoriker, C. A. Heumann und der Magdeburger Polyhistor Domprediger J. F. Reimmann, dem jüngst eine Tagung und ein Sammelband gewidmet wurden,53 konstituierten Philosophiegeschichte und Theologiegeschichte als besondere Disziplinen. Der Magdeburger Jurist Ludwig Martin Kahle, Sohn eines weiteren Magdeburger Dompredigers, entwickelte aus der Wölfischen Logik seine Wahrscheinlichkeitsphilosophie.34 Gleich dem Magdeburger Juristen Homberg und wie „Jung-Jurist" Goethe wurde Kahle in einem Fach berühmt, das anfangs nur sein Stekkenpferd war. Schriftsteller und Publizisten der Spätaufklärung aus Magdeburg, die noch heute gelesen, erforscht und nachgedruckt werden, waren Heinrich Zschokke (1771-1848) und J. C. Friedrich Schulz (1762-1798). Zschokke, vom Haupt der Gegenaufklärung in Preußen, Wöllner, zurückgesetzt, emigrierte in die Schweiz. Er wurde zum Akteur der Helvetischen Republik und zum Mitbegründer sowohl der Schweizer Reformfreimaurerei als auch des Schweizer Frühliberalismus.35 Schulz, der erste deutsche Historiker der Französischen Revolution, gehörte zur Führung der Bürgerbewegung in Kurland und

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Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jacob Friedrich Reimmann (1668-1743), Hg. Martin Mulsow/Helmut Zedelmaier, Tübingen 1998 (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 7); Tagungsbericht von M. Mulsow, in: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift, Heft 11,1, Hg. Norbert Hinske, Hamburg 1999, S. 123-128. Vgl. Luigi Cataldi Madonna (Rom), Die „Logica probabilium" des Ludwig Martin Kahle, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Hg. Erich Donnert, Band 2, Weimar/Köln/Wien 1997, S. 149-163. Die neueste Zschokke-Ausgabe („Erzählungen", Bremen 2000) brachte der Bremer Univ.-Prof. Dr. Holger Böning heraus, ein zweifacher Beiträger der Festschrift für Günter Mühlpfordt „Europa in der Frühen Neuzeit" (Band 3 und 6). Zschokkes Ziehvater E. K. Reichardt, Rektor des Altstädter Gymnasiums in Magdeburg, ist eine wichtige Quelle für die von G. Mühlpfordt erforschte Entdeckung Amerikas von Asien her (1741).

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Günter Mühlpfordt

Polen. 3 ' Der Magdeburger reformierte Aufklärungstheologe Friedrich S. Gottfried Sack leitete den Widerstand der Berliner und preußischen Aufklärer und Toleranzanhänger gegen den Religionszwang des aufklärungsfeindlichen Wöllner-Regimes. Deutsche Fachsprachen der Wissenschaft, mit festen Begriffen, waren das Werk mitteldeutscher Aufklärer. A m meisten tat und bewirkte darin Christian Wolff, in Philosophie, Mathematik u n d Naturwissenschaften. Seine Schüler eiferten ihm nach, wandten seine Methode auf ihre Fachgebiete an und schufen f ü r diese eine deutsche Begrifflichkeit. Ganz nach vorn rückte Mitteldeutschland in der Medizin, mitsamt Pharmazie, Anatomie, Physiologie, Chemie u n d Botanik. Zwei der drei größten und anerkanntesten Arzte Europas, Friedrich H o f f m a n n und Georg Ernst Stahl, lehrten in Halle. Psychiatrie und Psychosomatik wurden von den halleschen Medizinprofessoren Alberti, Krüger, Nicolai, Reil zu besonderen Zweigen der Medizin entwickelt. Das Hallesche Klinikum, die Ausbildung der Medizin- und Pharmaziestudenten am Krankenbett, eingeführt durch die halleschen Professoren Johann Juncker, Goldhagen, Reil, verbreitete sich von den Franckeschen Stiftungen und der Universität Halle über die ganze Welt. Als „bedside teaching" ist es heute von Kanada bis Neuseeland üblich. H o f f m a n n und Stahl waren im Russischen Reich so geachtet, daß sie auf Bitten der Zarenregierung und der Petersburger Akademie eine Anzahl ihrer tüchtigsten Schüler als Professoren, Arzte, Apotheker, Chemiker, Mineralogen, Botaniker und Forschungsreisende sowie als Leiter der Medizinalverwaltung des Riesenreiches vermittelten. Medizin und Naturwissenschaften gediehen dort und anderwärts großenteils auf mitteldeutschen Grundlagen. Auch in der Technik, so der Montantechnik, schritt Mitteldeutschland voraus. In Leipzig wurde die Technologie als Wissenschaft geschaffen und namentlich von Jakob Leupold (1674-1727) zur umfassenden Systemwissenschaft ausgebaut. Mitteldeutsche Grundlagen nutzte der Begründer der neueren Technologie, Johann Beckmann in G ö t tingen, der mit Gelehrten und Praktikern aufgeklärt-mitteldeutscher Prägung kooperierte, korrespondierte und kommunizierte. Zukunftsträchtige neue Wissenschaft reifte im mitteldeutschen Frühkritizismus heran. Dieser verschaffte kritischem Denken Eingang in Einzeldisziplinen, erzeugte eine kritische Geschichtsforschung mit strenger Quellenkritik, auch die Neologie als Aufklärungstheologie. Eine weitere Frucht dieses Kritizismus war die kritische neue Altertumswissenschaft, auf die sich die Weimarer Klassik stützte. D e r mitteldeutsche Frühkritizismus, der über ältere philologische Kritik hinaus zur historischen Kritik vorstieß und von verdeckter zur offenen Kritik, von antischolastischer Eklektik zum Wölfischen Empiriorationalismus, brachte so die Einzelwissenschaften voran. Aus kritisch-demonstrativem Denken erwuchsen die halleschen und Leipziger Vorstufen wie auch die Jenaer Frühstufen - diese mit Schelling, Hegel, Fichte, Niethammer, Reinhold, Karl Krause der klassischen deutschen Philosophie. Dadurch wurde der mitteldeutsche Frühkritizismus in Halle, Leipzig und Jena z u m Wegbereiter Kants, des Kantschen Kritizismus. Überdies stellte Mitteldeutschland bedeutende Interpreten, Terminologen, Kommentatoren und Weiterentwickler des Kantianismus, darunter Fichte, Karl Leonhard Reinhold, Wilhelm x Traugott Krug und Ludwig Heinrich Jakob. A m Ausgang der Frühneuzeit kam die mitteldeutsche Frühromantik von Jena, Halle, Freiberg, Weißenfels, Dresden auf, in Literatur, Wissenschaften wie der Naturphiloso16

Vgl. Klaus Zernack, Joachim Christoph Friedrich Schulz über die Polenpolitik Katharinas II., in: Deutsch-russische Beziehungen im 18. Jh., Hg. Conrad Grau/Sergej Karp / Jürgen Voss [drei Mitautoren der Festschrift für G. M.], Wiesbaden 1997, S. 375-388 (= Wolfenbütteler Forschungen 74).

Kulturherd Mitteldeutschland

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phie, in Künsten wie Malerei und Musik. All das - Klassik/Klassizismus, Kritizismus, Romantik - waren Grundlagen des Deutschen Idealismus. In der Musik gab Mitteldeutschland seit der Wittenberger Reformation im wahrsten Sinn des Wortes den Ton an. Luther wertete die Musik im kirchlichen, geselligen und Familienleben auf. In Mitteldeutschland wurden seither musikalische Talente gezielt entdeckt, ausgebildet, gefördert und beruflich abgesichert. Die Mitteldeutschen Schütz, Scheidt, Schein und Schulteis oder Schultz (latinisiert Prätorius) waren die größten deutschen Barockkomponisten, Händel, Bach, Telemann die des frühen und mittleren Aufklärungszeitalters; nicht zu vergessen die Bachsöhne, Fasch Vater und Sohn, Keiser usw. Mitteldeutsche Melodien aus der Frühneuzeit erklingen noch heute in aller Welt. Opern, Oratorien, Kantaten mitteldeutscher Komponisten von damals werden nach wie vor aufgeführt, mitteldeutsche weltliche wie geistliche Musikstücke und Weisen aus jener Zeit noch immer gespielt. Kirchenlieder aus dem frühneuzeitlichen Mitteldeutschland singt man in vielen Sprachen, bei fast allen christlichen Konfessionen. Auch Gesangbücher nichtlutherischer Kirchen enthalten Lieder von Luther und mitteldeutschen Lutheranern, so von Paul Gerhardt (1607-1676), dem in Gräfenhainichen bei Wittenberg gebürtigen Absolventen der Universität Wittenberg. Mehr als 200 Meister der Tonkunst - Komponisten und Virtuosen - schenkte das damalige Mitteldeutschland der Menschheit, ein überreiches Musikerbe. Das alte Musikzentrum Magdeburg ist daran nicht nur durch Telemann beteiligt, sondern auch durch Martin Agricola, Georg Oesterreich, Heinrich Rolle, Eberhard Müller, Friedrich Ernst Fesca und weitere. Was wäre die Musikgeschichte, was selbst die Musikkultur der Gegenwart ohne die mitteldeutschen Meister der Frühneuzeit! Deutsche Musik - und das war großenteils mitteldeutsche - hat den Deutschen mehr Sympathien in der Welt gewonnen als alles andere. Auch die Wissenschaftsgeschichte wiese ohne die Gelehrten in und aus dem Mitteldeutschland der Frühneuzeit riesige Lücken auf. Nicht anders ist es im religiösen Leben und in der Literaturgeschichte, von Luther bis Goethe. Erhard Weigel in Jena - in Halle und Leipzig gebildet - wurde zum „Erzvater der Deutschen Aufklärung", der in Leipzig und Jena gebildete Jurist und Historiker Samuel Pufendorf aus dem Erzgebirge zum „Vater der Deutschen Aufklärung". Auf Christian Wolfis Lebenswerk - er studierte in Jena und bildete sich in Leipzig weiter, bevor er in Halle lehrte - geht nach Kants Zeugnis das internationale Wort von der „deutschen Gründlichkeit" zurück. Vorwiegend Leistungen im Kulturherd Mitteldeutschland brachten die Deutschen in den Ruf, ein „Volk der Dichter und Denker" zu sein. Die gemeinsame Kulturgeschichte der deutschen Nation ist und bleibt ein Unterpfand ihrer Einheit. Mitteldeutsche Frühneuzeitkultur hat an dieser Gemeinsamkeit hervorragenden Anteil. Weimar als Kulturstadt Europas im Goethejahr 1999 und seine offizielle Aufnahme in das Weltkulturerbe sind Früchte und Spätfolgen kulturellen Schaffens im frühneuzeitlichen Mitteldeutschland. Wittenberg, Eisleben, Quedlinburg, Dessau, Wörlitz, Weimar und das Erzbergwerk Rammeisberg im Harz verkörpern international anerkanntes Weltkulturerbe. Fünf dieser bisher von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommenen sieben Stätten gehören zur Frühneuzeit - der auch das Gros der Quedlinburger Fachwerkbauten entstammt - , der Rammeisberg als sechste teilweise. Wenn die auf der Vorschlagsliste stehenden Franckeschen Stiftungen hinzukommen, werden es sechs bzw. sieben von acht.

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Monika Wagner (Zusammenstellung)

Anhaltender Beifall belohnte den Vortragenden. Magdeburgs größter Komponist Telemann setzte als künstlerischer Genius Loci mit einer Psalm-Vertonung den .Schlußakkord'. Am Abend der Festveranstaltung gab Oberbürgermeister Dr. Polte im Gästehaus der Stadt Magdeburg einen Empfang für Günter Mühlpfordt.

Empfang des Oberbürgermeisters für den Preisträger. Die Mitteldeutschland-Idee und ihre geschichtlichen Grundlagen. Zur mitteldeutschen Identität Auf dem Empfang würdigten Oberbürgermeister, Rektor und Laudator nochmals Lebenswerk und Haltung des Laureaten. Willi Polte, Klaus Erich Pollmann und Karlheinz Blaschke unterstrichen übereinstimmend, daß Mühlpfordt verdientermaßen den Preis vom Kuratorium zuerkannt bekam. Der Oberbürgermeister hob sowohl das geschichtswissenschaftliche, vorrangig kulturgeschichtliche Schaffen von Mühlpfordt hervor als auch dessen Widerstehen gegen Zwang und Druck der SED-Führung, in scheinbar aussichtsloser Lage. Mühlpfordt sei ein hervorragender Repräsentant der inneren Emigration in der Wissenschaft der DDR. Er habe allen Repressionen zum Trotz sein Wissenschaftlerethos gewahrt. Für seine Standhaftigkeit gebühre ihm aller Respekt. Die Arbeiten von Mühlpfordt seien der Identitätsfindung der Mitteldeutschen förderlich. In seiner Richtung sollten Historiker und Publizisten weiter tätig werden. Der Rektor der Otto-von-Guericke-Universität akzentuierte die geschichtswissenschaftlichen Leistungen von Mühlpfordt und bezeichnete ihn als besten Kenner der mitteldeutschen Kulturgeschichte vor allem der Frühen Neuzeit. Ihm sei der Preis vom Kuratorium mit vollem Recht zugesprochen worden, insbesondere für seine Arbeiten zur Frühen Neuzeit Mitteldeutschlands. Mühlpfordt ist, führte Rektor Pollmann aus, ein national und international anerkannter Forscher. Beeindruckend sei der weltweite Widerhall, den sein Lebenswerk in der ihm gewidmeten Festschrift, dem Sammelwerk „Europa in der Frühen Neuzeit", gefunden habe, von dem fünf Bände vorlagen und der sechste angekündigt war. Außerdem erinnerte Klaus E. Pollmann an die alte Verbindung des Preisträgers mit Magdeburgs Hochschule und Geschichte. Prof. Blaschke bekannte, wie erwähnt, daß Arbeiten von Mühlpfordt ihm die kulturgeschichtliche Bedeutung Mitteldeutschlands in der Frühen Neuzeit überzeugend vor Augen geführt und voll zum Bewußtsein gebracht haben. Anklang fand der schon zitierte Ausspruch von Karlheinz Blaschke „Alle Wasser Mitteldeutschlands fließen nach Magdeburg". Die Aussage ist stimmig: Mit der Elbe vereint strömen die Wasser von Mulde und Saale, Weißer und Schwarzer Elster, Ilm und Gera, Unstrut und Helme, Pleiße und Bode samt ihren Nebenflüssen durch Magdeburg. Das anschauliche Gleichnis wurde sogleich aufgegriffen. Es macht seither unter den Elbestädtern die Runde und wird zum geflügelten Wort. Sie verstehen es als Symbol für die Bündelung mitteldeutscher Kräfte in und um Magdeburg. In den Mittelpunkt der Gespräche während des Empfangs rückten die geschichtlichen Grundlagen der mitteldeutschen Identität und die Identitätsfindung der Mitteldeutschen aus ihrer Geschichte. Es ist Sache der Historiker und Publizisten - darin stimmte Mühlpfordt mit Polte, Pollmann, Blaschke und weiteren Anwesenden überein - , das feste historische Beziehungsgefüge Mitteldeutschland in seiner Kontinuität und seinen Wandlungen als eine komplexe Ganzheit mit gemeinsamen Zügen sichtbar zu machen, als ge-

Mitteldeutsche Identität in der Geschichte

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schlossenen (aber nicht abgeschlossenen) Geschichtsraum und zugleich als Brückenland. Zu dieser identitätsstiftenden Aufgabe sind Geschichtsschreibung und Publizistik aufgerufen, brachten die Gesprächspartner zum Ausdruck. Es gelte die historisch gewordenen - aus der Geschichte erwachsenen - , in der Gegenwart fortwirkenden Gemeinsamkeiten der Mitteldeutschen ihnen vor Augen zu führen, um sie in ihrem Geschichtsbewußtsein zu verankern und lebendig zu erhalten. Damit kann man ihnen, folgerten die Gesprächsteilnehmer, zum Bewußtwerden ihrer Zusammengehörigkeit, zu einem Gemeinschaftsgefühl, eben zur Identitätsfindung verhelfen. Dadurch wird die objektiv gegebene mitteldeutsche Identität zur subjektiven Gewißheit. Dem entsprechen der Mitteldeutschland-Begriff und das historische Mitteldeutschland-Bild von Blaschke und Mühlpfordt. Beide gehen davon aus, daß Mitteldeutschland nicht nur ein von Randgebirgen umrahmter geographischer Raum und Terminus ist, sondern ein stabiles geschichtliches Beziehungsgeflecht darstellt - ein gesamtgeschichtliches: demographisch, soziologisch, ökonomisch, politisch und vor allem kulturell, in der geistigen und äußeren Kultur. Dies hat Mühlpfordt seit 1952 in einer Reihe von Arbeiten und auf Tagungen immer wieder betont, zuletzt 1998 und 2000 in Leipzig und Halle wie auch in seinem Magdeburger Festvortrag von 1999. Worauf die geschichtliche Stabilität des Beziehungsgefüges Mitteldeutschland beruht, worin seine Gemeinsamkeiten bestehen und welches die mannigfachen Ursachen für die überragende historische Bedeutung der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur sind, hat Mühlpfordt 1998 und 2000 auf drei Tagungen - zwei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und einer für eins ihrer Mitglieder in Halle, seinen einstigen Meisterschüler Walter Zöllner37 - näher dargelegt. So war der abschließende Empfang für Mühlpfordt über das formelle Zeremoniell hinaus von einem historisch fundierten Leitgedanken getragen, von der Mitteldeutschland-Idee. Die Gespräche mündeten in die Zielsetzung aus, das MitteldeutschlandBewußtsein zu vertiefen und zu verbreiten.

Teil 2: Medienresonanz zum Preis für Forschungen über mitteldeutsche Kulturgeschichte zusammengestellt von M O N I K A W A G N E R , MAGDEBURG Die Festveranstaltung im neuen Kulturzentrum Magdeburgs fand mannigfachen Widerhall in der Öffentlichkeit. Sie zeitigte einen vielstimmigen Chor von Berichten und Meldungen, Glückwünschen und Pressekommentaren, mit Bildern, in Magdeburg, Halle, im übrigen Sachsen-Anhalt und außerhalb. Für deutschlandweite Reflexe im Blätterwald der Tages- und Wochenzeitungen wie auch in Zeitschriften und bei interessierten Persönlichkeiten sorgten die ausführlichen Reportagen und Informationen der Nachrichtenagenturen, eine Sendung des Fernsehens und ein Interview im Hörfunk.

Günter Mühlpfordt, Mitteldeutschland als Kulturherd der Frühneuzeit. Von der Wittenberger Reformation bis zur Weimarer Klassik, in: Historische Forschung in Sachsen-Anhalt. Ein Kolloquium anläßlich des 65. Geburtstages von Walter Zöllner, Hg. Heiner Lück/Werner Freitag, Stuttgart/ Leipzig 1999, S. 53-88 (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 76/3); vgl. Text zu Anm. 14, S. 7 f.

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schlossenen (aber nicht abgeschlossenen) Geschichtsraum und zugleich als Brückenland. Zu dieser identitätsstiftenden Aufgabe sind Geschichtsschreibung und Publizistik aufgerufen, brachten die Gesprächspartner zum Ausdruck. Es gelte die historisch gewordenen - aus der Geschichte erwachsenen - , in der Gegenwart fortwirkenden Gemeinsamkeiten der Mitteldeutschen ihnen vor Augen zu führen, um sie in ihrem Geschichtsbewußtsein zu verankern und lebendig zu erhalten. Damit kann man ihnen, folgerten die Gesprächsteilnehmer, zum Bewußtwerden ihrer Zusammengehörigkeit, zu einem Gemeinschaftsgefühl, eben zur Identitätsfindung verhelfen. Dadurch wird die objektiv gegebene mitteldeutsche Identität zur subjektiven Gewißheit. Dem entsprechen der Mitteldeutschland-Begriff und das historische Mitteldeutschland-Bild von Blaschke und Mühlpfordt. Beide gehen davon aus, daß Mitteldeutschland nicht nur ein von Randgebirgen umrahmter geographischer Raum und Terminus ist, sondern ein stabiles geschichtliches Beziehungsgeflecht darstellt - ein gesamtgeschichtliches: demographisch, soziologisch, ökonomisch, politisch und vor allem kulturell, in der geistigen und äußeren Kultur. Dies hat Mühlpfordt seit 1952 in einer Reihe von Arbeiten und auf Tagungen immer wieder betont, zuletzt 1998 und 2000 in Leipzig und Halle wie auch in seinem Magdeburger Festvortrag von 1999. Worauf die geschichtliche Stabilität des Beziehungsgefüges Mitteldeutschland beruht, worin seine Gemeinsamkeiten bestehen und welches die mannigfachen Ursachen für die überragende historische Bedeutung der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur sind, hat Mühlpfordt 1998 und 2000 auf drei Tagungen - zwei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und einer für eins ihrer Mitglieder in Halle, seinen einstigen Meisterschüler Walter Zöllner37 - näher dargelegt. So war der abschließende Empfang für Mühlpfordt über das formelle Zeremoniell hinaus von einem historisch fundierten Leitgedanken getragen, von der Mitteldeutschland-Idee. Die Gespräche mündeten in die Zielsetzung aus, das MitteldeutschlandBewußtsein zu vertiefen und zu verbreiten.

Teil 2: Medienresonanz zum Preis für Forschungen über mitteldeutsche Kulturgeschichte zusammengestellt von M O N I K A W A G N E R , MAGDEBURG Die Festveranstaltung im neuen Kulturzentrum Magdeburgs fand mannigfachen Widerhall in der Öffentlichkeit. Sie zeitigte einen vielstimmigen Chor von Berichten und Meldungen, Glückwünschen und Pressekommentaren, mit Bildern, in Magdeburg, Halle, im übrigen Sachsen-Anhalt und außerhalb. Für deutschlandweite Reflexe im Blätterwald der Tages- und Wochenzeitungen wie auch in Zeitschriften und bei interessierten Persönlichkeiten sorgten die ausführlichen Reportagen und Informationen der Nachrichtenagenturen, eine Sendung des Fernsehens und ein Interview im Hörfunk.

Günter Mühlpfordt, Mitteldeutschland als Kulturherd der Frühneuzeit. Von der Wittenberger Reformation bis zur Weimarer Klassik, in: Historische Forschung in Sachsen-Anhalt. Ein Kolloquium anläßlich des 65. Geburtstages von Walter Zöllner, Hg. Heiner Lück/Werner Freitag, Stuttgart/ Leipzig 1999, S. 53-88 (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 76/3); vgl. Text zu Anm. 14, S. 7 f.

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Michael Schmidt; A. Kraaz

GERALD CHRISTOPEIT, MICHAEL SCHMIDT, CLAUDIA KLUPSCH, A. KRAAZ u. a , sämtlich M A G D E B U R G Magdeburger Pressespiegel zum E i k e - v o n - R e p g o w - P r e i s 1999 3 ' Am eingehendsten berichteten die Magdeburger Lokal- und Regionalpresse sowie die Magdeburger Niederlassungen der Nachrichtenagenturen, des Fernsehens und Hörfunks über Veranstaltung und Preis. Im voraus wurde die Öffentlichkeit durch Ankündigungen, Einladungen und Vorschauen auf den bevorstehenden Festakt aufmerksam gemacht und vorbereitet, zuletzt durch die Pressekonferenz des Oberbürgermeisters am Vortag. Die monatliche Magdeburger Kultur-Vorschau kündigte in ihrem Oktoberheft 1999 die „feierliche Preisverleihung" an: „In diesem Jahr möchten die Landeshauptstadt Magdeburg und die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg mit dem Eike-von-RepgowPreis den international bekannten und anerkannten Hallenser Historiker Prof. Dr. Günter Mühlpfordt ehren und sein Lebenswerk würdigen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte des mitteldeutschen Raumes insbesondere in der Frühen Neuzeit begründeten seinen Ruf als namhaftester Kenner dieses Gebietes. Selbst die politische Diskriminierung, der er seit den 50er Jahren bis zur Wende im Herbst 1989 ausgesetzt war, konnte ihn nicht an seinen erfolgreichen Forschungen hindern. Prof. Dr. Mühlpfordt arbeitet bis zum heutigen Tage unermüdlich als Kultur-, Wissenschafts- und Universitätshistoriker."" Vier Tage vor der Preisübergabe meldete der „Magdeburger Sonntag" auf seiner Titelseite: „Den Eike-von-Repgow-Preis erhält in diesem Jahr der Hallenser Historiker Prof. Dr. Günter Mühlpfordt", für seine Verdienste um die „Forschung zur kulturgeschichtlichen Bedeutung Mitteldeutschlands von der Reformation bis zur Weimarer" Klassik.40 Am Tag der Veranstaltung brachte die Magdeburger „Volksstimme", die meistgelesene Zeitung im Norden Sachsen-Anhalts, ein vierspaltiges Biogramm über Vita und Werk des Preisträgers.4' Darin wird Mühlpfordt als „national wie international anerkannter Forscher auf dem Gebiet der mitteldeutschen Kulturgeschichte" charakterisiert. „Der 78-Jährige" werde durch die Auszeichnung „für seine wissenschaftlichen Verdienste geehrt". Dies sei eine „späte", aber nicht zu späte Anerkennung. Das Blatt erinnert in seinem biographischen Porträt auch an die politischen Repressionen, denen Mühlpfordt zwischen 1947 und 1989, hauptsächlich von 1956 bis 1983, als für das verflossene Regime „unbequemer Forscher" ausgesetzt war: „Der Fall Mühlpfordt ist vielen Wissenschaftlern bekannt: Jahrzehntelang wurde ein Historiker durch das DDR-Regime politisch verfolgt, ehe er 1990 vollständig rehabilitiert wurde [...] Vor Obrigen zu kuschen, war und ist nicht das Ding von Günter Mühlpfordt. ,Vitam impendere vero - nur die Wahrheit suchen', lautet sein Wahlspruch. Und genau das rief zu DDR-Zeiten den Staat auf den Plan. SED-Funktionäre kreideten" dem unbestechlichen Wahrheitssucher .„bürgerlichen O b jektivismus' an". Er „war bereit, intensiv fachlich zu arbeiten, nicht aber, Tatsachen zu " Gerald Christopeit und Michael Schmidt nahmen Interviews auf. " Eike-von-Repgow-Preis. Preisträger 1999 Prof. Dr. Günter Mühlpfordt, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, in: Stadtpass Magdeburg. Veranstaltungskalender für Kultur, Ausgabe Oktober 1999, S. 8. 40 Preis für Historiker, in: Magdeburger Sonntag, 24. Oktober 1999, S. 1, „Blickpunkt". 41 Michael Schmidt, Eike-von-Repgow-Preis für Günter Mühlpfordt. Der unbequeme Forscher und das späte Happy End, in: Volksstimme (Magdeburg), 28. Oktober 1999, Seite „Sachsen-Anhalt".

Der unbequeme Forscher Günter Mühlpfordt

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verzerren. Mühlpfordt machte sich Walter Ulbricht zum Feind", weil er sich den Direktiven der S E D - O b e r e n widersetzte. „Der .deutsche Stalin'" hat gegen ihn „1958 befohlen, ein Lehrverbot zu verhängen. Mühlpfordt wurde kaltgestellt, von der Universität Halle verbannt. Trotz Lehrverbots forschte er weiter." Da die Zensur ihm unablässig zusetzte, sah er sich gezwungen, Umwege zu gehen, „um seine Ergebnisse zu veröffentlichen". So mußte er manche „Arbeiten ins Ausland" bringen lassen. „Mitunter auf abenteuerlichen Wegen: Zum Beispiel nähte eine Rentnerin Typoskripte in ihre Kleidung ein und schmuggelte sie über die Zonengrenze." Einiges führte die Zeitung aus einem Telefon-Interview mit Mühlpfordt an. Zu der oft gestellten Frage, warum er .nicht nach dem Westen gegangen' sei, wird erklärt: „Aus der D D R abzuhauen, daran hatte Günter Mühlpfordt mehrmals gedacht. .Mich ließ man aber nicht entwischen. V o m Frühjahr 1956 an wurde ich unter Republikfluchtverdacht, wie das Stichwort in meinen Stasiakten lautet, von der Stasi beschattet. Auf manchen Wegen folgte mir ein Polizist mit Spürhund. Das an mir statuierte Exempel sollte abschreckend wirken.' [...] Die Auszeichnung mit dem Eike-von-Repgow-Preis empfindet der Historiker .als Verpflichtung und Ansporn zugleich.'" Ähnliche, meist kürzere Porträts erschienen in anderen Zeitungen von Magdeburg und Umgebung, von Halle wie auch in der Publizistik des weiteren Sachsen-Anhalt und in auswärtigen Nachrichtenorganen, vorrangig solchen mit mitteldeutscher Thematik oder stärkerem Interesse für Mitteldeutschland. Der Magdeburger „Generalanzeiger" brachte zwei Artikel über die Preisverleihung, den ausführlicheren in der Sonntagsausgabe. Im ersten Beitrag heißt es: „Mit der Auszeichnung wurde die Arbeit des Hallenser Historikers Prof. Dr. Günter Mühlpfordt gewürdigt [...] Mühlpfordt hat durch sein Wirken die mitteldeutsche Region weit über die Grenzen Deutschlands bekannt gemacht. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte unserer Region haben international für Aufsehen gesorgt," urteilt der „Generalanzeiger" über Arbeiten aus der Feder von Mühlpfordt zur mitteldeutschen Kultur/ 2 „insbesondere in der Frühen Neuzeit". 4 3 Unter dem Zwischentitel „Vom D D R - R e g i m e mit Berufsverbot belegt" informierte der „Generalanzeiger" über die politische Verfolgung der Preisträgers. Das Blatt zitierte aus der Ansprache von Justizministerin Karin Schubert: „,Mühlpfordt hat durch seinen Protest und seine eindrucksvolle Beharrlichkeit stillen Widerstand geleistet. Er ist ein Vorbild an Standhaftigkeit.'" Schlußkommentar des „Generalanzeigers": Die Auszeichnung sei „verdienter" Lohn „für sein Lebenswerk, das lange Zeit unter unmenschlichen Bedingungen entstehen mußte". Zum Auditorium der Festveranstaltung „gehörten viele hochrangige Vertreter aus Wissenschaft und Politik." Und: „Großen Beifall gab es" für den Vortrag und die Dankesworte des Preisträgers.44 D e r zweite Bericht im „Generalanzeiger" hält fest: Mit dem Preis ausgezeichnet wurde der „Hallenser Kultur-, Wissenschafts- und Universitätshistoriker Professor em. Dr. Günter Mühlpfordt. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte des mitteldeutschen Raumes, insbesondere in der Frühen Neuzeit, begründen seinen Ruf als namhaften Kenner dieses Gebietes." 4 5

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A. Kraaz, Politisch verfolgter Historiker erhält „Repgow-Preis" 1999. Hallenser Wissenschaftler in Johanniskirche für Forschungsarbeit ausgezeichnet, in: Generalanzeiger am Sonntag (Magdeburg), 31. Oktober 1999, Seite „Magdeburg". Eike-von-Repgow-Preis 1999, in: Generalanzeiger (Magdeburg), 3. November 1999. A. Kraaz in: Generalanzeiger am Sonntag, 31. Oktober 1999. Generalanzeiger, 3. November 1999.

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Claudia Klupsch; Gerald Christopeit

Eine menschlich-persönlich gehaltene Darstellung bot der Magdeburger „Elbe-Report". Auf dem Titelblatt ist als erstes Bild die Überreichung des Preises platziert, mit der Legende „Ausgezeichnet: Repgow-Preis an .unbeirrten Arbeiter' Professor Mühlpfordt". Der fünfspaltige Bericht im Innern beginnt: „Feierlicher Akt in der Johanniskirche [...] Den Eike-von-Repgow-Preis [...] erhält der Historiker Günter Mühlpfordt." Mühlpfordt habe „die Schlüsselrolle Mitteldeutschlands als Kulturherd der Neuzeit" erkannt. „Stadt und Universität Magdeburg würdigen mit dem Repgow-Preis Persönlichkeit und Lebenswerk" eines „aufrechten" Gelehrten, „einer Koryphäe auf seinem Gebiet". „Ein Mann, vor dem man den Hut zieht. Nicht allein wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen. Professor Mühlpfordt, Jahrgang 1921, Experte in der Geschichte Mittel- und Osteuropas. Mit 26 Jahren Begründer des halleschen Universitätsinstituts für osteuropäische Geschichte, mit 33 Professor. Ab Mitte der 50-er Jahre Repressalien, politische Diskriminierung, Lehrverbot, Verbannung von der Universität. Und das, weil Professor Mühlpfordt in seinen Schriften bekannte, Brücken schlagen zu wollen, auch zu westdeutschen Wissenschaftlern und Geschichtsfreunden. Er wollte die .Mittlerfunktion des deutschen Volkes zwischen östlichen und westlichen Ländern' betont wissen. 32 Jahre" lang wurde Mühlpfordt „als ,Störfaktor' behandelt. Vom wissenschaftlichen Austausch mit seinen Kollegen offiziell ausgeschlossen, kein Rankommen an wissenschaftliche Veröffentlichungen, statt dessen Bespitzelungen, zeitweise keine bezahlte Stellung. Auf die Frage, wie er das all die Jahre aushielt, antwortet er [...]: ,Ich arbeitete unbeirrt weiter und verlor mein Ziel, echte Wissenschaftlichkeit zu wahren, nie aus den Augen. Auch am Ideal der deutschen Einheit hielt ich fest.' Daß diese Jahre trotz an den Tag gelegtem stoischem Gleichmut an seiner Gesundheit zerrten, ist auszudenken", kommentierte die Autorin nachempfindend.46 Titel und Ausführungen knüpfen an die 50 Fragen an, die Dr. Margarete Wein von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Universität Halle-Wittenberg 1998 dem Preisträger stellte. Auf die Frage: „Woher nahmen Sie die psychische Kraft, jene 32 Jahre des Lehrverbots und der Verbannung von der Universität, 1958 bis 1989, durchzustehen?" erwiderte Mühlpfordt, daß er sich durch keinerlei Anfeindung verwirren oder beirren ließ, sondern allen Anfeindungen zum Trotz handelte: „Ich arbeitete unbeirrt weiter und verlor mein Ziel, echte Wissenschaftlichkeit zu wahren, nie aus den Augen. Auch am Ideal der deutschen Einheit hielt ich fest. In besonders kritischen Situationen versuchte ich mich abzulenken, mit stoischem Gleichmut .gelassen' zu bleiben [...] Dennoch erlitt ich auf dem Höhepunkt des Trommelfeuers im Mai 1958 einen Herzanfall." 47 Ein ebenfalls bemerkenswerter Bericht aus dem Magdeburger Presse-Ensemble erschien im Sonntagsblatt „Extra". Die „Extra"-Nummer von Ende Oktober 1999 meldete: „Die höchste Ehrung der Landeshauptstadt" wurde in einem „feierlichen Akt" dem „Historiker Prof. Mühlpfordt" zuteil. „Sowohl in einem ergreifenden Gruß wort von Justizministerin Karin Schubert48 als auch in der Laudatio des Dresdener Professors für Landesgeschichte Prof. Dr. Karlheinz Blaschke wurden die Verdienste des Historikers gewürdigt, der trotz Repressalien in der D D R zahlreiche Arbeiten zur Kulturgeschichte Mitteldeutschlands herausgab und als der Fachmann für die Kulturgeschichte Mitteldeutschlands gilt." Der Artikel schließt: „In seinem Festvortrag [...] erinnerte Professor Claudia Klupsch, „Arbeitete unbeirrt weiter." Eike-von-Repgow-Preis 1999 an Professor Günter Mühlpfordt aus Halle verliehen, in: Elbe Report (Magdeburg), 31. Oktober 1999, S. 1 und 8. " Margarete Wein, Der „Fall Mühlpfordt" 1947-1989. 50 Fragen, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Band 5, S. 807 f. (Antwort auf die Frage: „Woher nahmen Sie die psychische Kraft, jene 32 Jahre des Lehrverbots und der Verbannung von der Universität, 1958 bis 1989, durchzustehen?"). Die vorgesehene Direktorin des deutschen Bundesrates, seit Januar 2002 Berliner Senatorin für Justiz, fand besonders anerkennende und teilnahmsvolle Worte (abgedruckt oben in Teil 1, S. 13 f.). 44

„Arbeitete unbeirrt weiter." - Sprachschöpferische Kraft gewürdigt

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Mühlpfordt die über 400 Gäste an die glanzvollen Leistungen der Gelehrten Mitteldeutschlands."4' Geschichtswissenschaftlich angelegt ist der Artikel der Magdeburger Universitätszeitung, der den mehr als 1000jährigen Stadt- und kirchengeschichtlichen Hintergrund der Preisübergabe in der Johanniskirche nachzeichnet, mit Luthers Predigt von 1524 an der gleichen Stelle in der zeitlichen Mitte: Die Überreichung fand 1058 Jahre nach der frühesten bezeugten Nennung dieser altehrwürdigen Magdeburger Kirche statt und 475 Jahre nach Luthers denkwürdiger Predigt in ihr. Der Autor, der zweite Schriftleiter des „Magdeburger Wissenschaftsjournals", verweist auf die historischen Antezedenzien: „Daß der erste akademische Festakt [...] in der wiedererrichteten Magdeburger Johanniskirche die Verleihung des Eike-von-Repgow-Preis 1999 an Prof. Dr. Günter Mühlpfordt war, hat durchaus symbolische Bedeutung. In der 941 erstmals urkundlich erwähnten ältesten Pfarrkirche Magdeburgs predigte Martin Luther auf Drängen der Elbestädter. Hier befand sich auch das Familiengrab Otto von Guerickes. Die Grundmauern des im 30jährigen Krieg verheerten und im II. Weltkrieg zerbombten Gotteshauses galten bis zu dessen abermaligem Neuaufbau und der Eröffnung als Kulturzentrum am 2. Oktober 1999 als Symbol der Zerstörung [...] Die historische Bedeutung Magdeburgs, Mitteldeutschlands und des auf Eike von Repgows Sachsenspiegel fußenden Magdeburger Rechtes für Europa waren auch der rote Faden, der sich durch die Reden der Justizministerin des Landes Sachsen-Anhalt, Karin Schubert, des Magdeburger Oberbürgermeisters, Dr. Willi Polte, und des Laudators, Prof. Dr. Karlheinz Blaschke, zog. Sowohl Prof. Dr. Blaschke, ein Schicksalsgefährte Günter Mühlpfordts, als auch Rektor Pollmann würdigten besonders die s p r a c h s c h ö p f e r i s c h e Kraft ihres Fachkollegen [...] ein Potential, welches der Laureat im folgenden Festvortrag sogleich sowohl sprachlich als auch wissenschaftlich überzeugend dokumentierte. Der international renommierte Hallenser Kultur-, Wissenschafts- und Universitätshistoriker, mit den Spezialgebieten Mitteldeutschland und Osteuropa, Günter Mühlpfordt, erfuhr mit der Preisverleihung eine späte Würdigung. Seit 1948 war Mühlpfordt Angriffen wegen seines angeblich .bürgerlichen Objektivismus' ausgesetzt. Besonders SED-Generalsekretär Walter Ulbricht, der sich selbst für einen genialen Historiker hielt, verfolgte dessen Wirken mit großem Haß." Unter dem Zwischentitel „Lehrverbot" schildert der Redakteur der Universitätszeitschrift die Verfolgung des Preisträgers durch das Ulbricht-Regime: „Obwohl Mühlpfordt das Institut für Osteuropäische Geschichte an der Universität Halle selbst aufgebaut hatte, verbot man im Mai 1953 seine Antrittsvorlesung. Chefideologe Kurt Hager und der Staatsratsvorsitzende ließen ihn, da er den Kniefall verweigerte, 1958 aller Universitätsämter entheben und Lehrverbot erteilen. 1962 erfolgte ein zusätzliches Berufs- und Publikationsverbot. Fortan forschte er als stellungsloser Privatgelehrter ohne festes Einkommen auf dem Gebiet der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa sowie der Reformation. Seine Forschungsergebnisse, die durch die Verknüpfung von Reformation und Aufklärung ihre besondere Prägung erhielten, publizierte der Historiker dennoch in großer Zahl und auf oft abenteuerlichen Umwegen."50

" Repgow-Preis für Prof. Dr. Günter Mühlpfordt, in: Extra am Sonntag (Magdeburg), 31. Oktober 1999. Gerald Christopeit, Sprachschöpferische Kraft gewürdigt. Eike-von-Repgow-Preis ging an Professor Günter Mühlpfordt, in: Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Universitäts-Report, Dezember 1999, S. 6.

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Karola Waterstraat; Margarete Wein

K A R O L A WATERSTRAAT, M A R G A R E T E W E I N , beide H A L L E , u. a. Hallesches E c h o auf den M a g d e b u r g e r M i t t e l d e u t s c h l a n d - P r e i s Nächst dem Schauplatz Magdeburg war Halle der zweite Hauptort der Medienresonanz. Eröffnet wurde das hallesche Echo von der „Mitteldeutschen Zeitung", der verbreitetsten Tageszeitung (Auflage „354.000") im südlichen Sachsen-Anhalt. Schon vom Namen her zuständig für eine Begebenheit, bei der es um Mitteldeutschlands Geschichte ging, informierte die „MZ" ihre Leser auf der ersten Seite über das Magdeburger Geschehen. In Form eines Artikels zur Person, von Karola Waterstraat, brachte die Mitteldeutsche Zeitung ihren Bericht bereits am Tag der Preisübergabe. In diesem Feuilleton wird die Zuerkennung des Eike-von-Repgow-Preises mit den Worten kommentiert: „Gewürdigt werden die Forschungen Mühlpfordts zur mitteldeutschen Kulturgeschichte und zur Geschichte Osteuropas. 51 Gleichzeitig gilt die Anerkennung einem Wissenschaftler, der in der D D R mit Berufsverbot belegt war und der 1990 als einer der ersten in den neuen Bundesländern rehabilitiert worden ist." Aus den zehn Kampagnen von SED-Funktionären und SED-Führung gegen Mühlpfordt (1947,1948,1951,1952,1953, 1956,1957, 1958,1962 und ab 1963) greift der Bericht der „MZ" die fünfte, die von 1953, mit dem Verbot seiner Antrittsvorlesung als Universitätsdozent im Mai 1953 heraus: „1953 gerät Mühlpfordt" (wie schon zuvor ab 1947 und danach bis 1989) „in Konflikt mit der Staatsideologie." Dieser Konflikt verschärfte sich seit 1955: „Zunehmend sieht sich Mühlpfordt in seiner wissenschaftlichen Arbeit Repressalien ausgesetzt. Auf Anweisung von Walter Ulbricht wird Mühlpfordt 1958 aller Ämter enthoben. Er erhält Lehrverbot. 1962 folgen Entlassung und Berufsverbot." 52 Auch andere hallesche Blätter berichteten. So meldete der in einer „Auflage von 715.700" kursierende „Wochenspiegel", daß ein Hallenser „den Eike-von-Repgow-Preis der Universität und der Stadt Magdeburg erhielt", für seine „herausragenden Leistungen bei der Erforschung der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands", insbesondere der „Mitteldeutschen Aufklärung mit ihren Brennpunkten Halle und Leipzig". 53 Die sachkundigsten halleschen Überblicke über den Magdeburger Festakt kamen aus der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit beim Rektorat der Universität Halle-Wittenberg: durch die Medieninformation der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und einen Artikel der Universitätszeitung. Beide stammen von Dr. Margarete Wein, die als Teilnehmerin an Veranstaltung und Empfang sowie als Interviewerin des Preisträgers" genauestens unterrichtet war. Hier zunächst die leicht ergänzte Medieninformation von Frau Dr. Wein: „Prof. Dr. phil. habil. Günter Mühlpfordt, emeritierter Ordentlicher Professor der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, nahm am 28.Oktober 1999 aus den Händen des Oberbürgermeisters von Magdeburg, Dr. Willi Polte, und des Rektors der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg, Prof. Dr. Klaus E. Pollmann, den Eike-von-Repgow-Preis entgegen. Die Bronze-Statuette des Bildhauers Heinrich Apel, die den mittelalterlichen Rechtsgelehrten Eike von Repgow aus Reppichau in Anhalt (um 1180 bis nach 1233) darstellt - der durch seinen Sachsenspiegel berühmt geworden ist - , und die Ehrenur" Arbeiten von Mühlpfordt zur Geschichte des östlichen Europa (Ostmittel-, Nordost-, Ost- und Südosteuropa) fielen bei der Preisvergabe insoweit ins Gewicht, als sie mitteldeutsche Einwirkungen auf den Ostteil des Kontinents nachweisen, erhellen und dokumentieren. " Karola Waterstraat, Wissenschaftliche Arbeit trotz Berufsverbots. Prof. Günter Mühlpfordt erhält Eike-von-Repgow-Preis, in: Mitteldeutsche Zeitung, 28. Oktober 1999, S. 1. " Repgow-Preis für Hallenser, in: Wochenspiegel (Halle), 3. November 1999, S. 9. " Europa in der Frühen Neuzeit, Band 5, S. 777-819.

Wissenschaftliche Arbeit trotz Berufsverbot

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künde wurden in einer feierlichen Veranstaltung in der kürzlich als Festhalle der Landeshauptstadt eingeweihten, restaurierten Johanniskirche überreicht. In Grußworten und Ansprachen kam immer wieder, neben der Hochachtung vor der wissenschaftlichen Leistung des halleschen Historikers, die Wertschätzung und Bewunderung seiner persönlichen Integrität zum Ausdruck, an der er - allen politischen Anfeindungen zwischen 1947 und 1989 zum Trotz - unbeirrbar und beharrlich festhielt. Die Justizministerin des Landes Sachsen-Anhalt, Karin Schubert, und der Laudator, der Dresdner Professor Karlheinz Blaschke, ein Fachkollege des Preisträgers, wiesen auf die von Günter Mühlpfordt stets gewahrte Einheit von Lehre und Leben, auf sein kompromißloses Wissenschaftlerethos hin und auf die daraus erwachsene Vorbildfunktion für die junge Generation. Mit dem 1998 gestifteten Preis wollen Stadt und Universität Magdeburg jährlich ,herausragende Leistungen bei der Erforschung der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands' würdigen. Der Preis wird an deutsche oder ausländische Wissenschaftler vergeben, die sich in ihrem .wissenschaftlichen oder literarischen Werk insbesondere mit der historischen Region Sachsen als Thema der Geschichte, der Rechtsgeschichte, der Germanistik oder der Sozialwissenschaften in herausragender Weise beschäftigt haben', wobei wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen ,über die Wirkung der historischen Region Sachsen auf den west- und osteuropäischen Raum' ein Hauptaugenmerk gilt. Alle diese Kriterien treffen auf Prof. Dr. Günter Mühlpfordt in höchstem Maße zu. Seit Beginn seiner Universitätslaufbahn 1947 und schon zuvor bildete Mitteldeutschland ein Hauptgebiet seiner Arbeit, vorrangig bei der Erforschung der wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen in und aus dieser Region, die auf ganz Europa und in vielen Fällen sogar weltweit ausstrahlten. Seine Forschungen umspannen die gesamte Frühe Neuzeit, von den Anfängen der Reformation bis zum Ausgang des Zeitalters der Aufklärung. Sein Lebensthema ist die Mitteldeutsche Aufklärung mit ihren Brennpunkten Halle und Leipzig und ihrer Ausstrahlung auf den deutschen Kulturraum, auf Europa - vor allem das östliche Europa - und die ganze Welt. Besonders wichtig war und ist ihm der Brükkenschlag zwischen Ost und West, von seinen Wurzeln in der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Dies lief der herrschenden SED-Doktrin direkt zuwider. Deshalb und aus einer Reihe weiterer Gründe wurde Mühlpfordt politisch verfolgt, von seinen Universitätsämtern entfernt, 1958 mit Lehrverbot belegt und 1962 entschädigungslos aus der Martin-Luther-Universität entlassen. 1990 wurde er als einer der ersten vom SEDRegime verfolgten und diffamierten Wissenschaftler vom Minister für Bildung und Wissenschaft Prof. Dr. Hans Joachim Meyer - dem jetzigen Sächsischen Staatsminister für Wissenschaft und Kunst - wie auch vom gewählten neuen Rektor und vom Senat der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vollständig rehabilitiert. Seinen Festvortrag hielt Günter Mühlpfordt zum Thema ,Der Kulturherd Mitteldeutschland im frühneuzeitlichen Europa'. Er brachte darin die Schlüsselrolle Mitteldeutschlands in Kultur, Wissenschaft, Technik, Bildung, Literatur, Publikationswesen, Kunst und besonders Musik nahe, spannte einen weiten Bogen von der Wittenberger Reformation bis zur Weimarer Klassik und über diese hinaus. Dabei betonte Mühlpfordt die Bedeutung der mitteldeutschen Universitäten Halle, Leipzig, Jena und Wittenberg in jener Zeit für Deutschland, Europa und die Welt. Mit dem Eike-von-Repgow-Preis 1999 wurde ein Wissenschaftler geehrt, dessen Lebenswerk unter schwierigsten Bedingungen entstand und der dennoch zu den national wie international anerkannten Koryphäen seines Faches zählt."55 " M[argarete] W[ein], Eike-von-Repgow-Preis 1999 für halleschen Gelehrten, in: Rektorat der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Medieninformation, 3. November 1999.

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Margarete Wein; Monika Wagner (Zusammenstellung)

Die universitäre Medieninformation durch Margarete 'Wein diente anderen Nachrichtenagenturen als Vorlage für Auszüge und Paraphrasen, Interpretationen und Kommentare, direkt oder indirekt - via Magdeburger Verlautbarungen. Die Ausgabe November 1999 der halleschen Universitätszeitung enthält einen halbseitigen Artikel, mit orientierenden Zwischentiteln, gleichfalls von Frau Dr. Wein. Er besteht aus den Abschnitten „Der Preis", „Die Auswahlkriterien", „Der Preisträger", „Strafe für den Brückenschlag" sowie „Der Festvortrag". Näher geht der Artikel auf Vita und Verfolgungsgeschichte des Laureaten nach der entschädigungslosen Entlassung ein: „Unbeirrbar hat er an seinem Wissenschaftlerethos festgehalten und über Jahrzehnte - teils unter enormen Schwierigkeiten und lange ohne festes Einkommen - als .Privatgelehrter' weitergeforscht und, soweit dies möglich war, publiziert. Seine Reputation als Historiker führte dazu, daß Günter Mühlpfordt trotz seiner ideologischen Mißliebigkeit zu DDR-Zeiten mehrfach das Hauptreferat bei internationalen Fachtagungen hielt." Über die chronologische Abgrenzung der Frühneuzeit heißt es im Artikel von Margarete Wein in der halleschen Universitätszeitung: „Der Festvortrag Günter Mühlpfordts [...] stand unter dem Motto ,Der Kulturherd Mitteldeutschland im frühneuzeitlichen Europa'. Diese historische Großepoche markierte er, der von jeher formale Einteilungen der Geschichte nach Jahrhunderten oder Jahrzehnten abgelehnt hat, mit dem Jahr der Gründung der Wittenberger Universität 1502 und dem ihrer Vereinigung mit der halleschen Fridericiana 1817." Und zum Gedankengang des Festvortrags: „In vielfältigen Facetten brachte er dem Auditorium die Schlüsselrolle Mitteldeutschlands in Kultur, Wissenschaft, Technik, Bildung, Kunst und Musik nahe." Der Weg der kulturellen Bewegungen und die kulturellen Entwicklungsstufen „von der Wittenberger Reformation bis zur Weimarer Klassik und über diese hinaus" werden wiederum umrissen und „die Bedeutung der mitteldeutschen Universitäten" wird erneut unterstrichen. Der Artikel schließt ebenfalls mit dem Passus, daß Mühlpfordt, obwohl sein „Lebenswerk unter schwierigsten Bedingungen entstand [...] zu den national wie international anerkannten Koryphäen seines Faches zählt".56

Meldungen der Nachrichtenagenturen über Preis und Preisträger Die großen Nachrichtenbüros: Deutsche Presse-Agentur (dpa, Hamburg) und Deutscher Depeschen Dienst (ddp, Berlin) / Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN, Berlin) verbreiteten sechs Verlautbarungen ihrer Magdeburger Niederlassungen über die Veranstaltung in der Johanniskirche. Die Hamburger Deutsche Presse-Agentur brachte vier Informationen über Preis und Preisträger. Die Agenturen belieferten auch den Blätterwald und andere Medien der alten Bundesländer mit „Infos" über das Ereignis in der Elbestadt. Vornehmlich Zeitungen außerhalb Sachsen-Anhalts ohne eigenen Korrespondenten in Magdeburg fußten auf den Informationen der Agenturen. Am Vortag der Veranstaltung boten die Agenturen Vorschauen anhand der Pressekonferenz von Oberbürgermeister Dr. Polte vom gleichen Tag. So kündigte die Deutsche Presse-Agentur in ihrer ersten Meldung zur Preisvergabe an: „Der Historiker Günter Mühlpfordt von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erhält den diesjähri56

Margarete Wein, Günter Mühlpfordt in Magdeburg geehrt. Eike-von-Repgow-Preis für halleschen Historiker, in: Universitätszeitung Halle, November 1999, S. 5. - Auf Fragen von Frau Dr. Wein antwortete G. M. im erwähnten Interview am Ende von Band 5 (1999) vorliegender Festschrift (S. 777-819).

Nachrichtenagenturen über Preis und Preisträger

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gen Eike-von-Repgow-Preis. Die [...] Auszeichnung [...] wird dem 78-jährigen Wissenschaftler" für seine „Arbeiten zur Kulturgeschichte des mitteldeutschen Raumes" zuerkannt. „Mit dem Preis wollen die Stifter nach den Worten von Magdeburgs Oberbürgermeister Willi Polte (SPD) die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands fördern. [...] Mühlpfordts Arbeiten zur Kulturgeschichte des mitteldeutschen Raumes würden dem gerecht."57 Informativ auch im Persönlichen ist die erste Meldung des Berliner Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes, dessen Vorschau ebenfalls aus der Pressekonferenz von Dr. Polte schöpft und außerdem Daten zur wissenschaftlichen Biographie des Preisträgers übermittelt: „Der Eike-von-Repgow-Preis der Stadt Magdeburg und der Otto-vonGuericke-Universität wird [...] dem halleschen Historiker Günter Mühlpfordt übergeben. Der 78-jährige Wissenschaftler der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erhält die [...] Auszeichnung für seine Forschungen auf dem Gebiet mitteldeutscher Kulturgeschichte [...] Mühlpfordt hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die OsteuropaInstitute an der Universität Halle und der Berliner Humboldt-Universität mit aufgebaut.5" Wegen politischer Probleme mit dem DDR-Regime wurde er 1962 entlassen. Nach der Wende wurde er als einer der ersten Wissenschaftler der neuen Bundesländer rehabilitiert."59 Die zweite dpa-Meldung unterrichtet über den Namengeber des Preises, den „Rechtskundigen Eike von Repgow", seine Lebensumstände, seinen Sachsenspiegel sowie dessen Nahausstrahlung auf Deutschland und Fernausstrahlung auf weite Teile Europas, wo man sich nach ihm richtete. Schon in der ersten dpa-Meldung heißt es: „Das Rechtsbuch hatte bis weit nach Osteuropa Geltung." In der zweiten wies dpa darauf hin, daß man über Mitteldeutschland hinaus besonders „in Norddeutschland und am Niederrhein"60 nach dem Sachsenspiegel Recht sprach, ja daß er sogar „in Böhmen,61 Polen und der heutigen Ukraine" Eingang fand." Die dritte dpa-Mitteilung, vom Tag der Festveranstaltung, besagt: „Der Historiker Günter Mühlpfordt von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wird [...] mit dem Eike-von-Repgow-Preis ausgezeichnet [...] Mit dem Preis werden die wissenschaftlichen Arbeiten des 78-Jährigen zur Kulturgeschichte des mitteldeutschen Raumes gewürdigt. Mühlpfordt ist durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte Mitteldeutschlands international bekannt. 1962 war ihm in der DDR ein Berufsverbot erteilt worden. 1990 wurde er als einer der ersten Wissenschaftler rehabilitiert."63 Der letzte Satz bezieht sich auf die Wissenschaftler der neuen Bundesländer. Die vierte und letzte dpa-Meldung, am Abend nach dem Festakt, enthält die Passagen: „Der Historiker Günter Mühlpfordt aus Halle ist [...] mit dem Eike-von-Repgow-

" Deutsche Presse-Agentur, Sachsen-Anhalt (Magdeburg), 27. Oktober 1999: Historiker Mühlpfordt erhält Eike-von-Repgow-Preis. s * Mühlpfordt führte ab 1947 den Aufbau des halleschen Universitätsinstituts für Osteuropäische Geschichte durch und leitete 1949-1951 den Wiederaufbau des Berliner Seminars für Osteuropäische Geschichte. 59 Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, Magdeburg, 27. Oktober 1999: Eike-von-Repgow-Preis geht an Historiker in Halle. 10 Auch in Süd- und Ostdeutschland sowie am Mittelrhein. " Genauer: in den Böhmischen Ländern (in Mähren ebenfalls). " Deutsche Presse-Agentur, Sachsen-Anhalt (Magdeburg), 27. Oktober 1999: Eike von Repgow verfaßte den „Sachsenspiegel". 63 dpa, Sachsen-Anhalt (Magdeburg), 28. Oktober 1999: Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises in Magdeburg.

Franz Heinz; Frau Kirschner

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Preis ausgezeichnet worden [...] Mit dem Preis werden die wissenschaftlichen Arbeiten des 78-jährigen Hallensers zur Kulturgeschichte des mitteldeutschen Raumes gewürdigt. Mühlpfordt ist durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Kulturgeschichte Mitteldeutschlands international bekannt. In der D D R forschte er jahrzehntelang, obwohl er" v o m R e gime mit Berufsverbot belegt war. „1990 wurde er als einer der ersten Wissenschaftler rehabilitiert." 6 4 In der zweiten A D N - M e l d u n g , gleichfalls unmittelbar nach der Festveranstaltung, heißt es: „Der Historiker Günter Mühlpfordt ist mit dem Eike-von-Repgow-Preis ausgezeichnet worden. Justizministerin Karin Schubert (SPD) würdigte [...] bei der Preisverleihung [...] den .unermüdlichen Einsatz' des 78-jährigen Wissenschaftlers aus Halle ,die Kulturgeschichte des mitteldeutschen Raumes zu erforschen und - trotz politischer Diskriminierung - darzustellen'. Damit habe Mühlpfordt die Region weit über die deutschen Grenzen hinaus bekannt gemacht. Mühlpfordt hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die Osteuropa-Institute an der Universität Halle und der Berliner HumboldtUniversität mit aufgebaut. Wegen politischer Probleme mit dem D D R - R e g i m e wurde er 1962 entlassen. N a c h der W e n d e ist er als einer der ersten Wissenschaftler der neuen Bundesländer rehabilitiert worden. D e r Professor erhält die [...] Auszeichnung [...] für seine Forschungen auf dem Gebiet der mitteldeutschen Kulturgeschichte." 6 5

B o n n e r und andere auswärtige Publizistik z u m Mitteldeutschland-Preis D e r B o n n e r „ K u l t u r - R e p o r t " stellte an die Spitze seiner „Mitteilungen" im N o v e m b e r 1 9 9 9 die Nachricht: „Mit dem diesjährigen Eike-von Repgow-Preis 6 6 wurde in Magdeburg der Historiker Prof. D r . Günter Mühlpfordt ausgezeichnet. D e r Hallenser Wissenschaftler widmet sich in seiner Arbeit besonders der kulturgeschichtlichen Bedeutung Mitteldeutschlands von der Reformation bis zur Weimarer Klassik. Anfang der sechziger Jahre erhielt Professor Mühlpfordt Berufsverbot. 1990 wurde er [...] rehabilitiert. E r " dpa, Sachsen-Anhalt (Magdeburg), 28. Oktober 1999: Eike-von-Repgow-Preis an Historiker Mühlpfordt verliehen. 65 A D N , Magdeburg, 29. Oktober 1999: Eike-von-Repgow-Preis an Historiker Günter Mühlpfordt verliehen. " Die Schreibweise „Eike-von Repgow-Preis", ohne Bindestrich zwischen „von" und „Repgow" (kein Druckfehler), ist orthographisch vertretbar, weil es sich um zusammengehörige Teile eines Namens handelt. Bei deutschen Namen aus Mittelalter und beginnender Neuzeit ist zudem das „von" oft nicht Adelsprädikat, sondern Herkunftsbezeichnung (Heimatort). Daher wird nicht der Zu-, sondern der Vorname dekliniert (Wolframs von Eschenbach, Walthers von der Vogelweide). Repgow (Eikes von Repgow oder Eike von Repgows) ist insofern ein Grenzfall, als hier, wie bei vielen Adelsgeschlechtern, der Orts- zum Familiennamen wurde. Umstritten bleibt überdies, ob zwischen Vor- und Zunamen ein Strich nötig, angebracht oder angängig ist (analog bei Titeln: Kaiser Wilhelm-Gesellschaft sowie deren Nachfolgerin, die Max-Planck-Gesellschaft) und die Frage, was zu deklinieren ist: neben KaiserWilhelm-Kanal und Kaiser-Wilhelms-Land Georg-August-Universität Göttingen, aber: LudwigMaximilians-Universität München. Selbst bei Universitätsnamen besteht keine Einheitlichkeit: MartinLuther-Universität, Otto-von-Guericke-Universität, Ernst-Moritz-Arndt-Universität, aber Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; Georg-August-Universität Göttingen, jedoch Ludwig-Maximilians-Universität München und Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Demnach sind auch die Schreibungen Eike von Repgow-Preis, Eicke von Repgow-Preis (so Karlheinz Blaschke) und Eikevon Repgow-Preis (wie im Bonner Kultur-Report) zulässig sowie beide Genitive: Eikes von Repgow oder Eike von Repgows. Die Schreibung Eike von Repkow ist ebenfalls belegt. Außerdem sind die Namensformen Repgau, Repegouw, Repchowe, Repichowe und Repechowe überliefert, vom Vornamen die Schreibungen Eicke, Eyke, Eiko.

Bonner und andere Publizistik

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ist Mitglied des Beirats des Mitteldeutschen Kulturrates, Bonn." 67 In dieser Mitteilung wird als ein Leitgedanke der Forschungen von Mühlpfordt die „kulturgeschichtliche Bedeutung Mitteldeutschlands von der Reformation bis zur Weimarer Klassik" hervorgehoben. Der mit mitteldeutscher Kultur und Geschichte befaßte Bonner „Kultur-Report" bietet ein Beispiel für das Zeitschriftenecho und zugleich für die Resonanz in den alten Bundesländern. Ahnlich lautet der Bericht der evangelischen Kirchenzeitung, die ihn in ihren Nachrichten „Von Personen" brachte. Er besagt, daß „der Hallenser Professor Dr. Günter Mühlpfordt" den „Eike-von-Repgow-Preis" dafür „erhielt", daß er „besonders die Geschichte des mitteldeutschen Raumes erforscht und kritisch betrachtet hat". Auch diese Wochenzeitung erinnerte an die Verfolgung des Preisträgers: Mühlpfordt „war seit 1962 als politischer Gegner des DDR-Regimes mit einem Berufsverbot belegt und wurde bespitzelt und denunziert. 1990 wurde der Historiker vollständig rehabilitiert." 68 In der Hauptstadt der Altmark, Stendal, gab man am Tag der Preisüberreichung bekannt: „Der Historiker Günter Mühlpfordt von der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg erhält den diesjährigen Eike-von-Repgow-Preis [...] der Stadt Magdeburg und der Otto-von-Guericke-Universität. Die [...] Auszeichnung [...] wird dem 78-Jährigen" für seine Arbeiten zur „Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands" zuerkannt. 69 Weitere mitteldeutsche und andere deutsche Presseorgane, Fernseh- und H ö r f u n k sender informierten im Oktober oder November 1999 über die Auszeichnung. Gemeinsam ist der Medienresonanz, daß neben der wissenschaftlichen Leistung die politische „Standhaftigkeit", der „Widerstand" des Preisträgers gegen ein engstirniges, reglementierendes autoritäres Regime unterstrichen wird.

F e r n s e h e n u n d H ö r f u n k über die Preisvergabe Sowohl beim Fernsehen wie beim H ö r f u n k machte der - ebenfalls schon vom Namen und vor allem vom Sendebereich her zuständige - Mitteldeutsche Rundfunk auf das Magdeburger Ereignis aufmerksam. Die Interviewerin des Hörfunks, Frau Kirschner, nahm unmittelbar vor der Festveranstaltung ein Gespräch mit dem Preisträger auf.70 Sie bezog auch dessen Vita und wissenschaftlichen Werdegang in ihre Fragen ein. Darüber informierte sie die Hörer darauf in einer Sendung. Das Fernsehen, gleichfalls vom Mitteldeutschen Rundfunk, brachte sogleich am 28. Oktober 1999, noch in den Tagesnachrichten, Bilder von der Festveranstaltung mit der Überreichung des Preises.

Teil 3: Widerhall der Auszeichnung Anläßlich der Auszeichnung mit dem Eike-von-Repgow-Preis wurde der Preisträger wie zur 75. und 80. Wiederkehr des Geburtstags, zur Festschrift, zum ersten und zweiten Ehrenkolloquium im Dezember 1997 und Oktober 2001 - mit Glückwünschen " Kultur-Report. Vierteljahreshefte des Mitteldeutschen Kulturrats (Redaktion: Franz Heinz), H e f t 1920, (Bonn, November 1999), S. 48. " Die Kirche (Ausgabe Kirchenprovinz Sachsen), 7. November 1999, Rubrik „Von Personen". " Auszeichnung für Mühlpfordt, in: Stendaler Nachrichten, 28. Oktober 1999, Seite „Sachsen-Anhalt". Die gesamte Festveranstaltung wurde - gleich wesentlichen Teilen der Ehrenkolloquien von 1997 und 2001 - auf Kassette aufgezeichnet.

Bonner und andere Publizistik

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ist Mitglied des Beirats des Mitteldeutschen Kulturrates, Bonn." 67 In dieser Mitteilung wird als ein Leitgedanke der Forschungen von Mühlpfordt die „kulturgeschichtliche Bedeutung Mitteldeutschlands von der Reformation bis zur Weimarer Klassik" hervorgehoben. Der mit mitteldeutscher Kultur und Geschichte befaßte Bonner „Kultur-Report" bietet ein Beispiel für das Zeitschriftenecho und zugleich für die Resonanz in den alten Bundesländern. Ahnlich lautet der Bericht der evangelischen Kirchenzeitung, die ihn in ihren Nachrichten „Von Personen" brachte. Er besagt, daß „der Hallenser Professor Dr. Günter Mühlpfordt" den „Eike-von-Repgow-Preis" dafür „erhielt", daß er „besonders die Geschichte des mitteldeutschen Raumes erforscht und kritisch betrachtet hat". Auch diese Wochenzeitung erinnerte an die Verfolgung des Preisträgers: Mühlpfordt „war seit 1962 als politischer Gegner des DDR-Regimes mit einem Berufsverbot belegt und wurde bespitzelt und denunziert. 1990 wurde der Historiker vollständig rehabilitiert." 68 In der Hauptstadt der Altmark, Stendal, gab man am Tag der Preisüberreichung bekannt: „Der Historiker Günter Mühlpfordt von der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg erhält den diesjährigen Eike-von-Repgow-Preis [...] der Stadt Magdeburg und der Otto-von-Guericke-Universität. Die [...] Auszeichnung [...] wird dem 78-Jährigen" für seine Arbeiten zur „Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands" zuerkannt. 69 Weitere mitteldeutsche und andere deutsche Presseorgane, Fernseh- und H ö r f u n k sender informierten im Oktober oder November 1999 über die Auszeichnung. Gemeinsam ist der Medienresonanz, daß neben der wissenschaftlichen Leistung die politische „Standhaftigkeit", der „Widerstand" des Preisträgers gegen ein engstirniges, reglementierendes autoritäres Regime unterstrichen wird.

F e r n s e h e n u n d H ö r f u n k über die Preisvergabe Sowohl beim Fernsehen wie beim H ö r f u n k machte der - ebenfalls schon vom Namen und vor allem vom Sendebereich her zuständige - Mitteldeutsche Rundfunk auf das Magdeburger Ereignis aufmerksam. Die Interviewerin des Hörfunks, Frau Kirschner, nahm unmittelbar vor der Festveranstaltung ein Gespräch mit dem Preisträger auf.70 Sie bezog auch dessen Vita und wissenschaftlichen Werdegang in ihre Fragen ein. Darüber informierte sie die Hörer darauf in einer Sendung. Das Fernsehen, gleichfalls vom Mitteldeutschen Rundfunk, brachte sogleich am 28. Oktober 1999, noch in den Tagesnachrichten, Bilder von der Festveranstaltung mit der Überreichung des Preises.

Teil 3: Widerhall der Auszeichnung Anläßlich der Auszeichnung mit dem Eike-von-Repgow-Preis wurde der Preisträger wie zur 75. und 80. Wiederkehr des Geburtstags, zur Festschrift, zum ersten und zweiten Ehrenkolloquium im Dezember 1997 und Oktober 2001 - mit Glückwünschen " Kultur-Report. Vierteljahreshefte des Mitteldeutschen Kulturrats (Redaktion: Franz Heinz), H e f t 1920, (Bonn, November 1999), S. 48. " Die Kirche (Ausgabe Kirchenprovinz Sachsen), 7. November 1999, Rubrik „Von Personen". " Auszeichnung für Mühlpfordt, in: Stendaler Nachrichten, 28. Oktober 1999, Seite „Sachsen-Anhalt". Die gesamte Festveranstaltung wurde - gleich wesentlichen Teilen der Ehrenkolloquien von 1997 und 2001 - auf Kassette aufgezeichnet.

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Reinhard Höppner; Reinhard Kreckel

überhäuft. Kollegen, ehemalige Schüler und Mitarbeiter gratulierten, Professoren und Rektoren, Minister und Präsidenten, Institute und Institutionen, darunter drei Universitätsrektoren und sechs Präsidenten. Groß war wieder die Zahl sowohl der schriftlichen Glückwünsche als auch die der persönlichen. Die Gratulanten gehören den verschiedensten Fächern der Frühneuzeitforschung an: Historiker, Germanisten, Philosophen, Theologen, Rechtswissenschaftler, Physiker und andere Naturwissenschaftler, Soziologen, Politologen, Slawisten, Romanisten, Mathematiker schrieben, riefen an und beglückwünschten persönlich.

R E I N H A R D H Ö P P N E R , MAGDEBURG; KARIN SCHUBERT, MAGDEBURG/BERLIN, u. a. Magdeburger G l ü c k w ü n s c h e zur E h r u n g mit E i k e - v o n - R e p g o w - P r e i s Am Tag der Festveranstaltung wurde der Preisträger, wie erwähnt, mit Glückwünschen geradezu überschüttet. Zu den Magdeburger Gratulanten zählten Professoren und andere Wissenschaftler der Universität, Publizisten, Stadträte aus der Umgebung des Oberbürgermeisters und dessen engste Mitarbeiter. Hinzu kamen Geschichtsfreunde, Freizeitforscher, Lokalhistoriker und weitere Liebhaber der Stadtgeschichte sowie Freimaurerforscher. Vertreter der Landesregierung gratulierten im Namen ihrer Minister und im eigenen. Justizministerin Karin Schubert sprach in Person ihre Glückwünsche aus. Eine Glückwunschadresse sandte der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Dr. rer. nat. Reinhard Höppner. Für Mühlpfordt war Dr. Höppner schon aus der Vorwendezeit, als der mitteldeutsche Pfarrerssohn und Sohn einer Katechetin gleich ihm „gegen den Wind segelte", ein Begriff, ein dreifacher: der Diplom-Mathematiker als MathematikLektor beim Berliner Akademieverlag, das vorherige aktive Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde als Präses (seit 1980) der Synode der Kirchenprovinz Sachsen der Evangelischen Kirche der Union in Magdeburg, schließlich als umsichtig amtierender, die Geschäftsordnung souverän handhabender Vizepräsident der letzten, der einzigen frei gewählten Volkskammer der D D R (März bis Oktober 1990). Als Ministerpräsident eines in schwieriger Lage befindlichen Bundeslandes seit 1994 steht er vor vielen Problemen. Einem Autor imponiert, daß Reinhard Höppner noch Kraft und Zeit fand für sein Erinnerungsbuch „Segeln gegen den Wind" 71 wie auch für sein Buch zum Problem der deutschen Einheit und zur Lage der neuen Bundesbürger: „Zukunft gibt es nur gemeinsam".72 Osteuropahistorikern sagte die Art zu, wie Reinhard Höppner in seinem Hauptreferat auf der halleschen Tagung der Deutschen Osteuropa-Gesellschaft 1999 in Halle sachkundig Probleme der Länder und Völker östlich von Deutschland erörterte. In seiner Glückwunschadresse richtete der Ministerpräsident den Blick auch auf die Zukunft. Er verband mit seiner Gratulation die Hoffnung auf einen gedeihlichen Fortgang der Forschungen von Mühlpfordt: „Sehr geehrter Herr Professor, als Anerkennung Ihrer herausragenden Forschungen zur mitteldeutschen Kulturgeschichte und zur Geschichte Osteuropas wurde Ihnen von der Stadt Magdeburg und der Otto-vonGuericke-Universität der Eike-von-Repgow-Preis verliehen. Zu dieser Auszeichnung 71 72

Reinhard Höppner, Segeln gegen den Wind, Berlin 1999. Derselbe, Zukunft gibt es nur gemeinsam. Ein Solidaritätsbeitrag zur Deutschen Einheit, München 2000. Rezension von Präsident Prof. Dr. Dr. Hermann Heckmann [Gratulant zu Festschrift Mühlpfordt und Repgow-Preis], Vom Mut zum genauen Erinnern, in: Kultur-Report 22, Bonn 2000, S. 29 f.

Glückwunschadressen des Ministerpräsidenten und der Rektoren

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gratuliere ich Ihnen sehr herzlich. Mit dieser Ehrung werden Sie nicht nur als ein national wie international anerkannter Forscher gewürdigt, sondern auch als ein Wissenschaftler, der in der DDR mit Berufsverbot belegt war und der 1990 als einer der ersten in den neuen Bundesländern rehabilitiert worden ist. Für Ihre zukünftigen Forschungsarbeiten wünsche ich Ihnen weiterhin viele konstruktive Ideen und gutes Gelingen. Mit freundlichen Grüßen [gez.] Ihr Reinhard Höppner." 73 - Mühlpfordt dankte dem Ministerpräsidenten mit guten Wünschen für sein „Wirken zum Wohl Sachsen-Anhalts". 74 Wenige Tage zuvor hatte Herr Höppner dem Berliner „Tagesspiegel" ein Interview zur Lage gegeben. Darin legte er - gewissermaßen als Essenz seines Buches „Zukunft gibt es nur gemeinsam" - Sorgen und Befürchtungen der neuen Bundesbürger ähnlich offenherzig dar wie 1998 Mühlpfordt im Gespräch mit Dr. Margarete Wein von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Viele Mittel- und Ostdeutsche fühlen sich ungerecht behandelt, benachteiligt, zurückgesetzt. Sie wollen nicht als Staatsbürger 2. Klasse gelten. Man sollte den Bewohnern der neuen Bundesländer gleiche Rechte und Pflichten zuerkennen wie denen der alten Bundesrepublik. 75 Zu unterstreichen ist, was Ministerpräsident Höppner als Anwalt der neuen Bundesbürger den Redakteuren des „Tagesspiegel" erklärte: „Wir dürfen nicht jammern, wir müssen die Dinge fröhlich und selbstbewußt so sagen, daß sie im Westen gehört werden." 76 Des Ministerpräsidenten bereits apostrophierter Ausspruch ein Jahr danach, bei der Eröffnung der Autobahn Magdeburg - Halle am 30. November 2000, von Halle und Magdeburg als nunmehr enger verbundenen Nachbarstädten, fand auch in der Ehrung eines Hallensers durch die Magdeburger 1999 einen Ausdruck. Gratulanten in Magdeburg aus Halle waren Erich Donnert, Rolf Lieberwirtk und Margarete Wein. Herr Lieberwirth, emeritierter Rechtshistoriker der Universität HalleWittenberg, Alt-Vizepräsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, ist als Sachsenspiegel-Fachmann in Sachen Eike-von-Repgow-Preis besonders kompetent. Der hervorragende Sachsenspiegel-Kenner, -Interpret und -Herausgeber empfing bereits früher die Ehrenstatuette Eike von Repgow. Rolf Lieberwirth fand menschlich einfühlsame Worte für seinen Glückwunsch.

G. BERG, R. ENSKAT, R. KRECKEL, M. LEMMER, H. LÜCK, M.G. MÜLLER, M. RIEDEL, H.-J. RUPIEPER, G. SCHENK u. a. H a l l e s c h e G r a t u l a t i o n e n von u n d a u ß e r h a l b der U n i v e r s i t ä t . D i s k u r s ü b e r G u e r i c k e , C h r i s t i a n W o l f f u n d die E n t d e c k u n g von 1761 Die Glückwünsche in Halle übertrafen an Zahl die aus Magdeburg. An der Spitze der halleschen Gratulanten standen der Rektor und der Altrektor der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg mit ihren Glückwunschadressen. Der zweimal gewählte, von 1996 bis 2000 amtierende Rektor der Universität HalleWittenberg, Prof. Dr. Reinhard Kreckel, richtete - zugleich im Namen des Rektorats 73 7" 75

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Reinhard Höppner an Günter Mühlpfordt, 3. November 1999. G. M. an Reinhard Höppner, 12. November 1999. Margarete Wein, Der „Fall Mühlpfordt" 1947-1989 und Ulbrichts Verfolgungskampagne an der Universität Halle. 50 Fragen an Günter Mühlpfordt, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Band 5 (1999), S. 777-819, besonders S. 791-793, vor allem 792, Absatz 4. Gerd Appenzeller/Stephan Andreas Casdorff/Matthias Meisner, Interview Reinhard Höppner, in: Tagesspiegel (Berlin), 31. Oktober 1999, S. 4.

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Gunnar Berg; Michael G . Müller

und des Akademischen Senats - am Tag der Preisübergabe eine Glückwunschadresse an den Laureaten: „Es ist mir eine besondere Freude, Ihnen anläßlich Ihrer Auszeichnung mit dem Eike-von-Repgow-Preis herzlich zu gratulieren." Früher „ist Ihnen die verdiente Würdigung aufgrund Ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Obrigkeit der SED-Herrschaft leider" versagt geblieben. Erst „mit der Wende wurden Sie erfreulicherweise entsprechend rehabilitiert. Mit der Preisverleihung wird nun auch öffentlich gezeigt, daß seriöse und exzellente Forschung auf Dauer gesehen die angemessene Anerkennung findet." Herr Kreckel gab dem Wunsch Ausdruck, daß Mühlpfordt „noch viele interessante" Forschungen „zur mitteldeutschen Kulturgeschichte sowie zur Geschichte Osteuropas" durchführen und Arbeiten darüber abfassen werde.77 In herzlichen Worten gratulierte Reinhard Kreckels Amtsvorgänger von 1993 bis 1996, Prof. Dr. Dr. Gunnar Berg." Auch er, gleichfalls zweimal gewählt, lenkte während zweier Amtszeiten nacheinander die Geschicke der Martin-Luther-Universität. Altmagnifizenz Berg drückte seine „Freude" darüber aus, „daß Ihnen der Eike-von-RepgowPreis zuerkannt wurde. Selbstverständlich bedurfte es nicht eines Preises, um Ihre Verdienste zur Erforschung der mitteldeutschen Kulturgeschichte bekannt zu machen [...] Ich möchte Ihnen versichern, daß ich Ihre Arbeiten immer sehr geschätzt und [...] viele Ihrer Ergebnisse in Vorlesungen und Seminaren verwendet habe, dabei auf Sie verweisend. Als Beispiel will ich nur die mir von Ihnen übermittelten Bemerkungen Christian Wolfis bezüglich der Bedeutung der Erfahrung für die Wissenschaft erwähnen [...] Ich möchte Ihnen zu dem Preis gratulieren, der keinem mehr als Ihnen gebührt. Haben Sie doch zeit Ihres Lebens allen Anfechtungen widerstanden, Ihre wissenschaftliche Uberzeugung opportunistischen Überlegungen zu opfern. Damit sind Sie ein Vorbild für die Universität - und dafür Dank von ganzem Herzen! Ich wünsche Ihnen und uns, daß Sie noch lange in diesem Sinn erfolgreich arbeiten und Ihre immensen Erfahrungen nutzen können - als Freude für Sie und als Belehrung für uns alle."79 In seinem Dank an den gebürtigen Magdeburger G. Berg schrieb G. M.: „Ihre Heimatstadt hat mir einen ehrenvollen und überaus freundlichen Empfang bereitet am 28. Oktober, wofür ich mich bei den Magdeburgern gebührend bedankt habe. Mein Vortrag in der voll besetzten Johanniskirche, 475 Jahre nach Martin Luthers Predigt in dieser Kirche, fand starken Beifall. Im Vortrag habe ich sowohl Magdeburgs Bedeutung als auch die Universitäten Wittenberg und Halle herausgestellt und [...] zum Thema ,Der Kulturherd Mitteldeutschland im frühneuzeitlichen Europa'„ gesprochen.80 Als dem Altrektor der Erstdruck des Festvortrags von Mühlpfordt im „Magdeburger Wissenschaftsjournal" vorlag, gratulierte er nochmals und bekräftigte seinen „sehr herzlichen Glückwunsch zur Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises\ Wer wäre würdiger als Sie, diesen Preis zu gewinnen? Es freut mich außerordentlich, daß sich das PreisKuratorium für Sie entschieden hat. Aber Preisverleihungen haben ja durchaus einen wechselseitigen Charakter. Selbstverständlich wird der Preisträger geehrt, aber bei einer guten Auswahl ehrt auch der Ausgezeichnete den Stifter des Preises und sorgt für dessen gute Reputation in der Öffentlichkeit. Dafür sind natürlich gerade Sie die geeignete Persönlichkeit! Vielen Dank für die Übersendung des Vortrages, den Sie anläßlich der

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Reinhard Kreckel an G. M., 28. Oktober 1999. Gunnar Berg ist Gratulant in der Tabula Gratulatoria am Beginn der Festschrift „Europa in der Frühen Neuzeit" (Band 1, 1997, S. XV). Er war auch tätiger Förderer und Teilnehmer der Ehrenkolloquien im Dezember 1997 und Oktober 2001 (vgl. den Dank von Mühlpfordt an ihn am Schluß des Bandes). Gunnar Berg an Günter Mühlpfordt, 1. November 1999. G. Mühlpfordt an G. Berg, 12. November 1999.

Über Guericke, Christian Wolff und die Entdeckung von 1761

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Preisverleihung gehalten haben. Diese Tour d'horizon durch die mitteldeutsche Geistesgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts ist wahrlich beeindruckend. Sie erwähnen die Entdeckung der Venusatmosphäre durch Georg Christoph Silberschlag 1761 [...] Ich möchte das gern für die Vorlesung verwenden, wie ich das unter anderem auch mit den von Ihnen übermittelten Textstellen Wolfis zur Bedeutung der Erfahrung für die Wissenschaft tue. Sie bemerken auch, daß Otto von Guericke 1666 geadelt wurde." War „das eine Reaktion auf seine wissenschaftlichen Leistungen oder auf seine Verdienste als Politiker?" 8 ' In seiner Antwort bemerkte Mühlpfordt, daß Erfindungen und Entdeckungen Gerickes82 auch Politikern bekannt waren, zumal er seinen berühmten Vakuumversuch mit den „Magdeburger Halbkugeln" - vor versammeltem Reichstag in Regensburg vorgeführt und 1663 am Berliner Hof wiederholt hatte. Maßgeblich für Gerickes Nobilitierung durch den Kaiser war aber seine politische Haltung als Bürgermeister und Repräsentant Magdeburgs: seine Orientierung auf Österreich und Kurbrandenburg. So hoch Gericke als Naturforscher im Ansehen stand - „entscheidend war die Politik. Im selben Jahr 1666 hat Guericke als Bürgermeister die künftige Herrschaft Brandenburgs über Stadt und Erzbistum Magdeburg vertraglich anerkannt.83 Der den Adel verleihende Kaiser (Leopold I.) brauchte Brandenburg als Verbündeten und brandenburgische Heere als Hilfstruppen gegen die Türken, gegen Frankreich (Ludwig XIV.) und Schweden. Aus diesem Grund hat er 1701 sogar die preußische Königskrone zugelassen, sodass Kurbrandenburg zu Preußen wurde."84 Da Ostpreußen nicht zum deutschen Reich gehörte, gestand Habsburg damit den nach Loslösung von der kaiserlichen Oberhoheit trachtenden Hohenzollern ein unabhängiges Königtum zu. Dadurch verwandelte sich das Kurfürstentum Brandenburg in das Königreich Preußen - und so sind, namengeschichtlich betrachtet, die untergegangenen, baltischsprachigen alten Prussen als germanische Preußen wiedererstanden. Namen- und Statuswechsel waren ein Vorgang von großer historischer Tragweite, wie die Geschichte der Großmacht Preußen zeigt. Mühlpfordt wies den Physiker Berg zu dem von diesem angeschnittenen Thema Venusatmosphäre auch auf das bevorstehende abermalige astronomische Ereignis hin: „2004 ist der nächste Venusdurchgang vor der Sonne fällig!"85 Dieser Vorgang (nach 122 Jahren Pause - 1882 war der bislang letzte dieser Art) ruft die Entdeckung der Atmosphäre des Planeten durch Magdeburger und Halberstädter (1761) ins Gedächtnis. Unter den Gratulanten vom halleschen „Campus" gingen dem Beglückwünschten besonders nahe die aus seinem alten Institut, dem einstigen „Historischen Seminar", jetzigen „Institut für Geschichte". Geschäftsführender Institutsdirektor war 1999 der engere Fachkollege von Günter Mühlpfordt, Michael Günter Müller, sein dritter Amtsnachfolger in der Osteuropäischen Geschichte. Herr Müller übermittelte, im Namen aller Insti-

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G. Berg an G. M., 16. März 2000. Bis 1666 schrieb er sich so. Erst im Wiener Adelsdiplom wurde nach damals dort herrschender romanischer (spanisch-italienisch-französischer) Mode in seinen Namen ein „u" eingeschoben. " Die Anwartschaft Kurbrandenburgs auf das verweltlichte Erzbistum Magdeburg, mit Halle und Saalkreis, wurde bereits im Westfälischen Frieden festgelegt. Guericke hat durch den Vertrag von 1666 zum Werden der preußischen Großmacht beigetragen; denn Magdeburg und Halle wurden zu Schlüsselpositionen Brandenburg-Preußens in Mitteldeutschland. " G. M. an Gunnar Berg, 19. März 2000. 15 Ebenda. 12

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H.-J. Rupieper; R. Enskat; G. Schenk; M. Lemmer; R. Lieberwirth; H. Lück u.a.

tutsangehörigen, „die Glückwünsche des Instituts" - im 125. Jahr von dessen Bestehen und seine eigenen „zur Verleihung dieses ehrenvollen Preises an Sie". 86 Besonders bedeutsam unter den Gratulationen aus dem halleschen Institut für Geschichte ist die von Hermann-Josef Rupieper, der Mühlpfordt für den Preis vorgeschlagen hatte, mit der bereits angeführten brieflichen Begründung, er wisse „keinen würdigeren Repräsentanten Mitteldeutschlands" als ihn.87 Weitere Glückwünsche aus dem Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Halle-Wittenberg trafen von Vertretern aller drei Fachrichtungen ein, so auch von Walter Zöllner. Aus dem halleschen Universitätsinstitut für Philosophie meldeten sich drei Professoren mit ihren Gratulationen: Prodekan Rainer Enskat - ein Aufklärungskenner der bei Leipzig gebürtige Mitteldeutsche im ,Westen' Manfred Riedel, der zugleich eine Arbeit über den zwischen Leipzig und Halle gebürtigen grundstürzenden mitteldeutschen .Erben' der Aufklärungsphilosophie Nietzsche übersandte,89 und der Philosophiehistoriker, Logiker und Wolffianismus-Fachmann Günter Schenk, dreifacher Mitautor der Festschrift,™ sowie dessen wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Regina Meyer, zweifache Beiträgerin.'1 Gemeinsam mit beiden faßte Mühlpfordt den Dreibänder „Der Spirituskreis 1890-1958" ab (Halle 2001-2002), die Geschichte eines halleschen Professorenzirkels, den Walter Ulbricht 1958 verbot.' 2 Von halleschen Historikern im weiteren, umfassenden Sinn, aus anderen Fachbereichen, gratulierten Sprach- und Literaturhistoriker, Rechts-, Kirchen-, Wissenschaftsund Kunsthistoriker. Einen geistvollen und launigen Glückwunschbrief sandten der Germanist und Theodor-Frings-Preisträger Prof. Dr. Manfred Lemmer und seine Gattin, die Kunsthistorikerin Dr. Irene Roch-Lemmer." Beide haben ebenfalls oft Forschungsthemen der Kulturgeschichte Halles und Mitteldeutschlands bearbeitet. Sehr passend für ein an einen Historiker gerichtetes Schreiben das Goethe-Wort als gedruckter Briefkopf von Manfred Lemmer: „Es ist ein groß Ergetzen, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen." Manfred und Irene Lemmer drückten ihre Freude darüber aus, „daß Ihnen erneut eine Ehrung zuteil geworden ist" und daß diese „Auszeichnung keinen Unwürdigen trifft". Manfred Lemmer ist einer der vielen, denen Mühlpfordt zunächst dadurch sympathisch wurde, daß SED-Chef

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Michael Günter Müller an Günter Mühlpfordt, 26. Oktober 1999. M. G. Müller ist Beiträger der Festschrift in Band 5 (1999), S. 455—461 (vgl. oben in Band 6 den Dank von Mühlpfordt an ihn für seine Unterstützung des Ehrenkolloquiums). Hermann-Josef Rupieper an G. M., 4. Oktober 1999 (Gratulant in Festschriftband 1, S. XVIII, und Teilnehmer des Ehrenkolloquiums von 1997; 2000/2001 Gastprofessor in den USA). Rainer Enskat ist Beiträger in Band 6 der Festschrift, mit einem Aufsatz als Vorarbeit für ein von ihm vorbereitetes Buch zur Aufklärungsphilosophie. Der von Manfred Riedel dem Begriffshistoriker Mühlpfordt aus Anlaß der Preisvergabe zugeeignete Aufsatz erschien in einer Festschrift zur Begriffstheorie. Beiträger in Band 2 (S. 109-124), 5 (S. 3 0 5 - 3 3 3 ) und 6, Gratulant in Band 1 (S. X I X ) . In Band 2 (S. 7 5 - 8 6 ) und 6, Gratulantin in Band 1 (S. XVIII). Günter Mühlpfordt und Günter Schenk, in Verbindung mit Regina Meyer und Heinz Schwabe, Der Spirituskreis (1890-1958). Eine Gelehrtengesellschaft in neuhumanistischer Tradition. Vom Kaiserreich bis zum Verbot durch Walter Ulbricht im Rahmen der Verfolgungen an der Universität Halle 1957 und 1958, Band 1: 1 8 9 0 - 1 9 4 5 , Halle 2001, 536 S. ( = Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte). Band 2 und 3 vorgesehen für 2002. Manfred Lemmer und Irene Roch-Lemmer an Günter Mühlpfordt, 30. Oktober 1999. Beide sind Gratulanten in Festschriftband 1, S. XVII und XVIII; M. Lemmer ist Beiträger in Band 4 (S. 115-133), I. Roch-Lemmer Beiträgerin in Band 6.

Ehrung als Wiedergutmachung

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Ulbricht ihn zu seinem persönlichen Feind erklärte, vor Partei und Öffentlichkeit gegen ihn auftrat und ihn seine Macht fühlen ließ. Herr Lemmer wurde unter Ulbricht und Honecker gleichfalls aus politischen Gründen beruflich benachteiligt und zurückgesetzt. Er war insofern ein .Leidensgenosse' von Mühlpfordt, konnte mitfühlen und obrigkeitliche Schikanen gegen ihn nachempfinden. Selbst Vollbart-Träger, verkniff er sich nicht eine Spitze gegen den ,Spitzbart': „Wenn Ulbricht hätte erleben müssen, auf welche Weise Sie in den letzten Jahren geehrt worden sind, er hätte sich wohl vor Wut in den A. [Arm??] - Pardon - Bart gebissen. Aber mit allem ist ja das Unrecht nicht wiedergutgemacht, das Ihnen angetan worden ist."'4 Manfred Lemmer schloß seine Gratulation mit dem Wunsch, Mühlpfordt möge seine „wissenschaftliche Arbeit noch recht lange mit Elan fortsetzen können". Seit langem befassen sich mit Eike von Repgow und seinem Sachsenspiegel zwei hallesche Rechtshistoriker, der schon genannte Rolf Lieberwirth und sein vormaliger Meisterschüler - inzwischen selbst Meister und sein Nachfolger - Heiner Lück. Beide Sachsenspiegel-Experten stehen dem einstigen Studenten der Rechtsgeschichte Mühlpfordt fachlich durch ihre intensive Beschäftigung mit der Mitteldeutschen Aufklärung und der Aufklärung überhaupt nahe, vornehmlich als Thomasius-Kenner. Außerdem berühren sich die Forschungsgebiete von Lieberwirth und Lück mit denen von Mühlpfordt in der halleschen, Wittenberger und Leipziger frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte allgemein. Beide halleschen Universitätsprofessoren wirken auch an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, deren Vizepräsident Herr Lieberwirth bis 1996 war und deren Präsidiumsmitglied wie auch Stellvertretender Sekretär Herr Lück ist.'5 Beide bekundeten ihre Glückwünsche außerhalb Halles, Herr Lieberwirth", wie erwähnt, in Magdeburg, während Herr Lück97 seinen Glückwunsch aus Rom übermittelte, so pünktlich, daß dieser am Tag der Preisübergabe eintraf. Es ist sehr anzuerkennen, daß Heiner Lück - der selbst den Preis verdient" - in der .Ewigen Stadt', mit anderen Dingen befaßt, nicht versäumte, der Begebenheit im fernen Magdeburg zu gedenken, das einst als .Drittes Rom' ausersehen war. Mühlpfordt stattete den zwei Sachsenspiegelforschern einen Dank in der Sache ab. Er steuerte zu der von Heiner Lück herausgegebenen Festschrift für Rolf Lieberwirth als Erstdruck eine längere Abhandlung bei, eine bezeichnungs- und begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung des frühneuzeitlichen Gesinnungs- und wissenschaftlichen Methodenbegriffs „liberal" - der in der Arbeitsmethodik dem modernen Terminus „historisch-kritisch" entsprach - in Mitteldeutschland." 94

Auch der zweite Satz wurde also nach der Zuerkennung des Eike-von-Repgow-Preises geschrieben. Fast die gleichen Worte gingen Mühlpfordt zweimal (1999 und 2000) aus Tel Aviv zu und ähnlich von anderen Orten. Walter Grab (Tel Aviv) wünschte am 11. Februar 2000 „recht viel Genugtuung für das Unrecht, das man Ihnen angetan hat". 95 An der von Rolf Lieberwirth 1994 initiierten Arbeitsstelle zur Textgeschichte der SachsenspiegelGlosse, bei der Sächsischen Akademie, sind er und Heiner Lück gleichfalls tätig. Beide gehören überdies, wie eine Reihe von Festschrift-Beiträgern und Mühlpfordt, der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig an. * Beiträger zu Band 2 der Festschrift (S. 21-30), Gratulant in Band 1 (S. XVII). 97 Zweifacher Beiträger und Gratulant in Band 1 (S. 61-81, 83-97 und XVII), Referent und Moderator beim Ehrenkolloquium, Beiträger zu Band 5 (S. 187-198). Heiner Lück ist damit nächst dem Herausgeber der aktivste Mitwirkende der Festschrift und des Ehrenkolloquiums. 91 Heiner Lück wurde bereits für den Eike-von-Repgow-Preis vorgeschlagen. 99 Günter Mühlpfordt, Mitteldeutsche Anfänge des Gesinnungsbegriffs „liberal". Für und wider „die Liberalen" zur Zeit der Aufklärung. Eine bezeichnungsgeschichtliche Studie, in: Recht - Idee - Geschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth, Hg. Heiner Lück/Bernd Schildt, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 523-590 (erschien wie „Europa in der Frühen Neuzeit" im Böhlau Verlag).

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E. Eichler; H. Zwahr; G. Wiemers; D. Döring; I. Kästner; H. Mohr u.a.

Außerhalb der Universität gab es aus Halle ebenfalls viel „Blumen" (im wörtlichen und bildlichen Sinn) - Anerkennungen und Aufmerksamkeiten aus dem gegebenen Anlaß, Stimmen freundlicher Anteilnahme. An Sache und Person interessiert zeigte sich der mit Frühneuzeitgenealogie befaßte Familienverband. Sein Sprecher bekundete die Mitfreude des „Clans". Er gratulierte, schriftlich und telefonisch, im Namen der weitläufigen, weltläufigen Sippe, „von ganzem Herzen", mit den Worten: „Wir freuen uns, daß Ihre Arbeit nach den vielen Jahren der Unterdrückung eine Würdigung gefunden hat" durch die „Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises".™

Auswärtige u n d ausländische Reflexe der Preisverleihung In größerer Zahl trafen Glückwünsche auch von auswärts ein, von außerhalb Halles und Magdeburgs, außerhalb Sachsen-Anhalts, aus den alten Bundesländern und aus dem Ausland. So manches freundliche Wort aus nah und fern erreichte den Preisträger nach der Auszeichnung - schriftlich und gedruckt, mündlich und fernmündlich. An dritter Stelle in der Zahl der Gratulationen von Wissenschaftlern, nach Halle und Magdeburg, stand Leipzig, das in den mitteldeutschen Forschungen von Mühlpfordt seit jeher eng mit Halle verflochten ist, besonders durch die von ihm erforschte HalleLeipziger Aufklärung (ein von ihm geprägter Begriff). Die Leipziger Glückwünsche kamen von der Universität und aus der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, von Personen und Instituten. Bereits in Magdeburg gratulierte der Preisträger von 1998, der Leipziger Slawist Prof. Dr. h. c. Ernst Eichler, Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Insbesondere wurde aus dem Leipziger Universitätsinstitut für Geschichte gratuliert, so von dessen Direktoren, den Professoren Manfred Rudersdorf (Festschrift-Beiträger in Band 6) und Hartmut Zwahr (gleichfalls Beiträger zu Band 6),101 auch aus dem Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. Die Historische Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften beglückwünschte ihr Mitglied in corpore.'02 Darüber hinaus gratulierte eine Reihe ihrer Mitglieder persönlich, sowohl der alte Leiter, Prof. Reiner Groß,'01 als auch der neue Vorsitzende, Laudator Prof. Karlheinz Blaschke,m der Stellvertretende Leiter Dr. Gerald Wiemers, Direktor des Universitätsarchivs Leipzig, ebenso Akademiearchivar Dr. Dr. Detlef Döring,105 seit 2001 gewählter Stellvertretender Vorsitzender der Historischen Kommission, Privatdozent für Wissenschafts- und Universitätsgeschichte an der Universität Leipzig, und weitere. Die halleschen Kommis-

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Jens Mühlpfordt namens der Familie an G. M., 29. Oktober 1999. Familienforscher D o z . Dr. Werner Mühlpfordt (Ellerstadt / T H Aachen) befindet sich unter den Gratulanten in Festschriftband 1 (S. XVIII). Prof. Heinz Mühlpfordt (Hamburg) erarbeitete Stammtafel von G. M. Seine Rezension der Bände 1 - 5 von „Europa in der Frühen Neuzeit" erschien in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 70 (1999) [2000], S. 302-306; vgl. Europa [...] 1, S. XX. Die Philologisch-historische Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften schlug G. M. zum Ehrenmitglied dieser Akademie vor. Gratulant in Festschriftband 1 (S. XVI). Als Laudator auf der Magdeburger Festveranstaltung (s. oben in Teil 1) wichtiger Mitwirkender bei der Zuerkennung des Preises an Mühlpfordt; Beiträger in Band 1 (S. 119-131), Gratulant ebenda (S. XV). Dreifacher Beiträger: in Band 1 (S. 477-500) und zweimal in Band 5 (S. 1 7 ^ 2 und 221-240), Referent sowohl des ersten Ehrenkolloquiums, im Dezember 1997, als auch des zweiten, im O k t o b e r 2001; nächst Erich Donnert und neben Heiner Lück tätigster Mitwirkender der Festschrift.

Auswärtige und ausländische Reflexe. - Zensurschikanen

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sionsmitglieder Rolf Lieberwirth und Heiner Liick wurden bereits genannt. Anerkennung fand auch bei Leipziger Kollegen der „geschliffene Festvortrag". Aus dem zur Medizinischen Fakultät gehörenden, jüngst mit Ausstellungen hervorgetretenen Sudhoffinstitut für Wissenschaftsgeschichte, wo der Arbeitskreis der Professorin Ingrid Kästner sich wie Mühlpfordt mit der Geschichte der osteuropäisch-deutschen Beziehungen in Medizin, Pharmazie und Naturforschung befaßt, wurde im Namen der dortigen Wissenschaftshistorikerinnen geschrieben: „Es ist eine hochverdiente Würdigung, die den Preisträger und zugleich das verleihende Kuratorium ehrt."' 06 Dies Urteil entspricht dem zitierten von Altrektor Gunnar Berg, daß die Verleiher des Eike-von-Repgow-Preises durch die von ihnen getroffene Entscheidung sich selbst ehren.'07 Auch aus Sachsens Hauptstadt Dresden und Umgebung, wo Karlheinz Blaschke sowie eine Reihe weiterer Sachsen-, Mitteldeutschland-, Tschirnhaus- und OberlausitzForscher tätig sind, deren Arbeitsgebiete sich mit denen von Mühlpfordt berühren und überschneiden, gratulierten Kolleginnen und Institutionen. Nochmals hervorzuheben ist die engagierte Mitwirkung von Karlheinz Blaschke bei der Preisverleihung durch seine fundierte Laudatio. Zu den Dresdner Gratulanten zählen die vier Festschrift-Beiträger

Dr. Agatha und Dr. Manfred Kobuch,m Dr. Klaus Schillingerm und Dr. Uwe Schirmer

(jetzt Leipzig).110 Die Glückwünsche aus Leipzig, Dresden, Chemnitz, Görlitz reihen sich an die Festschrift-Beiträge zur Frühen Neuzeit Mitteldeutschlands aus diesen Städten an. Mehrere sächsische Beiträger, Gratulanten und angemeldete Beiträger erhielten inzwischen selbst Festschriften und/oder Aufsatzbände (Laudator Karlheinz Blaschke, Siegfried Hoyer diese beiden Festschriften enthalten auch Beiträge von Mühlpfordt - , Hartmut Zwahr, Manfred Straube, Manfred Unger, Manfred Kobuch)." 1 In Halle wurden der Herausgeber von „Europa in der Frühen Neuzeit" und Laudator Erich Donnert wie auch die Beiträger und Gratulanten Manfred Lemmer und Rolf Lieberwirth durch Festschriften geehrt. Herr Donnert empfing zudem den Forschungspreis 1. Klasse der Universität Halle (zweimal), Herr Lemmer den Theodor-Frings-Preis der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Leipzig, Herr Lieberwirth den Ehrendoktor der Juristischen Fakultät Göttingen. Unter den Gratulationen aus den ostdeutschen Bundesländern ist besonders gewichtig die des Kirchen- und Kulturhistorikers Prof. Dr. Hubert Mohr (Potsdam). Hubert Mohr hat als Mitherausgeber der Schriftenreihe „Beiträge zur Geschichte des religiösen und wissenschaftlichen Denkens" den Zensurterror gegen Mühlpfordt erlebt. Gegen sämtliche fünf Monographien zur Ketzer- und Reformationsgeschichte, die Mühlpfordt für diese Reihe zwischen 1964 und 1985 einreichte - sie waren aufgrund den Druck empfehlender Gutachten von Fachprofessoren ausnahmslos durch die Herausgeber und den Ingrid Kästner (Leipzig), namens ihres Forscherkreises im Sudhoff-Institut, an G. M., 20. März 2000. Gunnar Berg an G. M , 16. März 2000. ,08 In Band 3 (S. 499-530), Gratulanten in Band 1 (S. XVII). l 0 ' In Band 4 (S. 97-114), Gratulant in Band 1 (S. X I X ) . In Band 6 und Gratulant in Band 1 (S. X I X ) . " ' Karlheinz Blaschke wurden zu seinem 70. Geburtstag eine Festschrift und ein städtegeschichtlicher Aufsatzband gewidmet (2., unveränderte Auflage des Aufsatzbandes 2001). Inzwischen sind eine Festschrift zu seinem 75. Geburtstag und ein weiterer Aufsatzband in Vorbereitung. Mühlpfordt steuerte zur ersten Festschrift bei: Die Sachsen - Weltwanderung eines Stammesnamens, in: Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag, Hg. Uwe John/Josef Matzerath, Leipzig/Stuttgart 1997, S. 11—40. Die neue Festschrift, „Die Oberlausitz, Sachsen und Mitteldeutschland", Hg. Martin Schmidt (2002), enthält von G. M.: „Rektoren mitteldeutscher Universitäten 1700-1804". 106 107

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H. Mohr; A. Haase; U. Neuhäußer-Wespy; D. Grille; D. Timpe; U. Niggli; W. Grab u.a.

Verlag zur Veröffentlichung angenommen - , wurden politisch-ideologisch motivierte Publikationsverbote verhängt." 2 Es hat daher viel zu besagen, daß der Potsdamer Kirchenund Kulturhistoriker nach der Magdeburger Auszeichnung für Mühlpfordt über diesen urteilte: „Sie gehen als einer der .rehabilitierten' großen Wissenschaftler unseres Volkes in das neue Jahrhundert, der mit berechtigtem Stolz auf sein nun allseits anerkanntes Lebenswerk zurückblicken kann und noch in der Lage ist, weiter zu arbeiten. Sie haben Standhaftigkeit und Standfestigkeit bewiesen." 113 Wie Hubert Mohr erhielten auch andere Herausgeber, Redakteure, Lektoren und Verleger einen drastischen Anschauungsunterricht, welchen Zensurschikanen Mühlpfordt ausgesetzt war. Aus den alten Bundesländern empfing Mühlpfordt Glückwünsche von Süd, West und Nord, von München bis Hamburg, so aus Franken, Hessen und dem Rheinland vom Main, Mittel- und Niederrhein, aus dem Ruhrgebiet. Einstige Schüler und Mitarbeiter meldeten sich, die heute Professoren, Akademische Oberrätin, Rektoren, Doktoren „im Westen" sind, darunter „Ehemalige", die er aus den Augen verloren hatte. Sie ließen es sich nicht nehmen, ihrem alten Lehrer und Chef zu gratulieren. Der früheste Glückwunsch aus dem Westen, den Oberbibliotheksrat Harro Kieser von der Deutschen Bibliothek übermittelte, datiert vom Tag nach der Festveranstaltung. 114 Der Herausgeber des „Mitteldeutschen Jahrbuchs für Kultur und Geschichte" und Vizepräsident des Mitteldeutschen Kulturrats, der Braunschweiger Kustos Dr. Christof Römer - der in seinem Jahrbuch eingehend die Festschrift Mühlpfordt besprach, mit der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur als Schwerpunkt115 gratulierte ebenfalls. Eine ehemalige Assistentin von Mühlpfordt, Dr. Annemarie Haase, die, als Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde von SED-Funktionären verfolgt, nach einem anonymen Drohbrief in die Bundesrepublik geflohen war - sie ist inzwischen Akademische Oberrätin i. R. der Technischen Hochschule im Universitätsrang Aachen, aber weiterhin in der Forschung tätig - , schrieb erfreut von dort, die Nachricht sei ihr „gleich von mehreren Seiten" zugekommen." 6 Analoges teilten andere Gratulanten mit, darunter solche aus den alten Bundesländern. Aus Bayern, namentlich aus Franken, dessen Söhne in Früher Neuzeit großenteils an mitteldeutschen Universitäten studierten, trafen Glückwünsche von Historikern und Philosophen ein. Drei Historiker im fränkischen Teil Bayerns, die seit längerem Anteil am Schicksal von Mühlpfordt nehmen, erfuhren seine Auszeichnung aus dem Fernsehen und von Freunden. So urteilte der Fachhistoriker Dr. Ulrich Neuhäußer-Wespy, die Auszeichnung sei eine „Genugtuung" für Mühlpfordt „nach der langen Zeit der Verfolgung und Verfemung". 117 Der Nürnberger Prorektor und Erlanger Professor Dietrich Grille schrieb ebenso: „Das ist sicher eine verdiente Genugtuung für Sie." Herr Grille 1,2

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Diese 5 Buch-Typoskripte zur Geschichte des religiösen und wissenschaftlichen Denkens machen die Hälfte der insgesamt 10 Monographien von Mühlpfordt aus, deren Druck zwischen 1953 und 1989 durch SED-Organe verhindert wurde. Hubert Mohr an G. M., 3. Januar 2001. Harro Kieser (Deutsche Bibliothek Frankfurt am Main / Bad Homburg vor der Höhe) an G. M., 29. Oktober 1999 (Mitherausgeber des Mitteldeutschen Jahrbuchs für Kultur und Geschichte im Böhlau Verlag, Stiftungsratsvorsitzender des Mitteldeutschen Kulturrats in Bonn, Gratulant in Festschriftband 1, S. XVII). Dr. Christof Römer (Braunschweig/Bonn) über Band 1-5 von „Europa in der Frühen Neuzeit", in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 7 (2000), S. 358-362. Dr. Annemarie Haase (Aachen) an G. M., 15. November 1999; Beiträgerin in den Festschriftbänden 2 (S. 375-392) und 5 (S. 707-714); Berichterstatterin über das Ehrenkolloquium von 1997, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 6 (1999), S. 306-309. Dr. Ulrich Neuhäußer-Wespy (Neunkirchen am Brand) an G. M., 11. November 1999; Beiträger in Festschriftband 5 (S. 721-743).

Genugtuung nach Verfolgung. - „Diamantenes Abitur"

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spielte scherzhaft auf die oben berührte Rivalität zwischen Magdeburg und Halle an. Mit leisem Spott glossierte er, daß die Landeshauptstadt ausgerechnet einen Professor ihrer Nebenbuhlerin mit ihrem Ehrenpreis auszeichne, noch dazu einen „Erz-Hallenser": „Eike hielt ja nichts von Multikulti, wenn er den Herrn vom Hradschin für nicht wahlberechtigt bei der Kür des Romanorum Imperator hielt, weil der kein Deutscher sei."8 Wenn nun die Magdeburger in seinen Spuren gehen, mußten sie wohl sehr über ihren [oder Eikes?] Schatten springen, um den Preis nach Halle an einen Erz-Hallenser herz u g e b e n . J e d e n f a l l s haben sie damit wissenschaftliche Objektivität bewiesen. - Prof. Dr. h.c. Dieter Timpe von der Universität Würzburg begrüßte die späte „bescheidene Anerkennung" für die wissenschaftliche Arbeit von Mühlpfordt und betonte dessen „nicht genug zu bewundernde Tugend der constantia, des tapferen Standhaltens und Ausharrens in schlimmsten Bedrängnissen".120 Die Auslandspalette der Glückwünsche resultierte vorwiegend aus Gelehrtenkorrespondenzen und Begegnungen bei Tagungen. Echo kam aus Tel Aviv, Rom, Zürich usw. Die Schweizer Philosophiehistorikerin Dr. Ursula Niggli, Leiterin eines Philosophieinstituts in Zürich, dreifache Festschrift-Beiträgerin und Referentin beim Kolloquium 1997, beglückwünschte den Preisträger mit einer gelehrten Gabe. Das Wort „Genugtuung" in einer Gratulation aus Bayern kehrte in einem Schreiben an Mühlpfordt aus interkontinentaler Ferne wieder, von Asiens Küste: In Tel Aviv würdigte Prof. Dr. h.c. Walter Grab „Ihre große wissenschaftliche Leistung" und wünschte weiterhin „recht viel Genugtuung für das Unrecht, das man Ihnen angetan hat".121

WILHELM SCHAAF, HALLE N a c h k l a n g beim „diamantenen A b i t u r " an Stätten der F r ü h n e u z e i t Zu einem Nachklang kam es vor der Frühneuzeit-„Kulisse" der Franckeschen Stiftungen. Am Tag nach der Magdeburger Festveranstaltung, dem 29. Oktober 1999, fand in Halle eine kleine Nachfeier statt. Sie war gekoppelt mit dem „Diamantenen Abitur" der Schulklasse von Mühlpfordt, einem Wiedersehen des Abiturienten)ahrgangs 1939 der Oberrealschule der Franckeschen Stiftungen nach 60 Jahren. Die Schulfreunde hatten mit Rücksicht auf die Ehrung ihres einstigen Benjamins und Primus die 60-Jahrfeier ihrer Reifeprüfung auf diesen Tag verschoben. So versammelten sich denn die übrig gebliebenen neun „letzten Mohikaner" des 1931 in die Stiftungen eingeschulten Jahrgangs, als Mühlpfordt aus Magdeburg zurückgekehrt war, vor den Frühneuzeitbauten der Franckeschen Stiftungen, bei ihrer alten Schule. Die Doppelfeier gestaltete sich zu einem ungewöhnlichen Treffen. Nach einem Rundgang durch die in der Erneuerung begriffene frühneuzeitliche Schulstadt setzten sich die Alt-Franckeaner in einem Lokal vor ihren Toren zusammen. Für Mühlpfordt bedeutete dies Beisammensein die Rückversetzung "* Laut Eikes „Sachsenspiegel" sollte der König von Böhmen aus diesem Grund kein Kurfürst des Reichs sein können. "' Prorektor Prof. Dr. Dietrich Grille (Erlangen/Nürnberg) an G. M., 27. November 1999; Beiträger in Festschriftband 5 (S. 745-770). ,M Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Timpe (Würzburg) an G. M., 1. Mai 2001. 121 Prof. Dr. Dr. h. c. Walter Grab (Tel Aviv) an G. M., 11. Februar 2000. Der hochverdiente israelische Förderer von Mühlpfordt während dessen Verfolgungszeit, Walter Grab, starb leider am 17. Dezember 2000 an den Folgen einer mißglückten Operation. Beiträger zu Festschriftband 2 (S. 431-438) und 5 (S. 681-685).

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W . Schaaf; G. Berg; W . Binnewies; K. Blaschke; M. Leramer; H.-J. R u p i e p e r u.a.

aus einer Magdeburger Frühneuzeit-„Landschaft" in ein hallesches Frühneuzeit-Denkmal. Es war ein besinnlich-nachdenkliches Nacherleben, die ,diamantene' Zusammenkunft der ergrauten Reifeprüflinge - der hoffnungsvollen Jünglinge von ehedem, aus denen bedachtsame Greise geworden sind.122

G U N N A R BERG, W E R N E R BINNEWIES, K A R L H E I N Z BLASCHKE, D I E T R I C H GRILLE, M A N F R E D LEMMER, R O L F LIEBERWIRTH, H E I N E R LÜCK, U L R I C H NEUHÄUSSER-WESPY, H E R M A N N - J O S E F RUPIEPER G e d e n k e n an die v e r s t o r b e n e E h e f r a u u n d M i t a r b e i t e r i n des Preisträgers Wie für die toten Schulfreunde gab es auch für die Eine, Nächststehende keinen Nachklang. Das schmerzliche Gedenken an die am 3. Juli 1999 verstorbene Ehefrau und Mitarbeiterin des Preisträgers wog schwerer als wehmütige Schulnostalgie. Es war ergreifend, daß neun Gratulanten in Ost und West, in Halle, Magdeburg, Dresden, Erlangen/Nürnberg und Neunkirchen am Brand trauernd seiner Gattin gedachten, die drei Monate nach der Zuerkennung des Preises und drei Monate vor dessen Überreichung dahingeschieden war. Sie, die noch am Ehrenkolloquium Ende 1997 tätig teilgenommen hatte, lag nach längerer schwerer Erkrankung im Sterben, als er die Nachricht von der Auszeichnung erhielt. Jene neun gratulierten und kondolierten in einem. Das erste Beileid dieser Art wurde bereits am Tag der Festveranstaltung in Magdeburg ausgesprochen, als Rolf Lieberwirth seinem Kollegen von der Philosophischen Fakultät die Hand mit den Worten drückte: „Schade, daß Ihre Frau das nicht mehr erleben konnte." Fast mit den gleichen Worten bekundete der Philosoph und Historiker in Erlangen und Nürnberg Dietrich Grille seine Anteilnahme: „Schade, dass Ihre liebe Frau" das „nicht mehr miterleben konnte". 123 Auch Hermann-Josef Rupieper, der Mühlpfordt als Erster nominiert hatte, brachte in seinem Glückwunsch sein Mitgefühl mit dem „großen Verlust" durch den Tod „Ihrer Frau Gemahlin" zum Ausdruck. 124 Werner Binnewies, ein einstiger Schulkamerad von Elisabeth Mühlpfordt, der als Pfarrer die Trauerrede gehalten hatte, schloß seinen Glückwunsch mit den nachempfindenden Sätzen: „Geschichte kennt keinen Stillstand, nichts bleibt, wie es ist, und so wurde aus der Verwerfung Ihrer wissenschaftlichen Arbeit höchste Anerkennung. Aber wie schwer wird Ihnen ums Herz gewesen sein bei dem Gedanken an Ihre liebe Frau, die Sie gerade an diesem Tag so gern an Ihrer Seite gehabt hätten." 125

N e u e m i t t e l d e u t s c h e W i s s e n s c h a f t s p r e i s e nach der M a g d e b u r g e r Initiative Nach der Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises im Herbst 1999 wurden in Mitteldeutschland weitere Preise gestiftet, ebenfalls mit gemeinsamer Vergabe durch zwei oder mehr Institutionen. Auf die Magdeburger Initiative der Jahre 1998 und 1999 folgten in

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Frank Czerwonn, Wiedersehen, in: Mitteldeutsche Zeitung (Halle), 10. November 1999, Seite „Halle", Rubrik „Stadtgeflüster"; Wilhelm Schaaf, Diamantenes Klassentreffen, in: Francke-Blätter (Halle), H e f t 1/2000, S. 101 f. Dietrich Grille (Erlangen/Nürnberg) an G. M., 27. November 1999. Hermann-Josef Rupieper an G. M., 4. Oktober 1999. Werner Binnewies an G. M., 1. November 1999.

Gedenken. - Neue mitteldeutsche Wissenschaftspreise

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den Jahren 2000 und 2001 fünf Preisstiftungen von Leipziger, Magdeburger, Jenaer und hallescher Seite. Im Sommer 2000 wurde der „Leipziger Wissenschaftspreis" ausgeschrieben, den Stadt, Regierungspräsidium, Universität und Sächsische Akademie der Wissenschaften jedes zweite Jahr verleihen und die Siemens Aktiengesellschaft fördert.'26 Am 20. April 2001, dem Tag der öffentlichen Frühjahrssitzung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, ihrem Leibniz-Tag - der dem Gedenken an den großen Gelehrten aus dem frühneuzeitlichen Leipzig Gottfried Wilhelm Leibniz gewidmet ist - , hat der Präsident der Sächsischen Akademie, Prof. Dr. Gotthard Lerchner, diesen Preis erstmals verliehen. Auf der gleichen Sitzung führte der Sächsische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Präsident Prof. Dr. Hans Joachim Meyer - der 1990 als Erster Günter Mühlpfordt rehabilitierte und 1999 das Geleitwort zu Band 5 von „Europa in der Frühen Neuzeit" schrieb - , das neue Präsidium der Sächsischen Akademie ein. Dem Akademiepräsidium gehört auch der mehrfache Beiträger des Sammelwerkes „Europa in der Frühen Neuzeit" Heiner Lück an, Referent und Moderator des ersten Ehrenkolloquiums der Universität Halle für G. M. im Dezember 1997. Gleichzeitig wurde der Beiträger der genannten Festschrift Manfred Rudersdorf als neues Ordentliches Mitglied dieser Akademie vorgestellt. Bei der selben Tagung ist Festschrift-Beiträger Manfred Lemmer, der hervorragende Kenner der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte, der G. M. zum Magdeburger Preis gratulierte, von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Leipzig mit dem nach dem Leipziger Altgermanisten benannten „ Theodor-Frings-Preis" für besondere Leistungen in der Germanistik ausgezeichnet worden.127 An dieser Leipziger Akademietagung nahmen zwölf Mitwirkende von „Europa in der Frühen Neuzeit" teil. Minister Meyer hatte vor der Sitzung ein Gespräch mit G. M. Im April 2001 beschloß die Landes-Rektorenkonferenz Sachsen-Anhalt unter der Leitung ihres Präsidenten Magnifizenz Klaus E. Pollmann, einen Preis für Schriften und Aktivitäten zugunsten von Toleranz und Weltoffenheit auszusetzen, eine Art ,mitteldeutschen Toleranzpreis'. Am 20. April 2001 hat der Herausgeber der „Mitteldeutschen Zeitung" das dafür ausgelobte Preisgeld verdoppelt.'28 Im Mai 2001 wurde bekannt, daß die Rektoren der drei mitteldeutschen Universitäten Leipzig, Jena und Halle, Prof. Dr. Volker Bigl, Prof. Dr. Karl-Ulrich Meyn und Prof. Dr. Wilfried Grecksch - mit der erklärten Absicht, „die Wissenschaft mehr in die Öffentlichkeit zu transportieren und den Wissenschaftsjournalismus stärker zu fördern" - beschlossen haben, gemeinsam den „Mitteldeutschen Publizistikpreis" auszulohen, der zum ersten Mal im Frühjahr 2002 verliehen werden soll.12' Vgl. Ute Ecker, Editorial, und dieselbe, Die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, in: Wissenschaftsstadt Leipzig. Beilage zum Hochschulmagazin D U Z , 6. April 2001, S. 2 und 24 f.; Hans Joachim Meyer, [Geleitwort], ebenda, S. 3. 127 Manfred Lemmer ist Altgermanist und germanistischer Frühneuzeitler in einer Person. Der Schüler Georg Baeseckes (wie Mühlpfordt) steuerte zu Band 4 des Sammelwerkes „Europa in der Frühen Neuzeit" (S. 115-133) eine so scharfsinnige wie geistvoll-kritische Analyse von „Paul Jacob Marpergers ,Küch= und Keller=Dictionarium'" (Leipzig 1716, im Lexikonverlag Gleditsch) bei, das er unter die „frühneuzeitlichen Konversationslexika und ,Schlag-nach-Werke'" einreiht. Der Leipziger Verlag Gleditsch, der frühneuzeitliche Vorgänger von Brockhaus, war auf dem Gebiet der Nachschlagewerke im Aufklärungszeitalter bahnbrechend. Lemmers Ausgabe von Sebastian Brants „Narrenschiff" (3. Auflage Tübingen 1986), einer der „erfolgreichsten Dichtungen der frühen Neuzeit", hat es im Tübinger, vordem halleschen Verlag Niemeyer bereits auf vier Auflagen gebracht (2001). 121 Mitteldeutsche Zeitung (Halle), 21. April 2001, S. 4. 12' Mitteldeutsche Zeitung (Halle), 19. Mai 2001, S. 1 und S. 6. 126

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Klaus E. Pollmann

Ein weiterer neuer Mitteldeutschland-Preis und ausdrücklich als solcher bezeichnet ist der vom Freundes- und Förderkreis der Burg Giebichenstein, Hochschule für Kunst und Design Halle, gestiftete „Kunst- und Designpreis Mitteldeutschland". Er wurde erstmals am 21. Mai 2001 verliehen."0 Außerdem gibt es seit Ende 1999 einen „Mitteldeutschen Fotopreis", der alljährlich von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gemeinsam ausgelobt wird.

Teil 4: Aspekte der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur Nach dem halleschen Epilog der Magdeburger Veranstaltung vom 28. Oktober 1999 an der Universität Halle, mit den Schulfreunden der Franckeschen Stiftungen sowie in der Stadt - erfolgte der Magdeburger Abschluß in der Wissenschaftspublizistik: die Veröffentlichung des Festvortrags, mit zusätzlichem Vortext am Beginn und zusammenfassendem Kurztext am Ende, in der Zeitschrift der Otto-von-Guericke-Universität, dem „Magdeburger Wissenschaftsjournal", auf Anregung von dessen Redaktion und Beirat und auf Wunsch von Rektor Pollmann. Im November 1999 wandte sich Rektor Pollmann an Mühlpfordt mit dem Vorschlag, „Ihre eindrucksvollen Ausführungen zur historischen Bedeutung Mitteldeutschlands [...] anläßlich der Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises [...] einem breiteren Publikum zugänglich zu machen" und sie zu diesem Zweck im Periodikum der Guericke-Universität „zu publizieren".13' Dem Abdruck in der Halbjahresschrift der Universität Magdeburg schickte Herr Pollmann eine Einführung voraus:

KLAUS ERICH POLLMANN, REKTOR DER UNIVERSITÄT MAGDEBURG Stadt und Universität Magdeburg ehrten Günter Mühlpfordt mit Eike-von-Repgow-Preis 1 3 2 Zum zweiten Mal wurde am 28. Oktober 1999 der gemeinsam von der Stadt Magdeburg und der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gestiftete Eike-von-Repgow-Preis verliehen. Dieser Preis, der an den Verfasser des Sachsenspiegels, das bedeutendste Rechtsbuch des 13. Jahrhunderts, erinnert, will eine Persönlichkeit ehren, die sich entweder in ihrem wissenschaftlichen oder literarischen Werk insbesondere mit der historischen Region Sachsen als Thema der Geschichte, der Rechtsgeschichte, der Germanistik oder der Sozialwissenschaften in herausragender Weise beschäftigt hat oder durch besondere wissenschaftsorientierte Leistungen zur Erforschung der historischen Region Sachsen ausgewiesen ist. In diesem Jahr wurde der Preis an Professor Dr. Günter Mühlpfordt, emeritierter Professor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, verliehen. Das Kuratorium zeichnet dadurch den hervorragendsten Kenner der mitteldeutschen Kulturgeschichte,

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Mitteldeutsche Zeitung (Halle), 21. Mai 2001, S. 30. K. E. Pollmann an G. M., 16. November 1999. Vorbemerkungen zum Erstdruck des Festvortrags von Günter Mühlpfordt, in: Magdeburger Wissenschaftsjournal 4 (1999), Heft 2, S. 35.

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Klaus E. Pollmann

Ein weiterer neuer Mitteldeutschland-Preis und ausdrücklich als solcher bezeichnet ist der vom Freundes- und Förderkreis der Burg Giebichenstein, Hochschule für Kunst und Design Halle, gestiftete „Kunst- und Designpreis Mitteldeutschland". Er wurde erstmals am 21. Mai 2001 verliehen."0 Außerdem gibt es seit Ende 1999 einen „Mitteldeutschen Fotopreis", der alljährlich von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gemeinsam ausgelobt wird.

Teil 4: Aspekte der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur Nach dem halleschen Epilog der Magdeburger Veranstaltung vom 28. Oktober 1999 an der Universität Halle, mit den Schulfreunden der Franckeschen Stiftungen sowie in der Stadt - erfolgte der Magdeburger Abschluß in der Wissenschaftspublizistik: die Veröffentlichung des Festvortrags, mit zusätzlichem Vortext am Beginn und zusammenfassendem Kurztext am Ende, in der Zeitschrift der Otto-von-Guericke-Universität, dem „Magdeburger Wissenschaftsjournal", auf Anregung von dessen Redaktion und Beirat und auf Wunsch von Rektor Pollmann. Im November 1999 wandte sich Rektor Pollmann an Mühlpfordt mit dem Vorschlag, „Ihre eindrucksvollen Ausführungen zur historischen Bedeutung Mitteldeutschlands [...] anläßlich der Verleihung des Eike-von-Repgow-Preises [...] einem breiteren Publikum zugänglich zu machen" und sie zu diesem Zweck im Periodikum der Guericke-Universität „zu publizieren".13' Dem Abdruck in der Halbjahresschrift der Universität Magdeburg schickte Herr Pollmann eine Einführung voraus:

KLAUS ERICH POLLMANN, REKTOR DER UNIVERSITÄT MAGDEBURG Stadt und Universität Magdeburg ehrten Günter Mühlpfordt mit Eike-von-Repgow-Preis 1 3 2 Zum zweiten Mal wurde am 28. Oktober 1999 der gemeinsam von der Stadt Magdeburg und der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gestiftete Eike-von-Repgow-Preis verliehen. Dieser Preis, der an den Verfasser des Sachsenspiegels, das bedeutendste Rechtsbuch des 13. Jahrhunderts, erinnert, will eine Persönlichkeit ehren, die sich entweder in ihrem wissenschaftlichen oder literarischen Werk insbesondere mit der historischen Region Sachsen als Thema der Geschichte, der Rechtsgeschichte, der Germanistik oder der Sozialwissenschaften in herausragender Weise beschäftigt hat oder durch besondere wissenschaftsorientierte Leistungen zur Erforschung der historischen Region Sachsen ausgewiesen ist. In diesem Jahr wurde der Preis an Professor Dr. Günter Mühlpfordt, emeritierter Professor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, verliehen. Das Kuratorium zeichnet dadurch den hervorragendsten Kenner der mitteldeutschen Kulturgeschichte,

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Mitteldeutsche Zeitung (Halle), 21. Mai 2001, S. 30. K. E. Pollmann an G. M., 16. November 1999. Vorbemerkungen zum Erstdruck des Festvortrags von Günter Mühlpfordt, in: Magdeburger Wissenschaftsjournal 4 (1999), Heft 2, S. 35.

Stadt und Universität Magdeburg ehrten Günter Mühlpfordt

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insbesondere der Frühen Neuzeit, aus." 3 Es ehrt, zehn Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989, zugleich einen unbeugsamen Gelehrten, den das SED-Regime jahrzehntelang mit Berufsverbot belegt hat. Amtsenthebung und Isolierung haben nicht vermocht, die weitere unermüdliche und erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit von Günter Mühlpfordt zu verhindern. Der eindrucksvolle Vortrag, den Günter Mühlpfordt anläßlich der Preisverleihung in der Johanniskirche zu Magdeburg gehalten hat, soll im folgenden dem Leserkreis des Wissenschaftsjournals zugänglich gemacht werden.

Dem Erstdruck des Festvortrags in der Magdeburger Universitätszeitschrift stellte Mühlpfordt Ausführungen über seine alte Verbindung mit der Elbestadt und mit der Wissenschaft Eikes voran - namentlich mit dem frühneuzeitlichen Magdeburg und der Jurisprudenz der Frühneuzeit.134 Sie sind hier weiter ausgebaut. Der Wortlaut entspricht, mit Ergänzungen, der Fassung im „Magdeburger Wissenschaftsjournal". 32 Jahre nach seinen Aufsätzen über die Entdeckung der Atmosphäre des Planeten Venus veröffentlichte Mühlpfordt damit erneut in Magdeburgs Hochschulzeitschrift. GÜNTER MÜHLPFORDT Magdeburg, die Rechtswissenschaft und die mitteldeutsche Frühneuzeitkultur - von Luther bis Goethe 135 Magdeburg und sein Anteil an der Kultur der Frühneuzeit, besonders an der Aufklärung, wie auch die mitteldeutsche Rechtswissenschaft während jener Großepoche und zu anderen Zeiten nehmen in meinen Forschungen seit eh und je den ihnen gebührenden Platz ein. So soll es bleiben, solange die Kräfte reichen. Die Musikstadt Magdeburg hatte, wie im Vortrag mit Namen belegt, schon lange vor Telemann und auch nach ihm bedeutende Tonkünstler aufzuweisen. Gerade Magdeburg und seine Johannisgemeinde sind Zeugen für die mobilisierende Wirkung lutherischer Kirchenmusik. Die Reformation als spontane Volksbewegung wurde in Magdeburg 1524 mit Gesang eingeleitet, im Bereich der Altstadtgemeinde, der Johanniskirche. Sie begann mit dem Singen von „Martinischen Liedern" (Lutherchorälen) durch die Volksmenge am Markt und bei der Johannispfarre. Der größte Magdeburger der Wissenschafts- und Technikgeschichte, Bürgermeister Otto Gericke (1602-1686), 1666 geadelt als „von Guericke", war ein Mensch der Frühen Neuzeit, gebildet in Magdeburg, an den mitteldeutschen Universitäten Leipzig und Jena, an der Nachbaruniversität mit ausgeprägter Vor-Aufklärung Helmstedt und an der damals naturwissenschaftlich sehr fortgeschrittenen niederländischen Universität Leiden. 131

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Analog wird im „Mitteldeutschen Jahrbuch für Kultur und Geschichte", Band 8, Köln/Weimar/Wien 2001, Günter Mühlpfordt auf dem Rückumschlag unter den „besten Kennern" der „Mitteldeutschen Kulturgeschichte" hervorgehoben. Der im „Magdeburger Wissenschaftsjournal" 2/1999, S. 37-43 gedruckte Hauptteil des Vortrags findet sich (mit Zusätzen) oben in Teil 1, S. 25-35, bei der Dokumentation der Festveranstaltung, nach dem Bericht zur Überreichung des Preises. Das Folgende ist der erweiterte Text der Einleitung von S. 36 rechts unten (letzter Absatz) bis S. 37 rechts oben (erster Absatz) im Magdeburger Wissenschaftsjournal 2/1999.

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Günter Mühlpfordt

Er ist eine Personifizierung der Bedeutung Magdeburgs in diesem Großzeitalter. 15 ' Guericke war der erste Protagonist der mitteldeutschen Primäraufklärung außerhalb ihrer Entstehungsorte Jena und Leipzig (an denen beiden er vorher studiert hatte). Der Atomist und Heliozentriker Guericke führte auch die Begriffe Elektrizität und Elastizität in Deutschland ein. Entgegen den abwegigen Hypothesen von einer Elektrizitäts- und einer Elastizitätsmaterie erklärte er beide Erscheinungen physikalisch („electrica attractio" und „vis elastica").137 Guericke erfand die Luftpumpe, stellte Vakuen her, erregte Aufsehen vor Reichstag und Höfen mit seinen luftleeren „Magdeburger Halbkugeln", die 16 Pferde nicht zu trennen vermochten, entdeckte und nutzte die elektrische Abstoßung, konstruierte die erste Elektrisiermaschine. So war Guericke ein Bahnbrecher neuzeitlicher Experimentalforschung, mit experimentellen Beweismethoden. Er ist in der Johanniskirche beigesetzt. Als Vater der Vakuumtechnik und Wegbereiter der Dampfmaschine wirkte Guericke fort. Ihn als Zentralgestalt umgibt, zeitlich vor oder nach ihm, ein umfangreicher Kranz bedeutender Magdeburger - in Magdeburg Gebürtiger, Ausgebildeter und Tätiger - der Frühneuzeit, von A bis Z, von Luthers Paladin Nikolaus v. Amsdorf (1483-1565)' 38 am Anfang der Epoche bis zum Vorstreiter des Frühliberalismus Heinrich Zschokke (1771— 1848), einem der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit - dessen literarische Werke noch gegenwärtig neu aufgelegt werden - , an ihrem Ausgang. Sie alle waren Gegenstand meiner Forschungen und sind es zum Teil noch heute. Auch in der Volksaufklärung (Volksbildung) ging Mitteldeutschland voran, mit Magdeburg als Verlagsort wichtiger Schriften. Darin stand Magdeburg ebenfalls an der Seite von Leipzig, Halle, Dessau, Gotha, Erfurt, Jena, Wittenberg. Zwei Magdeburger Bücher zur Volksaufklärung, von 1786 und 1805, erschienen 2001 im Neudruck. Das Buch von 1786 war überhaupt das erste mit dem Titel „Volksaufklärung". 159 Die geschichtliche Relevanz des mit dem Sachsenspiegel verwachsenen Magdeburger Rechts unterstreichen heißt Eulen nach Athen tragen. Unter dem Namen „Sachsenrecht" führten es viele Städte Mittel- und Osteuropas ein. Dies Stadtrecht diente als Rechtsinstrument, als politische Waffe zur Erlangung und Wahrung städtischer Selbstverwaltung und Eigenständigkeit gegen Herrschaftsansprüche von Fürsten und Adligen. Das war nicht nur im Spätmittelalter so, sondern auch in der Frühneuzeit. Schon als Student stieß ich bei archivalischen Forschungen auf Verordnungen zentralistisch-absolutistischer Regierungen der Habsburgermonarchie aus dem Zeitraum zwischen 1740 und 1790 wider die fortdauernde Geltung des „Sachsenrechts", des weit über Mittel- und Osteuropa verbreiteten Magdeburger Stadtrechts, in Städten Ostmitteleuropas. Das Magdeburger Recht wurde vom Absolutismus bekämpft, unterdrückt und verboten, weil es die Städte 156

Das Guericke-Jahr 2002 (400. Wiederkehr seines Geburtstags) gibt Anlaß, die singulare Bedeutung dieses großen Experimentators, Naturforschers und Technikers, Stadtrepräsentanten und Staatsmanns näher zu beleuchten und zu würdigen. Insofern sind die folgenden Darleungen über Magdeburg zugleich als kleiner Beitrag zum Guericke-Jubiläum gemeint, wie auch zur 1200-Jahrfeier der Elbestadt 2005. 137 Georg Ernst Stahl, der maßgebliche Chemiker seines Zeitalters, Professor der Universität Halle, berief sich in seinen „Experimenta" (Berlin 1731, S. 64. 223. 252) auf Guerickes „Experimenta nova" (Amsterdam 1672). "* Studierte in Leipzig und Wittenberg; ab 1524 im Auftrag Luthers Superintendent zu Magdeburg. Neudrucke in: Rudolph Zacharias Becker [Gotha], Aufklärung des Landmannes (Dessau/Leipzig 1785). - Heinrich Gottlieb Zerrenner, Volksaufklärung (Magdeburg 1786). Nachwort Reinhart Siegert, Stuttgart (Bad Cannstatt) 2001 (= Volksaufklärung. Ausgewählte Schriften, Hg. Holger Böning/ Reinhart Siegert, Band 8); Johann Christoph Greiling, Theorie der Popularität (Magdeburg 1805). Nachwort Holger Böning, ebenda 2001 (= ebenda, Band 13). Prof. Böning (Universität Bremen), zweifacher Beiträger zu „Europa in der Frühen Neuzeit" (in Band 3 und 6), ist zudem Biograph und Herausgeber Zschokkes, der ins Gutenberg-Programm im Internet aufgenommen wurde.

Mitteldeutsche Frühneuzeitkultur von Luther bis Goethe

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und ihre Bewohner vor willkürlichen Eingriffen und Reglementierung durch fürstliche und adlige Obrigkeiten schützte. Die Städte beriefen sich zur Wahrung ihrer Selbstverwaltung und Eigenständigkeit auf ihr Magdeburger Recht, das ihnen Freiheiten und Befugnisse gewährte. Ein Mitteldeutscher, der heute weltweit beachtete, auch in Amerika vielberufene Kultur- und Religionssoziologe, Wirtschafts- und Kulturhistoriker Max Weber aus Erfurt, hat in seiner Historischen Kultursoziologie eine bedeutsame europäische Eigenart, einen Vorzug vor anderen Weltteilen deutlich gemacht: die Herausbildung eines sich selbst verwaltenden, emanzipationsfähigen Stadtbürgertums.' 40 Der Beitrag des Magdeburger Stadtrechts hierzu ist hoch anzuschlagen; denn das sächsisch-magdeburgische Recht bot den Städten, dem Bürgertum verbriefte Grundlagen und Handhaben für diese einmalige europäische Besonderheit, für Selbstverwaltung und eigenständige Entwicklung und damit, auf weite Sicht, für die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft. Sachsenspiegelrecht galt in Thüringen, Anhalt, Wolfenbüttel, Lüneburg und Holstein bis 1899. Erst nach Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ab 1900 trat es formell außer Kraft. In Städten Polens behauptete sich Magdeburger Recht auch nach 1900. Noch in einem Reichsgerichtsurteil von 1932 und im lettischen Gesetzbuch von 1937 fand das alte Sachsenrecht seinen Niederschlag. Kurz nach dem 2. Weltkrieg erstand ich in einem Leipziger Antiquariat das Buch des Magdeburger Stadtarchivdirektors Walter Möllenberg über Eike von Repgow. Auch Möllenberg, der an der Universität Halle das Fach Historische Hilfswissenschaften vertrat, hebt „die geschichtliche Bedeutung Magdeburgs im Mittelalter" und danach hervor.141 Mein Lehrer an der Universität Halle Martin Lintzel (1901-1955), ein scharfsinnigkritischer, meisterhafter Mediävist und Frühneuzeitforscher, gebürtiger Magdeburger, war zuvor Professor für Rechtsgeschichte an der Juristischen Fakultät Kiel.142 Die Jurisprudenz ist eins meiner Studienfächer gewesen, so daß ich als „stud. phil. et jur." immatrikuliert wurde. Rechtsgeschichte studierte ich bei Prof. Gerhard Buchda143 von der Juristischen Fakultät Halle. Als sein Doktorand wollte ich zum Dr. jur. promovieren. Die Einberufung zum Militärdienst vereitelte das Vorhaben. In meiner Genealogie finden sich mehrere Juristen.144 Professor der Rechte an der Universität Jena und im Dreißigjährigen Krieg deren Rektor war Wolfgang Werther Mühlpfordt (1575-1623). Seine Vornamen Wolfgang und Werther rufen ins Gedächtnis, daß ein anderer Jurist Wolfgang den „Werther" schrieb - Goethe, der vom Vater, einem Juristen, für die Rechtsgelehrsamkeit bestimmte Leipziger Jurastudent (1765-1768) und Straßburger Lizenziat der Rechte, der seinen ersten Erfolgsroman, „Die Leiden des jun-

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Vgl. Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, Hg. Hinnerk Bruhns / Wilfried Nippel, Göttingen 2000,201 S. Walter Möllenberg, Eike von Repgow und seine Zeit. Recht, Geist und Kultur des deutschen Mittelalters, Burg bei Magdeburg, ohne Jahr [1934], 141 S., Zitat S. VII. Uber Lintzels beharrlichen Widerstand gegen Geschichtsklitterungen von Diktaturen 1933-1955 berichte ich in: Günter Mühlpfordt / G ü n t e r Schenk / Regina Meyer / Heinz Schwabe, Der Spirituskreis (1890-1958), Band 1, Halle 2001, S. 416 f. 526-528. 531 f. (= Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte); vgl. ebenda S. 17.410.425.463 f. 470.477. 481.485.496 (auf S. 496 Arbeiten meines ehemaligen Schülers Prof. Walter Zöllner [Beiträger in Band 4 von „Europa in der Frühen Neuzeit", S. 723732] über Lintzel). Gerhard Buchda wirkte zuvor und nach 1945 an der Universität Jena. Er war Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Das Geschlecht Mühlpfordt aus Zwickau in Sachsen. Stammfolge, Görlitz 1930, S. 199 ff., besonders 208 ff. (= Deutsches Geschlechterbuch. Genealogisches Handbuch Bürgerlicher Familien, Band 68).

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Günter Mühlpfordt

gen Werthers", 1774 als Rechtspraktikant in der Advokatur beim Reichskammergericht zu Wetzlar abfaßte. Goethe hat der ungeliebten Juristerei bald darauf Valet gesagt. Von Goethe und den Geheimbünden in seinem Umfeld handelten meine ersten öffentlichen Vorträge nach dem Sturz (1971) meines Verfolgers Walter Ulbricht, der mich als seinen persönlichen Feind behandelte und 1958 das gegen mich verhängte Lehrverbot anordnete. Diese Vorträge hielt ich ab 1972 bei der Goethe-Gesellschaft in Halle und in Leipzig, vor überfüllten Sälen, mit lebhaften Aussprachen danach, die in einem Fall fast bis Mitternacht andauerte. 1,5 Das Lehrverbot gegen mich an Hochschulen, seit 1958, blieb jedoch bis 1989 in Kraft. Goethe gehört nicht erst seit seinen Leipziger Studienjahren und nicht nur als Weimarer zu Mitteldeutschland. Er hat überdies einen mitteldeutschen Stammbaum. Die Goethes stammen aus dem Unstrutgebiet. So war der Dichterfürst väterlicherseits ein „Ur-Mitteldeutscher" - wie väterlicher- und mütterlicherseits Luther, der sich als Sachse fühlende gebürtige Eislebener (somit Mansfelder) von rein Thüringer Abkunft, der über die Juristen wetterte, sie aber als Rechtsschutz benötigte. Luther besuchte 1497-1498 die Magdeburger Domschule, wo er bleibende Eindrücke für seine Bildung und Frömmigkeit empfing. Luther und Goethe - Höhepunkte am Beginn und am Ausgang mitteldeutscher Frühneuzeitkultur - waren zwei ihrer Hauptfiguren. 144 Mit beiden habe ich mich lange befaßt. Der Reformator, dessen Leben und Lehre ich nach Ursprüngen, Entfaltung und Auswirkungen in gesamtgeschichtlicher Analyse untersuchte, widmete 1520 eine seiner reformatorischen Hauptschriften, „Von der Freiheit eines Christenmenschen", 1,7 nicht, wie üblich, einem Fürsten, Bischof oder Adligen, sondern einem Bürger: dem Zwickauer Stadtvogt und Bürgermeister Hermann Mühlpfordt, „dem fürsichtigen' 48 und weisen hern Hieronymo 14 ' Mülphordt 150 Stadtvogt zu Zwyckaw meynen besondern günstigen151 freund und patron" - einem tatkräftigen Förderer der Reformation - , meinem Altvorderen. Meine Familie stammt väterlicherseits ursprünglich aus Zwickau.152 Der Titel von Luthers Freiheitsschrift ist zum geflügelten Wort, ja zu einem Schlüsselbegriff geworden. Die „Freiheit eines Christenmenschen" steht im Mittelpunkt modernen christlichen Denkens. Das bestätigte und bekräftigte 1993 der ihr als Leitbegriff gewidmete Luther-Weltkongreß in den Vereinigten Staaten, der 8. Internationale Kongreß für Lutherforschung (in St. Paul, Minnesota, 8.-14. August 1993).153 Die Thematik

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1967/68, als Ulbricht noch an der Macht war, konnte ich den von der Technischen Hochschule Magdeburg gewünschten Vortrag in Magdeburg nicht halten. Auf dem Umschlag der „Geschichte Mitteldeutschlands" (Halle 2000) sind Luther und Goethe als Kulminationen mitteldeutscher Geisteskultur abgebildet. Die lateinische Version, „De libertate christiana", ist, als ,Hand zur Versöhnung', dem Papst dediziert. Die jüngere Widmung der volkssprachlichen Fassung an einen sächsischen Bürger steht dazu in deutlichem, sichtlich gewolltem Gegensatz. umsichtigen. Luther verwechselte den Vornamen. Hieronymus war seinerzeit ein Modename. Der Reformator hatte zuvor mit einer Reihe von Trägern dieses Namens bei Freund und Feind zu tun und den Kirchenvater Hieronymus studiert. Seit Luthers Widmung von 1520 bürgerte sich die Schreibung des damals bereits über 200 Jahre alten Familiennamens mit ...dt am Ende ein, die u m diese Zeit auch bei anderen Namen aufkam (Schmidt usw.). wohlgesonnenen. Der N a m e ist seit 1303 bei Zwickauer Ratsherren und Bürgermeistern bezeugt. Seine Referate und Berichte stehen im Lutherjahrbuch 62 (1995), Hg. Helmar Junghans [Gratulant in Festschriftband 1, S, XVI und Teilnehmer am zweiten Ehrenkolloquium für G. M., im O k t o b e r 2001], S. 13-226.

Mitteldeutsche F r ü h n e u z e i t k u l t u r v o n L u t h e r bis G o e t h e

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dieses Kongresses lautet: „Befreiung und Freiheit. Martin Luthers Beitrag". Historisch ist die Vortragsfolge gegliedert in die Teile „Rezeption von Luthers Freiheitsverständnis in der Frühen Neuzeit" sowie „im 19. und 20. Jahrhundert". „Luthers Freiheitsverständnis in der Frühen Neuzeit" wurde als geschlossener Komplex behandelt, getrennt vom 19. und 20. Jh. Den deutschen Vortrag über „Die Rezeption von Luthers Freiheitsverständnis in der Frühen Neuzeit" hielt Martin Brecht (Münster in Westfalen).154 „Wahre Theologie war und ist mit ihrem geistigen Zentrum, der .Freiheit eines Christenmenschen', eine emanzipatorische Wissenschaft", urteilt Hermann Goltz.155 Seine Auffassung von der christlichen Freiheit als „geistigem Zentrum" ist weit verbreitet. So bedeuten alles in allem die mitteldeutsche Frühneuzeitkultur, die Rechtswissenschaft und Magdeburg für mich eine dreifache persönliche Verbindung und Bindung. Die stärkste Bindung, die an die mitteldeutsche Frühneuzeitkultur, reicht in Kindheit und Jugend zurück, da ich auf den Schulbänken der Franckeschen Stiftungen heranwuchs und danach an der 1694 eröffneten Universität Halle studierte. In meinen Forschungen erstreckt sich diese Verbindung zeitlich von dem einen Grenzpunkt Luther bis zum anderen Markstein Goethe - von der kämpferisch-innovativen Reformatorgestalt am Anfang der Frühneuzeit zum weltbürgerlich-lebensweisen Dichterfürsten an ihrem Ende.

GÜNTER MÜHLPFORDT Venus versus Mars - Eine friedliche Entdeckung im Siebenjährigen Krieg (1761). Mit Vorschau: Venus vor der Sonne 2004 und 2012 Im Kriegsjahr 1761, dem sechsten des Siebenjährigen Krieges,156 bot der Planet Venus, der sonnennähere Nachbar der Erde, gleichsam als Gegenspieler des Mars, ihres sonnenferneren Nachbarn, ein ungewöhnliches Schauspiel am Himmel. Dadurch verwandelte sich für Gebildete jenes Jahr des Mars in ein Jahr der Venus. Nicht Mars, sondern Venus regierte bei ihnen die Stunde; denn mehr als alle militärischen Treffen, mehr als das ganze Gemetzel auf Erden interessierte die „Liebhaber der Sternkunde" eine Begegnung am Firmament: Am 6. Juni 1761 bewegte sich Venus zwischen Erde und Sonne vor der Sonne vorbei. Ein solcher Durchzug dieses Planeten ist ein seltenes astronomisches Ereignis (seltener als Mond- und Sonnenfinsternisse), das optimale Voraussetzungen nicht nur für die Erkundung der Venus bietet, sondern auch für die Berechnung der Entfernung Erde - Sonne. 154

Ebenda, S. 121-151. Martin Brecht ist Nachfolger Kurt Alands - eines Schicksalsgefährten von Mühlpfordt während der Verfolgung an der Universität Halle 1958 - auf dessen letztem Lehrstuhl, in Münster. M. Brecht rezensierte das Sammelwerk „Europa in der Frühen Neuzeit", in: Theologische Literaturzeitung 123 (1998), H e f t 11, Sp. 1068 f. 155 In: scientia halensis. Wissenschaftsjournal der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 8 (2000), Ausgabe 1, S. 2. Hermann Goltz, Theologieprofessor der Universität Halle und bis Sommer 2000 Dekan ihrer Theologischen Fakultät [Gratulant in Festschriftband 1, S. XVI], war auf dem Gebiet der Geschichte der russisch-orthodoxen und griechisch-orthodoxen Kirchen auch Schüler von Mühlpfordt, bei dem er sich in der Festschrift zur 300-Jahrfeier der Universität Halle bedankte (in: Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle 1694-1806, Hg. Günter Jerouschek/Arno Sames u. a., Hanau/Halle 1994, S. 357 und 367). Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) erstreckte sich auf 8 Kalenderjahre, wie der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) sich durch 31 Jahre hinzog. Zu Venus vor der Sonne vgl. Klaus E. Pollmann, oben S. 1416 und G . M . , S. 27, Anm. 29.

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Unter den Forschungsproblemen, die mit einem Vorübergang der Venus vor der Sonne verknüpft sind, beschäftigte die „Sternseher" (so nannte man die Astronomen) die Frage, ob Venus eine Atmosphäre hat. Das Für und Wider wurde von „Sternfreunden" schon lange vor 1761 erörtert, wobei bloße Analogieschlüsse von der Erde auf die Venus als nicht beweiskräftig verworfen wurden. Bis 1761 blieb die Frage offen. Seit Keplers Leipziger Aufruf von 1629, die nahenden Venusdurchgänge vor der Sonne in den Jahren 1631 und 1639 genau zu beobachten, wegen der außergewöhnlich günstigen Observationsbedingungen bei diesen Gelegenheiten,157 richtete sich die Aufmerksamkeit der Astronomen auf jene Himmelsphänomene. Kepler starb 1630. Der Venusdurchgang im Kriegsgetümmel von 1631 - dem Jahr der Zerstörung Magdeburgs und seiner Marktkirche St. Johannes - wurde nirgends wissenschaftlich beobachtet, der von 1639 nur in England. U m so größere Vorbereitungen traf man für die nächsten beiden Venuspassagen vor dem Zentralgestirn, die lange auf sich warten ließen. Erst nach 122 und 130 Jahren passierte, von der Erde aus gesehen, Venus erneut die Sonne: 1761 und 1769. Zu diesen beiden Durchgängen wurden wohlausgerüstete Expeditionen in ferne Länder und fremde Erdteile unternommen, wo man gute Beobachtungsmöglichkeiten erwartete. Auch in Mitteldeutschland richteten „Sterngucker" Beobachtungsstationen ein. Zwei dieser Orte waren Magdeburg und Halberstadt. In beiden Städten und an anderen Orten bewegte die Beobachter nicht zuletzt die Frage, ob Venus eine Atmosphäre besitzt. In Magdeburg und Halberstadt wie auch anderorts, wo nicht Wolken die Sicht verdeckten, wurden am 6. Juni 1761, dem Tag der Passage, erstmals sichere Anzeichen für das Vorhandensein einer Venusatmosphäre wahrgenommen. Sowohl der Leiter der Magdeburger Beobachtungen, der Gymnasiallehrer Georg Christoph Silberschlag (1731-1790) von der Gelehrtenschule Magdeburg-Kloster Berge, als auch der Hauptbeobachter in Halberstadt, der Rat Friedrich Wilhelm Eichholz (1720-1800), observierte eindeutige Symptome für die Existenz dieser Atmosphäre. Silberschlag und Eichholz teilen sich damit in das Verdienst, die mitteldeutschen Entdecker der Venusatmosphäre zu sein. Uber Eichholz hinausgehend, zog Silberschlag, der später leitende Stellungen in Berlin bekleidete, auch im Druck den entscheidenden Schluß auf das nunmehr erwiesene „Daseyn der Atmosphär der Venus". Demzufolge ist Silberschlag als wissenschaftlicher Entdecker anzusprechen. Der weltweit erste gedruckte Bericht über den gelungenen Nachweis der Venusatmosphäre erschien eine Woche nach ihrer Beobachtung, am 13. Juni 1761, im wissenschaftlichen Teil der Magdeburgischen Zeitung, in der Rubrik „Zur Gelehrsamkeit". Es ist ein redaktionell eingeleiteter Aufsatz aus Silberschlags Feder: „Der wahrgenommene Durchgang der Venus durch die Sonne". Silberschlag konstatierte folgerichtig: „ N u n ist das Daseyn der Atmosphär der Venus, welches bisher nur analogice hat behauptet werden können, durch die Observation vollkommen bestätiget."' 58

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Johannes Kepler, Admonitio ad astronomos rerumque celestium studiosos, Lipsiae 1629 ['Erinnerung an Astronomen und Liebhaber der Sternkunde']. Faksimile des Artikels der „Magdeburgischen Zeitung" vom 13. Juni 1761 bei: Günter Mühlpfordt, Die Entdeckung der Venusatmosphäre durch Magdeburger Astronomen. Unbekannte Veröffentlichungen mitteldeutscher Aufklärer - die frühesten gedruckten Nachweise der Venusatmosphäre („Magdeburgische Zeitung" und Leipziger „Neuestes aus der Gelehrsamkeit", Juni 1761), Teil 1, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule O t t o von Guericke Magdeburg, Jahrgang 11 (1967), H e f t 5-6, S. 735-753; derselbe, Die Entdeckung der Venusatmosphäre, Teil 2: ebenda, Jg. 12 (1968), H . 1, S. 169-180. Das Faksimile in Teil 1, S. 752 f., Zitat S. 753.

Eine friedliche Entdeckung im Siebenjährigen Krieg

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Den zweiten Bericht über die Entdeckung brachte das Juniheft 1761 von Gottscheds Leipziger Zeitschrift „Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit". Der von Gottsched selbst redigierte Artikel informiert allgemein über die Beobachtungen, besonders in Deutschland, und verzeichnet auch die Nachweise in Magdeburg und Halberstadt. 15 ' Aus diesem vergleichenden Sammelbericht erhellt, daß dem Magdeburger Laienastronomen G. Christoph Silberschlag eine zweifache Priorität zukommt: Silberschlag hat als Erster, anhand von ihm selbst beobachteter Indizien, die Existenz einer Venusatmosphäre klar erkannt und er hat diese Erkenntnis erstmals in einer Veröffentlichung aufgrund eigenen Augenscheins als These vertreten. Sämtliche anderen Drucke, im Inund Ausland, über die Venuspassage von 1761 und die dabei wahrgenommene oder vermutete Atmosphäre des Planeten folgten später. Das „merkwürdige" (im damaligen Sinn: denkwürdige) Himmelsschauspiel regte einen poesiebeflissenen „Sternfreund" zu einem Gedicht an, das in der Magdeburgischen Zeitung abgedruckt ist.'60 Darin wird der Vorgang mythologisch umgedeutet. Die Planeten treten, was ihre Namen nahelegen, als Gottheiten auf. Die Annäherung des sonnennäheren Erdnachbarn an das Zentralgestirn wird, sozusagen als Begegnung der Liebesgöttin mit dem Sonnengott, von den mißgünstigen Göttern (Planeten) Mars und Merkur gestört. Das Poem ist ein ausgesprochenes Antikriegsgedicht - ein Grund für den Verfasser, seinen Namen zu verbergen. Der Kontrast etwa zu Gleims „Preußischen Kriegsliedern" war offensichtlich. Die Redaktion nennt den Autor einen „Dichter". Stilmerkmale, die Art der mythologischen Einkleidung, das Interesse eines Schöngeistes an Astronomie und anderes deuten auf Gottsched - der seinen Zeitgenossen in erster Linie für einen Dichter galt - als den Anonymus. Dafür spricht auch, daß Gottsched in seiner Leipziger Zeitschrift ein anderes, ähnliches Gedicht auf den Venusdurchgang publizierte, das mit der Initiale „G." gezeichnet ist, die ihn, den Herausgeber, als Verfasser ausweist. Überdies beklagt der ungenannte Dichter in der Magdeburgischen Zeitung, daß Wolken Sonne und Venus verdeckten. Das war in Leipzig der Fall. In Magdeburg dagegen hatte man während der für die Erkennung der Atmosphäre entscheidenden Schlußphase des Venusdurchzugs gute Sicht. Die Laienastronomen von 1761 in Magdeburg, Halberstadt und Leipzig setzten die bis auf den Erzvater der Deutschen Aufklärung Erhard Weigel in Jena zurückgehende Gepflogenheit mitteldeutscher Astronomen fort, außergewöhnliche Himmelsereignisse (Kometen, Meteore, Nordlichter, Finsternisse) nicht nur zu beobachten, sondern auch im Druck festzuhalten und zur Bekämpfung des Aberglaubens (Kometenfurcht) zu nutzen.16' Einen Schritt weiter ging Christian Wolff in Halle, der 1716 die Wendung zur Breitenaufklärung vollzog, indem er über das aufsehenerregende Nordlicht vom 17. März 1716 eine Woche nach dem Geschehen eine öffentliche Vorlesung hielt, da er als Universitätslehrer der Physik die Aufgabe habe, der Allgemeinheit das Buch der Natur zu erklären." 2 Von dieser mitteldeutschen Popularastronomie waren auch die Petersburger VenusSonne-Beobachtungen des Jahres 1761 befruchtet. Der bedeutendste Polyhistor der rusDerselbe, Der früheste Nachweis der Atmosphäre des Planeten Venus. Eine vergessene astronomische Entdeckung im Spiegel der Leipziger Aufklärung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig, Naturwissenschaftliche Reihe 16 (1967), S. 639-667, dort S. 662 (ebd. S. 663-667 Faksimilia der Leipziger und Greifswalder Drucke von 1761-62 über die Venusatmosphäre). In: ders., Entdeckung der Venusatmosphäre, Teil 2 (1968) [wie Anm. 158], S. 178. " ' Erhard Weigel, De cometa novo, Jena 1653; derselbe, Tractat von neuen Cometen und großen FeuerBall, [Jena um 1654]. 162 Vgl. zuletzt Wilfried Schröder (Geophysikalische Station Bremen), Der Wandel im Naturbild. Das Polarlicht vom März 1716, in: AltHannoverscher Kalender für 2001, Hannover 2000, S. 73-77. 159

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sischen Aufklärung, der Universalgelehrte Michail Lomonosov, der Arbeiten seiner HalleLeipziger Lehrer und Lehrmeister Christian Wolff, Friedrich Hoffmann und Gottfried Heinsius für volksaufklärerische Zwecke ins Russische übertrug, hatte 1744 aus gegebenem Anlaß eine deutsche Abhandlung seines Astronomielehrers, des Leipziger Aufklärungsgelehrten Heinsius, gegen den Kometenaberglauben russisch vorgelegt. Dadurch war ihm zwar die deutsche, nicht aber die lateinische Begriffssprache der Astronomie vertraut. Darum veröffentlichte er seinen Bericht über die Observation des Planeten Venus - ebenfalls mit Hinweisen auf dessen Atmosphäre! - nicht lateinisch, sondern in zwei selbständigen Publikationen russisch und deutsch.1" Das Auditorium in der Johanniskirche stand am 28. Oktober 1999 noch unter dem Eindruck der Sonnenfinsternis vom 11. August 1999, als Rektor Pollmann in seinen einführenden Worten das Himmelsphänomen von 1761 in Erinnerung brachte, das die „Sterngucker" ebenfalls schon mit Schutzbrillen und durch angerußte Gläser verfolgt hatten. Es paßte sehr gut zum Charakter des Festaktes, daß Herr Pollmann eingangs einen Auszug aus meinen astronomiegeschichtlichen Aufsätzen von 1967 und 1968 über die Venusatmosphäre verlas. Mehr als 30 Jahre vor dem Abdruck meines Festvortrags in der Zeitschrift der Otto-von-Guericke-Universität veröffentlichte ich in den Jahrgängen 1967 und 1968 der Zeitschrift einer ihrer Vorgängerinnen, der Technischen Hochschule Otto von Guericke Magdeburg,"4 eine Aufsatzfolge über die Entdeckung dieser Atmosphäre." 5 Im zweiten Teil der Aufsatzfolge sind auch vier weitere Meldungen der Magdeburgischen Zeitung aus dem Jahr 1761 über den Planeten Venus wiedergegeben, vom 20. Juni, 4. Juli, 18. Juli und 21. November 1761. Am 4. Juli 1761 publizierte die Magdeburgische Zeitung einen „Ausführlichen Bericht von der den 6. Juni beobachteten merkwürdigen Himmels-Begebenheit".166 Der Artikel vom 21. November betrifft die nachmals widerlegte Hypothese vom Venusmond. Man nahm irrig an, daß Venus analog zur Erde von einem Mond umkreist werde. 1769, 1874 und, bisher letztmals, 1882 zog die Venus, aus irdischer Sicht, erneut vor der Sonne vorbei. Diese Durchzüge des Planeten vor dem Zentralgestirn verlaufen in einem periodischen Zyklus von 243 Jahren, abwechselnd nach 8 und 122 oder 105 Jahren, daher 1631,1639,1761,1769,1874 und 1882. Der nächste, seit 122 Jahren erste Venusdurchgang steht für 2004 bevor. Ihm folgt bereits acht Jahre darauf, 2012, ein weiterer. Somit wird Venus vor den Augen der Erdbewohner zweimal kurz hintereinander abermals die Sonne passieren - nach 122 Jahren Pause zwei nahende astronomische Ereignisse. Daher ist das Thema Venusatmosphäre nunmehr Rückblick und Vorschau zugleich. Ein Himmelsschauspiel, das sich zuletzt den Groß- oder Urgroßeltern bot, das Eltern und selbst vielen Großeltern versagt blieb, kann dann zum Erlebnis für Enkel und Urenkel werden. Wie 1761 und 1999 gilt es da Schutzbrillen aufzusetzen oder nach altem Brauch angerußte Gläser vor die Augen zu halten, um sich das Spectaculum am Firmament anzuschauen, ohne die Augen zu schädigen.

"s

Wie Anm. 158 und 160, Teil 1, S. 749-751, und Teil 2, S. 169; vgl. Günter Mühlpfordt, Lomonosov und die Mitteldeutsche Aufklärung, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jh. 2, Hg. Helmut Graßhoff / Ulf Lehmann, Berlin 1968, S. 225 f. Titel der deutschen Fassung: Michail V. Lomonosov, Erscheinung der Venus vor der Sonne, Sankt Petersburg 1761. 1953 als Hochschule für Schwermaschinenbau gegründet, 1961-87 Technische Hochschule, 1987-93 Technische Universität, 1993 mit der Pädagogischen Hochschule Magdeburg und der Medizinischen Akademie Magdeburg zur Otto-von-Guericke-Universität vereinigt. Wie Anm. 158. Ebd., Teil 2 (1968), S. 178-180. „Ausführlicher Bericht" vom 4. Juli 1761 auf S. 179 f.

Das frühneuzeitliche Kulturzentrum Mitteldeutschland

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GÜNTER MÜHLPFORDT Das frühneuzeitliche Kulturzentrum Mitteldeutschland und seine Prioritäten Eine Frühneuzeitkultur mit modernisierenden Innovationen" 7 Die Naturregion Mitteldeutschland, als physiogeographisches Gebilde, wird umrahmt von einem Kranz teils zusammenhängender, teils getrennter Randgebirge und Höhenzüge der Mitteldeutschen Gebirgsschwelle, mit vorwiegendem Mittelgebirgscharakter: im Nordwesten von Harz, Harzvorland, Huy und Elm, im Nordosten vom Fläming, im Osten vom Lausitzer Bergland und Zittauer Gebirge, im Südosten vom Elbsandsteingebirge (Sächsische Schweiz), Ost- und Westerzgebirge, Obervogtland, im Süden vom Elster- und Fichtelgebirge, Frankenwald, Thüringer Schiefergebirge, Thüringer Wald, mit dessen südlichem Vorland, im Westen von der Rhön, den Hörseibergen, Hainich und Eichsfeld samt Dün und Ohmbergen. Dieser Gebirgssaum, eine Naturgrenze, streckenweise eine Umwallung, umgibt wie ein durchlöcherter, im Norden geöffneter Ring die Mitteldeutsche Ebene, ein tiefer gelegenes, meist fruchtbares Flachland, so die (Halle-) Leipziger Tieflandsbucht (Sächsische Tieflandsbucht) als Kern, das hügelige Thüringer Becken - beide zusammengefaßt als Sächsisch-Thüringische Bucht - , das Mittelsächsische Hügelland, die Magdeburger Börde, die Altmark. Nordsüdachse ist die ElbeSaalelinie, der die Flußgebiete der Ilm, Unstrut, Weißen und Schwarzen Elster, Mulde und Bode zugeordnet sind. Flußgrenzen bilden im Westen die Werra, im Osten die Görlitzer Neiße (ehedem der Queis), im Norden die Niederelbe (vom Elbeknick bei Werben stromabwärts bis unterhalb Wittenberge), im Süden das Quellgebiet von Saale und Weißer Elster. Durchlässige „Pforten" (Lücken, Durchgänge) an den Grenzen, zwischen unterbrochenen Höhen, runden das Bild eines in sich geschlossenen, aber nicht abgeschlossenen, sondern für äußere Einwirkungen offenen, ja von Natur aufgeschlossenen Raums ab, der Mittel-, Durchgangs- und Brückenland in einem war und ist - von anderen Landschaften deutlich geschieden, jedoch nicht abgeschieden. So stellt die Gegend um Mittelelbe und Saale, mit Harz, Erzgebirge und Thüringer Wald als Eckpfeilern, ein zusammenhängendes natürliches Ganzes dar, einen Naturraum. Durch die mindestens rund 350 000 Jahre alte Anwesenheit von Menschen (Fundort Bilzingsleben in der Unstrutgegend) ist sie aber auch eine Geschichtsregion, eine historische Landschaft. Demzufolge verkörpert der mitteldeutsche Raum seit eh und je eine Wirtschafts- und Kulturlandschaft. Zeitweise war er auch eine politische Einheit, eine Staatsregion. Er ist eine zwar komplexe, aber kompakte Ganzheit, nicht monolithisch, jedoch mit gemeinsamen, verbindenen Zügen, jeweils in enger Kooperation aller oder mehrerer Teile ein Ganzes nicht nur in naturgeschichtlicher Hinsicht, sondern auch im menschenbezogenen, wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Sinn. Geschichtsdynamisch betrachtet, handelt es sich bei ihm um ein zeitüberdauerndes stabiles Beziehungsgefüge. Summierte Kräfte physiogeographischen und anthropogeographischen (menschengeschichtlichen) Zusammenhangs und Zusammenhalts - vor allem die ungebrochene Kontinuität dieser Konsistenz, ihr, trotz aller Umbrüche und Wechselfälle, ununterbrochenes Bestehen von der Urgeschichte bis zur Frühneuzeit, ja großenteils bis zur Gegenwart -

Dem Abdruck des Festvortrags im „Magdeburger Wissenschaftsjournal" wurde auf Wunsch der Redaktion ein kurzer Vortext vorangestellt (Heft 2, 1999, S. 36, kursiv). Er ist im Folgenden zu einem einführenden und orientierenden Uberblick ausgestaltet, zugeschnitten auf die Entwicklung der Landschaft um Saale und Mittelelbe vom Natur- zum Geschichtsraum und auf die Spitzenstellung Mitteldeutschlands in verschiedenen Bereichen der Frühneuzeitkultur.

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ergaben die elementare Realität Mitteldeutschland. Auf dauerhaften Gemeinsamkeiten und Bindungen im Rahmen dieser Wirklichkeit beruht die mitteldeutsche Identität. Aus der Identität erwuchs eine gestaltende Idee: der Mitteldeutschland-Gedanke. Die objektive Realität Mitteldeutschland ist weit älter als ihr Name. Die Sache war lange vor dem Wort da. Auch ein Begriff, als Vorstellung von einem zusammengehörigen Ganzen, existierte vor dem Terminus. Die Wurzeln dieser historischen Wirklichkeit - und damit auch mitteldeutscher Frühneuzeitkultur - reichen ins graue Altertum zurück. Bodenständige einheimische Entwicklungen im mitteldeutschen Raum erstrecken sich kontinuierlich von der Eisenzeit bis in die Frühneuzeit und über diese hinaus. Subjektive mitteldeutsche Eigenart ist jünger, hat aber teilweise ebenfalls mehr oder minder alte Ursprünge. Sie war zur Frühneuzeit deutlich ausgeprägt. Neben natürlichen und menschengeschichtlichen, objektiven und subjektiven Gegebenheiten trafen bei den von Mitteldeutschland ausgegangenen, hier beheimateten oder weiterentwickelten geistigen Bewegungen der Frühneuzeit auch interne und externe Faktoren aufeinander. Diese Bestrebungen zogen und sogen ihre Kraft sowohl aus heimischen Wurzeln wie von außen. Sie waren weltoffen und zugleich eigenständig. In der Verbindung äußerer Anregungen, Katalysatoren, Stimulanzien mit organischem inneren Wachstum lag ihre Stärke. Die mitteldeutsche Identität, als Voraussetzung der Mitteldeutschland-Idee, hat Fundamente in der Fortdauer und fortwirkenden Kraft mitteldeutscher Frühneuzeitkultur. Diese ging ihrerseits weitgehend aus der vorherigen Geschichte Mitteldeutschlands hervor. Das ergibt eine lange Kausalkette aus vielen Gliedern. Autochthone Schößlinge wurden mit fruchtbringenden fremden Reisern gepfropft: Fortzeugende Eigenständigkeit und Transplantationen von auswärts (Kulturtransfer), interne Triebkräfte und externe Impulse ergänzten sich. Man kann daher den Mitteldeutschland-Gedanken nicht voll verstehen, noch weniger ihm gerecht werden ohne nähere Kenntnis der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur samt deren Vorgeschichte, insbesondere aber der frühneuzeitlichen Geistesbewegungen in und aus Mitteldeutschland. Seit den ersten Germanen auf mitteldeutschem Boden, zur Eisenzeit, verlief die Hauptentwicklung seßhafter einheimischer Bevölkerung auch in ethnischer Beziehung kontinuierlich. Diese ethnische Kontinuität bestand in der permanenten Anwesenheit germanischer Bevölkerung. Die germanische Präsenz trug von Anbeginn westgermanisches Gepräge. Nur während der Völkerwanderungen, ab etwa 150 und nach 375, modifizierten ostgermanische Zu- und Durchzügler diese Einheitlichkeit. Auf die Dauer behaupteten Westgermanen hier das Feld. Sie behielten im Altertum die Oberhand über Kelten, zur Völkerwanderungszeit über Ostgermanen und Hunnen, im Mittelalter über Sorben, Ungarn und Polen. Daher ist, volksgeschichtlich gesehen, die zusammenhängende, fortlaufende Evolution westgermanischer Strukturen, seit dem Mittelalter im Osten mit sorbischem Substrat, der rote Faden mitteldeutscher Geschichte vor, während und nach der Frühneuzeit. Die Westgermanen des Altertums waren in drei Stammesgruppen (Kult- und Kulturgemeinschaften) geschieden: Erminonen (Herminonen, Sweben, in der neueren Forschung Binnen-, Elbe-Havel- oder Elbgermanen genannt), Istwäonen (die nachmaligen Weser-Rhein-Germanen) und Ingwäonen (Nordseegermanen). Die Germanen der ersten Welle zwischen Harz und Thüringer Wald zählten zu den Istwäonen. Als stärkste Gruppierung des Binnenlands erwiesen sich jedoch die Erminonen (die sich, das besagt ihr Name, ,die Großen, Starken, Mächtigen' nannten). Die Erminonen stießen aus der Unterelbe-Havel-Gegend ins Mittelelbe-Saale-Gebiet vor, dann südostwärts weiter nach Böhmen, Mähren, der Slowakei, Ungarn und nach Italien, südwestwärts in den schwä-

Das frühneuzeitliche Kulturzentrum Mitteldeutschland

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bisch-alemannischen Bereich. Die istwäonische Vorbevölkerung um Mittelelbe und Saale wurde vom erminonischen Stamm der Ermunduren teils nach Westen und Südwesten abgedrängt, teils, soweit sie im Lande blieb, überlagert und allmählich aufgesogen. Die ersten Bestandteile der Namen Ermunduren und Erminonen sind etymologisch identisch. Das verstärkende Präfix (h)ermun / (h)ermin / erman / irmin bedeutet in beiden Fällen 'groß, stark, mächtig'. Das Grundwort „Düren" kennzeichnet die Ermunduren als 'die Mutigen'. Die Ermunduren heißen somit 'die starken Mutigen'. Sie brachten das Siedlungsgebiet zwischen Harz, Schwarzer Elster, Erzgebirge und Thüringer Wald in ihren Besitz und wurden da ansässig. Mithin ließen sie sich nicht nur im späteren Thüringen nieder, sondern auch im heutigen Sachsen und Sachsen-Anhalt. Damit stellte diese Völkerschaft erstmals eine sprachlich-kulturelle und, als Stammesbund, auch politische Einheit nahezu des gesamten mitteldeutschen Raums her. Die Ermunduren waren gewissermaßen die ersten 'Mitteldeutschländer', die diese Landschaft, soweit sie besiedelt war, einnahmen, sozusagen die 'Mitteldeutschen der Spätantike'. Mitteldeutsche Gelehrte der Frühneuzeit wußten von diesen Vorbewohnern ihrer Heimat und betrachteten sie als ihre Vorfahren. Im antikisierenden Gelehrtenlatein des Humanismus und noch nach dem Dreißigjährigen Krieg, ja selbst auf der H ö h e der Aufklärung galten über die Thüringer hinaus alle Mitteldeutschen als „Hermunduri". Demgemäß wurde nicht nur 'thüringisch, in Thüringen', sondern auch 'sächsisch, in Sachsen' - besonders im damaligen erweiterten Sinn gleich 'mitteldeutsch insgesamt, in Mitteldeutschland' - mit dem Genitiv Pluralis „Hermundurorum" wiedergegeben. 1653, im Auftaktjahr der Jena-Leipziger Primäraufklärung, versah der Doktor der Universitäten Leipzig und Jena Andreas Möller aus Pegau bei Leipzig, Konrektor, Stadtphysikus und Stadtchronist der Bergstadt Freiberg in Sachsen, seine Freiberger Chronik mit dem Impressum 'Freiberg im Lande der Hermunduren'. 168 1680, im Durchbruchsjahr der Leipziger Frühaufklärung, veröffentlichte eins ihrer Häupter, Adam Rechenberg (Rektor der Universität Leipzig 1681-82 und 1689-90), eine Disputation über die Silbererzverhüttung bei den Ermunduren. 1 " Der Thüringer Wald hat im frühneuzeitlichen Neulatein den antiken Namen „Hermundurorum montes" 'Hermundurengebirge'. Das kehrt noch 1766 in einer Petersburger Publikation eines gebürtigen Mitteldeutschen mehrfach wieder.170 So rief die Überlieferung von den Ermunduren bei Mitteldeutschen der Frühneuzeit ein ethnisches Herkunftsbewußtsein hervor. Mit den Ermunduren setzte die kontinuierliche Entfaltung einer bodenständigen Bevölkerung im mitteldeutschen Raum ein. Seit ihnen hat sich hier ein Grundstock der Landesbewohner von Generation zu Generation fortgepflanzt und weiter entwickelt bis zur Frühneuzeit und über diese hinaus bis zur Gegenwart. Nachdem Teile der Ermunduren das Mittelelbe-Saale-Gebiet in südlicher Richtung verlassen hatten, nahm der verbliebene Kern den Namen Duringer 171 (lateinisch Thurin-

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Andreas Möller, Theatrum Freibergense Chronicum. Beschreibung der Stadt Freyberg in Meissen, F R E I B E R G A H E R M U N D U R O R U M 1653. " ' Adam Rechenberg, De H e r m u n d u r o r u m metallurgia argentaria, Leipzig 1680. ,7 ° Johann Gottlob Lehmann. Examen chymicum, in: Novi Commentarii Academiae Petropolitanae 10, Petropoli [Petersburg] 1766, S. 391. 393. 171 Den ursprünglichen d-Anlaut bewahren mehr als ein Dutzend Familiennamen, die sämtlich 'der Thüringer, der aus Thüringen' bedeuten: Dierichen, Dierig, Dierink, Diringer, Dö(h)ring(er), Dörich, Döring, Dü(h)ring(er), Dürring, During u. a. - Analog im Anlautwechsel wurde ,deutsch' in karolingischen Kapitularien zu „theodiscus" („theodisca lingua") latinisiert.

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gi)172 ,Abkömmlinge der Düren, Nachkommen der Mutigen' an (mit dem patronymischen Herkunftssuffix ...ing, das auf die Abstammung verweist).173 Ermunduren und Thüringer sind mithin nicht nur genetisch, sondern auch onomastisch gleichen Stammes. Thüringen ist hiernach das ,Land der Nachfahren der Mutigen', gleichsam das der mutigen Enkel. Aus Schleswig-Holstein und Mecklenburg zugewanderte Angeln und Warnen gingen im Frühmittelalter in den Thüringern auf. Angeln (von deren über die N o r d see nach Britannien übergesetztem Hauptteil England seinen Namen erhielt), Warnen (aus der Warnowgegend) und „Schwaben" (Sweben, Semnonen aus dem Havelgebiet) im Harzvorland verstärkten den einheitlich westgermanischen Charakter der Bevölkerung, die Warnen und jene mitteldeutschen Nordschwaben zugleich den vorherrschend erminonischen. Durch die Herleitung von den Ermunduren reihen sich die Bezeichnungen Thüringer und Thüringen unter die ältesten bestehenden deutschen Stammes- und Landschaftsnamen ein (nächst Schwaben aus: Sweben ,eigene Leute', neben Friesen, Angeln, Sachsen). Jünger sind die großen Stammesbünde der Völkerwanderung und deren N a men: Franken (,Freie'), Alemannen (,alle Leute'), Bayern (Bajuwaren ,Männer aus Böhmen', d. h. von dort gekommene erminonische Markomannen [,Grenzleute'], deren König Marbod Oberherr der Ermunduren war). Bayern, Nordschwaben und Mitteldeutsche entstammen mithin der gleichen westgermanischen Kulturgemeinschaft. Das Thüringerreich der Völkerwanderungszeit festigte für die Dauer seines Bestehens die politische Einheit Mitteldeutschlands. Es umfaßte den gesamten mitteldeutschen Raum. Zeitweilig dehnte es seinen Machtbereich bis zur unteren Elbe und oberen Donau aus. Sein Zentrum lag an der Unstrut. Weitere Schwerpunkte befanden sich zwischen Harz und Mittelelbe, westlich von Magdeburg (Bode-Ohre- und Aller-OkerGebiet). Im Osten reichte dies Großthüringen über die Elbe zwischen Wittenberg und Meißen/Dresden hinaus zur Schwarzen Elster. Es erlag 531 einem fränkischen Einfall und fränkisch-sächsischem Bündnis. Der Stamm der Thüringer und die Landschaft Thüringen überdauerten als Benennung den Untergang des Thüringerreichs. Das Stammesherzogtum Thüringen war das mitteldeutsche Kerngebiet des Frühmittelalters. Aber es geriet in Abhängigkeit von Niedersachsen und ging in ihm auf. Zu einem gleichrangigen mitteldeutschen Herzogtum Thüringen an der Seite der fünf großen Herzogtümer Sachsen, Franken, Schwaben, Bayern und Lothringen kam es nicht. Doch wurde Thüringen im Hochmittelalter (1130, 599 Jahre nach der Zerstörung des Thüringerreichs) als Landgrafschaft wiederhergestellt und blieb ein Faktor im innenpolitischen Kräftespiel des Reichs. Seit 1180 waren Thüringer Vgl. zuletzt Riccardo Weigelt, Ersterwähnung der Thüringer, in: Mitteldeutsches Jahrbuch 8 (2001), S. 173-175. Durch das Fortleben des Namens Ermunduren im N a m e n der Thüringer besteht eine etymologische Verwandtschaft zwischen Thüringen und - Amerika. Der Name Amerika bewahrt den ersten und der Name Thüringen den zweiten Bestandteil des alten Stammesnamens. Die Benennungen Ermunduren und Amerika beginnen mit einer Verstärkung aus gleicher Wurzel. Der Name der Neuen Welt geht auf den germanischen Vor-, Zu- und Ortsnamen Em(me)rich in der italienischen Form Amerigo zurück. Er rührt von den deutschen Kartographen Martin Waldseemüller und Matthias Ringmann her, die, beeindruckt von den Reiseberichten des italienischen Seefahrers und Südamerikaentdeckers Amerigo Vespucci, 1507 dem Doppelkontinent den N a m e n America gaben. Em(me)rich und seine Entlehnungen in romanische, slawische und finno-ugrische Sprachen (zum Beispiel italienisch, neben Amerigo, der Zuname Amerighi, im Ungarischen der häufige Vorname Imre, slowakisch Imrich und Imro) sind, wie ihre weiblichen Entsprechungen Emma, Hermine, Irma, durch Assimilation entstandene Verkürzungen eines älteren Titel-Namens Ermanrich 'mächtiger Herrscher, Großkönig' (Name eines Gotenkönigs) - eine passende Etymologie für die Weltmacht Amerika.

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Landgrafen auch „Pfalzgrafen bei Sachsen" (Regenten der Pfalzgrafschaft Sachsen in der Unstrut-Saale-Gegend). Das hochmittelalterliche Thüringen wurde in der höfischen Kultur repräsentativ für Mitteldeutschland (Sängerkrieg auf der Wartburg), wie später Sachsen mit Dresden im Barock. Die deutsche Besiedlung östlich der Saale in Mittelalter und Frühneuzeit ging überwiegend von Thüringen aus. Damit waren die Thüringer bevölkerungsgeschichtlich zunächst erneut Träger mitteldeutscher Kontinuität und Einheit. Das Obersächsische ist dem Thüringischen nahe verwandt. Daher ist die thüringisch-obersächsische Mundartgruppe ein sprachlicher Faktor mitteldeutscher Zusammengehörigkeit. Thüringisches verschmolz mit Sächsischem zu mitteldeutscher Einheitlichkeit. Auf diese Weise trug die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter und zur Frühneuzeit - während der sie minder intensiv fortgesetzt wurde - zum Zusammenwachsen der Mitteldeutschen bei. Seither datiert als Ersatzausdruck für .mitteldeutsch' die zweigliedrige Benennung „sächsischthüringisch" oder „thüringisch-sächsisch". Thüringer und Obersachsen verband so neben der benachbarten Lage ihrer Wohnsitze in der gebirgsumsäumten Mitteldeutschen Ebene und an deren Rändern auch die gemeinsame, zwischen Nord und Süd vermittelnde Sprechweise, die sprachliche Eigenart. Die obersächsische Ausgleichsmundart auf thüringischer Grundlage, die nach und nach zur gemeindeutschen Verkehrs- und Kanzleisprache aufstieg, war primär ein zusätzliches Band mitteldeutscher Gemeinsamkeit. Dies ist ein Ansatzpunkt für die frühneuzeitliche Festigung mitteldeutscher Unität wie auch für ihr zunehmendes Bewußtwerden und für die dadurch bedingte Konsolidierung des Vorstellungskomplexes .mitteldeutsch', in deren Verlauf der Terminus „mitteldeutsch" aufkam. In den Vordergrund trat während der Frühneuzeit aber der Name Sachsen als Stammes- und Landschafts- wie als Staatsbezeichnung. Je mehr sich das Schwergewicht Mitteldeutschlands aus dem .Altland' westlich der Saale ins .Neuland' östlich davon, mit seinem gewinnbringenden Bergbau, verlagerte, in die Mark Meißen, desto stärker tendierte auch die Begriffsbildung nach der nunmehr obersächsischen Seite hin. Entscheidend dafür war das politische Erstarken der Wettiner, deren Stammsitze bei Halle und am Harz lagen. Als Markgrafen von Meißen zu den mächtigsten Reichsfürsten zählend, brachten sie auch die Landgrafschaft Thüringen und die Pfalzgrafschaft Sachsen in deren Norden an sich. Ihr Ansehen stieg, als sie das Restherzogtum Sachsen-Wittenberg gewannen, mit ihm den sächsischen Stammesherzogstitel und die Kurfürstenwürde. Für ihren Herrschaftsbereich übernahmen die Wettiner daraufhin den Namen „Sachsen", an dem Herzogs- und Kurwürde hingen.'74 Dann erlangten sie auch die Kontrolle über das eigenstaatliche Erzbistum Magdeburg, mit der Erzbischofswürde und der Residenzstadt Halle sowie über das Bistum Halberstadt. Die Großstadt Erfurt, die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen, das Reichsstift Quedlinburg wie auch die Mansfelder und Harz-Grafschaften gerieten unter kursächsische Oberherrschaft. Damit war Mitteldeutschland unter dem Zepter der Wettiner vom nunmehrigen Sachsen her abermals politisch geeint. Bezeichnend für die Schwerpunktverlagerung innerhalb Mitteldeutschlands von Thüringen nach Sachsen sind Werdegang und Wirken des Reformators Luther. Der Thüringer der Herkunft nach wurde vom Erfurter Studenten zum Wittenberger Professor, fühlte und bekannte sich als Sachse, begann und leitetet die Mitteldeutsche Reforma174

Vgl. Manfred Kobuch, Der Weg des Namens Sachsen, in: Derselbe, Ausgewählte Aufsätze. Zu seinem 65. Geburtstag hg. von Karlheinz Blaschke/Michael Gockel/Uwe Schirmer, Beucha 2000 (= Kötzschke-Schriften 6); zuvor derselbe in: Sachsen und die Wettiner, Dresden 1990, S. 29-35.

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tion als „Sächsische Reformation", gründete und lenkte die lutherische Kirche als „Sächsische Kirche". So wirkte sich Kursachsens Machtzuwachs namengeschichtlich dahin aus, daß man den Begriff Mitteldeutschland mit „Sachsen" umschrieb. Seit das Kurfürstentum Sachsen als protestantische Führungsmacht auftrat, gewöhnten sich demgemäß In- und Ausland daran, ganz Mitteldeutschland einfach „Sachsen" zu nennen: Außerhalb Mitteldeutschlands, vor allem jenseits der Reichsgrenzen wurde es zur Frühneuzeit üblich, den gesamten mitteldeutschen Raum so zu bezeichnen. Diese Gewohnheit verbreitete sich sowohl im westlichen Ausland (Frankreich, England, Italien u. a.) als auch im östlichen (Polen, Rußland u. a.). Entsprechend sagte und schrieb man für ,mitteldeutsch' „sächsisch". Die mitteldeutschen Universitäten hießen im akademischen Deutsch „die sächsischen Universitäten" (Ausdruck auch von Christian Wolff), einschließlich der brandenburgpreußischen in Halle, der thüringischen (ernestinischen) in Jena und mitunter sogar der kurmainzischen in Erfurt.' 75 Analog hat man sämtliche Mitteldeutschen pauschal als „Sachsen" angesprochen.'76 Der Komponist Händel aus „Halle in Sachsen"177 wurde in Italien als ,der liebe Sachse' („il caro Sassone") gefeiert. So dienten „Sachse(n)" und „sächsisch" als Ersatzwörter, als Synonyme für „Mitteldeutsche(r)", „Mitteldeutschland" und „mitteldeutsch". Sprachlich handelt es sich um die Stilfigur der Pars pro toto: Der wichtigste, bekannteste Teil, der Hauptteil steht für das Ganze. Dieser Sprachgebrauch blieb bis ans Ende der Frühneuzeit lebendig - bis zur Selbstauflösung des Reichs 1806 und bis zur Halbierung des Königreichs Sachsen auf dem Wiener Kongreß 1815. Doch entsprach auch die Benennung der preußischen Provinz Sachsen, die 1816 aus mitteldeutschen Einzelterritorien und Gebietssplittern (in Thüringen, am und im Harz), unter Einschluß der Altmark, zusammengeschweißt wurde, noch der frühneuzeitlichen Gleichsetzung von Sachsen mit Mitteldeutschland. Damit sollte der Anspruch Preußens auf ganz Sachsen aufrechterhalten werden. Die Hohenzollernmacht wollte ja Mitteldeutschland unter dem preußischen Adler einen. Schon seit dem Rückgang der Macht Kursachsens infolge der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg (1546-1547) und der Spaltung der Wettiner in sich befehdende Linien verstärkte sich - besonders in der Wissenschaft und da am meisten in Germanistik, Länderkunde und Geschichtsschreibung - das Bedürfnis nach einer genaueren, adäquaten Gesamtbezeichnung für das Mittelelbe-Saale-Gebiet. Als 1680 ehedem geistliche Territorien - das nunmehrige Herzogtum Magdeburg und Fürstentum Halberstadt - an Kurbrandenburg gefallen waren, danach auch die Oberhoheit über Quedlinburg und die Vorherrschaft im Mansfeldischen, wurde die Begriffslücke noch deutlicher empfunden. Sowohl aus geographischer wie aus stammesmäßig-sprachlicher Sicht kam man auf das Wort .mitteldeutsch' mit seinen Ableitungen (alte Formen „Mitter Teutsche", „Mitte Teutschlands", „mittleres Teutschland", „mittleres Deutschland").

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Vgl. Günter Mühlpfordt, Die „sächsischen Universitäten" Leipzig, Jena, Halle und Wittenberg als Vorhut der Deutschen Aufklärung, in: Wissenschafts- und Universitätsgeschichte in Sachsen, Hg. Karl Czok, Berlin 1987, S. 2 5 - 5 0 ; G. Mühlpfordt, Die Sachsen - Weltwanderung eines Stammesnamens, in: Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag, Hg. Uwe John/Josef Matzerath, Leipzig/Stuttgart 1997, S. 11—40 (mit Literatur, darunter einschlägigen Aufsätzen von G. M., S. 39 f.). In Finnland und Estland, in der Slowakei, in Siebenbürgen und angrenzenden Ländern galten und gelten vielfach noch heute alle Deutschen als .Sachsen'. Die brandenburg-preußische Verwaltung ersetzte das allgemein übliche „Halle in Sachsen" durch das amtliche „Halle im Magdeburgischen", was auch im Impressum von Publikationen bei der Angabe des Erscheinungsortes Eingang fand.

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Der sprach- und stammesgeschichtliche Ausgangspunkt dieser Präzisierung lag rund ein Jahrtausend zurück. Es war die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung, nach der Völkerwanderung, an der Schwelle des Frühmittelalters. Durch diesen Lautwandel wurden die Deutschen in drei Stammes- und Mundartgruppen geschieden: die oberdeutsche, die ihn voll durchführte, die niederdeutsche, die ihn nicht vornahm, und die sprachlich wie räumlich zwischen beiden vermittelnde mitteldeutsche, die ihn weitgehend, aber nicht gänzlich mitmachte. Der sprachliche Aspekt hat mit dem räumlichen gemeinsam, daß beide in der NordSüd-Perspektive gesehen sind, zwischen „niederdeutsch" im Norden und „oberdeutsch" im Süden. Die „Mitte Teutschlands"'78 wurde somit von vornherein nicht als Zentrum eines Raums nach vier Himmelsrichtungen aufgefaßt, auch nicht als Zone zwischen West und Ost, sondern als Brücke zwischen Nord und Süd, sowohl stammesmäßig als auch geographisch. Das bedeutet eine Abgrenzung nach Breitengraden, nicht nach Längengraden. Die „Mitter Teutschen" oder „mittleren Deutschen" im Verständnis der Frühneuzeit waren die Stämme zwischen Nieder- und Oberdeutschen, in ihrer überleitenden Mittelund Mittlerstellung zwischen Stämmen ohne zweite und mit voller zweiter Lautverschiebung.17' Das „mittlere Teutschland" oder „mittlere Deutschland", die „Mitte Teutschlands" im frühneuzeitlichen Sprachgebrauch umfaßte daher Gebiete zwischen Niederund Ober-, das heißt Nord- und Süddeutschland.180 Der gebürtige Schwabe Wieland etwa, der meistgelesene Weimarer Klassiker seiner Zeit, der in Mitteldeutschland zur Schule ging (Magdeburg), studierte (Erfurt), als Universitätsprofessor lehrte (ebenfalls Erfurt), als Dichter und Erzieher tätig war (Weimar), als Autor publizierte (Leipzig), unterschied die „Mitte Teutschlands" vom „nördlichen Teutschland" und vom südlichen.181 So hat der Vorstellungskomplex 'mitteldeutsch' sich im Mittelalter herauskristallisiert, sich in der Frühneuzeit gefestigt und zum Terminus konsolidiert, danach sich stärker eingebürgert.182 Festzuhalten bleibt: Entgegen verbreiteter Annahme ist mitteldeutsch kein erst „moderner" Begriff. Jünger ist lediglich die zusammengezogene Form „Mitteldeutschland". Im Mittelalter war auch das Kompositum „Deutschland" nicht üblich (dafür noch zu Beginn der Frühneuzeit: „deutsches Land", „teutsch Land", „deutsche Lande"). Die Zusammensetzung „Deutschland" wurde erstmals im Vorfeld der Frühneuzeit eingeführt. Durchgesetzt hat sie sich im Lauf der Frühneuzeit. Die Zusammenrückung „Mitteldeutschland" folgte danach. 171

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In der Frühneuzeit überwog die falsche T-Schreibung (aufgrund irriger gelehrter Ableitung des Wortes „deutsch" .volksmäßig' vom Stammesnamen der Teutonen) gegenüber dem ursprünglichen und heutigen korrekten D-Anlaut (teutsch, Teutsche, Teutschland; Mitter Teutsche, mittleres Teutschland, Mitte Teutschlands). Bei Sebastian Helber, Syllabirbuch, 1593, S. 25 (Nachdruck) in damaliger Schreibung „die Mitter Teütschen", für Stämme mit solchen Übergangsmundarten. Noch am Ende der Frühneuzeit war die falsche T-Variante in Gebrauch, selbst im Buchtitel: Johann Christian Daniel Schreber (Hg.), Naturgeschichte [...] des mittleren Teutschlands, 8 Hefte, Nürnberg 1800-18. Korrekt dagegen („das mittlere Deutschland"): Johann Christoph Adelung, Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, 2. Auflage, Leipzig 1800, S. 449 (1. Aufl. 1782). [Christoph Martin Wieland], [Denkschrift zur Reform der Universität Erfurt (1778)], in: Wilhelm Stieda, Erfurter Universitätsreformpläne, Erfurt 1934, S. 132. 171. 218 (= Sonderschriften der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt 5). Vgl. zum Ganzen Karlheinz Blaschke, Mitteldeutschland als geschichtlich-landeskundlicher Begriff, in: Historische Forschung in Sachsen-Anhalt. Ein Kolloquium anläßlich des 65. Geburtstages von Walter Zöllner, Hg. Heiner Lück/Werner Freitag, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 13-34 (=Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Philologisch-historische Klasse 76/3).

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Der wirtschaftliche und kulturelle, zeitweise auch politische Aufstieg der Geschichtsregion Mitteldeutschland an der Schwelle und während der Frühneuzeit hatte Ursachen mannigfacher Art (Multikausalität). Begünstigt wurde er durch Fruchtbarkeit und Fündigkeit (Erzreichtum) des Bodens, durch die für Handel und Verkehr vorteilhafte Mittellage an Kreuzungspunkten europäischer Handelswege (Leipziger und andere Messen), ermöglicht durch Ballung leistungsfähiger, aufstrebender, gewerbefleißiger, geistig reger Menschen, die häufig der Erzreichtum anlockte, auch Ausstattung mit Grund und Boden, gebotene Freiheiten, nicht zuletzt das Magdeburger Recht oder Sachsenrecht. Auf solche Weise wuchs Mitteldeutschland am Ubergang zur Neuzeit zu einem Ballungsraum mit flächendeckenden Bergbau- und Textilrevieren, bei kleinregionaler Verdichtung etwa im „Geniehorst" Erzgebirge, mit hochgradiger Verstädterung, demzufolge überdurchschnittlicher Bevölkerungsdichte und größeren Städten als Kristallisationspunkten für Gewerbe und Kultur - insgesamt ein Kumulationsraum nicht nur in demographischer und wirtschaftlicher, sondern darüber hinaus in geistiger, religiöser, gesamtkultureller, im Ansatz auch in politischer Hinsicht. Beispielsweise war, in der gewerblichen Wirtschaft, das Verlagssystem (Verlegung der Weber) im ostmitteldeutschen Leinengewerbe eine Keimzelle des Frühkapitalismus. Uber seine Mittellage hinaus wurde so das frühneuzeitliche Mitteldeutschland zu einer Zentralregion auch im kommunikativen Sinn, mit meist städtischen Konzentrationsstellen für höhere Bildung, geistigen Austausch, für die Wanderung von Ideen, für Wissenschafts- und überhaupt Kulturtransfer. Neben der räumlichen und strukturellen Eingrenzung ist die zeitliche zu beachten. In der mitteldeutschen Geistesgeschichte fällt die Großepoche Frühneuzeit ungefähr mit dem Bestehen der Leucorea zu Wittenberg (1502-1817) zusammen. Mitteldeutsche Frühneuzeit reicht geistig-kulturell demgemäß von der Eröffnung der Universität Wittenberg 1502 - als institutionelle Voraussetzung für die 1517 anhebende Wittenberger Reformation - bis zu ihrer Vereinigung mit der Universität Halle 1817. Das Jahr 1817 ist zugleich das der von Studenten und Professoren der Universitäten Jena, Halle und Leipzig initiierten gesamtdeutschen Bewegung für Einheit in Freiheit, mit der Reformationsfeier beim Wartburgfest 1817 als ein Höhepunkt, Abschluß (der Frühneuzeit) und neuer Auftakt (Übergang zum Vormärz) in einem. Insofern vollzog sich mitteldeutsche Frühneuzeitgeschichte, namentlich die des Luthertums - Luther ritt 1521-22 zweimal von der Wartburg nach Wittenberg und einmal von Wittenberg zur Wartburg zurück - gewissermaßen zwischen Wittenberg und der Wartburg als nordöstlichem und südwestlichem Eckpfeiler Mitteldeutschlands. Dies „mittlere Deutschland" mit seiner sich mehr und mehr entfaltenden Kultur bot dem großen Sprachgelehrten und Kulturhistoriker der Aufklärung Adelung ein Musterbeispiel bei seiner Suche nach dem Sinn der Geschichte, den er in der - trotz aller Umund Abwege, ungeachtet vieler Rückschläge - fortschreitenden Entwicklung der geistigen und äußeren Kultur, vor allem von Wissenschaft, Wirtschaft und Technik erblickte. Der gebürtige Pommer stand mit seiner Auffassung von Mitteldeutschland als der „blühendsten Provinz" der deutschen Kultur nicht allein. Uber die kulturelle Schlüsselstellung Mitteldeutschlands gingen in der Frühneuzeit Angehörige aller deutschen Stämme wie auch ausländische Gelehrte, Reisende und Beobachter mit ihm konform. Diese Einschätzung war weithin anerkannt. Kompetente Nicht-Mitteldeutsche teilten Adelungs Urteil ausdrücklich: die Ostpreußen Gottsched und Kant, Schlesier mit Christian Wolff an der Spitze, die Niedersachsen Campe und Göschen wie auch Göttinger Aufklärer, die Franken Schlözer und Goethe, die Schwaben Wieland und Schiller, Märker wie J. August Eberhard und maßgebliche Berliner Aufklärer, weitere Pommern wie Ernst C. v. Manteuf-

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fei (und später Franz Mehring), Westfalen, Rheinländer, Alemannen, Hanseaten und Schleswig-Holsteiner, Deutschbalten, Siebenbürger Sachsen und Zipser Sachsen, nicht zuletzt Bayern, besonders wenn sie sich von Leistungen der „Nordlichter" (wie man die in München, Ingolstadt, Landshut und anderen Orten Bayerns tätigen Mitteldeutschen nannte) überzeugt hatten. In der Folgezeit sind Prioritäten und Vorbildlichkeit, Modellcharakter mitteldeutscher Frühneuzeitkultur von verschiedensten Seiten bestätigt, bekräftigt und erhärtet worden.183 Kennzeichnend für die Frühneuzeitkultur zwischen Wittenberg und Wartburg war, daß man auf mitteldeutschem Boden vielfach neue Wege beschritt, von denen nicht wenige in Richtung Moderne führten. Auf manchen kulturellen Gebieten ging Mitteldeutschland anderen Gegenden voran. In einigen gewann es eine Spitzenstellung. Insgesamt war die mitteldeutsche Region in mannigfaltiger Hinsicht kulturell wegweisend, zum Teil führend. Hauptsächlich in elf Kulturbereichen ist Mitteldeutschland zwischen 1502 und 1817 maßgebend gewesen: -

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1. in der Sprache, der deutschen Hochsprache, durch sein neuhochdeutsches Musterdeutsch (Schrift-, Amts-, Kirchen-, Literatur- und Wissenschaftssprache); 2. im Erziehungswesen, von der Haus-, Einzel-, Privatunterweisung über die Schulpädagogik, mit Ganztagserziehung in Internaten, bis zur Hochschulpädagogik und -didaktik, samt Hodegetik (Studienanleitung); 3. im sich damit überschneidenden Schulwesen, mit vorbildlichen Volks-, Stadt-, Rats-, Landes-, Bürger-, Latein- und Gelehrtenschulen (humanistische Stadt- und Heimgymnasien); 4. im Hochschulwesen, mit fünf Universitäten auf engem Raum (einmalig), vorrangig den vier Großuniversitäten Wittenberg, Leipzig, Jena und Halle, den nächst Paris (Sorbonne) zeitweise meistbesuchten Kontinentaleuropas; 5. in einer Reihe von Wissenschaften, sowohl Geistes- oder Kulturwissenschaften als auch Naturwissenschaften, mit vielen neuen Ergebnissen und Erkenntnissen, Entdeckungen und Erfindungen, Erst- und Spitzenleistungen; 6. im religiösen Leben und seinen kulturellen Erscheinungsformen, vor allem durch die lutherische Konfessionskultur; 7. in mehreren Künsten, so in Bau- und Gartenkunst, in Architekturtheorie, Ästhetik, Kunstgeschichte, am stärksten in der Musik, religiöser wie weltlicher, worin mitteldeutsche Meister der Frühneuzeit sich als „tonangebend" im wahrsten Sinn des Wortes erwiesen; 8. in Technik und technischen Disziplinen, mit fortgeschrittener Technik („Mechanik") in Bergbau und Hüttenwesen (Metallurgie/Schmelztechnik, Metallverarbeitung, Glashütten), Textilgewerbe und Kunsthandwerk, dazu Heimat der Technologie_als Systemwissenschaft; 9. im Schrifttum, sowohl in gelehrter als auch in schöngeistiger, religiöser und technischer Literatur, von der Reformation über die Aufklärung bis zur Weimarer und Jenaer Klassik sowie zur Frühromantik; Zeugnisse von Nicht-Mitteldeutschen über die Musterhaftigkeit mitteldeutscher Frühneuzeitkultur in Sprache, Bildung, Wissenschaften, Technik, religiösem Leben, Literatur, Künsten, besonders der Musik, und anderem - bei: Günter Mühlpfordt, Gelehrtenrepublik Leipzig. Wegweiser- und Mittlerrolle der Leipziger Aufklärung, in: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit, Hg. Wolfgang Martens, Heidelberg 1990, S. 39-101 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 17, Zentren der Aufklärung III) und in weiteren, im Schriftenverzeichnis am Ende von Band 7 aufgeführten Arbeiten von Mühlpfordt zur Schlüsselfunktion dieser Frühneuzeitkultur.

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Günter Mühlpfordt 10., als Voraussetzung für die Verbreitung des Schrifttums, im Publikationswesen (Druckerei- und Verlags-, Buch- und Zeitschriftenwesen, Bibliotheken), mit der Buchstadt Leipzig an der Spitze; schließlich 11., mittels Schulen und Schriften in der Volksbildung, besonders der Breiten- und Volksaufklärung.

Mitteldeutsche Gelehrte verfaßten die umfangreichsten, auch fachlich umfassendsten gedruckten Nachschlagewerke Europas und zum Teil der Welt im Aufklärungszeitalter, ihrer und früherer Zeiten (Lexika, Enzyklopädien, Wörterbücher, Weltgeschichten u. a.). Diese unentbehrlichen Hilfsmittel der Wissenschaft wurden zumeist in Leipzig und/oder Halle verlegt. Das umfangreichste, auch fachlich umfassendste Allgemeinlexikon, als Lexikon seiner und aller früheren Zeiten, war der 68-bändige, nach seinem Verleger benannte Halle-Leipziger „Zedier".184 Der unternehmende Verlagsbuchhändler J . Heinrich Zedier (1706-1751), wie Christian Wolff ein Breslauer Handwerkersohn, brachte dank tüchtiger, versierter Bearbeiter ein gewaltiges Handbuch des Wissens, einen wahren „Thesaurus thesaurorum" zusammen. Es ist auch prosopographisch eine kostbare, unübertroffene, bis heute unersetzte Quelle - ein wertvolles Nachschlagewerk zur Personengeschichte, insbesondere Gelehrtengeschichte, ein unentbehrliches Gelehrtenlexikon. Ein Hauptbearbeiter war der Leipziger wolffianische Philosophieprofessor Karl Günther Ludovici. Auch der hallesche Geschichtsprofessor J. Peter Ludewig, Haupt einer der Halleschen Historisch-Staatsrechtlichen Schulen, war beteiligt. 18 Bände redigierte der Leipziger Dozent Paul Daniel Longolius, ein Schüler des führenden Leipziger Aufklärers und halleschen Dr. jur. Burkhard Mencke. Auf alledem beruhte Mitteldeutschlands Führungsposition im gesamten Bildungswesen. besonders sein vorbildliches Unterrichtssystem. Der mitteldeutsche Raum verfügte über das dichteste regionale Bildungsnetz (Netzwerk von Bildungseinrichtungen, namentlich Lehranstalten), das es gab. Einzig Holland, allenfalls noch Kleinregionen wie eine Gegend Württembergs mit Tübingen/Stuttgart, ein Landstrich der Schweiz mit Basel und Zürich sowie Teile Norditaliens kamen ihm darin nahe. Mitteldeutsche Lehrkräfte, in Mitteldeutschland und außerhalb - vom Hauslehrer und Hofmeister bis zum Schulrektor und Ordentlichen Universitätsprofessor - waren als geschult und kenntnisreich, weitum in Deutschland und Europa gesucht. Mitteldeutsche Bildungsangebote, von Privatunterricht und Grundschule bis zur Universität, auch für das Selbststudium (Autodidaktik), übertrafen solche aus anderen Regionen. Mitteldeutsche Wissensvermittler und Wissensspeicher, Zeitungen und Zeitschriften, Bücher und Bibliotheken gehörten zu den vielseitigsten und reichhaltigsten. Mitteldeutsche Druckereien und Verlage waren technisch fortgeschritten, versiert und initiativreich, druckten und verlegten auch in fremden Schriften (alt- und neugriechisch, hebräisch, kyrillisch, arabisch). Im mitteldeutschen Sprachraum wurde der Grund für die deutsche Hochsprache (Standardsprache) der Neuzeit gelegt, die von ihm ausging und in ihm weiterentwickelt wurde, vom Frühneuhochdeutschen an bis zur Wissenschafts- und Literatursprache der Aufklärung, Klassik und Frühromantik sowie der Folgezeit. In Mitteldeutschland tätige und von Mitteldeutschen ausgebildete Germanisten, Grammatiker, Sprachpfleger faßten

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Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 68 Bände, Halle/Leipzig 1731-1754; Neudruck Graz 1961-1964. Vgl. Werner Lenz, Kleine Geschichte großer Lexika, 'Gütersloh 1980; Gerd Quedenbaum, Der Verleger und Buchhändler Johann Heinrich Zedier, Hildesheim/New York 1977; zuletzt Konstanze-Mirjam Grutschnig-Kieser, Johann Heinrich Zedier, in: Mitteldeutsches Jahrbuch 8 (2001), S. 199 f. Eine Neuerfassung wird in Wolfenbüttel vorbereitet.

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das Neuhochdeutsche in Wörterbücher und feste Regeln, schon vor der Aufklärung und um so mehr zur Aufklärungszeit und danach. Das Leipziger Deutsch galt als vorbildlich. Mitteldeutsch gebildete und auf mitteldeutschem Boden schaffende Schriftsteller und Dichter verbreiteten diese mitteldeutsch geprägte Hochsprache, erhoben sie zur gemeindeutschen Schriftsprache. Erziehungs- und Unterrichtsreformer in und aus Mitteldeutschland, seit der Reformation, vor, während und nach der Aufklärung gestalteten das Erziehungs- und Unterrichtswesen um und neu, in vor- und frühmodernem Geist. Der vom lutherischen Bildungsethos vorgeschriebene Stufengang der Erziehung und Ausbildung, mit dem Vater als erstem Lehrer, wurde in der Heimat der Reformation konsequenter eingehalten als außerhalb. Im Schulwesen stand Mitteldeutschland während der gesamten Frühneuzeit an vorderer, zum Teil vorderster Stelle. Seit Luthers zündendem Aufruf „An die Bürgermeister und Ratherren aller Städte deutsches Lands" (1524), Schulen zu gründen und bestehende auszubauen, ging es beschleunigt aufwärts. Die Schulpflicht wurde zunehmend verwirklicht, die Alphabetisierung auch auf dem Lande vorangebracht. Kursachsen hatte prozentual weniger Analphabeten als andere Staaten. Melanchthon sorgte für mehr und bessere Gymnasien. Johann Agricola-Eisleben und sein Schüler Andreas Musculus (Meusel) aus Schneeberg im Erzgebirge nahmen sich besonders der Mädchenschulen an. Aus der langen Reihe der nachfolgenden Schulreformer in und aus Mitteldeutschland, vor und verstärkt während sowie nach der Aufklärung, ragen am Beginn die Gothaer Schulverbesserer, Wolfgang Ratke in Gotha, Erfurt, Jena und Erhard Weigel, der in Halle und Leipzig gebildete Erzvater der Deutschen Aufklärung, mit seiner Jenaer Versuchsschule hervor, die auch auf Christian Thomasius wirkte. Der mitteldeutsche Raum war übersät mit Volks-, Stadt-, Rats-, Bürger-, Latein-, Landes- und Gelehrtenschulen - Stadt- und Heimgymnasien - , die einen stufenweisen Bildungsgang ermöglichten. Beispielgebend für viele waren die hochangesehenen mitteldeutschen Gelehrtenschulen, insbesondere Heimgymnasien, so die drei kursächsischen Landesschulen (unpassend Fürstenschulen genannt) in Schulpforte, Meißen, Grimma, dazu die Internatsgymnasien MagdeburgKloster Berge, Ilfeld im Südharz, Roßleben an der Unstrut und andere, zu denen Schüler von weither strömten. Mitteldeutsche Stadt- und Heimgymnasien erteilten ihren Absolventen eine gründliche, wenn auch in manchem praxisferne humanistische Bildung, bereiteten sie umfassend auf das Universitätsstudium vor. Von mitteldeutschen Gelehrtenschulen brachten fleißige angehende Studenten daher eine gediegene Bildung an die Universitäten mit. Fünf Universitäten nahe beieinander, das hatte keine andere Region aufzuweisen, noch weniger vier benachbarte, hochstehende Großuniversitäten (Wittenberg, Leipzig, Jena und Halle). Beides war einzigartig. Dem Ensemble der fünf mitteldeutschen Universitäten konnten, wie erwähnt, nur Holland und Norditalien annähernd Gleichwertiges an die Seite stellen. Die Nähe der Hohen Schulen Mitteldeutschlands zueinander erleichterte mehrseitige, interdisziplinäre Studien mit dem für das geistige Reifen so förderlichen Universitätswechsel, nicht selten mit Fach- und Fakultätswechsel (.Umsatteln') verbunden. Erfurt, die älteste (1392 eröffnet, mit vorausgegangenen Vorstufen und Anfängen), war die Zweitälteste deutsche Bürgeruniversität (bürgerliche Gründung, offizielle Eröffnung kurz nach Köln, Lehrbetrieb bereits vor Köln), nächst Leipzig die zweitgrößte (meistbesuchte) deutsche Hochschule an der Schwelle der Neuzeit. Die Erfurter „Hierana" ('Universitas litterarum an der Gera') wurde zur Durchbruchsuniversität des Humanismus in Mitteldeutschland und zur Wegbereiterin der Reformation ihres Magisters Luther. Jede der vier lutherischen Großuniversitäten Wittenberg, Leipzig, Jena und Halle hatte mehr Studenten als alle anderen des deutschen Kulturraums für sich genommen. Darüber hinaus waren sie nächst der Pa-

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riser Sorbonne zeitweise die frequentiertesten ganz Kontinentaleuropas. Das ist um so bemerkenswerter, als das in fast 1800 Teilstaaten und -Herrschaften zerrissene deutsche Reich über 40 Hohe Schulen besaß, Einheitsstaaten wie Frankreich, England, Spanien, Portugal, Schweden, Rußland, auch Polen hingegen nur wenige. Leipzig war, auf das Ganze der Frühneuzeit gesehen, nach Paris die meistbesuchte Universität auf dem Kontinent. Halle, Jena und Leipzig sind die drei Hauptuniversitäten der kontinentalen Aufklärung gewesen, mit Halle als größter des Aufklärungszeitalters. Jena wurde zur Hohen Schule der Klassik und wie Halle der Frühromantik. Die Einheit von Forschung und Lehre ist an jenen drei Hochschulen lange vor Wilhelm von Humboldt, vor dem humboldtschen Universitätstyp praktiziert worden, ganz abgesehen davon, daß beide Humboldt von Kindheit an Erzieher und Lehrer aus der Mitteldeutschen Aufklärung hatten. Auf dem hohen Niveau - qualitativ wie quantitativ - der vier Großuniversitäten beruhte weithin das Fortschreiten und Vorauseilen der Wissenschaften auf mitteldeutschem Boden und, dank mitteldeutscher Ausbildung, von Mitteldeutschland aus. Dadurch besaßen Absolventen mitteldeutscher Schulen und Generalstudien von vornherein einen Vorsprung. Zu den Wissenschaften, in denen Gelehrte mit mitteldeutscher Bildung damals glänzten und andere ausstachen, zählt die Mehrzahl der Geistes- oder Kulturwissenschaften. Mitteldeutsche und mitteldeutsch Gebildete waren führend in Philologien und Philosophie, Theologie/Religionslehre, Rechtslehre, Kulturgeographie (politisch-ökonomischer oder Anthropogeographie), empirischer Psychologie („Erfahrungsseelenkunde"), Statistik, Geschichtsforschung und -Schreibung, Historischen Hilfswissenschaften, historischen Disziplinen überhaupt, so in Wissenschaftsgeschichte, besonders Philosophiegeschichte, Altertumskunde, Kunstwissenschaft/Ästhetik, Musikwissenschaft, neben der schon genannten Pädagogik, mit Didaktik, Hodegetik und Paränetik. In den meisten Naturwissenschaften standen Mitteldeutsche und in Mitteldeutschland oder von Mitteldeutschen Ausgebildete ganz vorn, so in Mineralogie, Chemie, Botanik, physischer Geographie (Erd-, Länder- und Landeskunde), Geologie, Paläontologie wie auch in Zweigen der Astronomie. Chemie und Montanistik, mit Metallurgie, wurden als spezifisch .mitteldeutsche Wissenschaft' in fremde Gebiete und Länder transferiert. Homberg und Holbach trugen sie nach Frankreich, andere nach den Britischen Inseln. Die Stahlsche Phlogistontheorie galt weltweit. Sehr ausgeprägt war das Vorangehen Mitteldeutschlands in der Medizin der Aufklärung als naturwissenschaftlicher Humanwissenschaft. Zwei der drei angesehensten Ärzte Europas zur Zeit der Frühaufklärung sind die Hallenser Friedrich Hoffmann und G. Ernst Stahl gewesen, beide mit vielen tüchtigen Schülern, die in Deutschland und Europa, vor allem im östlichen, tätig waren. In der Spätaufklärung verbreiteten Hufeland, Reil und andere Ärzte, wirkliche ,Helfer der Menschheit', mitteldeutsche Medizin nach Berlin und weiter. Auch neue Wissenschaften. Wissenszweige und Fachgebiete entstanden im frühneuzeitlichen Mitteldeutschland, nahmen von Mitteldeutschen und mitteldeutsch Gebildeten ihren Ausgang, so neuere Wissenschaftsgeschichte, Philosophiegeschichte, Ästhetik, Musikwissenschaft, mit Musiktheorie, Neuzeitgeographie, Statistik, neuzeitliche Verwaltungslehre, Technologie, empirische Psychologie" 5 und andere Disziplinen als selbständige Fächer und Systemwissenschaften. Infolge des Primats mitteldeutscher Wissenschaft auf zahlreichen Gebieten errang sie damals viele Prioritäten, durch Erstleistungen, neue Erkenntnisse und Entdeckungen. 185

Vgl. Georg Eckardt/Matthias John/Temilo van Zantwijk/Paul Ziehe, Anthropologie und empirische Psychologie um 1800, Köln/Weimar/Wien 2001.

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Ungezählte Werke der Wissenschaft und Technik, der Literatur und Kunst verdankt Deutschland, verdanken Europa und die Menschheit dem Schaffen von Mitteldeutschen und geistig Tätigen mit mitteldeutscher Bildung. Luther und Goethe, beide an Hohen Schulen Mitteldeutschlands gebildet, sind Gipfelhöhen aus einer Unmenge bildungsund wirkungsgeschichtlich analoger Einzelfälle schöpferischer Persönlichkeiten in mitteldeutscher Frühneuzeit. So wird der mitteldeutsche Raum die ehedem „kulturträchtigste Region in ganz Deutschland, vielleicht sogar in Europa" genannt. „Kaum eine andere Region Deutschlands, ja Europas kann auf eine solche Vielfalt herausragender kultureller Leistungen verweisen wie Mitteldeutschland."18' Dies bleibt angesichts noch immer grassierender Unterschätzung festzuhalten, bei aller nötigen Einschränkung und Warnung vor Euphorie.

GÜNTER MÜHLPFORDT Frühneuzeitliche Kulturbewegungen aus Mitteldeutschland und ihre Wege in die W e l t " 7 Eine dynamische, die historischen Erscheinungen in ihrer Entwicklung verfolgende Geschichtsanalyse und -synthese hat auch die mitteldeutsche Frühneuzeitkultur nicht statisch, starr, als etwas vermeintlich Feststehendes, sondern in ihren Wandlungen zu betrachten. Größte Aufmerksamkeit verdienen für sie die in Mitteldeutschland entstandenen und weiterentwickelten Bewegungen kultureller Art. Die Geschichtslandschaft Mitteldeutschland war Entstehungs-, Entfaltungs- und Ausgangsgebiet vielfältiger Kulturbewegungen. Sie hat, als Ballungsraum der Frühneuzeit, eine Fülle vorwärtsweisender Geistes- und Kulturbewegungen hervorgebracht: wissenschaftliche, religiöse, literarische, künstlerische, technologische, daneben ökonomische, gemeinnützig-patriotische, politische, soziale, karitative Sozietäten mit kulturellem Einschlag. Wissenschaftliche Schulen und Gesellschaften, Dichterkreise, Künstlerzirkel verschiedener Richtung und Zielsetzung sowie in Werkstätten weitergegebene technische Fertigkeiten entstanden, gediehen und/oder gipfelten auf mitteldeutschem Boden. In Mitteldeutschland wurzelten und entfalteten sich frühneuzeitliche Kulturbewegungen, die über seine Grenzen hinaus Verbreitung fanden und weiterentwickelt wurden. Andere, außerhalb entstandene und übernommene Kulturbewegungen wurden weitergeführt, erreichten hier teilweise ihren Zenit. Diese mehr oder weniger zusammenhängende Kette von Geistes- und Kulturbewegungen unterschiedlicher Art, samt ihren Verästelungen und Abzweigungen, reicht vom Humanismus der Renaissance und von der Reformation, über viele Zwischenglieder, in langem Auf und Ab, bis zur Kulmination in der Weimarer literarischen und Jenaer philosophischen Klassik, zu den kulturellen Seiten der Reformbewegungen, zur Frühromantik und zu den Anfängen der von mittel1,6

Geschichte Mitteldeutschlands, herausgegeben vom Mitteldeutschen Rundfunk, Halle 2000, Vorwort und S. 198. (Von mir besprochen in: Neues Archiv für sächsische Geschichte, Band 71, Jg. 2000 [2001], S. 296 f.) An dieser Darstellung mitteldeutscher Geschichte sind sieben Mitwirkende des Sammelwerkes „Europa in der Frühen Neuzeit" beteiligt - Karlheinz Blaschke, Manfred Kobuch, Heiner Lück, Klaus E. Pollmann, Uwe Schirmer, Manfred Straube, Hartmut Zwahr. In der Literaturauswahl (S. 372-397) werden 18 an den Bänden von „Europa in der Frühen Neuzeit" Beteiligte mit ihren Schriften aufgeführt.

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Wesentlich erweiterter Kurztext (Zusammenfassung des Magdeburger Festvortrags vom 28. Oktober 1999; englische Kurzfassung in: Magdeburger Wissenschaftsjournal 4/2, 1999, S. 44). Auch dies Resümee greift Inhalte und Aussagen des Vortrags weiterführend auf.

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deutschen Universitäten, voran Jena, ausgegangenen Bewegung für deutsche Einheit in Freiheit (Wartburgfest 1817). Die Eröffnung der Universität Wittenberg (1502) war ein Kristallisationspunkt, aus dem sich viele Folgen ergaben - eine Vorbedingung für die Wittenberger Reformation ab 1517, deren wissenschaftsorganisatorisch entscheidendes Vordatum. Gleichzeitig mit der Reformation erblühten neben ihr, mancherorts mit ihr verschwistert, Hoch- und Späthumanismus Mitteldeutschlands, partiell in sie aufgenommen als lutherischer Humanismus. Der Erfurter Humanismus war Vorstufe der Wittenberger Reformation, besonders durch seinen Schüler Luther.Die Wittenberger, Sächsische oder Mitteldeutsche Reformation bedurfte, so wie sie verlief und Gestalt annahm, der philologischen Vorarbeit von Humanisten als Stütze ihres Biblizismus. Erfurter und Wittenberger Humanisten wirkten als Lehrer, Wegbereiter und Mitstreiter Luthers und seiner Paladine. Streitbare Humanisten wie der Publizist und Dichter Hutten, der auch in Leipzig, Erfurt und Halle studierte und tätig war, nahmen sich der Sache der Reformation an. Die Humanisten errichteten in Mitteldeutschland eine Reihe von Stützpunkten. Der Humanismus faßte hier Fuß an Universitäten, Höfen, Bistumssitzen, fand Eingang in geistig rege Städte: in Erfurt, Gotha, Wittenberg, Leipzig, Zwickau, Chemnitz, Dresden, Meißen, Görlitz, Naumburg/Zeitz, Halle, Magdeburg, Halberstadt. Einige lutherische und katholische Humanisten an diesen Orten zählen zu den Vorboten des Geistes der Neuzeit. Zum Teil von mitteldeutschen Sitzen des Humanismus ging die Mitteldeutsche Reformation aus. Das ist nicht nur bei ihrem Kernstück, der lutherischen Reformation, zu beobachten, sondern auch bei verschiedenen Richtungen der in Zwickau entsprungenen rigoristischen (radikalen) Reformation. Reformatorische Rigoristen biblizistischer, antipädobaptistischer und/oder spiritualistischer Observanz in Mitteldeutschland nutzten ebenfalls bibelphilologische Einsichten von Humanisten und verbreiteten ihre eigene Lehre in und außerhalb Mitteldeutschlands, so Karlstadt und Müntzer bei Zwinglianern und Täufern der Schweiz (Zürich, Basel, Graubünden), Müntzer-Schüler Hans Hut als Begründer des Täufertums in Schwaben, Franken, Bayern, Salzburg, Oberösterreich, Mähren, Schlesien. Aber der Humanismus, als Bildungsbewegung, war und blieb eine Elitebewegung, begrenzt auf universitäre, höfische oder hofnahe und kirchliche Kreise. Die Humanisten verkörperten eine Auslese mit der Tendenz zur Abkapselung, nicht esoterisch, jedoch elitär. Im Unterschied zu Reformatoren erzielten sie kaum stärkere Breitenwirkung, die sie größtenteils gar nicht anstrebten (mit Ausnahmen wie Hutten). So stellte der Renaissance-Humanismus eine Vorstufe dar, noch keine Frühstufe, keine eigentliche Anfangsphase. Die Humanisten waren weniger Bannerträger der Neuzeit als vielmehr deren unentbehrliche gelehrte Wegbahner und Verkünder auf der Grundlage antiker Autoritäten. Demgegenüber erreichte die Reformation einen ungleich größeren räumlichen und gesellschaftlichen Aktionsradius, mit sozialer Tiefenwirkung. Uber eine religiöse Bewegung hinaus erstarkte sie in Windeseile zu einer allgemeinen Geistes- und Kulturbewegung, die zur Massen-, ja zur Volksbewegung und zu einem starken Faktor der Politik anschwoll. Die Reformation durchdrang alle Schichten, trug Bildung in Mittel- und sogar in Unterschichten. Die lutherische Reformation schaffte den eigentlichen Durchbruch zum Geist der Neuzeit auf mitteldeutschem Boden. Sie initiierte neue kulturelle Entwicklungen und brachte ältere, an die sie anknüpfte, weiter voran. Auf beide Arten bewirkte sie Innovationsschübe mit Modernisierungseffekten. Das ist, meist in geringerem Grade, allgemein bei neuen Bewegungen in der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur festzustellen. So stehen die - neun! - Reformationen aus Mitteldeutschland, voran die lu-

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therische von Wittenberg, am Beginn der geistigen Neuzeit, gefolgt von vielen weiteren

frühneuzeitlichen Kulturbewegungen mitteldeutschen Ursprungs und/oder mit Entfal-

tung in Mitteldeutschland. Vor allem die lutherische Reformation von Wittenberg, in Kursachsen und schließlich ganz Mitteldeutschland, die feste Wurzel schlug und bald dominierte, war Ansatz- und Ausgangspunkt für kulturelle Bewegungen und Entwicklungen der Folgezeit. Die neun mitteldeutschen Reformationen erzielten Deutschland-, Europa- und Weltwirkung. Das trifft hauptsächlich auf die lutherische zu, als Konfessionskultur, einschließlich der besonderen Ausprägung als Philippismus (Zweite Reformation) der Melanchthon-Anhänger, einer späthumanistisch-voraufklärerischen Komponente mit eigener Wissenschaftskonzeption. Es gilt aber auch für mehrere Richtungen der mitteldeutschen rigoristischen (radikalen, spiritualistischen, „Zwickauer") Reformation - für Karlstadt und Müntzer, für frühe Täufer wie Hans Hut und Melchior Rinck. Das wiederholte sich später bei Valentin Weigel und mehr noch bei Jakob Böhme, in hohem Maße dann, auf andere Weise, beim Halleschen Pietismus und bei dem von ihm abgezweigten, mit Mährischen Brüdern unierten Herrnhutertum (Brüdergemeine) sowie bei anderen religiösen Erweckungs- und Erneuerungsbewegungen. So haben religiöse Bewegungen mit kulturellen Begleiterscheinungen gewichtigen, zeitweise vorherrschenden Anteil an der trans- und interkontinentalen Ausstrahlung mitteldeutscher Frühneuzeitkultur. Eine inzwischen fast 500-j ährige Tradition von Antipädobaptismus und Täufertum keimte bei den Zwickauer Propheten, bei mitteldeutschen Handwerkern, wurde gelehrt-biblisch unterbaut von Müntzer und Karlstadt, um zunächst auf die Schweiz und Tirol überzugreifen, dann nach Verfolgung und Vertreibung ins Exil zu führen: nach Ostmitteleuropa (Mähren, Slowakei, Ungarn, Polen), Siebenbürgen, Osteuropa (Ukraine, Kaukasien), Nordasien (Sibirien), Mittelasien (Kasachstan) und in die Neue Welt. Weit stärker und dauerhafter war und ist indes die kulturelle Weltwirkung des Luthertums, am ex- und intensivsten die seiner Kirchenmusik. Von allen religiösen Lebensformen hat die lutherische Konfessionskultur den größten Anteil sowohl am mitteldeutschen Kulturaufschwung selbst als auch an dessen Verbreitung in die Welt. Die lutherische Konfessionskultur war ein Hauptfaktor der Frühneuzeitkultur in und aus Mitteldeutschland. Namentlich das lutherische Arbeits-, Berufs- und Bildungsethos wie auch Luthers hohe Bewertung der Musik stimulierten die mitteldeutsche Frühneuzeitkultur und ihre Ausstrahlungskraft. Nach lutherischer Lehre sind Arbeit, Beruf und Bildung gottgewollt und gottgefällig, ist Beruf Berufung. Die daraus resultierenden Ideale und Postulate fanden, wie betont, in der Heimat der Reformation mehr Beachtung als anderswo. Von Luthers Wertschätzung der .Frau Musica' kündet sein Urteil kurz vor seinem Tod (1545): „Musica ist aller Bewegung des menschlichen Herzens eine Regiererin. Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Fröhlichen traurig, die Verzagten herzhaftig zu machen, die Hoffärtigen zur Demut zu reizen, den Neid und Haß zu mindern, denn die Musik." Aus dieser Einstellung erwuchs das „lutherisch-musikalische Weltbild", die der Tonkunst zugewandte Seite des Luthertums.' 88 Die religiöse Sublimierung der Musik im lutherischen Mitteldeutschland „brachte berühmte Musiker hervor". Ein Musterbeispiel ist - schon vor den Händel, Bach, Telemann - Heinrich Schütz aus Der lutherische Pfarrer Eduard Mörike erklärte die Musik für „ein himmlisch Gut". Molière spottete: „Nichts nützt dem Staat so wie die Musik" - nicht nur dem Staat. Vgl. Margarete Wein, Musikinsel mit Brücken zum Festland. Neues Domizil für die Musikinstitute, in: Universitätszeitung Halle, April 2001, S. 3.

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Thüringen, der „allerbeste teutsche Komponist" seiner Zeit, gerühmt als „Patriarch der deutschen Musik". Schütz schuf die erste deutsche Oper (1627 in Torgau uraufgeführt). Den Einfluß seiner Motettensammlung (Chorwerke) von 1648 „auf die europäische Musik" reflektieren „Hunderte von nachfolgenden Fugen, Kanons, Messen, Passionen, Oratorien". Mit dem Wirken dieses Thüringer Lutheraners am Dresdner Hof begann „die Weltgeltung der deutschen Musik". 1 " Wie die emotionale Kraft der Musik als Zündstoff für Massenbewegungen dienen konnte, verdeutlicht etwa der Ausbruch der Reformation als spontane Volksbewegung in Städten wie Magdeburg oder Basel. Gerade Magdeburg bot, wie bereits erwähnt, einen Musterfall. Die Reformation siegte hier im Frühjahr 1524 am Markt und bei der Johannispfarre, wo die Menge - im Kern die Johannisgemeinde - anhand gedruckter Flugblätter gemeinsam Luthers „Martinische Lieder" sang. Es kam zum Aufruhr „in Sanct Johannis Pfarr", bei der Johanniskirche. Der Magdeburger Stadtchronist berichtet, daß 1524 ein Tuchmacher „zue Magdeburg auf dem Marckte etliche Martinische Lieder" feilbot, wodurch diese „so gemeine worden, daß die von gemeinem Volcke dieselbigen dornach teglich in allen Kirchen, ehe man die Predigten angefangen, öffentlich gesungen" haben. Auf solche Weise entwickelte sich eine lutherische Gesangskultur. Der Magdeburger Rat ließ den Tuchmacher einsperren. Die Rebellion begann, wie so oft (wie auch 1789), mit einer Gefangenenbefreiung: „Dieweil nun Fest war in Sanct Johannis Pfarr, kamen im nu über sechß- oder achthundert Menschen zusamen und brachten den Gefangenen mit Gewalt darauß." So geschehen in der Magdeburger Johannisgemeinde („auf Drangsaal der Gemein der Altenstadt Magdeburgk")." 0 Dieser Vorfall zeigt eindringlich: Die Macht der Musik über die Gemüter kann die „edele Sing- und Klingkunst", wie man sie zur Frühneuzeit pries, zu einem mobilisierenden Geschichtsfaktor ersten Ranges erheben. In der Frömmigkeits- und Kirchengeschichte, in Handwerks-, Militär-, Kriegs- und Revolutionsgeschichte ist dies vielfach zu belegen. Wenn soziale oder nationale Momente sich mit religiösen verbanden, gewann die Musik noch größere geschichtsgestaltende Wirksamkeit. Reformationschoräle und Revolutionshymnen brachten Massen in Bewegung, zogen sie in die Kirchen, trieben sie auf die Straße, zu Kloster-, Kapellen-, Kirchen- und Gefängnisstürmen wie auch auf Barrikaden. In mitteldeutscher Frühneuzeit haben sich solche Vorgänge zwischen 1523 und 1813, von Reformation und Bauernkrieg bis zu den Befreiungskriegen, öfter begeben. Die mitteldeutsche Musikbewegung der Frühneuzeit brachte ganze Berufsstände in Tätigkeit. Sie war Lebensinhalt ungezählter Menschen, die sie in gehobene Stimmung versetzte und bei denen sie emotional gesteuerte und gesteigerte Aktivitäten hervorrief. Gerade der Vorrang Mitteldeutscher in der Tonkunst, der eindeutig starke Wurzeln bei Luther und der von ihm inspirierten vielgestaltigen lutherischen Musikpflege hat, lenkt den Blick auf religiöse Antriebe kultureller Betätigung. Mitteldeutschland war, um nochmals nachdrücklich darauf hinzuweisen, „tonangebend" - und das nicht nur in der Musik. Was wäre die Musikgeschichte, ja die moderne Musikkultur ohne die frühneuzeitlichen mitteldeutschen Meister der weltlichen und geistlichen Musik, ohne die Opern, Oratorien, Kantaten und Choräle lutherischer Komponisten, ohne das lutherische Kirchenlied, das noch heute von Anhängern fast sämtlicher christlicher Konfessionen in aller Welt, in vielen Sprachen gesungen wird.

Robert Schuppert, Tonkünstler und Musikgenies, in: Geschichte Mitteldeutschlands, Halle 2000, S. 200-207. Sebastian Langhans, Historia [Magdeburger Stadtchronik 1524-1525]; jetzt bei Hartmut Zwahr, Aufruhr, Rebellerey, Revolution, in: Geschichte Mitteldeutschlands, Halle 2000, S. 37.

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In lutherischen Staaten und Städten wie bei lutherischen Ständen eröffneten sich musikalisch Begabten Perspektiven und Möglichkeiten der Ausbildung zu Musikerberufen und zu deren Ausübung. Das führte zu Laufbahnen und Betätigungsfeldern als Virtuose und als (Berufs-)Komponist. In kirchlichen, höfischen, städtischen, schulischen oder ständisch-adligen Diensten gab es die Berufe des Kantors, Organisten, des Schul- oder Hofmusikus, des Hofkomponisten und Hofkapellmeisters, des städtischen oder universitären Musikdirektors, des Stadtpfeifers, des Trompeters usf. Sie wurden nach Bedarf neu geschaffen oder vermehrt. Viele Mitteldeutsche fanden Unterkommen und Lebensunterhalt in geistigen und geistlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Berufen. Im gewerbereichen, wissenschaftsbeflissenen, berufsbewußten, musikliebenden lutherischen Mitteldeutschland boten sich Karrieren - Paradebeispiel: als Berufskomponist - , die es in anderen Gegenden weniger gab, wenn es nicht völlig daran fehlte. Der lutherische Kantor gilt als eine berufsständische Basis des Aufschwungs der deutschen Musik. All das zog in geistige und Musikberufe Talente, die außerhalb Mitteldeutschlands in der Landwirtschaft verblieben, zum Militär oder in die Fremde gingen, vielerorts auswanderten. Musikalisch Begabte existierten auch anderswo. Sie wurden aber in Mitteldeutschland häufiger entdeckt und ausgebildet und konnten sich hier leichter vom Ertrag ihrer Musik ernähren als dort. Die Blüte der mitteldeutschen Barockmusik beruhte besonders auf Musikerberufen, die Begabungen zum Ausreifen verhalfen. So brachte Mitteldeutschland große Komponisten hervor: Die Mitteldeutschen Schütz, Scheidt, Schein und Schulteis (latinisiert: Prätorius) waren die hervorragendsten deutschen Barockkomponisten. Die Mitteldeutschen Händel, Bach, Telemann, Fasch (Vater und Sohn), Bachs Söhne, Keiser und so weiter sind die bedeutendsten deutschen Meister der Tonkunst des frühen und mittleren Aufklärungszeitalters. Die neuzeitliche Musikwissenschaft haben ebenfalls Mitteldeutsche begründet und gestaltet. Die Musik der Menschheit wurde insgesamt sehr bereichert durch geistliche und weltliche Musik der frühen und auch der späteren Neuzeit aus Mitteldeutschland. Ahnlich folgenreich war die protestantische Hinwendung zur Praxis, zu den Realien, zu lebensnaher Weltsicht, so zu Naturforschung, Agrikultur, Technik und Medizin dies alles dann außerordentlich verstärkt, ja vervielfacht durch die Aufklärung, auch durch den Halleschen Pietismus. Der Typ des experimentierenden Pastors war unter den mitteldeutschen Aufklärern zahlreich vertreten. Auch pastorale Agrikultur (Bemühen um Verbesserung landwirtschaftlicher Arbeitsmethoden seitens Geistlicher) und „Pastoralmedizin" gediehen. In alledem zeigt sich, daß die lutherische und überhaupt die protestantische - auch die reformierte - Konfessionskultur ein starker Faktor der frühneuzeitlichen Kulturblüte Mitteldeutschlands war. Das darf aber den Blick nicht konfessionell verengen oder trüben. Es gab in Mitteldeutschland bedeutende katholische und andere nichtlutherische Gelehrte, Forscher, Künstler, Humanisten: Reformierte, Unitarier, Herrnhuter, Deisten (zum Teil mit lutherischer Ausbildung). Schöpfer der frühneuzeitlichen Mineralogie und Montanwissenschaft war - im kulturträchtigen Bergbaumilieu des Erzgebirges - der katholische Naturforscher, Humanist und Arzt Georgius Agricola. Modelle bot Mitteldeutschland auch bei der Verwirklichung von Zielen frühneuzeitlicher Reformbewegungen: durch Universitätsreformen in Wittenberg, Leipzig, Jena, Halle, Erfurt, durch Reformstaaten wie Sachsen-Gotha (mit frühen Schulreformen, mit Anstößen zur Vor- und Primäraufklärung in Jena), Anhalt-Dessau (mit Dessauer Philanthropismus, Klassizismus in der Baukunst und Wörlitzer Gartenreich), Sachsen-Weimar (mit Goethes und weiteren Reformen), durch den reformerischen Wiederaufbau in Kursachsen nach dem Siebenjährigen Krieg, durch Reformen von Mitteldeutschen und

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mitteldeutsch Gebildeten im Preußischen, durch mitteldeutsche oder mitteldeutsch geprägte Bildungsreformer, von Johann Agricola-Eisleben bis Wilhelm von Humboldt. Mit alledem stießen mitteldeutsche Reformer und Reformdenker, etwa der Kameralist Heinrich Gottlob Justi, deutsche wie auch außerdeutsche Neuerer und reformbereite Fürsten oder Staatsmänner an, die ihnen nacheiferten und ihre Theorien zu verwirklichen suchten - in der Habsburgermonarchie, im Russischen Reich, im polnisch-litauischen Staat, in Kurland, in Skandinavien, in Italien. Von den mehr als 50 mitteldeutschen Kulturbewegungen der Frühneuzeit und ihren Verzweigungen erzielten viele Europa- und einige Weltwirkung. Global war, nächst den mitteldeutschen Reformationen, mit der lutherischen an der Spitze, bis hin zur Pansophie (Jakob Böhme), die Ausstrahlung der Mitteldeutschen Barockmusik, des Halleschen Pietismus wie auch der Herrnhuter Brüdergemeine, der Mitteldeutschen Aufklärung - mit der Halle-Leipziger Aufklärung als Kern, 1 " den Aufklärungsuniversitäten Halle, Leipzig und Jena als Grunddreieck" 2 - samt ihren Abzweigungen Neuhumanismus und Philanthropismus. Die weit verzweigten Wege mitteldeutscher Geistesbewegungen der Frühneuzeit führten zu den Höhen der Mitteldeutschen Aufklärung und zu den Gipfeln der literarischen Weimarer Klassik wie der philosophischen Jenaer Klassik, einer Grundlage des Deutschen Idealismus (Karl Leonhard Reinhold, Fichte, Friedrich Immanuel Niethammer, Karl Krause, der junge Schelling, der junge Hegel). Daneben leiteten auch die Reform- und Freiheitsbewegungen von Jena, Halle, Leipzig aus am Ausgang der Frühneuzeit und die Mitteldeutsche Frühromantik (in Jena, Halle, Freiberg, Weißenfels, Dresden) zur modernen Folgezeit über. Reformation und Romantik, die erste und die letzte große Kulturbewegung der mitteldeutschen Frühneuzeit, haben bei aller Wesensverschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit eine Vorliebe gemeinsam: die für die Musik - für die emotionalste aller Künste, als höchste Kunst, als Universalsprache und besonders als Zwiesprache des Menschen mit Gott. Darin ähnelte die katholisierende Romantik der antipäpstlichen Reformation. Beide trugen Wesentliches zur Weltstellung der mitteldeutschen Musik bei und darüber hinaus zur Anziehungskraft mitteldeutscher Frühneuzeitkultur insgesamt. Aufschlußreich für die Auslandswirkung der Mitteldeutschen Aufklärung ist die Mitgliederliste der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Von 111 Mitgliedern dieser 1725 eröffneten Akademie bis 1800 waren 81 Deutsche." 3 Das sind 73 Prozent, fast drei Viertel. Weit überwiegend handelte es sich um Mitteldeutsche und Gelehrte mit mitteldeutscher Bildung. Sämtliche wissenschaftlichen Sekretare dieser Akademie bis 1769 wie auch eine Reihe ihrer Präsidenten (Direktoren, Leiter) davor und danach stu'"

1.2

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Das Zusammenwirken von Leipzig und Halle in Wissenschaft und Literatur, besonders in der Aufklärung, über die preußisch-sächsische Grenze hinweg, kam auch im Publikationswesen zur Geltung. Aus Zensurgründen veröffentlichten Leipziger (und andere Kursachsen) in Halle (oder Magdeburg), Hallenser (und weitere preußische Staatsangehörige) in Leipzig. Der 68-bändige „Zedier", das seinerzeit größte, umfassendste Universallexikon der Welt außerhalb Chinas, erschien 1731-1754 in Halle und Leipzig. Daß die in Leipzig initiierte „Geschichte Mitteldeutschlands" im Jahr 2000 in Halle erschien, erneuert daher eine alte Tradition. Das Aufklärungsdreieck Halle - Leipzig - Jena lebt in dem seit 1994 bestehenden - von Altrektor Gunnar Berg (Halle) angeregten - Universitätsverbund Halle - Leipzig - Jena wieder auf; vgl. Günter Mühlpfordt, Das Universitätsdreieck Halle - Leipzig - Jena. Die Trias an der Spitze der mitteleuropäischen Aufklärung, in: scientia halensis. Wissenschaftsjournal der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Jg. 5, Ausgabe 1, S. 3 - 5 . Vgl. B[oris] L. Modzalevskij, Spisok clenov Imperatorskoj Akademii 1725-1907, Sanktpeterburg 1908. Neudruck Leipzig 1972. Zahlenangaben in Ubereinstimmung mit Dietrich v. Engelhardt.

Mitteldeutsches Weltkulturerbe aus Früher Neuzeit

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dierten in Mitteldeutschland (an den Universitäten Halle, Leipzig, Jena, Wittenberg), waren von Mitteldeutschen bzw. mitteldeutsch gebildet (so außerdem in Marburg, Freiberg oder Göttingen). m Auf die ersten deutschen Erdumsegler - Johann Reinhold Forster, Absolvent und Professor der Universität Halle, und sein Sohn Georg, Doktor der Universität Halle folgten gegen Ende der Frühneuzeit die ersten Weltumsegler in russischen Diensten: Adam Johann v. Krusenstern" 5 und Otto v. Kotzebue. Beide waren väterlicherseits letztlich oder unmittelbar mitteldeutscher (Eislebener bzw. Weimarer) Abkunft. Im Auftrag des deutschstämmigen Zaren Alexander I. (Enkel der gebürtigen Prinzessin von AnhaltZerbst Katharina II.) umrundeten sie ab 1803 die Erde zur See, Kotzebue dreimal, zuerst 1803-06 unter Krusenstern, danach zweimal als Expeditionsleiter, 1815-18 und 1823-26. Krusenstern war Mitglied und Ehrenmitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften, gehörte zudem der Russischen [Sprach- und Literatur-]Akademie an. Otto v. Kotzebues Dichter-Vater aus Weimar wurde ebenfalls Vollmitglied der Petersburger Wissenschaftsakademie. (Aus der Lutherstadt Eisleben im Mansfeldischen gebürtig war überdies der Berater Peters des Großen Christoph Eberhard, ein Absolvent Halles, der dem Zaren zur Gründung von Universitäten riet und eine Entdeckungsfahrt von Kamtschatka nach Amerika plante.) Naturforscher der Krusensternschen Expedition war Wilhelm Gottlob Tilesius aus Mühlhausen in Thüringen - woher auch die an den Universitäten Jena, Leipzig und Halle gebildete Familie von Leibärzten der Zaren und Wissenschaftsministern ihres Reichs Blumentrost stammte, die den ersten Petersburger Akademiepräsidenten stellte. Tilesius, von der Universität Leipzig, ist Mitglied der Erfurter und der Petersburger Wissenschaftsakademie gewesen, in der Petersburger auch Ehrenmitglied. Er verwertete Ergebnisse Stellers, des in Halle ausgebildeten Entdeckers Amerikas von Asien her, der gleichfalls Mitglied der Petersburger Forschungsakademie war. All das und manches andere vollzog sich mit vielfacher Ausstrahlung auf Deutschland, Europa und die Welt - mit Wirkungen, die sich fortsetzten und teilweise bis in die Gegenwart andauern.

GÜNTER MÜHLPFORDT Mitteldeutsches Weltkulturerbe - Denkmale aus Früher Neuzeit. Die vielbegehrte Auszeichnung als „Weltkulturerbe" seitens der U N E S C O und die damit verbundene Anerkennung als historisches Kulturdenkmal wurde bisher acht mitteldeutschen Stätten zuteil. Sechs davon sind Denkmale mitteldeutscher Frühneuzeitkultur. Bei diesen handelt es sich um die Lutherstätten von Eisleben und Wittenberg, das Fachwerk-Kleinod Quedlinburg, die Klassikerstadt Weimar - die im Goethejahr 1999 Aufnahme fand, als sie auch Kulturhauptstadt Europas war - und um das im Jahr 2000 aufgenommene Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Ein siebentes, seit 1992 im Welterbeverzeichnis der U N E S C O registriertes Kulturdenkmal, das Oberharzer Erzbergwerk

"s

Vgl. Günter Mühlpfordt, Rußlands Aufklärer und die Mitteldeutsche Aufklärung, in: Deutschrussische Beziehungen im 18. Jh. Kultur, Wissenschaft und Diplomatie, Hg. Conrad Grau/Sergej Karp/Jürgen Voss, Wiesbaden 1997, S. 83-171 (= Wolfenbütteler Forschungen 74). Vgl. Erich Donnert, A.I. fon Kruzenstern i pervoe russkoe krugosvetnoe plavanie v 1803-1806 gg., in: Nemcy v Rossii, St. Petersburg 2000, S. 319-333.

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Rammeisberg, ein Zeugnis der Montantechnik, entstammt teilweise der Frühneuzeit. Wenn die auf der Vorschlagsliste stehenden Franckeschen Stiftungen hinzukommen, würden acht mitteldeutsche Kulturdenkmale der Frühneuzeit offizielles Weltkulturerbe sein. 1 " Zwei neuere als internationale Kulturmonumente anerkannte mitteldeutsche Stätten sind das Dessauer und das Weimarer Bauhaus. Auch für Magdeburg mit seinen historischen Denkmalen ist die Eintragung als Weltkulturerbe beantragt. So befinden sich in Eisleben, Wittenberg, Quedlinburg, Weimar und DessauWörlitz, im Harz und in Halle wie in Magdeburg Zeugen für Kulturleistungen der Frühneuzeit. Damit lebt der frühneuzeitliche Kulturherd Mitteldeutschland auch in der Ära der Globalisierung im Geschichtsbewußtsein der Menschheit fort. Beispielsweise richtet sich lebhaftes amerikanisches Interesse auf die Lutherstädte Wittenberg und Eisleben. Eine Wanderausstellung in den U S A über mitteldeutsche Luther-Gedenkstätten soll diese noch bekannter machen. Dessau mit dem Wörlitzer Park war ein Anziehungs- und Treffpunkt der literarischen Welt am Ausgang der Frühneuzeit. Nicht nur Goethe, der mehrmals kam, auch die Dichter und Schriftsteller Wieland, Jean Paul, Friedrich Matthisson, J. Gottlieb Schummel, J. Kaspar Lavater, G. Friedrich Rebmann schwärmten von den Schönheiten des reizvollen Landschaftsgartens. Der Baumeister des Dessau-Wörlitzer Frühklassizismus, Friedrich Wilhelm v. Erdmannsdorf aus Dresden, aus sächsischem Hofadel, mit Studium in Wittenberg, verkörperte sächsisch-anhaltisches Zusammenwirken im Zeichen der Aufklärung. Eine weitere Hauptgestalt der Dessau-Wörlitzer Aufklärungskultur war der bei Magdeburg gebürtige Dichter Friedrich Matthisson, Absolvent der Magdeburger Gelehrtenschule Kloster Berge und der Universität Halle, Lehrer am Dessauer Philanthropin. So kritische Beurteiler wie Schiller und Wieland lobten seine Gedichte; Beethoven, Schubert, Reichardt, Zelter vertonten sie. - Der Förderung des Gartenreichs, dieser Perle mitteldeutscher Frühneuzeitkultur, dient jetzt die „Kulturstiftung DessauWörlitz". 1 ' 7 Auf einer Tagung der zur Zeit 24 deutschen „Welterbestätten" Anfang 2001 in Weimar wurde ein Verbund dieser Stätten beschlossen, mit einer Geschäftsstelle, um deren Standort sich Bonn, Dessau, Quedlinburg, Weimar und Wittenberg bewarben - vier mitteldeutsche Weltkulturstädte und der Sitz des Mitteldeutschen Kulturrats. Da die Wahl auf Quedlinburg fiel, werden die deutschen Weltkulturstätten künftig von einem Hauptort der mitteldeutschen Frühneuzeitkultur aus vertreten. Quedlinburg wurde 1994 in die U N E S C O - L i s t e des Weltkulturerbes eingetragen, hauptsächlich seiner rund 1300 Fachwerkbauten wegen, die es zu einem der bedeutendsten architektonischen Flächendenkmale Deutschlands erheben. Über den mittelalterlichen Traditionen QuedlinProf. Paul Raabe, der Direktor der Franckeschen Stiftungen bis zum Jahr 2000 - auch Beiträger von „Europa in der Frühen Neuzeit" (Autor in Band 2, S. 643-656, Gratulant in Band 1, S. XVIII) - , der sich um die Erneuerung dieses frühneuzeitlichen Architekturensembles, einer einmaligen Schulstadt, die größten Verdienste erwarb, erhielt 2001 den Deutschen Stifterpreis des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen. Der beste Kenner des frühneuzeitlichen Dessau-Wörlitzer Weltkulturerbes, Prof. Erhard Hirsch, Träger des Bundesverdienstkreuzes, steuerte zu „Europa in der Frühen Neuzeit" zwei wertvolle Aufsätze bei, die den „Dessau-Wörlitzer Kulturkreis" in europäischen Zusammenhängen darstellen: 1. „Anhaltdessaubiederkeit". Dessau-Wörlitz und die Schweiz zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit, in Band 2 (1997), S. 197-232; 2. „Kronzeugen. Dessau-Wörlitz und die aufgeklärte Geschmacksrevolution. „Landwirtschaft und Gärtnerei daselbst galten für Schulen in diesen Fächern", in: Band 5 (1999), S. 593-614 [über die weite Ausstrahlung der Dessauer Neuerungen]. Den Grundtext des zweiten Beitrags trug Erhard Hirsch beim ersten Ehrenkolloquium für G. M. an der Universität Halle im Dezember 1997 vor.

Mitteldeutsches Weltkulturerbe aus Früher Neuzeit

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burgs - besonders aus der Ottonen- oder Sachsenkaiserzeit, als es neben Magdeburg zeitweilig Reichszentrale war - sollten die gewichtigen Beiträge der Stadt und von Quedlinburgern zur mitteldeutschen Frühneuzeitkultur, der die erhaltenen Fachwerkhäuser größtenteils entstammen, nicht unterschätzt werden. Begünstigt durch Quedlinburgs reichsunmittelbare Stellung als autonomer kleiner Territorialstaat unter weiblicher Regie (Frauen-Reichsstift), entfaltete sich zur Frühneuzeit in der Harzstadt ein reges Kulturleben. Quedlinburger der Frühneuzeit wirkten bis Rußland und Nordasien im Osten, bis Amerika im Westen. - Im UNESCO-Aufnahmejahr 1994, anläßlich der Jahrtausendfeier des dem Sitz König Heinrichs I. 994 vom nachmaligen Kaiser Otto III. verliehenen Privilegs, fand am 8. und 9. Oktober in Quedlinburg eine wissenschaftliche Tagung statt, auf der Mühlpfordt über die Mitteldeutsche Aufklärung und über Mitteldeutschlands Frühneuzeitkultur allgemein sprach. Der überarbeitete Vortrag liegt im Druck vor." 8 Auch in der Weltraumfahrt wird mitteldeutsche Frühneuzeitkultur als repräsentativ für die Menschheit gewertet. Als ein Raumschiff eine Botschaft der Erde ins All trug, wählte man dafür ein Werk in der internationalen und interstellaren Sprache der Musik aus - eine Schöpfung von Bach. Zum Komponisten der Menschheit wurde damit ein Mitteldeutscher der Frühneuzeit erkoren. 1 "

Günter Mühlpfordt, Mitteldeutsche Aufklärung. Eine Reformbewegung der Frühmoderne - Brücke zwischen West und Ost, Modell in Deutschland und Europa. Zu Mitteldeutschlands Schlüsselrolle in der Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Zur Kultur- und Sozialgeschichte Sachsen-Anhalts. Protokoll der Wissenschaftlichen Konferenz am 8. und 9. Oktober 1994 in Quedlinburg, herausgegeben vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt, Verlag Druck-Zuck, Halle 1995, S. 50-72 (= Beiträge zur Regional- und Landeskultur Sachsen-Anhalts 1). ISBN 3-928466-08-9. Johann Sebastian Bach (1685-1750), aus alter Thüringer Musikerfamilie, war rein mitteldeutscher Herkunft. Er hatte mitteldeutsche Lehrer in und außerhalb Mitteldeutschlands. Bachs Wirkungsstätten befanden sich in allen drei heutigen mitteldeutschen Bundesländern (Weimar, Arnstadt, Mühlhausen; Kothen; Leipzig).

SIEGFRIED B R Ä U E R , B E R L I N

Protestierende - Protestanten

Zu den Anfängen eines geschichtlichen Grundbegriffs im 16. Jahrhundert Seinen eindrucksvollen Essay „Wie Jules Michelet die Renaissance erfand" beginnt L u d en Febvre mit den Worten: „Es kommt nicht oft vor, daß man erleben kann, wie einer jener historischen Begriffe in die Welt gesetzt wird, die sich die Menschen im Laufe der Jahrhunderte zugelegt haben - und die sich dann auf einmal selbständig machen, ihr Eigenleben führen und ihnen endlich so vertraut werden, daß selbst ihre Kritiker nicht mehr ohne sie zurechtkommen".' Ein solcher Vorgang ereignete sich nach Febvre, als Michelet zwischen 1850 und 1860 den bislang für einzelne kulturelle Bereiche verwendeten Begriff der Wiedergeburt (Renaissance) in Anspruch nahm, um eine Phase in der Geschichte des europäischen Menschen zu kennzeichnen. Die Geburt des Begriffes „Protestanten" hätte Febvre nicht beschreiben können. Er wurde, soweit erkennbar ist, nicht zu einer bestimmten Zeit in die Welt gesetzt, sondern bildete sich nach Jahren einer Entwicklung heraus. Die Geschichte dieses Begriffs ist noch nicht geschrieben. In den lexikalischen und monographischen Darstellungen finden sich widersprüchliche Angaben. Ein neues Interesse für die Protestantismusproblematik hat während des letzten Jahrzehnts vor allem in der Theologie die Rückfrage nach den Anfängen belebt, ohne daß die vorhandenen Informationen zur Entstehung des Begriffs „Protestanten" als verläßlich bezeichnet werden könnten. 2 Das Defizit kann auch durch diesen Beitrag nicht behoben werden. Hierzu fehlen entsprechende Vorarbeiten. In den Nachschlagwerken werden vorwiegend Informationen aus der Sekundärliteratur ausgewertet. 3 Für die Anfangszeit wird vor allem auf einen Aufsatz von Julius Boehmer zurückgegriffen. Neben ältere Quellenpublikationen berücksichtigte Boehmer die Angaben lateinischer Wörterbücher und wies auf die Bedeutung des Geschichtswerkes von Johannes Sleidanus für die Bildung des Begriffes „Protestanten" hin. 4 Weder die Edition der Akten des Speyrer Reichstags von 1529, noch die inzwischen veröffentlichten Quellen zum Schmalkaldischen Bund standen ihm zur Verfügung. Die rechtsgeschichtlichen Untersuchungen zum Rechtsmittel der Protestation von Ferdinand Elsener und Klaus Schiaich erschienen erst Jahrzehn-

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Lucien Febvre, Das Gewissen des Historikers. Hg. und Übersetzer Ulrich Raulff, Frankfurt a.M. 1990, S. 211 (Fischer Wissenschaft 1980). Vgl. z. B. Friedrich Wilhelm Graf und Klaus Tannert (Hgg.), Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992; Arnulf von Scheliha und Markus Schröder (Hgg.), Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart, Berlin, Köln 1998. Vgl. z.B. Hermann Fischer, Protestantismus I. Begriff und Wesen, Theologische Realenzyklopädie. Bd. 27, Berlin, New York 1997, S. 542-551 (= TRE). Als „Vorarbeiten" gibt Fischer an: Wilhelm Maurer, Protestantismus, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe (Hg. Heinrich Fries). Bd. 2, München 1969, S. 372-387; Gottfried Hornig, Protestantismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Hgg. Joachim Ritter und Karlfried Gründer). Bd. 7, Basel 1989, Sp. 1529-1535. Julius Boehmer, Protestari und protestatio, protestierende Obrigkeiten und protestantische Christen. Zur Würdigung von Sinn und Auswirkung der Protestation(en) des Speirer Reichstags von 1529, in: Archiv für Reformationsgeschichte 31 (1934), S. 1-22 (= ARG).

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Siegfried Bräuer

te später. 5 D i e n e u e n Q u e l l e n p u b l i k a t i o n e n u n d die n e u e r e n E r g e b n i s s e r e c h t s g e s c h i c h t licher F o r s c h u n g sind A n l a ß g e n u g , die bisher a u f g e w i e s e n e n S p u r e n einer Begriffsbild u n g v o n „ P r o t e s t a n t e n " z u ü b e r p r ü f e n , w e n n n o t w e n d i g , z u k o r r i g i e r e n u n d sie n a c h M ö g l i c h k e i t z u e r g ä n z e n . D i e s e r V e r s u c h soll i m f o l g e n d e n u n t e r n o m m e n w e r d e n . 6

I 1 5 9 0 s c h r i e b d e r K a s t n e r V a l e n t i n H e b e y s e n i m B u r g o r t Z w e r n i t z in der M a r k g r a f s c h a f t A n s b a c h - B a y r e u t h sein „ H e l d e n - L i e d v o n D . M a r t i n L u t h e r " auf die M e l o d i e des B e r g reihens „ E w i g e r V a t e r i m H i m m e l r e i c h " . D i e 3 7 . v o n i n s g e s a m t 6 3 S t r o p h e n ist d e m R e i c h s t a g v o n S p e y e r 1 5 2 9 g e w i d m e t . H e b e y s e n n e n n t als T h e m a des R e i c h s t a g e s „ W i e m a n des B a p s t s R e l i g i o n / w i d e r auffrichten t h e t e " . D a n a c h b e r i c h t e t sein L i e d : „ein steiffe Protestation vil Fürsten und Reichsstädte Darwider vbergeben han: von dannen ist entsprungen der Protestirenden N a m . " 7 W i e H e b e y s e n , f ü h r t a u c h die G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g d e n B e g r i f f „ P r o t e s t a n t e n " letztlich auf die P r o t e s t a t i o n v o n S p e y e r 1 5 2 9 z u r ü c k . W a h r s c h e i n l i c h hat J o h a n n e s Sleidanus m i t seinen einflußreichen „ K o m m e n t a r e ( n ) ü b e r d e n Z u s t a n d v o n K i r c h e u n d Staat u n t e r K a i s e r K a r l V . " v o n 1 5 5 5 v o r allem diese A u f f a s s u n g g e p r ä g t . I m 6. B u c h seiner D a r s t e l lung gibt er an, die P r o t e s t a t i o n v o n Speyer sei „der U r s p r u n g des N a m e n s P r o t e s t i e r e n d e " . D i e s e r N a m e sei „ n i c h t n u r in D e u t s c h l a n d , s o n d e r n a u c h bei A u s l ä n d e r n g e b r ä u c h lich u n d b e k a n n t " . 8 W i e s o v o n d i e s e m R e i c h s t a g s e r e i g n i s begriffsbildende W i r k u n g e n ausgingen, reflektiert Sleidanus n i c h t .

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Ferdinand Elsener, Zur Geschichte des Majoritätsprinzips (Pars maior und Pars minor), insbesondere nach schweizerischen Quellen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt. 42 (1956), S. 73-116 (= ZSRG.K); ders., Das Majoritätsprinzip in konfessionellen Angelegenheiten und die Religionsverträge der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 16.-18. Jahrhundert, in: ZSRG.K 55 (1969), S. 238-281; Klaus Schiaich, Die .protestatio' beim Reichstag in Speyer von 1529 in verfassungsrechtlicher Sicht, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 25 (1980), S. 1-19; außerdem vgl. Hans-Jürgen Becker, Protest, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 2042-2044; weitere Literatur bei Georg Schmidt, Protestation von Speyer, in: T R E Bd. 27, S. 580-582. Eine knappe und anders strukturierte Skizze, noch ohne den Nachweis von „Protestanten" im 16. Jahrhundert, liegt vor in: Siegfried Bräuer, Protestantism. History of the Term, in: The Oxford Encyclopedia of the Reformation (Edit. Hans J. Hillerbrand). Vol. 3, New York, Oxford 1996, S. 357-359. Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zum Anfang des X V I I . Jahrhunderts. Bd. 5, Leipzig 1877, S. 152-159 Nr. 230, bes. S. 156. Hebeysens Lied wurde 1591 zusammen mit einem Lied von Leonhard Kettner und einem von Michael Berckringer gedruckt, vgl. ebd., Bd. 3, S. 980f. Nr. 1164 und S. 1062-1064 Nr. 270. Eine 2. Aufl. erschien 1601 in Hof, vgl. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des X V I . Jahrhunderts - V D 16 - . Bd. 8, H 899. Zur Melodie vgl. Gerhard Heilfurth, Erich Seemann, Hinrich Sints, Herbert Wolf (Hgg), Bergreihen. Eine Liedersammlung des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1959, S. 151-155 und 270. I O A N . S L E I D A N I , / / D E STATV // R E L I G I O N I S E T // R E I P V B L I C A E , C A = / / rolo Quinto, Caesare, Commentarij / / ... (Straßburg) 1555, Bl. 146v: „Et haec quidem est origo nominis protestantium, quod non solum in Germania, sed apud exteras quoque gentes peruulgatum est atque celebre."; vgl. V D 16 Bd. 19, S 6670.

Ein geschichtlicher Grundbegriff aus dem 16. Jahrhundert

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Seit Johannes Kühn die Akten des Speyrer Reichstags von 1529 ediert und auch eine monographische Auswertung der neuen Quellenbasis vorgelegt hat, sind Bedingungen und Verlauf dieses Reichstages im wesentlichen bekannt.9 Danach stand nicht von vornherein fest, daß es zur großen Abrechnung mit der Reformation Luthers kommen sollte. Ganz ahnungslos war die reformatorische Seite allerdings nicht, daß die Altgläubigen versuchen könnten, eine Kassation der Verantwortungsformel von 1526 (bis zum Konzil „also zu leben, zu regieren und zu halten, wie ein jeder solichs gegen Gott" und Kaiser „hofft und getraut zu verantworten") zu erreichen. Im Kreis der Reichsstädte wurde bereits im Vorfeld das Rechtsmittel einer Protestation gegen einen entsprechenden Reichstagsabschied sowie eine Appellation an den Kaiser und ein künftiges Konzil nachgedacht.. Ähnliche Erwägungen unter den Fürsten lassen sich nur vermuten.10 Als die Reichstagsmehrheit die Kassation des Formelkompromisses von 1526 gegen den Willen der reformatorischen Minderheit tatsächlich beschloß, antworteten diese mit einer offiziellen Protestation. Das geschah nicht so spontan, wie zuweilen angenommen wird. Für die am 19. April 1529 vorgetragene erste Fassung konnte man zwei Entwürfe verarbeiten. Die für König Ferdinand bestimmte erweiterte Fassung ist ebenfalls nicht völlig neu im letzten Moment entstanden." Die Rechtsmittel des Mehrheitsprinzips und der Protestation waren zu dieser Zeit in der Anwendung auf Reichstagsebne nicht mehr neu, wenn auch klare Regelungen fehlten. Ihre Durchsetzung war von der Kompetenz auf der eigenen Seite und der Resonanz bei der Gegenseite abhängig. Die von den Protestierenden schließlich genutzte Rechtsform der feierlichen notariell beglaubigten Appellation an die höhere Instanz, an den Kaiser und ein künftiges Konzil, vom 25. April 1529, war bereits durch die ReichsNotaritätsordnung von 1512 möglich. Diese bereits erprobten Rechtsmittel waren demnach noch mit relativ offenen Anwendungsmöglichkeiten und Erfolgschancen verknüpft. Das erlaubte Flexibilität und gestattete inhaltliche Akzentuierungen. Beides nahm die protestierende Gruppe für sich in Anspruch, um ihre Lehre auf Reichsebene zu sichern und die Neugestaltung des kirchlichen Lebens in ihrem Gebiet weiter voranzubringen. Am 26. Oktober 1528 hatten bereits die Zürcher Gesandten auf der Schweizer Tagsatzung in Baden erklärt, ihre Oberen ließen das Recht der Mehrheit nur in weltlichen Dingen, nicht aber in Sachen des Wortes Gottes gelten.12 Auf Reichsebene hatte ein solcher Vorgang ein anderes Gewicht, zumal 1529 mit der Protestation auch die Schranken der traditionellen Ständekurien durchbrochen wurden. Eine klare Blockbildung entstand damit nicht, denn die Gesamtheit der reformatorischen Ständevertreter stellte sich nicht hinter die Protestation. Politische, wirtschaftliche, aber auch glaubensgegründete Motive waren an Zustimmung oder Verweigerung beteiligt." Heinrich Bornkamm hat die erweiterte Protestation vom 20. April 1529, die Bestandteil des Appellationsdokuments wurde, „halb Rechtsverwahrung, halb Bekenntnis"

' Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe. Bd. 7 (Hg. Johannes Kühn), Stuttgart 1935 (= DRTA.JR); Johannes Kühn, Die Geschichte des Speyrer Reichstags 1529, Leipzig 1929 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 146). 10 Vgl. z.B. DRTA.JR Bd. 7, S. 1191-1193: Ratschlag der Nürnberger Juristen, März 1529; ebd., S. 11361138: Aufzeichnung Johann Agrícolas, zweite Märzhälfte 1529. Zur weniger guten archivalischen Uberlieferung bei den reformatorischen Fürsten vgl. Kühn, Die Geschichte, S. 85 (wie Anm. 9). 11 Vgl. Schiaich, Die .protestatio', S. 4f. (wie Anm. 5). 12 Vgl. Elsener, Das Majoritätsprinzip, S. 252 (wie Anm. 5). " Vgl. Martin Brecht, Die gemeinsame Politik der Reichsstädte und die Reformation, in: ZSRG.K 63 (1977), S. 180-263, bes. 233-241.

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genannt, zugleich aber die Bedeutung der bekenntnisartigen Sätze hervorgehoben.14 Die ursprünglich rein juristische Argumentation ist erheblich durch eine theologische ergänzt worden. Folgerichtig beginnt dann die Appellation mit den formelhaften und zugleich bekenntnisartigen Worten; „Im nahmen unsers herren Jhesu Christi. Amen." Diesem Duktus entsprechend betonen die Unterzeichner, daß ihr „wil, gemut und meinung anders nit stehet nach ist, dan allein die eher gottes des almechtigen, seins h. worts und unser auch meniglichs seelen seligkait zu suchen". 15 Die bereits im traditionellen Begriff protestatio mit angelegte Bedeutung „eine öffentliche Erklärung abgeben, öffentlich bezeugen", gewinnt an Gewicht. Darauf bezieht sich auch die Vorrede zur Augsburgischen Konfession von 1530, deren deutsche Fassung vom sächsischen Kanzler Gregor Brück stammt, dem Verfasser der Protestation vom 19. April 1529.16 Vermutlich gehört diese Akzentverlagerung bereits zu den begriffsbildenden Elementen.

II Hebeysens Formulierung „eine steiffe Protestation" zeigt an, daß das Ereignis von Speyer gegen Ende des Jahrhunderts bereits eine Überhöhung erfahren hat. Luthers Reaktion auf das Reichstagsgeschehen war dagegen noch sehr nüchtern. Im Brief an Wenzeslaus Linck vom 6. Mai 1529 äußerte er, der Reichstag sei ohne Frucht zu Ende gegangen, außer daß die Christusgeißler und Seelentyrannen nichts hätten ausrichten können. Aber das sei schon genug.17 Als im Jahr darauf den reformatorischen Ständen in Augsburg die Verweigerung, dem Reichstagsabschied in Speyer zuzustimmen, zum Vorwurf gemacht wurde, meinte Luther, man habe im Gegenteil die Behauptungen des Abschieds durch „öffentlicher bekentnus fry für aller wellt lugengestrafft". Das sei „das beste thettlin vnsers herrn Christi auf dem Reichstage" gewesen.18 In Luthers Umkreis wurde diese zurückhaltende Bewertung der Protestation offenbar weithin geteilt. Während Friedrich Mykonius im 1542 niedergeschriebenen Teil seiner Reformationsgeschichte dem Augsburger Reichstag von 1530 sein 15. Kapitel widmet, übergeht er den von Speyer 1529 19

ganz. Im 19. Jahrhundert erreichte die Rezeption der Protestation von Speyer eine neue Qualität. Im Aufwind des zeitgenössischen Freiheitspathos konnte sogar in Schulbüchern dazu aufgefordert werden, sich des „ehrenwerte(n) Namen(s) Protestanten" nicht zu schämen, sondern ihn zu ehren, indem „wir gegen Alles protestiren, d.h. uns gegen Alles beharrlich erklären, was Aberglaube, Unverstand und Menschensatzung uns zu glauben und zu üben aufbürden wollen". 20 Selbst ein Kenner der Schriften Luthers wie Heinrich Bornkamm, Das Jahrhundert der Reformation. 2. Aufl. Göttingen 1966, S. 123; vgl. DRTA.JR Bd. 7, S. 1286f. 15 DRTA.JR Bd. 7, S. 1346 und 1348 (wie Anm. 5). 16 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. 5. Aufl. Berlin 1960, S. 49: „davon wir hiemit offenlich bezeugen und protestieren". Vgl. ebd. die lateinische Fassung von Justus Jonas: „de quo hic etiam publice protestamur". 17 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel. Bd. 5, Weimar 1934, S. 62, 10-12 (= WA Br). " Ebd., S. 616,100-103: Nach 7, September 1530. " Friedrich Mykonius, Geschichte der Reformation (Hg. Otto Clemen), Leipzig 1915 (Voigtländers Quellenbücher 68), 20 Christian Traugott Otto, Der Sächsische Kinderfreund, ein Lesebuch für Stadt- und Landschulen. 3. Aufl. Dresden und Leipzig 1831, S. 108 (der Seminar- und Schuldirektor in Dresden-Friedrichstadt veröffentlichte die 1. Aufl. 1829). Vgl. auch das gereimte Lebensbild Luthers von dem sächsischen 14

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der liberale Theologe Martin Rade betont in seiner umfangreichen volkstümlichen Lutherbiographie, daß sich Protestanten des von der Speyrer Protestation abgeleiteten Namens nicht zu schämen hätten. Es sei „ja damals durch das kräftige Bekenntnis der Fürsten und Städte gerettet worden die edle Glaubens- und Gewissensfreiheit, welche heute ein Gemeingut aller Bürger des deutschen Reiches ist, daran nicht nur die Evangelischen, sondern auch die Katholiken sich freuen". 21 Die Tendenz zur Überhöhung der Protestation von Speyer ist auch in Fachbeiträgen von Kirchenhistorikern des 20. Jahrhunderts festzustellen. Bornkamms Formulierung „Die Geburtsstunde des Protestantismus" ist ein Indiz hierfür, wie auch seine Begründung, daß die reformatorische Bewegung erst in Speyer „durch die Feuerprobe zur Einheit zusammengeschmolzen" wurde.22 Ein gegenläufiges Gefälle ist in den Urteilen katholischer Kirchenhistoriker erkennbar, beispielsweise in Erwin Iserlohs Äußerung: „In dem Protest forderten sie (sc. die evangelischen Stände) Toleranz, ohne freilich bereit zu sein, sie selbst zu gewähren." 23 Im Urteil der Historiker über die Protestation von Speyer sind unterschiedliche Akzentuierungen anzutreffen. Geoffrey Elton betont in seiner europäischen Reformationsgeschichte einen doppelten Aspekt.: Die Fürsten handelten aus Egoismus, d.h. dem Bestreben, ihre Macht zu vergrößern, ihre Autorität zu festigen und kirchlichen Besitz zu erlangen. „Doch gleichzeitig waren sie von der Notwendigkeit überzeugt, dem Evangelium zu dienen und es zu retten." 24 Es fällt auf, daß die beteiligten Reichsstädte nahezu außer Acht bleiben. Wesentlich deutlicher geht Peter Blickle mit der Protestation „der Lutheraner" in Speyer ins Gericht, da sie Zwangsreformationen in ihren Territorien vorangetrieben und sich „schwerer Rechtsbrüche schuldig gemacht" hätten. Die Frage bleibe unentschieden, „wo die einzelnen Impulse lagen: in der religiösen Uberzeugung oder im politischen Interesse". 25

Pädagogen und Theologen Karl Kirsch (1803-1883), Martin Luthers kurzgefaßte Lebensbeschreibung in gereimten Versen. Ein protestantisches Volksbuch, Leipzig 1825, S. 37 (zu Speyer 1529): „Und wißt! Seit jener Zeit entstand Der Ehrenname Protestant. Ja, protestieren wollen wir Stets gegen alle Ungebühr, Die durch den Trug der Menschen sich Ins Heiligthum des Höchsten schlich. Und wer sich ohne Menschenscheu Setzt gegen Lüge kühn und frey Und gegen allen Menschentand, Den man zur Schmach des Herrn erfand: Das ist ein rechter Protestant." 21

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Martin Rade, Doktor Martin Luthers Leben, Thaten und Meinungen auf Grund reichlicher Mitteilungen aus seinen Briefen und Schriften dem Volke erzählt. Bd. 3, Neusalza 1887, S. 91. Bornkamm, Das Jahrhundert, S. 112 (wie Anm. 14); vgl. ebd., S. 124: „In der Protestation spricht die durch Luther mündig gewordene Christenheit, Die erste große Gemeinschaftsurkunde der evangelischen Kirche ist ein Werk von Laien." Erwin Iserloh, Geschichte und Theologie der Reformation im Grundriß. 3. Aufl. Gütersloh 1985, S. 72; vgl. auch Remigius Bäumer, Das Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Kleine deutsche Kirchengeschichte (Hg. Bernhard Kötting), Freiburg, Basel, Wien 1980, S. 5 3 - 7 9 , bes. 64. Der Begriff „Toleranz" wird nicht reflektiert. Geoffrey R. Elton, Europa im Zeitalter der Reformation 1517-1559. 2. Aufl. München 1982, S. 61. Peter Blickle, Die Reformation im Reich, Stuttgart 1982, S. 145 (Uni-Taschenbücher 1181). Nahezu eine Gegenposition bei Rudolf Mau, Evangelische Bewegung und frühe Reformation 1521-1532, Leipzig 2000, S. 205 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen II/5).

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Albrecht Luttenberger plädiert dafür, sich durch „die in der Historiographie gern genutzte Symbolkraft der Speyrer Protestation", nicht darüber hinwegtäuschen zu lassen, daß erst durch den Augsburger Reichstag von 1530 und die Gründung des Schmalkaldischen Bundes die „reichspolitische Dimension des Religionsproblems sich zu jener das Reich als rechtliches und politisches Ordnungsgefüge bedrohenden Problematik auswuchs, die in der Folgezeit die reichspolitischen Verhältnisse entscheidend bestimmte". 26 Für Heinrich Lutz ist die Protestation von Speyer in seiner um Ausgewogenheit bemühten Darstellung der Reformation „ein weltgeschichtliches Ereignis, sowohl in der kirchenpolitischen Außenwirkung wie in der religiös-anthropologischen Innenwirkung". Mit Innenwirkung ist der Bekenntnisaspekt in der erweiterten Protestation vom 20. April 1529 gemeint. 27 Ähnlich konzentriert sich Horst Rabe in seiner Darstellung der Geschichte Deutschlands in 16. Jahrhundert vor allem auf die Wirkungen „jener berühmten und folgenreichen ,Protestation'". Nach seinem Urteil ist sie „ein erster förmlicher Schritt auf dem Wege zur Säkularisierung des Reichs". 2 8 1783 verweigerte der Zensor des Erzbistums Köln, der Bonner Kirchenrechtler Philipp Hedderich, einer antiprotestantischen Schmähschrift die Freigabe für den Druck. Durch Aussagen wie „... der erste Protestant ist Lucifer" sah er den Religionsfrieden gefährdet. 2 ' Dieserart Äußerungen und entsprechende Gegenmaßnahmen gehören längst der Geschichte an. Frei vom Einfluß des Autorenstandpunktes sind die Urteile zur Protestation von Speyer auch in der Gegenwart nicht, wie der Gang durch neuere Darstellungen gezeigt hat.

III Bei den Angaben zum Zusammenhang zwischen dem Begriff „Protestanten" und der Protestation von Speyer ist nicht selten mit Vereinfachungen bzw. Verkürzungen zu rechnen. 30 Singulär dürfte die Behauptung im Lexikon des Lutherischen Weltbundes sein, die Bezeichnung sei zuerst auf dem Reichstag in Speyer gebraucht worden. 31 Problematischer ist der Umgang mit dem Begriff „Protestanten" in Quellenausgaben. Selbst der Herausgeber der Reichstagsakten von Speyer, der in den Quellenüberschriften und im Register sonst die Begriffe „Protestierende" bzw. „protestierende Stände" verwendet, wählt für die Antwort vom 21. April 1529 auf die Entwürfe der Vermitt-

Albrecht Pius Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsidee. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik 1530-1552 (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg), Göttingen 1982, S. 25f. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 20). 27 Heinrich Lutz, Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung. Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden. 1490 bis 1648, Frankfurt a.M. und Berlin 1987, S. 249 (Propyläen Geschichte Deutschlands 4). Lutz zitiert den Text der Protestation nicht ganz korrekt vgl. DRTA.JR Bd. 7, S. 1277. 2 ! Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, München 1989, S. 213 (Neue Deutsche Geschichte 4). 2 ' Emil Pauls, Zur Geschichte der Censur am Niederrhein bis zum Frühjahr 1816, in: Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichtsvereins 15 (1900), S. 36-117, bes. 61. 30 Vgl. z.B. Lutz, Das Ringen, S. 249 (wie Anm. 27): Die protestierende Minderheit in Speyer, die von jetzt ab den „Namen der protestierenden' oder .Protestanten' trug"; Ilja Mieck, Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit. Eine Einführung. 5. Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1994, S. 107f.: „Die .Protestanten', wie sie fortan genannt werden". 31 The Enzyclopedia of the Lutheran Church (Edit. Julius Bodensieck), Vol 3, Minneapolis/Minnesota 1965, p. 1938: „Protestant. The term was first used at the Diet of Speyer in 1529".

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lungsfürsten den Titel „Vermittlungsvorschläge der Protestanten". 32 Die Aktenedition zum Regensburger Reichstag von 1532 führt den Begriff „Protestanten" sogar im Buchtitel. In den Einleitungen zu den Quellenstücken ist ebenfalls von Protestanten die Rede, während in den Quellentexten die originalen Termini (protestierende Stände u. ä.) erscheinen." Ahnlich liegen die Dinge bei anderen Quelleneditionen zum 16, Jahrhundert. Beispielsweise ist in der Ausgabe der Korrespondenz von Moritz von Sachsen als Inhaltsangabe eines Schreibens des Grafen Philipp von Mansfeld an den Merseburger Bischof vom 15. November 1541 zu lesen, der Graf teile auf Anfrage mit, er sei noch im „katholischen Bündnis" und sei „von keiner Seite zum Austritt oder zum Übertritte zum Protestantismus aufgefordert worden". Die tatsächlichen Quellenbegriffe sind aus dieser Angabe nicht zu entschlüsseln.3,1 In den Regesten der Edition der politischen Korrespondenz Straßburgs wird ebenfalls mit dem Begriff „Protestanten" gearbeitet. In einer Instruktion des sächsischen Kurfürsten und des hessischen Landgrafen für die Gesandtschaften zu den Königen von Frankreich und England vom 4. Juli 1546 ist im Regest von „der Unterstützung der protestant. Stände" die Rede. Der Quellentext selbst hat jedoch die Formulierungen „confession verwandte stend" und „protestirenden Stenden".35 Zur kritischen Ausgabe von Luthers Tischreden ergeben sich vergleichbare Beobachtungen. Die Uberschrift, die in Anton Lauterbachs Tagebuch „Francofordiensis conventus. Anno 1539" lautet, gibt Johannes Aurifaber in der Fassung wieder: „Vom Convent und Zusammenkunft der protestirenden Stände zu Frankfurt im Mai 1539".36 Der undatierte Bericht Lauterbachs über Neuigkeiten, die Kanzler Brück vom Reichstag zu Speyer 1544 an Luther geschickt hat, bezeichnet die Vertreter der reformatorischen Stände konsequent als „protestantes". Aurifaber, der den Bericht fälschlich dem Augsburger Reichstag von 1530 zuordnet, übersetzt sachgerecht „Protestirende" bzw. „protestirende Stände". 37 Die Bearbeiter des Registers zur Tischredenausgabe vereinigen diese Nótate jedoch unter dem Stichwort „Protestanten". 38 Indirekt macht bereits Otto Ciernen auf diese Quellenproblematik aufmerksam, wenn er die Begriffe „Ordines Protestantes" und „Principes Protestantes" in Luthers Gutachten von 1530 über die Frage, ob der Kaiser in Glaubenssachen das Richteramt beanspruchen könne, dem Herausgeber und Ubersetzer Georg Cölestin zuschreibt, da sie bei Luther selbst nicht begegneten.3' Der modernisierende Umgang mit den Quellenbegriffen in Editionen erschwert den Versuch erheblich, den Spuren der begriffsgeschichtlichen Entwicklung von „Protestanten" nachzugehen.

" DRTA.JR Bd. 7, S. 1294 Nr. 147; vgl. die Quellenbeschreibung ebd., S. 1235 Nr. 127 (wie Anm. 9). 33 DRTA.JR Bd. 10. Der Reichstag in Regensburg und die Verhandlungen über einen Friedstand mit den Protestanten in Schweinfurt und Nürnberg 1532 (Bearb. Rosemarie Aulinger), Göttingen 1992. 34 Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen (Hg. Erich Brandenburg). Bd. 1, Reprint, Berlin 1982, S. 220 Anm. 1. 35 Politische Correspondenz der Stadt Straßburg (Bearb. Harry Gerber), Heidelberg 1931, S. 216f. Nr. 187; vgl. ebd.; S. 195f. Nr. 171: Bericht des Lazarus von Schwendi vom 1. Juli 1546, wo es im französischen Text „les protestans" heißt, im Regest und den paraphrasierenden Inhaltsangaben aber „Protestanten". " WATR Bd. 4, Nr. 4352; vgl. auch ebd., Nr. 4548. 57 WATR Bd. 5, Nr. 6388; vgl. ebd., Nr. 6138. 3! WATR Bd. 6, S. 646 (Bearbeiter: Alfred Jäncke, Ernst Kroker). 3 ' WABr Bd. 12, S. 121-123. Für Clemen ist diese Begriffsverwendung ein Beleg, daß Luther sein Gutachten in deutscher Sprache abgefaßt haben wird.

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IV In Lexikaartikeln wird teilweise angegeben, der Begriff „Protestanten" und seine Vorform „Protestierende" seien zunächst nicht als Selbst-, sondern als Fremdbezeichnung rezipiert worden.40 Vermutlich ist diese Auffassung wesentlich durch eine Äußerung Luthers mitbestimmt worden. In seiner Schrift „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet" weist Luther 1545 den Ketzervorwurf mit der Begründung zurück, „weil wir die Schrifft haben". Außerdem bezeugten das die Gegner selbst mit den Namen, die sie ihnen geben: „etliche haben uns Schismaticos, etliche die unbequemen, Etliche, die Newerung machen, Bis sie uns nu die Protestirenden Stend nennen. Denn sie müssen sich ffir dem Wort .Ketzer' Schemen".41 Ähnlich äußert er sich gegenüber Justus Jonas zur Zeit des Regensburger Reichstages von 1541. Die Altgläubigen würden die „protestirende(n) Stende" beschuldigen, durch Prediger Aufruhr anzufachen. Luther fügt zu dem Begriff „protestirende Stende" in Parenthese hinzu „sie seis nos nominare", Jonas wisse ja, daß sie so von ihnen genannt werden.42 In der Stellungnahme der altgläubigen Stände zum Regensburger Buch vom 1. Juli 1541 werden die reformatorischen Stände nicht weniger als dreizehnmal als „Protestierende bezeichnet. Sich selbst nennen sie in dem an den Kaiser gerichteten Schriftstück vor allem „Catholici". 43 Luther wird jedoch kaum nur den Begriffsgebrauch bei den Regensburger Verhandlungen im Blick gehabt haben bei seinen Äußerungen. Die umfangreiche Aktenpublikation von Georg Pfeilschifter belegt, daß sich seit Ende der dreißiger Jahre die Begriffe „protestantes" in der lateinischen und „Protestierende" bzw. „protestierende Stände" im offiziellen Schriftverkehr der altgläubigen kirchlichen und weltlichen Autoritäten in zunehmendem Maße etabliert haben. Kaiser Karl V. und sein Bruder, König Ferdinand, sind dabei genauso wenig auszunehmen wie die Bischöfe und die Diplomaten der Kurie. In den Monaten der Religionsgespräche von 1540/41 nehmen sie in diesen Quellen unter den Bezeichnungen für die Vertreter der konfessionellen Gegenseite bereits den ersten Platz ein.44 Als der Kompromiß versuch in Regensburg 1541 scheiterte, war Luther keineswegs betrübt. Bissig äußerte er sich brieflich gegenüber Wenzeslaus Linck, die Gegner rühmten sich zwar, sie seien die Catholici, in Wahrheit seien sie Cacolyci (böse Wölfe). Sie hätten es sich verdient, „Noui protestantes", die neuen Protestierenden, genannt zu werden.45 Vermutlich bezieht sich Luther auf die Heilige Schrift als Kriterium. An ihr gemessen sind die Altgläubigen in seinen Augen die wahren Neuerer, Abweichler, Neulinge. Es lag Luther sicher fern, generelle Aussagen über den Begriff „Protestierende" zu machen. Vermutlich lag ihm wie anderen Vertretern der Wittenberger Reformation eine

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Vgl. Fischer, Protestantismus, S. 542 (wie Anm. 3); Hornig, Protestantismus, Sp. 1529 (wie Anm. 3); Konrad Raiser, Protestantismus, in: Evangelisches Kirchenlexikon, 3. Aufl. Bd. 3, Göttingen 1992, Sp. 1351-1358. WA Bd. 54, S. 288, 13. 19-21. WABr Bd. 9, S. 475, 35: 16. Juli 1545. Philipp Melanthonis opera quae supersunt omnia (Edit. Carl Gottlieb Bretschneider), Bd. 4, Halle 1837, Sp. 450-455 (Corpus Reformatorum 4; = CR). Vgl. Acta reformationis catholicae ecclesiam Germaniae concernentia saeculi XVI. Die Reformationsverhandlungen des deutschen Episkopats 1520-1570 (Hg. Georg Pfeilschifter), Bd. 2-4, Regensburg 19601971. (= ARCEG). Der überwiegende Gebrauch von „Protestierende" wird vor allem in den Bdn. 3 und 4 dokumentiert. WABr Bd. 9, S. 496, 9f: 17. August 1541.

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Selbstbezeichnung wie „evangelisch" näher, weil sie inhaltlich als sachgemäßer angesehen wurde. Das könnte eine Stelle in Matthäus Ratzebergers reformationsgeschichtlichen Aufzeichnungen andeuten. Ratzeberger berichtet, daß auf dem Schmalkaldischen Bundestag in Braunschweig 1538 König Christian III. von Dänemark sich „zu den Evangelischen oder wie es die Papisten nenneten protestirenden Stenden t h e t e " K o n troverstheologen der ersten Generation scheinen ebenfalls theologisch aussagekräftigere Begriffe bevorzugt zu haben. Johannes Cochläus hat vor allem an der polemischen Bezeichnung „haeresis lutherana" festgehalten.47 In seinen Lutherkommentaren geht er auf den Reichstag von Speyer 1529 nur kurz ein und übergeht die Protestation wohl absichtlich. ,!

V Seit mehr als einem Jahrhundert ist dem Hinweis von Julius Ney, daß bereits in mehreren Aktenstücken des Jahres 1529 von den protestierenden Ständen die Rede sei, kaum Beachtung geschenkt worden.'" Vermutlich ist noch gegen Ende des Reichstags im Schriftwechsel der reichsstädtischen Vertreter mit ihrem Stadtregiment von den protestierenden Städten bzw. Ständen die Rede gewesen. Die städtische Verfassung gewährte den Reichstagsgesanten einen geringeren Spielraum für Eigenentscheidung als Vertretern der anderen Kurien. Im Konfliktfall war eine ständige Rückkopplung notwendig. „Protestierende Stände" begegnet in den von Kühn referierten Quellen zum Verlauf des Speyrer Reichstags nach der Protestation mehrfach, aber es bleibt wegen des erwähnten modernisierenden Umgangs mit den nicht wörtlich mitgeteilten Quellenauszügen durch den Herausgeber unklar, welcher Begriff in den Vorlagen tatsächlich verwendet wurde. Sicher ist nur, daß die undatierte „Relation was uf den Reichstag zu Speir anno 29 gehandelt si" des Konstanzer Gesandten über die Zeit vom 15. März bis zum 25. April die Formulierung „die protestierende stet" enthält. Das belegt die wörtlich wiedergegebene Einleitungspassage.50 Der Ulmer Entwurf einer Instruktion für die Gesandten von Ulm, Memmingen, Lindau, Biberach, Kempten und Isny zum vierten Memminger Tag der protestierenden Reichsstädte am 15. November 1529, der abgesagt wurde, enthält mehrfach den Begriff „protestierende Stände".51 Dasselbe gilt für das Schreiben von Bürgermeister und Rat zu Ulm an die oben genannten Stadtregimenter, dazu an die von Konstanz, Reutlingen, Nördlingen und Heilbronn vom 11. November 1529, in dem über den „eylenden tag" zu Schmalkalden (28. November bis 4. Dezember) informiert wird. Der sächsische Kurfürst hatte dazu eingeladen, nachdem die Appellation an den Kaiser er-

" Chr. Gotth. Neudecker (Hg.), Die handschriftliche Geschichte Ratzebergers über Luther und seine Zeit, Jena 1856, S. 64. " Vgl. Walter Friedensburg, Beiträge zum Briefwechsel der katholischen Gelehrten Deutschlands im Reformationszeitalter. Aus italienischen Archiven und Bibliotheken. IV Johannes Cochlaeus, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 18 (1898), S. 106-131. 233-297. 420^63. 596-636, bes. 270: Cochläus an Paul III., 23. März 1537. " Vgl. COMMENTARIA / / IOANNIS COCHLAEI, DE ACTIS // ET SCRIPTIS MARTINI LVTHERI SAXONIS, // ... Mainz 1549, S. 197f. " Julius Ney, Geschichte des Reichstages zu Speier im Jahre 1529, Hamburg 1880, S. 287. 50 DRTA.JR Bd. 7, S. 796 und 951 Nr. 1779 (wie Anm. 9). 51 Ekkehart Fabian (Hg.), Die Abschiede der Bündnis- und Bekenntnistage protestierender Fürsten und Städte zwischen den Reichstagen zu Speyer und Augsburg 1529-1530, Tübingen 1960, S. 57-62 (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte 6; = SKRG).

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folglos geblieben war." Als es auf diesem Tag zum Konflikt in der Abendmahlsfrage gekommen sei, habe Landgraf Philipp von Hessen dennoch „alle mittel, die möglich und menschlich sind ze gedencken, gesucht..., dardurch die chur und fursten beredt mochten werden, sich mit den andern protestierenden Stenden in pundtnis ze begeben". 53 In der Folgezeit findet sich „die protestierenden Stände" oder die Kurzform „die Protestierenden" als Selbstbezeichnung vorwiegend im Schriftverkehr der oberdeutschen Städte. Bei der Aufstellung der Ausgaben für die „Christliche verainung", den Schmalkaldischen Bund, gab der Konstanzer Stadtschreiber Jörg Vögeli 1532 als Verwendungszweck an: „die gemainen protestierenden stend". 54 In der ausführlichen Instruktion von Rat und Bürgermeister von Konstanz für ihren Gesandten zum Bundestag in Schmalkalden 1537 wird „protestierende Stände" fünfmal verwendet, noch häufiger die Kurzform „Protestierende". Daneben begegnet auch fünfmal der gebräuchliche juristische Begriff „die aynungsverwandten". 55 Die frühen Abschiede des Schmalkaldischen Bundes kennen die Formel von den „evangelischen protestierenden und recussierenden Stenden" bzw. von den „christlichen protestierenden Stenden" als Selbstbezeichnung in der Auseinandersetzung mit dem kaiserlichen Kammergericht 1535 über die Religionsprozesse. 5 ' Neben anderen Varianten begegnet in den Bundesakten am häufigsten als Selbstbezeichnung „Einigungsverwandte" bzw. „einigungsverwandte Stände". Die Uberschrift des Schmalkaldener Bundesabschieds vom 31. Dezember 1530 beginnt mit den Worten „Abschidt der evangelischen stendt". 57

VI Den bayerischen Herzögen war die Bezeichnung „Protestierende" für die reformatorischen Stände schon seit den Religionsverhandlungen zu Beginn der vierziger Jahre vertraut.5' So begegnet sie folgerichtig auch bei den Sondierungen im Vorfeld des Schmalkaldischen Krieges, als Herzog Wilhelm auf die „Werbung" antwortete, die der Augsburger Stadtarzt Gereon Sailer Anfang des Jahres 1546 im Auftrag Philipps von Hessen in München unternommen hatte.59 Möglicherweise hat der Konfessionskrieg zur weite-

Ebd., S. lOOf. Walther Köhler, Zwingli und Luther. Ihr Streit über das Abendmahl nach seinen politischen und religiösen Beziehungen, Bd. 2, (Hgg. Ernst Kohlmeyer und Heinrich Bornkamm), Gütersloh 1953, S. 170 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 7). " Diethelm Heuschen, Reformation, Schmalkaldischer Bund und Österreich in ihrer Bedeutung für die Finanzen der Stadt Konstanz 1499-1648, Tübingen, Basel 1969, S. 129 (SKRG 36). 55 Ekkehart Fabian (Hg.), Quellen zur Geschichte der Religionsbündnisse und der Konstanzer Religionsprozesse 1529-1548, Tübingen, Basel 1967, S. 119-135: 25. Januar 1537 (SKRG 34); vgl. ebd. S. 2 1 3 : 1 9 . Januar 1546. 56 Ekkehart Fabian (Hg.), Die Schmalkaldischen Bundesabschiede 1530-1532, Tübingen 1958, S. 37-45, bes. 38: Abschied der Schmalkaldener und der anderen Protestierenden, Nürnberg 26. Mai 1534; ebd., S. 76-78, bes. 77: Die Schmalkaldener an ihre beiden Kammergerichtsprokuratoren, 23. Dezember 1535 (SKRG 7). " Ebd., S. 11-17. Im Text heißt es meist „die cristlichen stend". M Vgl. A R C E G Bd., S. 172-174: Ludwig X . an Wilhelm IV, Hagenau 30. Juni 1540; ebd., S. 3 8 0 - 3 8 5 : Bedenken Herzog Wilhelms für den Fürstenrat, 1. Juli 1541 u.ö. (wie Anm. 44). " Briefwechsel Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen mit Bucer (Hg. Max Lenz), Bd. 3, Leipzig 1891, S. 385f. Anm. 1: 9. Januar 1546; vgl. ebd., S. 3 8 0 - 3 8 4 : Bericht Sailers an Landgraf Philipp vom 15. Dezember 1545 über sein Gespräch mit dem Augsburger kaiserlichen Rat Johannes Baumgartner zur politis'chen Lage; vgl. ebd., S. 397. 52 51

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ren Verbreitung des Begriffs „Protestierende" mit beigetragen. Er begegnet nun auch häufiger außerhalb der Verhandlungsebene und im Schriftverkehr. Nach Kriegsausbruch erschien in acht Drucken ein Lied unter dem Titel „Warhafte und gegrundte meidung vnd anzeigen der geschwinden tückischen bösen anschleg vnd praktik, so wider die loblichen protestirenden stende und evangeliums einig verwarnen durch die großen feind gottes, den babst und seinen anhang furgenomen und zu jemerlichen unwiderbringlichen undergehen und verderben des deudschen lands erdacht sein. Item der genötigten und gedrungenen defensión und gegenwehr, auch wie sich darinne zu halten sei. Gottes wort bleibt ewig". Als Verfasser gilt der Reutlinger Prediger Johann Schradin, einer der Unterzeichner der Wittenberger Konkordie von 1536.60 Zu dieser Zeit berichtet auch Justus Jonas dem sächsischen Kurfürsten, daß er mit allen Hallenser Predigern die Gemeinde täglich ermahne, Gott zu bitten, dem Kurfürsten „vnd allen ... mituorwanten protestirenden Stenden" Stärke im Kampf gegen den Antichristen zu Rom und den spanischen Diokletian Karl V. zu verleihen.' In den nachfolgenden Jahrzehnten variieren die Bezeichnungen für den Konfessionskrieg von 1547/48 weiter. In der Zimmerischen Chronik, die 1566 abgeschlossen wurde, wird berichtet, daß Graf Wilhelm Werner, Freiherr von Zimmern „im schmalkaldischen krieg ... von den protestierenden Stenden geen Ulm erfordert" wurde.62 Hans Wilhelm Kirchhoff teilt in seinem belehrenden unterhaltsamen Erzählbuch „Wendunmuth" von 1563 mit, daß Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen seinen Hofnarren Maul Michel „in der protestierenden feldzug, anno 1546"mitnahm." Vielleicht war zu dieser Zeit auch schon die Variante „der Protestierenden Krieg" vorhanden. Belegt ist sie erst 1573 durch Jakob Schlusser. Er übersetzte die Kriegsgeschichte des Humanisten und Pädagogen Lambert Hortensius „De bello Germánico" von 1560 mit: „... warhaffte vnd eigentliche beschreibung des Protestierenden kriegs Teutscher Nation".64 Aus dem 4. Teil der Mansfeldischen Chronica von Cyriacus Spangenberg, der vermutlich gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstanden und nur handschriftlich überliefert ist, kann entnommen werden, daß sich auch nach einem halben Jahrhundert kein fester Terminus für den 60

Rochus von Liliencron, (Hg.), Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. Bis 16. Jahrhundert, Bd. 4, Leipzig 1869, S. 302-310 Nr. 521; zu den Nachdrucken des Tübinger Drucks in Erfurt, Magdeburg, Ulm und Wittenberg vgl. VD 16 Bd. 18, S. 4055^061 (der Tübinger Druck fehlt); zum Lied vgl. O. Waldeck, Die Publizistik des Schmalkaldischen Krieges, in: ARG 7 (1909/10), S. 1-55 und 8 (1911/12), S. 44-133, bes. S. 38. Wie in anderen Liedern zum Schmalkaldischen Krieg kommen im Lied selbst „protestierende Stände" bzw. „Protestierende" nicht vor. Zu Johann Schradin vgl. Karl Schottenloher, Bibliographie zur deutschen Geschichte im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517-1585, 2. Aufl., Bd 2, Stuttgart 1956, Nr. 19401-19405. " Der Briefwechsel des Justus Jonas (Hg. Gustav Kawerau), 2. Hälfte, Halle 1888, S. 210: 27. Oktober 1546. " Zimmerische Chronik (Hg. K.A. Barack), Bd. 3, Tübingen 1869, S. 19 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 93). " Hans Wilhelm Kirchhof, Wendunmuth (Hg. Hermann Oesterley), Bd. 1, Tübingen 1869, S. 430 Nr. 416 (Bibliothek des Literarischen Vereins Stuttgart 95). 64 Der Peürisch vnd / / Protestierende Krieg / / Das ist/ / / Historischer / warhafftiger vn grund= / / licher Bericht der Bewrischen emp6runge vnd auffrhur / so im // Jar M. D. XXV. Bei Zeiten der Regierung Caroli des V. R6= / / mischen Keisers / in Teutschland entstanden ... // zuuor in // Lateinischer sprach durch Petrum Gnodalium beschriben / jetzt / / aber in Teutsch gebracht / vnd an etlichen / / 6rteren vermehret / Item / / Des Protestierenden Kriegs Teutscher Nation / eigentliche Be= / / Schreibung / wie sich derselbig ... vnder dem obgemeldten Keiser ... erhebt... vnd im M.D.XLVII. / / Jar geendet habe. Vor etlichen jaren durch Lambertum Hortensium / / von Montfort in Lateinischer sprach beschrieben // vnd erst newlich... verdeutschet // ... Basel 1573; VD 16 Bd. 9, G 2284. Zu Hortensius vgl. VD 16 Bd. 9, H 5035; Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 13, Leipzig 1881, S. 104f (van Slee).

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Konfessionskrieg von 1546/47 durchgesetzt hat. Spangenberg notiert zu 1546: „In diesem Jahr ist der Schmalkaldische oder Protestierende Krieg angangen".' 5

VII Auf die Angabe in Sleidans Reformationsgeschichte von 1555, daß der Name „Protestierende" auch außerhalb Deutschlands bekannt sei, wurde bereits hingewiesen. Es ist nicht feststellbar, in welchem Maße die reformatorische Position des Autors diese Information mitbestimmt hat. Mit seinem Erfolgsbuch hat Sleidan selbst auf jeden Fall zur Verbreitung des Begriffs wesentlich beigetragen. Allein 1555 wurden vier Ausgaben veröffentlicht, im darauffolgenden Menschenalter nicht weniger als 80." Sleidans Darstellung der Zeit Karls V. ist ein Auftragswerk des Schmalkaldischen Bundes. Diese Entstehungsgeschichte und die Situation der zweiten reformatorischen Generation, in der sich die Erwartungen für den Fortgang der kirchlichen Umgestaltung auf die Obrigkeiten richtete, bestimmen die Intention des Werkes insgesamt wie den Gebrauch von „protestantes". Der Begriff ist stets auf die protestierenden Stände und ihre Aktionen bezogen, angefangen mit dem Speyrer Reichstag 1529, über den Augsburger Reichstag 1530 und dem Schmalkaldischen Bund, bis zum Schmalkaldischen Krieg. Danach wird er noch einmal im Bericht über das Konzil in Trient 1552 in Anspruch genommen Der ursprüngliche Plan, das Geschichtswerk gleichzeitig in lateinischer und deutscher Fassung herauszubringen, wurde aufgegeben. Schon die lateinische Ausgabe hat die Hürden des Drucks nicht ohne Schwierigkeiten bewältigt. Ein deutscher Druck, der sich an ein viel größeres Forum wendete, war jedoch etwas ganz anderes, wie der Straßburger Ratsschreiber Heinrich Walther urteilte.67 In Sleidans Briefwechsel und in den Widmungsvorreden werden einige Hemmnisse angedeutet. Nicht die teilweise durch Sleidan autorisierte Übersetzung von Marcus Stamler war zuerst auf dem Markt. Sie erschien in drei Ausgaben erst 1557-1559.68 Gleichfalls 1557 kam die wenig bekannte Übersetzung von Israel Achacius in Pforzheim heraus.69 Bereits 1556 erschien in Basel die Übersetzung des Mediziners und Historikers Heinrich Pantaleon.70 Vergeblich haben sich Sleidanus und der Straßburger Rat bemüht, Cyriacus Spangenberg, Mansfeldische Chronica. Der vierte Teil (Hg. Rudolf Leers), Eisleben, S. 270; ebd., S. 24. 55. 57 u.ö. 66 Vgl. Franz Schnabel, Deutschlands geschichtliche Quellen und Darstellungen in der Neuzeit. 1. Teil, Leipzig, Berlin 1931, S. 258; zu den nicht vollständig erfaßten lateinischen Ausgaben von 1555-1576 vgl. V D 16 Bd. 19, S 6668-6689. Vgl. Schnabels ausführliche Würdigung ebd., S. 257-273; außerdem: Walter Friedensburg, Johannes Sleidanus. Der Geschichtsschreiber und die Schicksalsmächte der Reformationszeit, Leipzig 1935 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 157). " Friedensburg, Sleidanus, S. 47f. (wie Anm. 66); Sleidans Briefwechsel (Hg. Hermann Baumgarten), Straßburg, London 1881, S. X X V und 318. " Joannis // Sleidani II Warhafftige vnd Ei II gentliche beschreibung der Geistlichen vnd Welt= II liehen Sachen / so sich vnder der Regierung des Großmechtigsten Key= II sers Caroli diß namens des V. verlauffen. II Durch Marcum Stamler II von Augspurg / . . . verdolmetschet. II... Straßburg 1557, Bl. a 2r (Widmungsvorrede an Graf Philipp von Hanau und Lichtenberg); V D Bd. 19, S 6696; ebd., S 6697 (Straßburg 1558); ebd., S 6699 (Straßburg 1559). " Vgl. V D 16 Bd. 19, S 6695. 70 Warhafftige Be/ //Schreibung Geistlicher vnd Weltlicher Hi= // storien / wider dem Großmechtigsten Keiser Carolo dem ffinfften verlauffen. / / Erstlich von Herren Johanne Sleidano in Latein zusamen getragen / demnach / / zu gutem Teutscher Nation verteutschet / vnd jetzt zu letst fleissig / wider besichtiget / in recht hoch Teutsch bracht / vnd mit etlichen figuren gezieret. // Samt zwey newen zugethanen Buchern / in welchen alle ffirnempsten thaten vnd geschichten / von anfang des ffinffvndffinftzigsten 65

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den Druck der nach Sleidans Urteil unzulänglichen und in der Zeit des Reichsfriedens bedenklichen Ubersetzung zu verhindern oder wenigstens einen Aufschub zu erreichen. In Basel und Frankfurt wurde sie 1557 noch viermal gedruckt. 71 Pantaleon übersetzt Sleidans „protestantes" konsequent mit „die Protestierenden". Wie Sleidan meint er damit die protestierenden Stände. Diese werden selten ausdrücklich erwähnt. Über Sleidan hinausgehend erscheint „Protestierenden" auch in zahlreichen Marginalien. Die Kurzform ist bei Pantaleon offensichtlich bereits zum gängigen Begriff geworden. Sie wird im Register in 26 Stichwortverbindungen aufgelistet. Keine der bisherigen Ubersetzungen konnte mit der Neuübersetzung durch den Basler Juristen und Historiker Michael Beuther aus Karlstadt konkurrieren. Sie erschien zuerst 1558 in Frankfurt/ 2 Von 1568 an wurde sie durch Theodosius Rihel in Straßburg nachgedruckt. Bis 1597 lagen 19 Ausgaben vor, sechs Frankfurter und 13 Straßburger Drucke. 73 In seiner Vorrede geht Beuther auf Sleidans Kritik an den bisherigen Übersetzungen ein: „inn dem daß die Historien vnuleißig / vngeschickt vnnd vnntrewlich / auch nicht alleyn des Sleidani gemüt vnnd mainung / sondern noch darzu Lateinischer vnd Teutscher Sprachen eigener arth vngemaß / ja vber das alles vnd hindeln / welche alhie sollten erklärt werden / auß vnuerstand der Tolmetschen strack zuwider / vnnd also mehr zu verdunckelung / denn zu erleuterung kommen". So habe er es übernommen, „vonn wegen der Freundschaft" zwischen ihm und Sleidan, dessen Werk erneut „in rechtschaffen Teutsch mit vleiß zuuersetzen". 7 4 Die Absicht der Eigenwerbung liegt auf der Hand. In der Übersetzung der Passage über den Reichstag von Speyer 1529 und dem „vrsprung der Protestirenden" stimmen Beuther und Pantaleon nahezu wörtlich überein.75 Auch sonst wählt Beuther wie Pantaleon als Übersetzung von „protestantes" kon-

biß zu / / end des siebenvndfönffzigsten jar / ordentlich begriffen. / / Mit einer Apologia von dem Authore selbs gestellet. / / ... Basel 1557. Pantaleons Widmungsvorrede an den Landvogt Johann Albrecht von Anwyl ist auf den 3. September 1557 datiert; V D 16 Bd. 19, S 6692. " Vgl. V D 16 Bd. 19, S 6691 und 6693: Basel 1557 ( N u r der dritte Druck nennt den Drucker: Nikolaus Brylinger); ebd., S 6694: Frankfurt 1557 (Weigand Han). Z u m Konflikt wegen Pantaleons Übersetzung vgl. Sleidans Briefwechsel, S. 309-318; zum Gerücht über eine Ubersetzung von Johannes Stumpf vgl. ebd., S. 307f. (wie Anm. 67). Zu Pantaleon vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 25, Leipzig 1887, S. 128-131 (Johannes Boke). 7 ! Johannis / / Sleidani. / / Warhaftige Be / / Schreibung aller III HSndel / so sich in Glaubenssachen II vnd Weltlichem Regiment / vnder dem Großmichtigsten II Keyser Carln dem F ü n f f t e n zugetragen vnd verlauffen haben / II Erstlich in Lateinischer sprach auff das vleissigist beschrieben. II Jetzund aber II Durch eynen Hochgelerten der Rechte Doctorn mit II sondern vleiß / zu mehrer erleuterung des gantzen Wercks / allen guthertzigen Teutschen damit zu dienen / aufs II new auß dem Latein in rechtgeschaf= II fen Teutsch gebracht. II Mit verner wolgegrundter erstreckung vnnd verzaichnis / was sich nach vollendter Histori Johannis Sleidani biß auff gegenwertige zeit verlauffen. II Sampt einer Apologie vom Authore selbs II wider die jenige / so seine Histori als vn= II glaubwirdig anzihen / II gestellt. I I . . . Frankfurt 1558 (David Zephel). Exemplar: Berlin, Staatsbibliothek, C m 2200 (fehlt in V D 16 Bd. 19). Zu Beuther vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 2, Leipzig 1875, S. 589-593 ((Adalbert Horawitz). Vgl. V D 16 Bd. 19, S 6698 (Frankfurt 1559). S 6700-6702 (Frankfurt 1561, 1563, 1564)). S 6706 (Frankfurt 1572)); ebd., S 6703-6705 (Straßburg 1568, 1570, 1571)). 6707-6716 (Straßburg 1574, 1575, 1579, 1580, 1582, 1587, 1588, 1589, 1593, 1597). Eine sächsische Ausgabe, die Beuther in seiner Vorrede erwähnt („in ... Meissen"), ist nicht nachweisbar. " Sleidani. / / Warhaftige Be / / Schreibung, Bl. A 2 r - A 2v (wie Anm. 72). Ti Pantaleon: „Solchs ist der vrsprung der Protestirenden / welcher nahm nicht allein in Teutschlanden / sondern auch bey außlandischen Nationen gantz gemein vnd berhfimpt ist". Marginalie: „Protestirenden vrsprung" (S. 153); Beuther: „Vnd ist solchs der vrsprung der Protestirenden / welcher name nicht allein in Teutschlanden / sondern auch bey ausländischen Nationen männiglichen bekannt ist". Marginalie: „Protestirender N a m woher" (Bl. 73v). 73

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sequent „Protestirende", stets auf die Stände bezogen. Sein Register enthält sogar 33 entsprechende Stichwortverbindungen. Es ist bekannt, daß Sleidanus mit der Übernahme der Melanchthon zugeschriebenen „Histori Thome Müntzers" für lange Zeit das Bild Thomas Müntzers in der Geschichte stark mitgeprägt hat. 7 ' Mit seinem Rückbezug der Bezeichnungen „protestantes/Protestierende" auf die Protestation von Speyer 1529 scheint es sich ähnlich zu verhalten. Er wurde bereits von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung rezipiert, ohne Quellenangabe, wie in der Fortsetzung der hochdeutschen Ubersetzung der Magdeburger Schöffenchronik 1565/66 oder mit ausdrücklichem Verweis auf das 6. Buch von Sleidans Kommentaren, wie in der Reformationsgeschichte Heinrich Bullingers.77 Wie im Falle Müntzers ist die Rezeption nicht auf die deutsche Geschichtsschreibung beschränkt. Neben der lateinischen sorgten vor allem die beiden französischen Ubersetzungen von Straßburg 1558 und von Genf 1574 sowie die englische Ubersetzung des John Daus von 1560 für eine entsprechende Multiplikation. Der Ubersetzer der französischen Ausgaben ist nicht bekannt. Die Passage über die Entstehung des Begriffs („du nom des Protestans") stimmt in beiden Ausgaben wörtlich überein und hält sich korrekt an Sleidans Vorbild. 71 Nicht anders verhält es sich mit der Übersetzung von Sleidans Bericht über Speyer 1529 bei Daus und der Wiedergabe „first original of the name of Protestauntes". 79 Die Übersetzer im 16. Jahrhundert haben die von Sleidanus vorgegebene Begriffsebene (protestantes für protestierende Stände) nicht verlassen. Das geschah erst in der Neuübersetzung durch Johann Salomon Semler 1771. Im Kontext der Entwicklung, die der Begriff vor allem im 18. Jahrhundert durchlaufen hat, gibt er die Passage über die Entstehung des Namens Protestierende in folgender Fassung wieder: „Und dieses ist der Ursprung von der Benennung der Protestanten, welche ihnen nicht allein in Teutschland, sondern auch bey Auswärtigen nachher beständig ist gegeben worden."* 0

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Vgl. Max Steinmetz, Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels, Berlin 1971, S. 50-52 u.ö. (Leipziger Ubersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter B 4). 77 Chroniken der niedersächsischen Städte, Magdeburg, Bd. 2,2. Aufl., Göttingen 1962, S. 10 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. Bis ins 16. Jahrhundert 27); Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte (Hg. J.J. Hottinger, H.H. Vögeli), Bd. 2, Frauenfeld 1838, S. 47. 71 HISTOIRE / / DE L'ESTAT / / DE LA / / RELIGION, ET / RE / / PVBLIQVE, SOVS L T M = / / PEREVR CHARLES CINQVE, / / PAR / / JEAN SLEIDAN ...Straßburg 1558, S. 182f; VD 16 Bd. 19, S 6667. - Les oevres de / / J. Sleidan qui concernment // les historires qu'il / / a escrites. / / Geneve Chez Eustache Vignon / / MDLXXIIII, Bl. 121r. Vorrede von Jean Crespin. Nicht in VD 16 Bd. 19. Exemplar: Berlin, Staatsbibliothek, 2° Cm 2259. Beide Ausgaben haben konsequent „protestans", einschließlich im Register. 7 ' Sleidanus (Joannes). A famous Cronicle of our time ... Translated out of Latin into Englishe, by Jhon Daus. London: Jhon Daie, for Nicholas Englande. M.D.LX. The 26. Daie of September, Bl. 82v. Vgl. Charles Edsward Sayle (Bearb.), Early English Printed Books in the University Library Cambridge (1475 to 1640). Vol. 1, Cambridge 1900. Reprint New York, London 1971, S. 156 Nr. 792. Nicht in VD 16 Bd. 19. Das Zitat bei James A. H. Murray (Edit.), A new english dictionary on historical Principles. Vol. 7, Oxford 1909, p. 1504 (Protestant). 10 Johann Sleidans Reformations-Geschichte aus dem Lateinischen übersetzt. Genau durchgesehen, mit Courayers und einigen andern Anmerkungen, wie auch verschiedenen Urkunden und einer Vorrede hg. von D. Joh. Salomon Semler, 1. Teil, Halle 1771, S. 425. Semler erwägt auch, ob die Berufung der protestierenden Fürsten auf ihre Bindung an das Wort Gottes nicht nur ein .bequemer Vorwand' war und die „Protestanten" die Intolleranz nicht weiter als die Katholiker getrieben haben und damit gerade gegen ihre Grundsätze handelten (ebd., S. 422 Anm. 16 und 423 Anm. 17).

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VIII Friedrich Wilhelm Graf hat auf einen Lexikonartikel des Neologen Friedrich Roth von 1797 aufmerksam gemacht, in dem die Auffassung vertreten wird, der Begriff „Protestant" sei erst seit dem Westfälischen Frieden auch für die Reformierten in Anspruch genommen worden. Graf übernimmt diese Information und meint, wie andere vor ihm, als Selbstbezeichnung aller nichtrömischen christlichen Glaubensgemeinschaften folge die Begriffserweiterung „mit großer Wahrscheinlichkeit einem englischen Vorbild".81 Beide Angaben sind zu prüfen. Murrays Lexikon der historischen Begriffe von 1909 verzeichnet „the Protestantes" in englischen Quellen von 1539 an als Bezeichnung für die protestierenden Stände in Deutschland bzw. für den Schmalkaldischen Bund. Aus einem Brief John Haies vom Augsburger Reichstag 1551 zitiert er die Äußerung, daß „the Papistes and Protestauntes" ihren Gottesdienst in den meisten Orten in derselben Kirche nacheinander hielten.82 Bei Haies hatte der konfessionelle Aspekt des Begriffs bereits die Priorität. Maurer gibt an, daß 1584 auch in der offiziellen englischen Kirche von „our protestants, Bishops and Clergy" gesprochen wurde. Der Einfluß dieser englischen Entwicklung auf den französischen Sprachgebrauch im einzelnen sei noch nicht erforscht. Im 17. Jahrhundert sei jedoch bei französischen Theologen und Historikern der Name „Protestanten" allgemein gebraucht worden.83 War eine ähnliche Begriffserweiterung in Frankreich wirklich auf den englischen Einfluß angewiesen, wie Maurer anzunehmen scheint? Im französischen etymologischen Wörterbuch Walther von Wallenburgs wird „Protestant" als Name von Anhängern der Reformation für 1585 nachgewiesen.84 Im gleichen Jahr, in dem von Wartenburgs Band erschien, legte Willy Richard in seiner Untersuchung zur Entstehung der französischen reformierten Kirchenterminologie 13 weitere Belege für „protestans/ protestants" aus dem 16. Jahrhundert vor. Er schließt sich der verbreiteten Auffassung an, daß erst nach 1540 in Deutschland die Anhänger der Reformation „Protestierende" genannt werden und die Bezeichnung außerhalb Deutschlands häufiger verwendet wird. Nach seinen Recherchen ist erst nach Calvins Rückkehr nach Genf 1541 „protestant" in Frankreich üblich geworden. Die von 1542 an nachgewiesenen französischen Belege beschränken sich allerdings „vorerst... auf die Bezeichnung der deutschen evangelischen Stände". Aber „in den 1554 verfaßten .Actes et Gestes merveilleux de la cite' de Geneve von (Anthoine) Fromment" sei das Wort „auch als Name der Genfer Evangelischen" verwendet worden. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sei „'protestant' gelegentlich zur Bezeichnung der französischen Reformierten herangezogen" worden, um „polemische Schärfe zu vermeiden". Bis ins 17. Jahrhundert sei jedoch diese Verwendung eher selten geblieben.85 Richards Ergebnisse basieren auf wenigen Belegen, deren historischer Kontext zudem kaum beachtet wird. Seine Vermutung, daß der Begriff über Straßburg, dem zeitweiligen Aufenthaltsort Calvins, nach Frankreich und in die Westschweiz transferiert " Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung - Protestantische Freiheit, in: Graf/ Tanner (Hgg): Protestantische Identität heute,, S. 13-23. 257f., bes. S. 13 (wie Anm.2). " A new english dictionary on historical Principles, Vol. 7, p. 1504 (wie Anm. 79). " Maurer, Protestantismus, S. 377f. (wie Anm. 3). M Walther von Wartenburg, Französisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 9, Basel 1959, S. 476: „H.Ph. de Villers, Cinq liores de l'Erynne Francoise" (1585) spricht von den „Protestanten Frankreichs". 15 Willy Richard, Untersuchungen zur Genesis der reformierten Kirchenterminologie der Westschweiz und Frankreichs, mit besonderer Berücksichtigung der Namengebung, Bern 1959, S. 56-59. Richards Arbeit ist eine überarbeitete Zürcher Dissertation von 1952.

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worden sei, greift ebenfalls zu kurz. Die Rolle Straßburgs als Multiplikator ist dennoch zu beachten. Richard berücksichtigt weder den Buchdruck, noch die Kontakte zwischen den Gelehrten und die diplomatischen Beziehungen. Auf den politischen Briefwechsel in französischer Sprache, auf den oben schon hingewiesen wurde, geht er nicht ein. Im Schriftwechsel Karls V. und seines Bruders Ferdinand sowie deren Umkreis ist von 1539 an „protestans", bezogen auf die protestierenden Stände, mehrfach nachweisbar.86 Zum französischen Sprachbereich sind weitere Untersuchungen unumgänglich, um aussagekräftigere Ergebnisse zu gewinnen. Zu überprüfen wäre dann auch die Behauptung Veit von Seckendorfs in seiner Reformationsgeschichte, der Name Protestierende sei zunächst von den Lutheranern, später auch von anderen Neuerern, vor allem von den Calvinisten anstelle des ihnen zugelegten weniger angesehenen Titels gebraucht worden.87 Für eine Art Rückexport von „protestans/ protestants" aus England oder Frankreich gibt es bislang keine Anhaltspunkte in den Quellen. Im deutschen Sprachbereich war seit Anfang der neunziger Jahre „Protestierende" als konfessionelle Sammelbezeichnung für Evangelische schon üblich. 1592 teilt der Frankfurter Meßkatalog von Nikolaus Basse' die theologischen Bücher in die Kategorien „Protestirende / Bäpstische" ein.88

IX Die Suche nach frühen Spuren von „Protestanten" in deutschen Quellen ist sicher nicht unwesentlich durch die erwähnte allgemeine Auffassung, der Begriff sei zunächst in Westeuropa üblich gewesen, behindert worden. So ist auch nicht beachtet worden, daß Philipp Wackernagels Quellenwerk zum deutschen Kirchenlied die Selbstbezeichnung im ausgehenden 16. Jahrhundert dokumentiert. Auf Hebeysens Verknüpfung des Namens „Protestierende" mit der Protestation von Speyer in seinem „Helden-Lied von D. Martin Luther" 1591 wurde bereits hingewiesen. Auch sonst ist bei ihm von „Protestirenden die Rede. Eine Ausnahme bildet eine der Strophen über den Augsburger Reichstag von 1530: 41. Die Bäpstischen auch versuchet han viel listig Weg vnd Renck, wie man die Protestanten trennet: Sie aber wurdn gesterckt dardurch, denn Marggraff Georg zu Brandenburg vorm Keyser frey bekennet ,Eh ich nachliß vmb einen grad, so daß ich anders glaubte, ehir wol hie vor Ewr Maiestat

" Vgl. A R C E G Bd. 3, S. 65: Memorandum des katholischen Bundes an König Ferdinand, 16. November 1539; S. 334-336. 338-342. 344-348. 350-353: Nicolas Perrenot de Granvellas Wormser Berichte an Karl V., 10.-14. Januar 1541; S. 375: Granvella an Königin Maria, 19. Juni 1541; S. 411: Reichsvizekanzler Dr. Johann Naves an Königin Maria, 30. Januar 1542; S. 412: König Ferdinand an Karl V., 18. Februar 1542. Karl V. an König Ferdinand, 14. März 1542; S. 414f.: König Ferdinand an Karl V., 18. Februar 1542; S. 515: Karl V. an Granvella, 30. August 1545 (wie Anm. 44). " Veit Ludwig von Seckendorf, Commentarius Historicus Et Apologeticus De Lutheranismo ..., Frankfurt, Leipzig 1692, Lib. II, S. 127 (Sect. 14, § XLIV). " Vgl. Stephan Fitos, Zensur als Mißerfolg. Die Verbreitung indizierter deutscher Druckschriften in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Frankfurt, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Wien 2000, S. 102f.

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verlieren ich mein Haupte'. Die Protestant in der Sum zugleich auch appellirten auff ein frey Concilium."

Aus dem Zusammenhang ergibt sich, daß sich „Protestanten" hier auf die Stände bezieht, die sich zur Augsburger Konfession bekannt haben. Zwei Jahrzehnte früher ist dieses Nebeneinander von „Protestierende" und „Protestanten" mit weiteren Varianten als Fremdbezeichnung bei dem Franziskaner Johannes Nas, einem der aktivsten konfessionellen Polemiker, anzutreffen. Wackernagel hat aus dem 6. Band der „Centuria", dem Hauptwerk von Nas, das Lied „Ein widerschall vnd gegenhall von den bösen früchten der Euangelosen Predikanten" in seine Sammlung aufgenommen. In der 10. von insgesamt 25 Strophen wird Luther als Urheber der „drey hauptsecten" angeprangert, die mit ihren verheerenden Folgen in der 11. Strophe genannt werden: Die Tauffer vnnd Die protestirer / Darnach die Sacramentirer ...90

Im 1558 erschienenen 2. Band seiner „Centuria" verwendet Nas neben „Protestierende" auch die sonst nicht bezeugte Form „die Protestiereten".'1 1570 wurde der 4. Band gedruckt. Hier findet sich neben „die Sectischen protestirer vnd Confessionisten" auch folgende Kette polemischer Bezeichnungen: „... die Flaccisten, / Adiaphoristen / Synergisten / Osiandristen / Protestanten / Sacramentirer / vnnd wie dann die Ohrenmelcker all mit namen künnen tituliert werden".'2 Im gleichen Jahr steuert Nas zur versifizierten antireformatorischen „Chronologia" des sonst kaum bekannten Kontroverstheologen Johannes Avicinius/ Vogelgesang aus Burgau bei Günzburg eine „Vorred an den christlichen Leser" bei. Im Licht der Endzeitverkündigung von Matth. 24 läßt er die Leser einen Blick in den „abgrund des schleims / der Aufwigler vnnd anfänger aller jetztschwebenden Rotten" tun. Als Verantwortlicher wird Luther angeprangert, der nach Offb. 16, 13f. „gleichförmig ist dem vngehewern Tracken dem falschen Propheten / auß dessen Rachen drey verflüchter Brotzen oder Giftfrösch / der dreyen Hauptsecten krochen sein / als die Protestanten / Widertauffer / vnd Sacramentirer ...".,J

" Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 5, S. 157 (wie Anm. 7). In der 43. Strophe heißt es wieder „Protestirenden" (ebd.). " Ebd., S. 1023-1025 Nr. 1296, bes. 1024 (wie Anm. 7); (Joan. Nas): SEXTAE CENTVRIAE // PRODOMVS. // ... Ingolstadt 1569, Bl. 252v-256r, bes. Bl. 254r; VD 16 Bd. 14, N 101. Zu Nas vgl. Walther Killy (Hg.), Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 8, Gütersloh, München 1990, S. 333f. (Robert Pichl). " (Johannes Nas): SECVNDA CENTVRIA, // ... Ingolstadt 1A558, Bl. 70v und m4v („Protestirenden" = Stände). Bl. 57v („Protestiereten" = alle Sectarij und Autoren). VD 16 Bd. 14, N 99; im 1. Band verwendet Nas noch „die Lutheraner", „die Cofessionisten", vgl. (Johannes Nas): Das Antipapistisch eins // vnd hundert. // ... (Ingolstadt) 1565, Bl. 2r und Bl. 178v-170r; VD 16 Bd. 14, N 96. " /Johannes Nas): QVARTA CENTVRIA ... Ingolstadt 1570, Bl. 104v und 326v; vgl. auch Bl. 92v : „die Schmalkalberischen / Bundtsgenossen"; VD 16 Bd. 14, N 104. " (Johannes Avicinius): Chronologia Euangelia. // Das ist ein // Summarischer // Außzug der Newewangeli= // sehen Chronicken ... Ingolstadt 1570, Bl. A 5r; VD 16 Bd. 21, V 2119; der Artikel über Vogelgesang/ Avicinius in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 40, Neudruck Berlin 1971, S. 139 (Franz Heinrich Reusch), kennt nur die Informationen aus der „Chronologia".

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In den achtziger Jahren hat Nas, inzwischen Weihbischof von Brixen, eine polemische Geschichte der Ketzer von der biblischen Zeit an geschrieben, um die Quellgründe der reformatorischen Strömungen aufzudecken. Das 1588 dreimal gedruckte Buch geht im 29. Kapitel auch auf den Reichstag von Speyer 1529 („des Turcken / der schwebenden Ketzerey halben") ein. Dazu heißt es: „aber jr vil protestirten darwider / wollten nicht vnderschreiben / von dannen her der protestirenden namen ist auffkommen. Es haben gedachte Hauptsecten der Lutheraner / Sacramentirer vnd Widertauffer vnzehlich vil Conciliabula gehalten / damit sie verainiget möchten". Eine zusätzliche Wertung enthält die Marginalie: „Protestanden leiden nicht super se regnantem"." Schon im 20. Kapitel über das 7. Jahrhundert konnte Nas den Seitenhieb nicht unterlassen: „Was massen aber vnsere Protestanten vnd Confessionisten mit dem Alcoran concordirn / mit leben vnd lehren / das wßllen wir etwan hienacher baß erzehlen". Im Umkehrverfahren werden im 30. Kapitel für die „heuttlglichen vnserer zeit Secten vnd Rotten", „vnsere Protestanten / Lutherisch / Caluinisch / vnd die Secten in allen Landen", auch „die Gottsbößwicht Eunomius vnd Vigilantius", aus dem 4. Jahrhundert zum Vergleich herangezogen. 95 Auf die „lugen vnnd lasterwort" gegen die römische Kirche durch „die Lutherischen Protestanten", die aus dem Antwortschreiben des Patriarchen Jeremias II. von Konstantinopel an die Tübinger Theologen vom 15. Mai 1576 zu entnehmen seien, geht Nas kurz im 31. Kapitel ein.'6 Diesen ökumenischen Kontaktbemühungen der Tübinger, vor allem der Kritik des Patriarchen an der Confessio Augustana, widmet Nas das 32. Kapitel. Dabei bezeichnet er die Tübinger Korrespondenzpartner von Jeremias II. sieben Mal als „die Protestanten". 97 Die Breite der begrifflichen Varianten bei Nas ist sicher nur teilweise auf seine Neigung zu satirischen Wortspielen zurückzuführen. „Protestanten" bleibt auch bei ihm ein Austauschbegriff zu „Protestierende", gewinnt aber als Fremdbezeichnung schon an Gewicht. Der Bezug auf die reformatorischen Stände ist ebenfalls noch vorhanden, doch der konfessionelle Aspekt hat bereits die Priorität übernommen. Selbst das Gefälle zum konfessionsübergreifenden Begriff wird erkennbar. Durch die Aktenpublikation von Pfeilschifter wird die traditionelle Auffassung bestätigt, seit den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts sei der Begriff „Protestierende" häufiger gebraucht worden. Bislang ist nicht beachtet worden, daß in diesem Quellenwerk auch schon der Begriff „Protestanten" vorkommt. Als einziger deutscher Prälat war 1545 der Mainzer Weihbischof Michael Heiding zum Konzil nach Trient gereist. Als er vom neuen Mainzer Erzbischof Sebastian von Heusenstamm zurückbeordert wurde, bat er um eine Verlängerung der Aufenthaltsfrist in Trient. Im Schreiben an den Mainzer Siegler Johann Eier vom 19. Dezember 1545 begründet er u.a. seine Bitte mit dem Argument, es könne der „argwon" entstehen, der neue Erzbischof sei „durch die

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(Johannes Nas): ANANEOSIS // Vieler Wunderbarlichen // Religions händel beschreibung / in massen / / sie sich / vom anfang her in der gantzen Christenheit zugetra= / / gen / ...München 1588, B. 212v; VD 16 Bd. 14, N 119 oder N 121 (N 119-121 drei Ausgaben von 1588). Erstdruck München 1583 unter dem Titel: Concordia // Alter vnnd newer / guter / / auch böser Glaubens strittiger lehren / vergliche= // ne beschreibung ...; VD 16 Bd. 14, N 118. 95 (Nas): ANANEOSIS, Bl. 212v und 115r (wie Anm. 94). " Ebd., Bl. 250r. 97 Ebd., Bl. 251v. 252v-253v. 256v. Zu den ökumenischen Kontaktbemühungen vgl. Wort und Mysterium. Der Briefwechsel über Glauben und Kirche 1573 bis 1581 zwischen Tübinger Theologen und dem Patriarchen von Konstantlopel (Hg. Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland), Witten 1958.

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Protestanten zu dieser ... eyllenden abforderung gepractiziert und beredt" worden.' 8 Der Begriff bezieht sich auf die reformatorischen Stände und ihre Theologen. Leider ist der Quellenwert nicht ganz sicher, denn es handelt sich bei dem Schreiben um die „Kopie einer Nachschrift zu einem nicht mehr vorhandenen Hauptbrief", zu deren Alter nichts angegeben wird." Gesichert ist die Uberlieferung eines Berichts der Räte König Ferdinands vom 3. Januar 1545, in dem sie u.a. mitteilen, daß der Kaiser noch nicht zum Reichstag in Worms erschienen sei und „die Protestanten" sich im Gegensatz zu den geistlichen „chur und fürsten" bereit zeigten, die auf dem Speyrer Reichstag 1544 beschlossene Türkenhilfe zu leisten.100 Der Bericht stammt von der Hand des Vizekanzlers Ferdinands, Dr. Georg Gienger, der in anderen Schriftstücken dieser Zeit den gängigen Begriff „die Protestierenden" bzw. „die protestierenden Stände verwendet.101 Gleichfalls enthält der eigenhändig gezeichnete Bericht der bayerischen Gesandten Dr. Georg Stockhamer und Dr. Sigmund Seid an die Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. vom Wormser Reichstag am 22. März 1545 neben der Bezeichnung „die protestierenden" auch „die Protestanten". Beide Begriffe beziehen sich auf die reformatorischen Stände.102 Bereits fünf Jahre früher, in den Quellen zum Hagenauer Religionsgespräch vom Juli 1540, ist der Begriff „Protestanten" nachweisbar. Vinzenz Pfnür hat 1980 eine „Kurtze Ausfuerung, warumb sich die protestierenden stende auf die Confession zu Augspurg im dreissigsten Jar der Rom. Kay. Mt. ubergeben, mit gueten gwissen nit zu zihen und zu vertrösten haben" des Wiener Bischofs Johann Fabri ediert. Gemäß seiner Strategie, die Divergenzen der „Lutheraner und Zwinglianer" herauszustellen, möchte Fabri aufzeigen, daß die Augsburgische Konfession keine zuverlässige Glaubensgrundlage bietet und zu allgemeiner Unsicherheit führt. Achtmal erwähnt er die „protestierenden stende" bzw. die „protestierenden" oder „die herren protestierenden", die ganz unter dem Einfluß ihrer Prediger stünden. Dreimal verwendet er die Alternativbezeichnung „die hern Protestanten". Leider ist dieses in Hagenau entstandene Gutachten Fabris nur in zwei Wiener Abschriften überliefert, für die keine Datierung angegeben wird.103 Kann der Quellenbeleg aus der Hinterlassenschaft Fabris auch nicht die erforderliche Zuverlässigkeit bieten, so wird doch durch die kürzlich abgeschlossene Publikation der Akten zum

" ARCEG Bd. 4, S. 312, 4f (wie Anm. 44). Zur Abberufung Heldings vgl. ebd., S. 31 lf. Anm. 77; Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 2, Freiburg 1957, S. 166f. und 479; zu Heiding vgl. Heribert Smolinsky, Michael Heiding (1506-1561), in: Katholische Theologen der Reformationszeit (Hg. Erwin Iserloh), H. 2, Münster 1985, S. 124-136 Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 45). " ARCEG Bd. 4, S. 311 (wie Anm. 44). 100 ARCEG Bd. 3, 456, 4 (wie Anm. 44). ,0 ' Vgl. ebd., S. 453,17 und 481, 12. 17 sowie 482,42. 102 Ebd., S. 460, 38 und 461, 3. Zum Wormser Reichstag 1545 vgl. Stefan Skalweit, Reich und Reformation, Berlin 1967, S. 324f.; Rabe, Reich und Glaubensspaltung, S. 258 (wie Anm. 28). 105 Vinzenz Pfnür, Die Einigung bei den Religionsgesprächen von Worms und Regensburg 1540/ 41 eine Täuschung?, in: Die Religionsgespräche der Reformationszeit (Hg. Gerhard Müller), Gütersloh 1980, S. 55-88, bes. 77-82 Beilage 1; dreimal „Protestanten" S. 80f., in der Handschrift B ein weiteres Mal, vgl. S. 80 Anm. 18; zur Überlieferung vgl. ebd., S. 59 Anm. 19 und 77 Anm. 1 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 191). Zum Hagenauer Gespräch vgl. Irene Dingel, Religionsgespräche IV. Altgläubig-protestantisch und innerprotestantisch, in: TRE Bd. 28, S. 654-681, bes. 658f.. Zu Fabri vgl. Herbert Immenkötter, Johann Fabri (1478-1541), in: TRE Bd. 10, S. 784-788; Literatur-Lexikon (Hg. Killy). Bd. 3, S. 318f. (Heinz Holeczek - wie Anm. 90).

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Hagenauer Religionsgespräch die Vermutung verstärkt, daß 1540 die Begriffsbildung „Protestanten" schon vorhanden war. 104

X Sleidanus berichtet, Papst Paul III. habe auf Karl V. Protestation gegen die Verlegung des Konzils von Trient nach B o l o g n a 1547 zu D i e g o H u t a r d o de M e n d o z a , dem kaiserlichen Gesandten in R o m , am 1. Februar 1548 gesagt: „Protestieren ist ein verdechtig ding / vnnd habens die furnemlich im brauch / welche gar von d e m gehorsam abgefallen / oder in dem schon angefangen zu wancken". 1 0 5 Mehr als ein apologetisches Argument im Konflikt mit dem Kaiser ist diese Äußerung nicht. Paul III. wußte ebenso gut wie andere, daß die Protestation als Rechtsvorbehalt längst z u m akzeptierten juristischdiplomatischen Instrumentarium auf Reichsebene gehörte und von allen Parteien in A n spruch genommen wurde. A m 24. A u g u s t 1544 hatte der Papst selbst mit einem Tafelbreve gegen den Reichstagsabschied von Speyer mit seinen K o m p r o m i ß z u s a g e n in der Frage der Kirchenreform protestiert. 1 0 ' V o n reformatorischer Seite w u r d e das Rechtsmittel der Protestation auf Reichsebene bereits auf dem dritten N ü r n b e r g e r Reichstag 1524 eingesetzt. D e r Gesandte des sächsischen Kurfürsten, Philipp von Feilitzsch, protestierte vorsorglich gegen den Beschluß in der Luthersache (Erneuerung des Wormser Edikts von 1521), desgleichen die Grafen Bernhard von Solms und G e o r g v o n Wertheim im N a m e n der Grafen und Herren sowie einige Städtevertreter. 107 K u r f ü r s t Friedrich übersandt dem Kaiser zusätzlich eine A b schrift der Protestation Kursachsens."" So bemerkenswert diese Inanspruchnahme der Rechtsverwahrung durch Vertreter verschiedener Stände war, hat sie vermutlich nicht zur Bildung des kollektiven Begriffs „Protestierende" geführt. Zumindest vermerken die

Vgl. Akten der deutschen Reichsreligionsgespräche im 16. Jahrhundert. Bd. 1. Das Hagenauer Religionsgespräch (1540). Teilbd. 1 u. 2 (Hgg. Klaus Ganzer und Karl-Heinz zur Mühlen i. A. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz). Göttingen 2000, S. 1232-1252 Nr. 411: Wiedergabe von Fabris „Kurtze(r) Ausfuerung", Handschrift A, nach der Edition von Pfnür. Fabri verwendet „protestantes" auch sonst im konfessionellen Verständnis, vgl. ebd. S. 1201-1215 Nr. 404 („Protestantes. Lutherani"; „Protestantes. Zwingliani"). „Protestanten" bzw. „protestantisch" in einem Gutachten von Cochläus und einer Denkschrift von Alessandro Farnese und Mercello Cervini sind der Übersetzung von Walch im 18. Jahrhundert zu verdanken, vgl. ebd., S. 1143-1156 Nr. 400 und S. 1235-1240 Nr. 412. Die übliche deutsche Form in den Akten von 1540 ist „Protestirende", vorwiegend in Quellen altkirchlicher Herkunft. In Münchner Akten (vor allem Protokollen) kommt auch die Variante „protesten" vor, vgl. ebd., Nr. 29. 49. 102f. 105f. 108-110. 120. 126f. 130f. 134-136, Nr. 111 hat nebeneinander „protestirten", „protesten", „protestirenden", Nr. 128 „protestirenden" und „protesten". Für Auskünfte zur Aktenedition habe ich K.-H. zur Mühlen zu danken. 105 (Sleidanus): Warhafftige Be / = //Schreibung, S. 565, Übersetzung Pantaleons (wie Anm. 70); SLEID A N I , // D E STATV // ..., Bl. 520r: „Nimirum protestandi genus illud est mali res exempli, et ab ijs potißimum usurpata, qui uel prorsus ab obedientia discesserunt, uel in ea coeperunt uacillare" (wie Anm. 8). Vgl. Concilii Tridentini Actorum. Partis Tertiae, Vol. I, S. 729, 23-25. Zu Mendoza vgl. Karl Brandi, Kaiser Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, 3. Aufl., München 1941, S. 459f. und 494^196. 106 Vgl. Erwin Iserloh, Josef Glazik, Hubert Jedin, Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation, 2. Aufl., Freiburg, Basel, Wien 1975, 485 (Handbuch der Kirchengeschichte 4). 107 DRTA.JR (wie Anm. 9), Bd. 4, (Bearb. Adolf Wrede), Gotha 1905, S. 570f. 577f. 587f. "* Carl Eduard Förstemann, Neues Urkundenbuch zur Geschichte der evangelischen KirchenReformation, Nachdruck Hildesheim, New York 1976, S. 221 f. Nr. 96: Colditz, 20. Oktober 1524; vgl. auch ebd. S. 191-195. 208. 211. 104

Ein geschichtlicher Grundbegriff aus dem 16. Jahrhundert

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publizierten Quellen nichts dergleichen. 1529 war die Lage eine andere. Die reformatorische Bewegung hatte sich weiter ausgebreitet und gefestigt. Die Reichstagsmehrheit beharrte auf ihr Vorhaben, den 1526 gemeinsam gefaßten Beschluß in der Glaubensfrage, gegen den erklärten Willen einer Minderheit zu kassieren. Nunmehr wurde das Rechtsmittel der Protestation nicht von Ständevertretern gesondert, sondern erstmals kurienübergreifend und als gemeinsame Aktion angewandt. Von einer „Notgemeinschaft der Protestation" zu sprechen, dürfte jedoch die tatsächlichen Verhandlungsabläufe in Speyer etwas zu stark dramatisieren.109 Wahrscheinlich ergab sich die Begriffsbildung „protestierende Stände" bzw. „Protestierende" in dieser Situation mehr oder weniger organisch, ohne daß sich der Vorgang im einzelnen beschreiben ließe. Noch im Jahr des Speyrer Reichstags sind im politisch-diplomatischen Schriftverkehr je nach Adressaten nebeneinander die lateinische Form „protestantes", die französische „protestan(t)s" und die deutsche „Protestierende" in Gebrauch gekommen, als Fremd- und als Selbstbezeichnung. Alle drei Begriffsvarianten sind auf die Aktion der reformatorischen Ständeminderheit in Speyer bezogen und bleiben vorerst an die Stände gebunden. Die Kontroverstheologen auf beiden Seiten scheinen längere Zeit den eingeführten inhaltlich aussagefähigeren Begriffen sowie den bald folgenden Möglichkeiten, sich begrifflich an der Augsburgischen Konfession oder am Schmalkaldischen Bund zu orientieren, den Vorzug gegeben zu haben. Als sich in dem von Pfeilschifter dokumentierten Schriftwechsel, den Instruktionen, Gutachten, und Protokollen von Vertretern der römischen Kirche und der ihr verbundenen Obrigkeiten, die lateinische Bezeichnung „protestantes" und seine deutsche Ubersetzung „Protestierende" seit den vierziger Jahren häuften, traten weitere Varianten hinzu. Am 15. August 1542 berichtet der Passauer Kammerprokurator und Gesandte für den Nürnberger Reichstag von 1542, Licentiat Erhard Hueber, seinem Bischof, daß „die protestirunden" die Versammlung verlassen hätten, nachdem der apostolische Nuntius zum Konzil und seinem Beginn in Trient Vortrag gehalten hatte.'10 Huebers mischsprachliches Schreiben erinnert daran, daß um diese Zeit sowohl Schreibweise, als auch das Begriffsverständnis noch variabel waren. Nicht einmal die Gesetzesauffassungen waren generell festgelegt.111 In diesem Zusammenhang ist vermutlich auch die vom lateinischen Terminus „protestantes" abgeleitete Fremdwortbildung „Protestanten" zu verstehen, entweder direkt als Variante neben „Protestierende" (bei Fabri 1540 und bei den bayerischen Gesandten Stockhamer und Seid) oder allein (bei Gienger und Heiding 1545). Die Lockerung der Begriffsbindung an die Protestation von Speyer 1529 und die Akzentverschiebung vom juristisch-politischen zum konfessionellen Verständnis kündigte sich bei den Religionsgesprächen der vierziger Jahre an. In Calvins französischer Adaption für Genf erhielt diese Veränderung deutlichere Konturen. Als der altgläubige Kontroverstheologe Nas die Varianten „Protestierende, Protestiereten, Protestirer, Protestanten" dem Arsenal seiner polemischen Begriffe seit Ende der sechziger Jahre einverleibte, wurde diese Veränderung auch im Deutschen deutlicher wahrnehmbar. Ohne erkennbare inhaltliche Zuordnung erscheint bei seinem ungleich bedeutenderen literarischen Gegner Johann Fischart in dessen „Geschichtsklitterung" von 1575 unter den

"" Die fränkischen Bekenntnisse. Eine Vorstufe der Augsburgischen Konfession (Hg. Landeskirchenrat der ev.-luth. Kirche in Bayern, Bearb. Wilhelm Schmidt und Karl Schornbaum), München 1930, S. 135. A R C E G Bd. 4, S. 4 4 7 , 1 7 (wie Anm. 44). Zur Variante „protesten" vgl. Anm. 104 " ' Vgl. Bernhard Diestelkamp, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitioneller Zeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 385-420.

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Siegfried Bräuer

Sprachspielen auch die Form „Protestatz"." 2 Hebeysens Helden-Gedicht belegt, daß der parallele Gebrauch von „Protestierende" und „Protestanten" längst auch für lutherische Autoren selbstverständlich geworden ist.

XI Bekannte Spuren zu den Anfängen der Begriffsbildungen „Protestierende" und „Protestanten" sollten in der vorstehenden Untersuchung überprüft, korrigiert und ergänzt werden. Einige der gängigen Auffassungen haben sich als Fehlfährten erwiesen. Andere konnten bestätigt oder ergänzt werden. Neue Spuren sind mit den Belegen für den Begriff „Protestanten" in deutschen Quellen des 16. Jahrhunderts hinzugekommen. Eine klare begriffsgeschichtliche Entwicklungslinie hat sich nicht ergeben. Erwartungen dieser Art entsprechen ohnehin kaum der historischen Realität. Außerdem dokumentiert das publizierte Quellenmaterial nur Ausschnitte der Lebenswelten des 16. Jahrhunderts, vor allem reichs- und kirchengeschichtliche Vorgänge. Eine Erweiterung der Quellenbasis ist unerläßlich. Dabei müßten Werke der Kontroverstheologen in deutscher Sprache wie die polemische Literatur insgesamt stärker beachtet werden. Eine neue begriffsgeschichtliche Untersuchung hätte außerdem die anwachsende Publikation von Wörterbüchern im 16. Jahrhundert zu berücksichtigen. Es ist u.a. zu klären, ob der Tatbestand, daß die lateinisch-deutschen Wörterbücher von Petrus Dasypodius (Hasenfratz) und Johannes Frisius (Fries) das Wortfeld „protestatio" auslassen, nur auf die Orientierung an antiken Autoren zurückzuführen ist." 3 Das Straßburger „Lexikon Trilingue" von 1587 verzeichnet zwar die Stichwörter „Protestatio / Protestor", ohne jedoch auf die begriffsgeschichtliche Situation des 16. Jahrhunderts einzugehen." 4 Wenn auch Ergänzungen und Differenzierungen zu den begriffsgeschichtlichen Anfängen von „Protestierende und Protestanten" zu erwarten sind, gesichert ist jetzt, daß die Begriffe schon im zeitlichen Bereich der Protestation von Speyer bzw.. im Jahrzehnt danach in der deutschsprachlichen schriftlichen Uberlieferung vorhanden waren. Höchstwahrscheinlich hat die Fremdwortbildung „Protestanten"aus dem Lateinischen die Ubersetzung „Protestierende" aus „protestantes" ergänzt. Es wäre eine Aufgabe für Philologen, vergleichbare Vorgänge in der Sprachentwicklung dieser Zeit zu untersuchen. Zu bedenken ist dabei auch, welche Rolle die Schriftlichkeit der Kanzleiebene bei der Herausbildung von „Protestanten" zunächst gespielt hat. Historiker könnten ebenfalls weitere Beiträge zur Aufhellung der Begriffsgeschichte leisten, wenn sie bei ihrer 112

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1,4

Johann Fischart, Geschichtsklitterung (Gargantua). Synoptischer Abdruck der Fassungen von 1575, 1582 und 1590. N e u hrsg. von Hildegard Schnabel, Bd. 1, Halle 1969, S. 182: „Prustlatz für Protestatz" (Neudrucke deutscher Literaturwerke 65-69); Literatur-Lexikon (Hg. Killy), Bd. 3, S. 384-387 HansJürgen Bachorski - wie Anm. 90). Zu Nas/Fischart vgl. Harry Oelke: Konfessionelle Bildpropaganda des späten 16. Jahrhunderts. Die Nas-Fischart-Kontroverse 1568/71, in: A R G 87 (1996), S. 149-200. (Petrus Dasypodius): D I C T I O N A R V M // L A T I N O G E R M A N I C V M . E T V I C E V E R = / / sa Germanicolatinum ex optimis / / Latinae linguae scriptoribus / / concinnatum / / ... Straßburg 1537; V D 16 Bd. 5, D 243 und 246; Dass., Straßburg 1554; V D 16 Bd. 5, D 252 (D 243-256: 14 Drucke von 15351599). Zu Dasypodius vgl. Literatur-Lexikon (Hg. Killy), Bd. 2, S. 521 (Gilbert de Smet - wie Anm. 90). - (Johannes Frisius): D I C T I O N A R I V M // Latinogermanicum, Joanne Fri= // sio Tigurino interprete. / / . . . Zürich 1556; V D 16 Bd. 7, F 3004. Zu Frisius vgl. Literatur-Lexikon (Hg. Killy), Bd. 4, S. 41 (Gilbert de Smet wie Anm. 90). L E X I C O N / / T R I L I N G V E / / E X T H E S A V R O R O B E R T I // S T E P H A N I , E T D I C T I O N A R I O J O A N N I S FRISII SVM- / / ma fide ac diligentia collectum ... Straßburg 1587, Bl. Q Q q 5r; V D 16 Bd. 11, L 1412 (Ausgabe von 1590).

Ein geschichtlicher Grundbegriff aus dem 16. Jahrhundert

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Analyse der Situation, stärker auf begriffsgeschichtliche Schübe achten. Die neueren Arbeiten zu den Religionsgesprächen von 1540/41 haben diesen Aspekt noch nicht berücksichtigt." 5 Zu bedenken ist schließlich der Zusammenhang zwischen der Begriffsentwicklung und dem Prozeß der Konfessionalisierung. In einem neuen Lexikon geschichtlicher Grundbegriffe könnte „Protestanten" mit seinem dazugehörigen Begriffsfeld durchaus einen Platz beanspruchen." 6

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Vgl. z.B. Thomas Fuchs, Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit, Köln, Weimar, Wien 1995 (Norm und Struktur 4). ' " Vgl. die von Reinhard Koselleck genannten Kriterien, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Hgg. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhard Koselleck), Bd. 1, Stuttgart 1972, S. Xlllf.

MANFRED RUDERSDORF, LEIPZIG

Die Reformation und ihre Gewinner Konfessionalisierung, Reich und Fürstenstaat im 16. Jahrhundert' N i c h t j e d e E p o c h e d e r n e u z e i t l i c h e n G e s c h i c h t e ist s o e i n s c h n e i d e n d v o n d e r i n d i v i d u e l len G e s t a l t u n g s k r a f t u n d d e m p o l i t i s c h e n W i l l e n e i n z e l n e r P e r s ö n l i c h k e i t e n

bestimmt

w o r d e n , w i e dies i m R e f o r m a t i o n s j a h r h u n d e r t in D e u t s c h l a n d d e r F a l l w a r . E s w a r dies g a n z o h n e Z w e i f e l ein „ l a n g e s " S ä k u l u m , das in b e s o n d e r e r W e i s e erfüllt w a r v o n d e m S i g n u m s t r u k t u r e l l e r u n d n o r m a t i v e r W e i c h e n s t e l l u n g e n , v o n einer

langandauernden

f u n d a m e n t a l e n W i r k k r a f t , die f ü r die K o n s t i t u i e r u n g des n e u z e i t l i c h e n D e n k e n s H a n d e l n s politisch, konfessionell u n d kulturell, aber a u c h mentalitäts- u n d

und

geistesge-

schichtlich v o n g r o ß e r B e d e u t u n g w a r . S o hat das Zeitalter d e r R e f o r m a t i o n u n d d e r K o n fessionalisierung unstrittig eine R e i h e profilierter F ü h r u n g s g e s t a l t e n h e r v o r g e b r a c h t , die als Strukturbegründer

o d e r als Strukturerneuerer

p r ä g e n d e n E i n f l u ß 'auf die N e u g e s t a l -

t u n g v o n Staat, K i r c h e u n d f r ü h n e u z e i t l i c h e r S t ä n d e g e s e l l s c h a f t a u s g e ü b t h a b e n . e p o c h a l e G e s t a l t w e r d u n g des k o n f e s s i o n e l l e n d e u t s c h e n L a n d e s f ü r s t e n t u m s

Die

zwischen

k i r c h l i c h e r B e k e n n t n i s t r e u e u n d f r ü h m o d e r n e r S t a a t s b i l d u n g w a r das E r g e b n i s

eines

P r o z e s s e s , d e r n i c h t n u r das g e s a m t e R e f o r m a t i o n s j a h r h u n d e r t u m f a ß t e , s o n d e r n in sein e r K o n s e q u e n z f ü r die E r n e u e r u n g u n d die V e r f e s t i g u n g d e r T e r r i t o r i a l v e r f a s s u n g des Alten Reiches weit darüber hinauswies. D e r ständisch verfaßte Fürstenstaat w u r d e im Z e i c h e n v o n R e f o r m a t i o n u n d k o n f e s s i o n e l l e m D u a l i s m u s auf diese W e i s e z u einer d o m i n i e r e n d e n p o l i t i s c h e n K r a f t , z u e i n e m W e g b e r e i t e r u n d e r f o l g r e i c h e n G e s t a l t e r des f r ü h m o d e r n e n Staates in D e u t s c h l a n d . 1

Es handelt sich hier um eine überarbeitete, teils gekürzte, in manchen Punkten ergänzte Neufassung meines Beitrages: Die Generation der lutherischen Landesväter im Reich. Bausteine zu einer Typologie des deutschen Reformationsfürsten, in: A. Schindling/W. Ziegler, Hg., Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, Bd. 7: Bilanz Forschungsperspektiven - Register, 1997, S. 137-170. - Für die Druckerlaubnis der Neufassung danke ich an dieser Stelle den beiden oben genannten Herausgebern der insgesamt sieben Territorien-Bände, die zwischen 1989 und 1997 im Aschendorff Verlag in Münster erschienen sind. - Dank für die Korrekturarbeiten gebührt an dieser Stelle Frau Katja Wöhner und Herrn Sebastian Kusche (beide Universität Leipzig). Zur Diskussion über die Antriebskräfte und Strukturfaktoren bei der Herausbildung der frühmodernen Staatlichkeit vgl. E. W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92-114; W. Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt, in: Der Staat 31 (1992), S. 59-75; Ders., Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; M. Stolleis, „Konfessionalisierung" oder „Säkularisierung" bei der Entstehung des frühmodernen Staates, in: Ius Commune 20 (1993), S. 1-23; Ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, 1990; V. Press, Kommunalismus oder Territorialismus? Bemerkungen zur Ausbildung des frühmodernen Staates in Mitteleuropa, in: H. Timmermann, Hg., Die Bildung des frühmodernen Staates - Stände und Konfessionen, 1989, S. 109-135; H. Schilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: B. Giesen, Hg., Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, 2. Aufl. 1991, S. 192-252; G. Schmidt, Deutschland am Beginn der Neuzeit: Reichs-Staat und Kulturnation? in: Ch. Roll, Hg., Recht und Reich im Zeitalter der Reformation, Festschrift für H. Rabe, 1996, S. 1 - 3 0 , sowie neuerdings mit einer pointierten Neuinterpretation Ders., Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, 1999, hier S. 99-131.

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Manfred Rudersdorf

Die deutsche Reformation - nur ein „urban event" ? Dabei hatte sich schon frühzeitig erwiesen, daß gerade die Fürstenobrigkeit, das Fürstenengagement und die landesherrliche Initiative für den Durchbruch der Reformation konstitutiv waren. So waren es denn auch vielerorts die Fürsten selbst, die das Ringen um kirchliche Erneuerung und religiöse Identität, um staatliche Konsolidierung und einheitliche Administration mit eigenen kräftigen Akzenten versahen und immer wieder von neuem beeinflußten und beförderten. Die enge, seit den Anfängen der Reformation sich deutlich herausbildende „Allianz zwischen Fürstentum und Konfessionskirche" (H. Schilling) war zugleich Ausdruck einer manifesten starken Position des Landesherrn in seinem Territorium, aber auch Bekräftigung des sich allmählich erneuernden Systems der Reichsverfassung im territorialisierten Gefüge des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. 2 Ohne den entschiedenen Willen und den Reformimpuls der reformationsgeneigten Fürsten hätte die Verkündigung der neuen Lehre, hätte der organisatorische und der personelle,Aufbau der neuen Landeskirchen kaum diese Breitenwirkung und Ausstrahlung erreicht, wäre eine dauerhafte, quantitativ und qualitativ raumgreifende konfessionelle Verwurzelung in den Köpfen der Menschen nicht möglich gewesen, wie sie letztlich nur ein Flächenstaat mit seinem Steuerungspotential der herrschaftlichen Durchdringung und Vereinheitlichung bieten und gewährleisten konnte.3 Dies schmälert freilich keineswegs den Rang, den die zeitweise beachtliche Schrittmacherfunktion der vielen großen und kleinen Stadtreformationen im Reich eingenommen hat, deren Erforschung zu Recht noch immer einen bemerkenswert breiten Raum im nationalen und internationalen Diskussionszusammenhang behauptet. Neben die traditionelle politik- und verfassungsgeschichtliche Sichtweise ist auf diese Weise pointiert die sozial- und gesellschaftsgeschichtliche sowie die theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Dimension des Reformations- und Konfessionalisierungsgeschehens in das Blickfeld des Interesses gerückt worden.4 Mit anderen Worten: Neben die (phasenweise in den Hintergrund gedrängte und zu Unrecht als einseitig herrschaftszentriert verpönte)

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Schilling, Nationale Identität und Konfession (wie Anm. 1), S. 235-237; H. Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495-1806, 1991, S. 107-132; D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands, 2. Aufl. 1992, S. 92-144. Dazu: M. Rudersdorf, Lutherische Erneuerung oder Zweite Reformation? Die Beispiele Württemberg und Hessen, in: H. Schilling, Hg., Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland - Das Problem der „Zweiten Reformation", 1986, S. 130-153; V. Press, Die Territorialstruktur des Reiches und die Reformation, in: R. Postel/F. Kopitzsch, Hg., Reformation und Revolution, Festschrift für R. Wohlfeil, 1989, S. 239-268. - Kontroverse Positionen zur Rolle des „frühmodernen Staates" markieren H. Schilling, Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen" ? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 675-691; H. R. Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 639-682. Zuletzt: B. Hamm, „Bürgertum und Glaube". Konturen der städtischen Reformation, 1996; H. Molitor/H. Smolinsky, Hg., Volksfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit, 1994; H. R. Guggisberg/G. G . Krodel, Hg., Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten, 1993; H. Smolinsky, Stadt und Reformation. Neue Aspekte der reformationsgeschichtlichen Forschung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 92 (1983), S. 32-44; G. Müller, Reformation und Stadt. Zur Rezeption der evangelischen Verkündigung, 1981. - Ferner wichtig: G. Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung. Eine Untersuchung zur korporativen Politik der Freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, 1984, bes. S. 476-525; H. R. Schmidt, Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521-1529/30, 1986.

Konfessionalisierung, Reich und Fürstenstaat

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klassische territoriale Fürstenreformation, etwa Kursachsens, Hessens, Anhalts oder Württembergs, trat das namentlich von Bernd Moeller profilierte und mit großem empirischen Erfolg angewandte Interpretationskonzept von „Reichsstadt und Reformation", 5 schließlich das von Peter Blickle entworfene Modell einer auf die schweizerisch-oberdeutschen Verhältnisse bezogenen bäuerlichen „Gemeindereformation", 6 in der die kommunalen Antriebskräfte und die lokalen lebensweltlichen Traditionen auf dem Land in dem säkularen Transformationsprozeß am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit besonders herausgearbeitet werden. Der auf diese Weise eingelöste Anspruch auf Methodenvielfalt einerseits sowie auf komparatistische Typologisierung andererseits hat die reformationsgeschichtliche Forschung in dem Spannungsfeld von Fürstenreformation, Stadtreformation und Gemeindereformation bis zuletzt produktiv befruchtet, hat sie für interdisziplinäre Fragestellungen, beispielsweise im Bereich der religiösen Volkskunde und der Mentalitätsgeschichte geöffnet, freilich aber nicht vor mancherlei Einseitigkeiten bei der Gewichtung und bei der Verallgemeinerung nur lokal oder regional bedeutsamer empirischer Einsichten bewahrt.7 So wirkungsvoll bürgerliche Stadtreformation und bäuerliche Gemeindereformation mit ihrer zumeist eher begrenzten Ausstrahlung im lokalen oder regionalen Raum durchaus waren, so hieße es aber doch, die Bedeutung der Fürstenreformation für die Glaubensentscheidung im Reich in unangemessener Weise zu relativieren, würde man die deutsche Reformation im Sinne des vielzitierten Schlagwortes von A. G. Dickens allzu einseitig nur auf ein „urban event" reduzieren.8 Im Gegenteil, die deutsche Reformation war zumindest genauso wirkungskräftig, wenn nicht gar in einem höheren Maße norm- und strukturbildend auch ein genuin territoriales Ereignis, eine Angelegenheit der großen und der kleinen Landesfürstentümer im Alten Reich, deren Obrigkeiten es in der Hand hatten, die Weichen in die eine oder in die andere Richtung zu stellen und damit das konfessionelle Schicksal der Menschen in ihrem Land zu entscheiden. Das politische Kräftespiel, das das Uberleben der neuen Konfession auf Dauer sicherstellte und gewährleistete, war ohne Zweifel angesiedelt auf der Ebene des frühneuzeitlichen deutschen Territorialstaates: Er war es, der letztlich den Gang der deutschen Reformation, ihre Durchsetzung und Verbreitung, aber auch ihre Grenzen und ihre Niederlagen in dem partikularen Gefüge des ständisch strukturierten Reiches vorbereitete und verantwortete, der sie mit sei-

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B. Moeller, Reichsstadt und Reformation, bearbeitete Neuausgabe 1987, bes. das Nachwort S. 69-97; K. v. Greyerz, Stadt und Reformation: Stand und Aufgaben der Forschung, in: Archiv für Reformationsgeschichte 76 (1985), S. 6-63. ' P. Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, 1987; Ders. Die Reformation im Reich, 2. Aufl. 1992; Th. A. Brady, Turning Swiss. Cities and Empire 14501550, 1985. - Vgl. dazu die Kritik: W. Ziegler, Reformation als Gemeindereformation?, in: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), S. 441-452; R. Schlögl, Probleme der Gemeindereformation, in: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), S. 345-349. 7 Vgl. zur aktuellen Diskussion: P. Blickle, Neuorientierung der Reformationsforschung? in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 481-491; B. Hamm u.a., Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, 1995; Th. Kaufmann, Frühneuzeitliche Religion und evangelische Geistlichkeit (zugleich Rezension zu L. Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit, 1996), in: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), S. 381-391. - Ferner noch immer wichtig: H. A. Oberman, Stadtreformation und Fürstenreformation, in: L. W. Spitz, Hg., Humanismus und Reformation als kulturelle Kräfte in der deutschen Geschichte, 1981, S. 80-103. ' A. G. Dickens, The German Reformation and Martin Luther, 1974.

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nen Mitteln und seinen Möglichkeiten nach außen wie nach innen zu verteidigen und zu behaupten suchte.9

Zur Rolle der Fürstenobrigkeit Nimmt man dabei nun das strukturelle Bedingungsgefüge der territorialen Reformationsabläufe, ihre Vorgeschichte und ihre neuzeitliche Wirkungsgeschichte in den Blick, so kommt man kaum an der Feststellung vorbei, daß vor allem der Figur des fürstlichen Landesherrn als lenkende und ordnende Obrigkeit in der zentralen Glaubensfrage mit ihrem weichenstellenden Charakter ein entscheidendes Gewicht zufiel. Nicht nur die Institutionalisierung der neuen evangelischen Landeskirchen, sondern gerade auch die Präformierung der unterschiedlichen kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Traditionen, die sich innerhalb der deutschen Gesellschaft in der Frühneuzeit entlang den Konfessionsgrenzen herauszubilden begannen, ließe sich ohne den dominierenden Anteil des Fürsten, ohne seine höfischen und bürokratischen Steuerungsinstrumente nicht angemessen erklären.10 Gegen den persönlichen Willen des Landesherrn war auf Dauer weder politisch noch konfessionell eine Alternative zu begründen, geschweige denn erfolgreich eine gegenläufige Option durchzusetzen. Die „Einheit und Geschlossenheit fürstlichen Handelns" (V. Press), die sich komplementär zum Vollzug des Konfessionalisierungsprozesses immer stärker herausgebildet hatte, vermochte im Innern der Territorien lange Zeit nahezu jede Gefahr ständischen Protests oder gar ständischer Opposition aufzufangen und im Sinne eines friedlichen Interessenausgleichs zwischen Herrschaft und Land pragmatisch zu kanalisieren. Nirgendwo haben die Landstände mit Aussicht auf Erfolg und vor allem auf Dauerhaftigkeit in der Konfessionsfrage wirklich autonom handeln und entscheiden können - diese war vielmehr schon sehr frühzeitig seit den Anfängen der Reformation ein besonderes Privileg der Fürstenobrigkeit, ein überaus wichtiges und vornehmes dazu, da die Monopolisierung des Kirchenregiments in der Hand des Landesherrn zweifellos auch dem staatlichen Konzentrations- und Integrationsprozeß zugute kam und somit strukturell den etatistischen Grundzug der Fürstenreformation im Reich verstärkte." Auch der dramatische Konflikt mit dem opponierenden evangelischen Adel in Bayern endete 1563 mit der Niederlage der Aufständischen und dem Sieg der

' D a z u pointiert: Press, Territorialstruktur des Reiches (wie Anm. 3), S. 239-268; M. Rudersdorf, Patriarchalisches Fürstenregiment und Reichsfriede. Zur Rolle des neuen lutherischen Regententyps im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: H . D u c h h a r d t / M . Schnettger, Hg., Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum, 1999, S. 309-327. - Zu den spätmittelalterlichen Voraussetzungen komprimiert: E . Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, 1996. 10 Generelle vergleichende A s p e k t e bei H . R. Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert, 1992; H . Schilling, A u f b r u c h und Krise. Deutschland 1517-1648, 1988, bes. S. 194-214. - N a c h w e i s am Beispiel des geteilten H e s s e n nach 1567: M. Rudersdorf, Hessen, in: A. Schindling/W. Ziegler, H g . , Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. L a n d und K o n f e s s i o n 15001650, Bd. 4 , 1 9 9 2 , S. 254-288, hier S. 261-270. " Zur Integration der Stände in den frühneuzeitlichen Fürstenstaat vgl. V. Press, Formen des Ständewesens in den deutschen Territorialstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts, in: P. Baumgart, Hg., Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preussen, 1983, S. 280-318. - Siehe auch die abgewogen-kritische und weiterführende Debatte bei O . Mörke, Die politische Bedeutung des Konfessionellen im Deutschen Reich und in der Republik der Vereinigten Niederlande. O d e r : War die Konfessionalisierung ein „Fundamentalvorgang"? in: R. G . A s c h / H . Duchhardt, H g . , Der Absolutismus - ein M y t h o s ? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa, 1996, S. 125-164.

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Landesherrschaft, deren konsequente Katholisierungspolitik nun erst richtig an Dynamik sowie an Integrations- und Identifikationsdichte gewann.12 Eine solcherart herausgehobene, auch politisch profilierte Position des fürstlichen Landesherrn im territorialen Reformations- und Konfessionalisierungsgeschehen legt methodisch nahezu zwangsläufig eine eher herrschaftszentrierte, personenbezogene Sicht- und Deutungsweise nahe. Mit der Rolle des Fürsten als dem eigentlich wichtigsten Gravitationszentrum auf der Ebene von Hof, Regierung und Dynastie soll hier ganz bewußt die mehr personale Komponente im Zeichen des politischen und des kirchlichen Wandels betont werden, nicht aber einer undifferenzierten, enggeführten Personalisierung der Geschichte, einer überzogenen und einseitigen historischen Individualisierung gar das Wort geredet werden. Vielmehr geht es um eine problemorientierte, in manchem notwendig zugespitzte Diskussion des klassischen Verhältnisses von „Persönlichkeit und Struktur" in der Geschichte, es geht um die Macht- und Kompetenzverdichtung, auch um die Gestaltungsfreiheit der einzelnen Herrschergestalt einerseits sowie um die allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen andererseits, die den Umfang und die Grenzen von strukturell bedingten Handlungsspielräumen aufzeigen und markieren." Gelingt es dabei, die personengeschichtlichen und die strukturgeschichtlichen Einsichten und Ergebnisse unter systematischen Fragestellungen sinnvoll miteinander zu verbinden, so vermag die vergleichende Erforschung der deutschen Reformations- und Konfessionalisierungsgeschichte mit ihrer notwendigen territorialen und regionalen Binnendifferenzierung davon deutlich zu profitieren und neue Perspektiven in eine alte und doch immer wieder neu belebte, weiterführende Diskussion einzubringen.14 Für ein solches Konzept korrelierender methodischer Zugangsweisen und unterschiedlicher historischer Perspektiven läßt sich zweifellos exemplarisch das generative typologische Verhalten einer bestimmten Gruppe überaus erfolgreicher deutscher Territorialherren heranziehen, die als patriarchalische Landesväter in der Mitte des Jahrhunderts geradezu eine notwendige Scharnierfunktion in dem fließenden Ubergang zwischen Reformation und Konfessionalisierung ausgeübt haben.

" A. Kraus, Geschichte Bayerns, 2. Aufl. 1988, S. 211-221. 13 Vgl. hierzu den wegweisenden Aufsatz von Th. Schieder, Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, in: Ders., Geschichte als Wissenschaft, 1965, S. 149-186; ebenso: M. Bosch, Hg., Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte, 1977; G. Klingenstein u.a., Hg., Biographie und Geschichtswissenschaft, 1979; A. Gestrich u.a., Hg., Biographie - sozialgeschichtlich, 1988; M. Harscheidt, Biographieforschung: Werden und Wandel einer komplexen Methode, in: Historical Social Research 14/4 (1989), S. 99-142. - Zuletzt sehr instruktiv und weiterführend: W. E. J. Weber, Dynastiesicherung und Staatsbildung. Die Entfaltung des frühmodernen Fürstenstaats, in: Ders., Hg., Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, 1998, S. 91-136. " Dies entspricht dem Konzept der hier bilanzierten Territorienhefte in der KLK-Reihe, Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, hg. von A. Schindling und Walter Ziegler, Bde. 1-7,1989-1997. - Siehe ebenso die vergleichenden Beiträge von: H. J. Cohn, The Territorial Princes in Germany's Second Reformation, 1559-1622, in: M. Prestwich, Ed., International Calvinism 1541-1715, 1985, S. 135-165; M. Schaab, Hg., Territorialstaat und Calvinismus, 1993; H. Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 1-45; H . R. Schmidt, Konfessionalisierung (wie Anm. 10), S. 5-54.

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Die neuen Fürsten: N u r Epigonen oder doch kluge Baumeister? Kaum einer der wichtigen Fürsten des 16. Jahrhunderts ist in der wissenschaftlichen Literatur wirklich vergessen worden, und dennoch gibt es in der Historiographie beträchtliche Lücken und methodische Disparitäten, die eine moderne synoptische Analyse über die Einzelperson des Fürsten hinaus, im Hinblick etwa auf die konkurrierenden territorialen Konfessionalisierungsprozesse im Reich, deutlich erschweren. Dabei mangelt es der neueren reformations- und konfessionalisierungsgeschichtlichen Forschung in Deutschland keineswegs an profilierten und problemorientierten personenbezogenen Darstellungen: Im Gegenteil, sie ist reich an illustrierten Lebensbildern, an Musterviten und großen Individualbiographien ihrer führenden Hauptakteure, auch an vielen kleinen Portraits der nachgeordneten mindermächtigen Figuren aus der zweiten Reihe, dagegen aber noch immer defizitär an vergleichenden sozialgeschichtlichen Strukturanalysen der kollektiven ständischen Führungs- und Trägergruppen, der adeligen ebenso wie der bürgerlichen und der bäuerlichen, die in den Territorien des Reiches auf unterschiedliche Weise und von unterschiedlichen Positionen her das Reformationsgeschehen beeinflußten und mitprägten.'5 Nicht ohne Grund hat Bernd Moeller 1977 in seiner vielzitierten Reformationsgeschichte Deutschlands pointiert hervorgehoben, daß mit dem auffälligen Generationenwechsel in der Mitte des Jahrhunderts das Zeitalter „großer Männer", das Zeitalter der Theologen, der einflußreichen Politiker und Staatsmänner, als das sich die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts in Deutschland darstellte, zu Ende gegangen sei." Gemeint sind in diesem Zusammenhang vor allem Martin Luther, Philipp Melanchthon und Martin Bucer, Kaiser Karl V., Ferdinand von Österreich, Moritz von Sachsen und Philipp von Hessen, aber auch ein so prominenter Mann der Wirtschaft und des Handels wie der finanzstarke Unternehmer und Mäzen Anton Fugger in Augsburg. Ihre Ausnahmestellung war schon unter den Zeitgenossen weitgehend unstrittig: Freilich war dies auch eine Zeit des rasanten gesellschaftlichen Umbruchs und des ungewissen sozialen Wandels, der nicht nur als Bedrohung und Herausforderung, sondern auch als Chance der Entfaltung und des persönlichen Aufstiegs, als grundsätzliche Neuorientierung oder als Instrument der Statusverbesserung empfunden wurde. Der Glanz, der von den großen Weichenstellern der Reformationszeit ausging, warf zweifellos einen langen übermächtigen Schatten auf das Profil der nachrückenden politischen Führungsgeneration, die zwar prinzipiell in der Kontinuität zu ihren „Vätern" stand, aber dennoch ihre öffentliche Existenz in einem System veränderter Spielregeln und Normen neu einrichten und neu legitimieren mußte." Insofern ist die zweite, weitaus interessantere Schlußfolgerung

Vgl. den instruktiven Überblick bei V. Press, Adel, Reich und Reformation, in: W. J. Mommsen, Hg., Stadtbürgertum und Adel in der Reformation, 1979, S. 330-383; Ders., Stadt und territoriale Konfessionsbildung, in: F. Petri, Hg., Kirche und gesellschaftlicher Wandel in deutschen und niederländischen Städten der werdenden Neuzeit, 1980, S. 251-296; Ders., Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715, 1991, bes. S. 51-80; Schilling, Aufbruch und Krise (wie Anm. 10), S. 313-370. " So zutreffend B. Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation, 1977, S. 172 (inzwischen mehrere Auflagen!). " Hierfür ist der Vergleich der Regierungssysteme im geteilten Hessen nach dem Tod Philipps des Großmütigen aufschlußreich: M. Rudersdorf, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg 1537-1604. Landesteilung und Luthertum in Hessen, 1991, bes. S. 129-249. - Ein weiteres profiliertes Beispiel aus dem Südwesten des Reiches: H.-M. Maurer, Herzog Christoph (1550-1568), in: R. Uhland, Hg., 900 Jahre Haus Württemberg, 3. Aufl. 1985, S. 136-162. ls

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Moeliers im folgenden nun näher in den Blick zu nehmen und zu prüfen, die These nämlich, daß auf die Ära der tatkräftigen Gründer und Reformer die wenig rühmliche, ja vielgescholtene Herrschaft der sogenannten Epigonen folgte, die Zeit jener bläßlichen Fürstengeneration also, die Deutschland schon bald in einen Zustand des Stillstands und der Stagnation, ja der „Provinzialität" zurücksinken ließ - geprägt von introvertierter Streitsucht und politischer Apathie der handelnden Akteure, von Theologengezänk und konfessionellem Antagonismus, und zwar nicht nur von den Kanzeln und Kathedern herab, sondern unverdrossen auch auf der Ebene der Regierungen und der mächtigen Fürstenkanzleien im Reich. 18 Fragt man nach der Leistungsbilanz, nach dem Positionsgewinn, vor allem aber nach dem Erscheinungsbild des neuen evangelischen Fürstenstandes im Reich der Reformation insgesamt, so stellt sich in der Tat sehr rasch das Problem, differenziert mit einem tradierten, mit einem fast schon eingespielten Muster relativ pauschaler Zuordnung und Typenbildung umgehen zu müssen. Auf der einen Seite stehen da die älteren „Gestalter" der unmittelbaren Erlebnis- und Bekenntnisgeneration aus der Anfangszeit der Reformation (Kursachsen, Hessen, Anhalt, Braunschweig-Lüneburg, Brandenburg-Ansbach, danach Württemberg); dazwischen die Gruppe der zwar prinzipiell reformationsgeneigten, aber noch unentschlossenen und vorsichtig zwischen den eigenen Territorial- und den Reichsinteressen lavierenden Standesvertreter (so etwa Kurbrandenburg und die Kurpfalz); auf der anderen Seite schließlich die steigende Zahl der bereits bessergestellten saturierten „Verwalter" der heranwachsenden patriarchalischen Landesvätergeneration, die dabei war, Schritt für Schritt die Verwerfungen und die Brüche der Reformationszeit zu überwinden und nach einem neuen gefestigteren Rollenverständnis in Staat und Gesellschaft, aber auch im ständischen Gefüge des Territorial- und des Reichsverbandes zu suchen." J e tiefgreifender und je schneller dabei der Formierungsprozeß der Reformation und der Konfessionalisierung in den Territorien vorangeschritten war, um so mehr überlagerten und verschränkten sich alsbald die Elemente der Bewahrung und der Kontinuität, die zum Teil in ganz unterschiedlicher Weise auf das Fürstenengagement einwirkten und das Regentenprofil der Zeit bestimmten. Abgesehen nämlich von den üblichen - eher familiären - Manifestationen dynastischer Standessolidarität unter den großen Fürstenhöfen im Reich, ließ gerade das politische Profil der Reformationsfürsten zunächst nur

" Vgl. Moeller, Zeitalter der Reformation (wie Anm. 16), S. 172-184; W . Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, 1987, S. 2 5 3 - 2 6 4 ; H . Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, 1989, S. 3 0 4 - 3 4 9 ; H. Klueting, Das konfessionelle Zeitalter 1525-1648, 1989, S. 300-321. " Eine Fülle weiterführender, überzeugender Argumente zur Typologisierung der deutschen Reichsfürsten im 16. und 17. Jahrhundert findet sich bei E. Wolgast, Formen landesfürstlicher Reformation in Deutschland. Kursachsen - Württemberg/Brandenburg - Kurpfalz, in: L. Grane/K. Horby, Hg., Die dänische Reformation vor ihrem internationalen Hintergrund, 1990, S. 57-90; W. Ziegler, Territorium und Reformation, in: Historisches Jahrbuch 110 (1990), S. 52-75; H. Wolter S. J., Die Haltung deutscher Laienfürsten zur frühen Reformation, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 24 (1972), S. 83-105; A. P. Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik 1530-1552 (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg), 1982. - Vgl. auch zur Situation der deutschen Fürsten und ihrer Kirchenpolitik vor 1517: M. Schulze, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation, 1991.

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teilweise ein einheitliches Muster an identischen Attributen erkennen.20 Persönliche Befindlichkeiten, landesherrliche Autorität, territoriale Infrastruktur und fortschreitende Verwaltungsrationalität, Engagement für Kirche und Bekenntnis, Loyalität zu Kaiser und Reich sowie überhaupt das generelle Interesse, sich reichspolitisch erkennbar in Szene zu setzen und sich zu profilieren, waren unterschiedlich ausgeprägt und territorial verschieden konditioniert. Selbst im Schmalkaldischen Bund gab es an der Spitze offensive politische Strategen, wie Philipp von Hessen 21 , und eher defensive Naturen, wie den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich22, aber es gab auch Abenteurer und ungehemmte Spieler, die ihren Preis teuer bezahlen mußten, wie Herzog Ulrich von Württemberg25 oder später Markgraf Albrecht Alcibiades24 in Franken. Erst der Generationenwechsel um die Jahrhundertmitte, der weit überwiegend im Zeichen dynastischer, konflikterprobter Kontinuität und konfessioneller Identitätsfindung, aber auch im Zeichen des Wandels der reichspolitischen und der reichsrechtlichen Rahmenbedingungen und neuer Konstellationen verlief, ließ die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede, den Entwicklungsvorsprung und den Rückstand unter den großen und den kleineren Reichsterritorien deutlicher als zuvor hervortreten.25 Die neue Fürstengeneration im Reich, die unmittelbar vor oder nach dem Augsburger Religionsfrieden an die Schalthebel der Macht gelangte, war angesichts der notwendig gewordenen Konsolidierungsleistung, die von ihr erwartet wurde, und angesichts des natürlichen Konkurrenzdruckes untereinander zwar um ein einheitliches Regierungsprofil bemüht, aber dennoch mischten sich auch weiterhin in der Fürstenpolitik gleichermaßen konservative wie reformerische, moderne wie traditionale Impulse. Das Ringen um den besseren Weg, um die geeigneteren Instrumente zur Ausgestaltung der Innenarchitektur des frühmodernen Staates in Deutschland hielt also an und gewann erst jetzt - unter der schützenden Protektion der patriarchalischen Landesväter und der Sogkraft der Rechtsgarantien von 1555 - an forciertem Tempo und an klarer Kontur.

Dies stimmt im K e r n mit dem B e f u n d für die Typologisierung des Herrscherbildes im 17. Jahrhundert überein, in dem festgestellt wird, daß ein konfessionsspezifisches protestantisches Herrscherbild nur mit vielen Fragezeichen konstruiert werden kann, da T o p i k und Zwänge des frühmodernen Territorialstaates gleichermaßen konfessionsneutral waren. Vgl. dazu programmatisch: S. Skalweit, D a s Herrscherbild des 17. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 184 (1957), S. 65-80; H . Duchhardt, D a s protestantische Herrscherbild des 17. Jahrhunderts, in: K . Repgen, H g . , D a s Herrscherbild im 17. Jahrhundert, 1991, S. 26-42; V. Press, D e r T y p des absolutistischen Fürsten in Süddeutschland, in: G . Vogler, Hg., Europäische Herrscher. Ihre Rolle bei der Gestaltung von Politik und Gesellschaft v o m 16. bis z u m 18. Jahrhundert, 1988, S. 123-141; R. Straubel/U. Weiss, Hg., Kaiser, König, Kardinal. Deutsche Fürsten 1 5 0 0 - 1 8 0 0 , 1 9 9 1 . 21 M. Rudersdorf, H e s s e n (wie A n m . 10), Bd. 4 , 1 9 9 2 , S. 261-273. 22 Th. Klein, Ernestinisches Sachsen (wie A n m . 10), Bd. 4 , 1 9 9 2 , S. 11-19. 23 H . Ehmer, Württemberg (wie Anm. 10), Bd. 5, 1993, S. 170-178. - Vgl. dazu auch: F. Brendle, Dynastie, Reich und Reformation. Die württembergischen H e r z ö g e Ulrich und Christoph, die H a b s b u r g e r und Frankreich, 1998. " M. Rudersdorf, Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach/Bayreuth (wie A n m . 10), Bd. 1, 1989, S. 19-21. 25 Vgl. zu diesem Kontext: W. Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert (wie Anm. 18), S. 2 0 4 226; G . Schmidt, D i e politische Bedeutung der kleineren Reichsstände im 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 12 (1988), S. 185-206; A. P. Luttenberger, Kurfürsten, Kaiser und Reich. Politische F ü h r u n g und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II., 1994; Weber, Dynastiesicherung (wie Anm. 13), S. 91-136. 20

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Bedingungsfaktoren der patriarchalischen Regierungsweise im Reich „Bewahrung" und „Erneuerung", „Wandel" und „Status-quo-Denken" waren denn auch in der Folgezeit die prägenden Grundkonstanten, die den Handlungsrahmen für die Formation jener konfessionellen kaisertreuen Reichsfürsten nach 1555 bildeten, die in der Literatur oft genug wenig schmeichelhaft als langweilige und unzuverlässige, als politisch blasse und zaudernde Nachhut einer in vieler Hinsicht glanzvolleren Vorzeit, nämlich der bewegten ersten Hälfte des Jahrhunderts, abgewertet wurde, in der angeblich alles Wesentliche zum Strukturneubau von Staat und Kirche bereits vorentschieden oder geschehen war. Zu diesen Fürsten, von deren Profil und deren Bilanz im folgenden die Rede ist, ohne daß ihre Namen ständig genannt werden, gehörten prototypisch die lutherischen Vormänner im Reich, die Kurfürsten und Fürsten August von Sachsen,26 Johann Georg von Brandenburg27 Christoph von Württemberg,2' Julius von BraunschweigWolfenbüttelGeorg Friedrich von Ansbach/Bayreuth,10 die hessischen Landgrafen Wilhelm IV. in Kassel und Ludwig IV. in MarburgDazu gehörte aber auch im Geiste überkonfessioneller dynastischer Standessolidarität eine Reihe altgläubiger Fürsten wie etwa der bayerische Herzog Albrecht V. in München 2 oder Erzherzog Ferdinand von Tirol." Anders als den Vorgängern stellte sich dieser neuen jüngeren Fürstengeneration im Reich nahezu gleichförmig die Aufgabe, sogar mit Priorität, den Schutz und die Sicherheit ihrer neu arrondierten territorialen Existenz zu gewährleisten - im Innern durch die Symbiose von frühmoderner Staatlichkeit und geschlossener Konfessionalität, nach außen durch eine kompromißgeprägte Politik der Status-quo-Sicherung im Reich, auf der Grundlage des erneuerten Normensystems der Reichsverfassung und im weitgehenden Konsens mit dem Kaiser.34 Eine überragende, auch Konflikte mit dem Reichsoberhaupt durchstehende Führungsgestalt, wie dies zuvor Philipp von Hessen35 oder Moritz von Sachsen36 gewesen waren, gab es im deutschen Fürstenstand in der Friedenszeit nach 1555 nicht, wohl aber profilierte, überaus tüchtige „Landesinnenpolitiker", wie August von Sachsen oder Christoph von Württemberg, die aufgrund ihrer großen Erfolge und ihrer Anerkennung im Reich durchaus eine dominierende meinungsbildende Vorreiter-

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H. Smolinsky, Albertinisches Sachsen (wie Anm. 10), Bd. 2, 1993, S. 23-26. M. Rudersdorf/A. Schindling, Kurbrandenburg (wie Anm. 10), Bd. 2,1993, S. 47-50. H. Ehmer, Württemberg (wie Anm. 10), Bd. 5,1993, S. 178-182. 29 W. Ziegler, Braunschweig-Lüneburg (wie Anm. 10), Bd. 3,1991, S. 30-36. M. Rudersdorf, Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach/Bayreuth (wie Anm. 10), Bd. 1, 1989, S. 22-27. 11 M. Rudersdorf, Hessen (wie Anm. 10), Bd. 4,1992, S. 273-279. 32 W. Ziegler, Bayern (wie Anm. 10), Bd. 1,1989, S. 62-65. 33 H. Noflatscher, Tirol, Brixen, Trient (wie Anm. 10), Bd. 1, 1989, S. 87-101. 54 M. Rudersdorf, Maximilian II. (1564-1576), in: A. Schindling/W. Ziegler, Hg., Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918,1990, S. 79-97; Ders., Lutherische Erneuerung (wie Anm. 3), S. 130-153. - Z u r grundsätzlichen Positionierung s. G. Schmidt, Geschichte des Alten Reiches (wie Anm. 1), S. 75-131; A. Gotthard, Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband, 2 Bde., 1999, hier: Bd. 1, S. 238-275. " Zuletzt mit neuen Aspekten: G. Haug-Moritz, Reich und Konfessionsdissens im Reformationszeitalter. Überlegungen zur Reichskonfessionspolitik Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 46 (1996), S. 137-159. 36 Zu den erbverbrüderten evangelischen Nachbarn vgl. insbesondere G. Wartenberg, Kurfürst Moritz von Sachsen und die Landgrafschaft Hessen, in: Jahrbuch der hessischen kirchengeschichtlichen Vereinigung 34 (1983), S. 1-15. 27

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rolle unter ihresgleichen spielten und modellhaft die Standards setzten, an denen sich andere Fürstenstaaten orientierten. Es waren in ihrer großen Mehrzahl also keineswegs die vormals von der kleindeutsch-nationalstaatlichen Geschichtsschreibung im Stile eines Heinrich von Treitschke mit provozierendem Ingrimm gegeißelten „lutherischen Sauf- und Betfürsten", die hier uninteressiert und gelangweilt am Werke waren, wiewohl es unter ihnen - dem Stilempfinden der Zeit entsprechend - Genießer, leidenschaftliche Spieler und unersättliche Jäger gab. Auch darf nicht die scheinbare Ruhe und die auf Ausgleich bedachte Politik der lutherischen Fürsten als Ausdruck einer schwachen Position, als besonderes Zeichen der Unsicherheit und der Uneinigkeit mißgedeutet werden." Das fehlende reichs- und außenpolitische Engagement als weitgehende Folge des innenpolitischen Konzentrationsund Verdichtungsprozesses entsprach im wesentlichen ganz dem konservativen risikoscheuen Naturell der regierenden Landesväter, die im Schlagschatten der Reformation mehr auf Absicherung ihrer Autonomie und ihres Herrschaftsbereiches denn auf Machtexpansion oder gar Konfliktaustrag aus waren. War also die Gruppe dieser Landesherren in ihrem Handeln wirklich so kraftlos, politisch so phantasielos, in ihrem Horizont so ungleich beschränkter als die prominente Fürstengeneration vor ihnen, die im Zeichen der säkularen Auseinandersetzung mit dem Reichsoberhaupt mit demonstrativer Härte die altehrwürdige Fürstenlibertät verteidigte, damit ihre reichsständische Position behauptete und zugleich den notwendigen Freiraum für die autonome Ausgestaltung ihrer Territorien erkämpfte? All dies war angesichts der lange offenen konfessionellen Konfliktlage im Reich, angesichts der bewaffneten Konfrontation mit dem Kaiser um die Anerkennung der neuen Religion politisch keinesfalls gering zu veranschlagen, sondern im Gegenteil ein komplizierter und schwieriger, ein für die Etablierung des frühmodernen Fürstenstaates im „dualen" Reichssystem am Ende doch erfolgreicher und zukunftsweisender Weg. In der Auseinandersetzung zwischen dem universal-denkenden habsburgischen Kaiser Karl V. und den deutschen Reichsständen waren damit zugleich die strukturellen Weichenstellungen eingeleitet worden, die der nachrückenden zweiten Regentengeneration der Reformationsfürsten im Reich bereits frühzeitig das Ziel und die Richtung einer erneuerten, im ganzen relativ einheitlichen Fürstenpolitik in Staat und Kirche vorgaben, die auf Perpetuierung und Besitzstandswahrung, aber auch auf Konsolidierung und auf frühe effiziente Ansätze der Herrschaftsrationalisierung angelegt war. So hing das eine, die Dynamik des Umbruchs, auf das engste mit dem anderen, der konsequenten Statik- und Statussicherung im Territorium, zusammen. An die Stelle der frühen kampferprobten Protagonisten des Wandels und der Konfrontation traten nunmehr die kompromißgeneigten Kräfte der Beharrung und behutsamen Erneuerung, die sich ganz im Rahmen der normierten Spielregeln der Reichsverfassung bewegten. Nicht mehr Philipp von Hessen, Moritz von Sachsen oder Ulrich von Württemberg, sondern ihre Nachfolger in Kassel, Marburg, Dresden, Stuttgart und anderswo waren es, die der neuen Zeit im Zeichen des relativen Reichsfriedens dynastisch, politisch und konfessionell ihren Stempel aufdrückten. 38

" Diese Sicht ist in der älteren reichsgeschichtlichen Historiographie mit Vorzug gepflegt worden, etwa bei M. Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555-1648), Bd. 1, 1889, N D 1974, S. 263-312; F. Härtung, Deutsche Geschichte von 1519 bis 1648, 1971, S. 80-89. - Typologisch einordnend und bewertend: Press, Typ des absolutistischen Fürsten (wie Anm. 20), S. 123-126. " Vgl. zum Gesamtzusammenhang der „Scharnierphase" u m 1555: Willoweit, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 2), S. 121-135; Ziegler, Territorium und Reformation (wie Anm. 19), S. 59-65; Schilling, Konfessionalisierang im Reich (wie Anm. 14), S. 7-19; Mörke, Bedeutung des Konfessionellen (wie Anm. 11),

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Nach dem Frieden von 1555: „Verstetigung" als politisches Handlungsprinzip Z u m entscheidenden Charakteristikum der Politik dieser Fürstengeneration nach 1555 wurde somit also der Wille, mit entschiedener, teilweise sogar mit programmatischer Konsequenz eine Verstetigung des Erreichten, nämlich die Vollendung des reformatorischen Anspruchs, die Behauptung und die Anerkennung der neuen Religion, durchzusetzen, sowie die Institutionalisierung des noch immer unfertigen, teilweise gefährdeten und keineswegs überall geschlossenen Konfessionsstaates auf Dauer zu sichern. Das privilegierte albertinische Kursachsen etwa wollte im Streit mit den unterlegenen Ernestinern auf jeden Fall eine Revision der Entscheidungen von 1547 verhindern; die w ü r t tembergische Politik stand seit 1534 unter dem Diktat der österreichischen Afterlehensschaft; in Hessen zeichnete sich aufgrund der Sukzessionsprobleme die Teilung des einheitlichen, gefestigten Territorialstaates ab; andere Fürstenstaaten, Kurpfalz, Kurbrandenburg und Braunschweig-Wolfenbüttel, waren schon weit auf dem Weg zur Reformation vorangeschritten, wieder andere, wie etwa Mecklenburg, hatten das evangelische Bekenntnis gerade angenommen." Die partielle Offenheit und Unentschiedenheit der konfessionellen Situation an vielen H ö f e n des Reichs, die mancherorts noch zusätzlich verstärkt wurde durch die Ungewißheit dynastischer und innerterritorialer Probleme, stellte vor allem die Fürsten schon bald vehement unter den Zwang des Handelns, im Sinne der politischen Konkurrenzfähigkeit f ü r Geschlossenheit u n d Eindeutigkeit in ihren Ländern zu sorgen. Auf diese Weise wurde die vielfach unspektakuläre, aber umso wirksamere Linie der Verstetigung des Erreichten im normalen Alltag des Regierens zu einem wichtigen und nicht zu unterschätzenden Handlungsprinzip einer weithin friedens- und konsensbereiten Fürstengeneration, die im Stile der patriarchalischen Politikgestaltung entscheidende Schritte zur konfessionellen und damit auch zu einer mentalen Traditions- und Identitätsbildung im regionalen Raum ihrer Landesherrschaft unternommen hat. Die Herausbildung eines erneuerten konfessionellen Identifikationsbewußtseins kam dabei dem p o litischen Integrationsbedürfnis der Fürstenobrigkeit in besonderer Weise zugute und trug maßgeblich zu der angestrebten Kohärenz von Dynastie, Territorium und Konfession in den deutschen Landesstaaten bei - ein G r u n d z u g des konfessionellen Zeitalters übrigens, der nahezu alle Territorien des Reiches, katholische ebenso wie die neugläubigen evangelischen, erfaßte. 40 Extensiv möglich freilich - und dies ist das eigentlich Entscheidende - wurde diese Qualität der Konsolidierungspolitik erst im Schutze der reichsrechtlichen Legalität und juristischen Bindekraft der Augsburger Friedensordnungen, nicht zufällig zu einem S. 130-134, S. 146-164; H. Neuhaus, Von Karl V. zu Ferdinand I. - Herrschaftsübergang im Heiligen Römischen Reich 1555-1558, in: Roll, Recht und Reich (wie Anm. 1), S. 417-440. J ' Dazu vor allem: Rudersdorf, Lutherische Erneuerung (wie Anm. 3), S. 130-153; Ziegler, Territorium und Reformation (wie Anm. 19), S. 54-67; Wolgast, Formen landesfürstlicher Reformation (wie Anm. 19), S. 65-87; Ders., Die Reformation in Mecklenburg, 1995; Ders., Reformierte Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Kurpfalz im Reformationszeitalter, 1998 . 40 Dazu exemplarisch: G. Wartenberg, Kurfürst Moritz von Sachsen und Herzog Albrecht V. von Bayern als Fürsten der Reformationszeit, in: Methoden und Themen der Landes-, Regional- und Heimatgeschichte in Bayern, Sachsen und Thüringen, hg. vom Haus der Bayerischen Geschichte, 1991, S. 60-66; Rudersdorf, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg (wie Anm. 17), S. 205-249; Schilling, Nationale Identität und Konfession (wie Anm. 1), S. 235-246; zu den Diskontinuitäten der Entwicklung vgl. insbesondere Wolgast, Reformierte Konfession (wie Anm. 39), S. 33-97.

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Zeitpunkt also, in dem die letzten Barrieren wegfielen, die bislang dem entschlossenen Zugriff der lutherischen und der reformationsgeneigten Landesfürsten noch immer im Wege gestanden hatten.41 Erst jetzt vermochte der evangelische Fürst, ungehindert von Papst und Kaiser, die normative, die institutionelle und die dogmatisch-lehrmäßige Ausgestaltung seines neuen Kirchenwesens zu vollenden, sowie den diesbezüglichen Differenzierungs- und Vereinheitlichungsprozeß ohne äußere Intervention aktiv zu steuern. Die Fülle der kirchlichen Neuregelungen in Kirchenordnungen, systematischen Kompendien und pädagogischen Lehrbüchern - im christophinischen Württemberg der 1550er Jahre geradezu modellhaft exemplifiziert42 - wäre so kaum möglich gewesen, wenn nicht zuvor durch die juristische Sanktionierung des Augsburger Religionsbekenntnisses der Weg für die neue Regelungsdichte und die administrative Ordnungsarbeit endgültig freigemacht worden wäre. Demzufolge ist das Jahr des Augsburger Religionsfriedens sowohl ein Jahr der Zäsur, der normierenden Zwischenbilanz eines umfassenderen politischen Formierungsprozesses von langer Dauer, als auch ein Jahr der Kontinuitätswahrung, ein Jahr der weichenstellenden Wegmarken zwischen Reformation, Konfessionalisierung und frühmoderner Staatsbildung.43 In diesem Sinne sollte das Jahr 1555 ohne einschränkende Relativierung als ein Achsenjahr der deutschen Geschichte, als eine neue zweite „Startmöglichkeit" (W. Ziegler) im langgestreckten Reformations- und Erneuerungsprozeß betrachtet und anerkannt werden, da die Breite und die Dichte der konkurrierenden territorialen Konsolidierungsbemühungen im Reich trotz aller Spannungsmomente ganz wesentlich von der starken juridifizierenden Wirkung dieses wichtigen Fundamentalgesetzes der frühneuzeitlichen Reichsverfassung abhing.44 So wie 1526 die frühe Reformation von der kurzzeitigen reichsgesetzlichen Freigabe der Bekenntnisentscheidung durch den Speyerer Reichstag profitierte, so vermittelte jetzt in der Mitte des Jahrhunderts die Rechtsgarantie des Augsburger Religionsfriedens vollends den entscheidenden Impuls zur Institutionalisierung der evangelischen Landeskirchen, zur schließlichen Entfaltung der vollen Prägekraft des territorialisierten Luthertums im Reich.45 Die dabei zutage tretende Rolle des Reichsrechts im Vollzug des Konfessionalisierungsprozesses macht fraglos dessen

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Zur Interpretation des Augsburger Religionsfriedens vgl. vor allem M. Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 1983, S. 33-99; Rabe, Reich und Glaubensspaltung (wie Anm. 18), S. 284-303; Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert (wie Anm. 18), S. 161-203; Klueting, Das konfessionelle Zeitalter (wie Anm. 18), S. 137-161. Instruktive Zusammenfassung bei M. Brecht/H. Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte. Zur Einführung der Reformation im Herzogtum Württemberg 1534,1984, S. 305-343; Rudersdorf, Lutherische Erneuerung (wie Anm. 3), S. 133-142. - Zur Vorgeschichte neuerdings F. Brendle, Dynastie, Reich und Reformation (wie Anm. 23), S. 277-327. Zu dieser wichtigen Diskussion vgl. vorrangig Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (wie Anm. 41), S. 33-99; Schilling, Aufbruch und Krise (wie Anm. 10), S. 240-254; Klueting, Das konfessionelle Zeitalter (wie Anm. 18), S. 137-161; Schmidt, Geschichte des Alten Reiches (wie Anm. 1), S. 99131. Dies betont auch Ziegler, Territorium und Reformation (wie Anm. 19), S. 61-62, mit Bezug auf den eigentlichen Konfessionalisierungsprozeß, der in seiner ganzen Breite richtig kraftvoll erst nach 1555 einsetzt. Die Bedeutung der Reichsgesetzgebung für den inneren Ausbau des deutschen Fürstenstaates im 16. Jahrhundert betont Wolgast, Formen landesfürstlicher Reformation (wie Anm. 19), S. 58-61. - Zur Entfaltung des Luthertums im Reich nach 1555 vgl. insbesondere die Beiträge in: M. Brecht/R. Schwarz, Hg., Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, 1980. - I. Dingel, Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts, 1996.

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erhebliche normierende und strukturbildende Kraft, nicht zuletzt für die Eingrenzung und die Nutzung der territorialen politischen Handlungsspielräume deutlich. Die erneuerte Konfessionskultur im Reich hing somit sehr eng mit der Rechtskultur der Zeit zusammen, sofern es dem klugen und umsichtigen Territorialherrn gelang, den hohen Rang der Reichsgesetzgebung für seine Politik der Verstetigung in seinem Landesfürstentum auf Dauer zu nutzen und erfolgreich umzusetzen.46 Das Augsburger Normensystem, so kompromißgeprägt und halbherzig es in mancher Hinsicht war, bedeutete daher zuvorderst eine weitere beträchtliche Privilegierung der fürstlichen Position im Reich, die zu Lasten der Stellung des habsburgischen Kaisers in der Reichsverfassung ging. Erneut wurden die Vorrechte und die Prärogativen der regionalen Machtträger im Reich, der Landesfürsten gestärkt, wurde das obrigkeitliche Potential an disziplinierender Überwachung, an Kontrollen und Gegenkontrollen, an gesellschaftlichem Uniformierungszwang ausgebaut und differenziert. Obwohl die Reformationsfürsten der zweiten Generation relativ nahtlos in die älteren Strukturen der obrigkeitlichen Herrschaftsausübung ihrer Vorgänger hineinwuchsen, vermochten sie erst jetzt, gleichsam als Gebieter über den Konfessionsstatus ihrer Untertanen, durch eine prononcierte Politik der Bekenntnishomogenität, die durchaus intolerante Züge trug, dem lange angelegten Territorialisierungsprozeß die notwendige Schubkraft und Dynamik zu verleihen. Erst jetzt erhielt die Territorialstruktur der Reichsverfassung im Gefolge der Reformation ihre spezifische Ausprägung, erhielt der neuartige konfessionelle, sich Schritt für Schritt konsolidierende Landesstaat des 16. Jahrhunderts sein charakteristisches Profil, wie dies in den lutherischen Modellstaaten des Reichs, in Sachsen, Hessen und in Württemberg, aber auch anderswo im kleineren, noch unfertigen Maßstab in Erscheinung trat/ 7 Dabei zeigte sich, daß das angestrebte einheitliche Religionsbekenntnis mit seiner großen mentalen Binde- und Prägekraft für die Menschen zu den wichtigsten Konstitutionsbedingungen des frühneuzeitlichen Flächenstaates gehörte. Der Faktor Konfession wurde innerhalb der deutschen Territorienwelt sehr schnell zu einem scharfen, nach außen abgrenzenden und nach innen identitätsstiftenden Integrationsinstrument, das in seiner Wirkung noch zusätzlich verstärkt wurde durch die konfessionelle Konkurrenzsituation im Reich, die sich als ein Movens für den Ausbau der Infrastruktur in Staat und Kirche sowie nicht zuletzt im Schul- und im Bildungsbereich erwies.48 Gerade diesem galt die besondere Fürsorge der Reformationsfürsten, da für sie ganz im Sinne der Melanchthonschen Forderungen außer Frage stand, daß die Schulen und die Hochschulen die am besten geeigneten Medien für die Vermittlung und die Popularisierung der evan46

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Zum Hintergrund der Verbindung von Kultur, Recht und Konfession vgl. vor allem Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (wie Anm. 41), S. 33-66; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 85-90, S. 126-141; Willoweit, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 2), S. 109-135; Schmidt, Geschichte des Alten Reiches (wie Anm. 1), S. 99-119. Vgl. Press, Territorialstruktur des Reiches (wie Anm. 3), S. 264-268; E. W. Zeeden, Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Ders., Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform, 1985, S. 67-112; Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich (wie Anm. 14), S. 1—45; Rudersdorf, Patriarchalisches Fürstenregiment und Reichsfriede (wie Anm. 9), S. 309-327. Hierzu vor allem W. Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977), S. 226-252; Ders., Zwang zur Konfessionalisierung?, in: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 257-277; W. Schulze, Concordia, Discordia, Tolerantia. Deutsche Politik im konfessionellen Zeitalter, in: Zeitschrift für historische Forschung 1987, Beiheft 3, S. 43-79; A. Schindling, Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit (wie Anm. 10), Bd. 7,1997, S. 9-44.

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gelischen Lehre auf allen Ebenen der territorialen Gesellschaft darstellten. Eine gründliche Unterrichtung in der Religion sollte auf Dauer das Bekenntnis der evangelischen Landeskirche garantieren, sollte der inneren Vereinheitlichung der Territorien dienen und nicht zuletzt den studierten Beamtennachwuchs für Kirche und Staat sicherstellen. So war das Reformationsjahrhundert geprägt von einer Welle neuer humanistischer Schul- und Hochschulgründungen im konfessionellen Geist: Bildete die Gründung der neuen evangelischen Universitäten in Marburg (1527), Königsberg (1544), Jena (1558), Helmstedt (1576) und Gießen (1607) ein Glanzlicht an der Spitze der gelehrten Ausbildungshierarchie, so bedeutete die Errichtung der sächsischen Fürstenschulen und der schwäbischen Klosterschulen gleichfalls einen Markstein im territorialen Bildungssystem der Reformation, der reichsweit große Beachtung fand. Schule, Kirche und Konfession wurden auf diese Weise programmatisch in einen inneren Sinnzusammenhang gerückt: Ihre Einheit war in hohem Maße kontinuitätsbildend für den Zusammenhalt des Territoriums und ein wichtiges Kriterium überdies für die politische Stabilität der Fürstenherrschaft im Land. 49

Drei „Typenbilder" des patriarchalischen Landesvaters D e r Territorialfürst selbst war es, der in einem Zeitalter, das Staatlichkeit noch vorwiegend personal verstand, als zentrale Integrations- und Konsensfigur an der Spitze des administrativen Formierungsprozesses stand. Für das Funktionieren der inneren Ordnung im Territorium hing viel von der Autorität und der Gestaltungsinitiative des Fürsten selbst ab, von seinem persönlichen Regiment, von den Techniken seiner Einflußnahme auf Regierung und Behörden, von der Rekrutierung eines professionellen Räteund Dienerverbandes und nicht zuletzt von den Formen seines Politik- und Repräsentationsverständnisses im Geiste der altständischen, höfisch-ritterlichen, in der adeligen Lebenswelt noch immer vorherrschenden Mentalität. Der klug kalkulierenden und geschickt agierenden, engagierten Fürstenexistenz im Reich schien nach den Entscheidungen von 1555 politisch die Zukunft offenzustehen. So sind es denn auch vorrangig drei Handlungsebenen, ja drei Typenbilder, in denen sich das für die Zeit so charakteristische patriarchalische Fürstenregiment in Deutschland darstellt. Sie sollen hier kurz umschrieben werden:

1. D e r fromme Fürst Dem Prozeß der Herausbildung der frühmodernen Staatlichkeit in den deutschen Territorien entsprach schon bald ein durch die Reformation und Konfessionalisierung religiös vertieftes, neues Fürstenbild, das zur Formierung eines neuen Fürstentyps, dem des 4

' Grundlegend: P. Baumgart, Humanistische Bildungsreform an deutschen Universitäten des 16. Jahrhunderts, in: W. Reinhard, Hg., Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts, 1984, S. 171-197; Ders., Die deutschen Universitäten im Zeichen des Konfessionalismus, in: A. Patschovsky/ H. Rabe, Hg., Die Universität in Alteuropa, 1994, S. 147-168; A. Schindling, Schulen und Universitäten im 16. und 17. Jahrhundert. Zehn Thesen zu Bildungsexpansion, Laienbildung und Konfessionalisierung nach der Reformation, in: W. Brandmüller u.a., Hg., Ecclesia militans, Festschrift für R. Bäumer, Bd. 2 , 1 9 8 8 , S. 561-570; N . Hammerstein, Die historische und bildungsgeschichtliche Physiognomie des konfessionellen Zeitalters, in: Ders., Hg., Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, 1996, S. 57-101 (mit Angabe weiterführender Detailliteratur).

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frommen, des gläubigen Fürsten, des Betefürsten, führte. Der fromme Fürst verstand sich ganz im Sinne Luthers als ein Amtmann Gottes, der sich in der fürsorglichen Verwaltung seines Territoriums bewähren und sich beständig um das Seelenheil seiner Untertanen kümmern mußte. Die Fürsorge seines persönlichen Regiments galt der Ordnung der inneren Staatsverhältnisse, galt vor allem der Erneuerung der vielerorts noch altertümlichen Infrastruktur in einem Herrschaftssystem, in dem die Durchsetzung der Konfessionalität nunmehr zu einem wichtigen Motor der Veränderung wurde. Der konfessionelle patriarchalische Regierungsstil vieler Fürsten hat im Zeichen des geglückten Reichsfriedens das Bild vom christlichen Landesvater, von der „ Obrigkeit im Vaterstand", die als Wohltäterin und Beschützerin der Untertanen ebenso richtet und erzieht wie verwaltet und reformiert, schon früh im Bewußtsein der Zeitgenossen entstehen und wirksam werden lassen. Die Fürstenspiegelliteratur und die Regimentstraktate der Zeit zeichnen mit rhetorischer Überhöhung ganz bewußt das Bild eines milden friedvollen Paternalismus des Landesfürsten, voller Güte und christlicher Moralität, ohne Frage angelehnt an das Bild des treusorgenden Hausvaters im christlichen Ehestand, der sich unablässig um das Wohlergehen seiner Familie zu kümmern hat.50 Die nüchterne Regierungspraxis im normalen Alltagsgeschehen sah indessen anders und differenzierter aus, als dies das idealisierte Bild des Landesvaters in den Fürstenspiegeln mit seinem pädagogisch-programmatischen Anspruch suggerieren will. Die übergroße Mehrheit der Fürsten regierte ja keineswegs zu ihrem Pläsier; sie handelten vielmehr in dem Bewußtsein, daß die Regierung ihnen von Gott aufgetragen war. So waren sie bestrebt, ihrer Verantwortung nachzukommen und diesen Auftrag in einem patriarchalisch wohlwollenden und friedlichen Regiment zu erfüllen, ein Leben in „Gottseligkeit" und „Ehrbarkeit" zu führen und dafür den Konsens, den Interessenausgleich mit den Untertanen und den Landständen zu suchen." Es entsprach also dem Denken der Zeit, daß die Landesfürsten sich regelmäßig auf ihre obrigkeitliche Pflicht beriefen, für ihre Untertanen zu sorgen, auch ihrer Amtsaufgabe gerecht zu werden, Ordnung und Frieden in ihrem Land aufrechtzuerhalten und zu gewährleisten. Die konkrete Konsolidierungspolitik in den konfessionalisierten Territorien des Reichs kann daher nicht losgelöst von dem religiös vertieften Amtsverständnis und Amtsethos betrachtet werden, dem die regierende Landesvätergeneration trotz aller säkularen Anfechtungen und Herausforderungen persönlich fromm und bekenntnistreu folgte. Der bibelfeste und belesene fromme Fürst, der mehr als andere mit der Vertiefung der übernommenen Konfession, mit der dogmatischen Verfestigung des Glaubens und der Durchdringung des Landes im konfessionellen Geist beschäftigt war, konnte sich überdies in der Regel auf die bekenntnismäßige Identifikationsbereitschaft seiner Unters0

Für den gesamten Kontext wichtig ist die Schrift Martin Luthers, Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), in: Weimarer Ausgabe, Bd. 11, S. 2 2 9 - 2 8 1 . Der Fürst, der als „amptmann" Gottes das Schwert führt und das Amt der Obrigkeit ausübt, sollte von Luther an zu einer Leitvorstellung im Politikverständnis und im territorialen Verwaltungswesen in Deutschland werden. Hierzu der Verweis auf einige Musterbeispiele: Albertinisches Sachsen (wie Anm. 26, S. 23-26), Braunschweig-Lüneburg (wie Anm. 29, S. 30-36), Württemberg (wie Anm. 23, S. 178-186). - Zur Kritik am Bild vom „Landesvater": P. Münch, Die „Obrigkeit im Vaterstand" - zu Definition und Kritik des „Landesvaters" während der frühen Neuzeit, in: Daphnis 11 (1982), S. 15-40; vgl. ebenso: L. SchornSchütte, Obrigkeitskritik im Luthertum? Anlässe und Rechtfertigungsmuster im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert, in: M. Erbe u.a., Hg., Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte, Festschrift für H. R. Guggisberg, 1996, S. 253-270.

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Zur Topik und Rhetorik der Fürstenspiegel vgl. insbesondere B. Singer, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, 1981, S. 11-47; Härtung, Deutsche Geschichte (wie Anm. 37), S. 85-89; Wolgast, Formen landesfürstlicher Reformation (wie Anm. 19), S. 59-65.

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tanen mit der gültigen Landesreligion verlassen - auf die Loyalität jener ihm anbefohlenen Menschen, die in ihm den dynastischen Garanten des rechten Weges z u m ewigen Seelenheil sahen. D e m Pochen auf Bekenntnistreue und Bekenntniskonformität lag dabei nicht von ungefähr die Erwartung zugrunde, ein Konsens in Dogma und Lehre garantiere letztlich auch die Stabilität u n d die Dauerhaftigkeit der ständischen Verfassungsordnung im Land, f ü r die die Autorität des Landes - und des obersten Kirchenherrn, des Fürsten, authentisch bürge. 52 Die enge Verbindung von kirchlichem Engagement und persönlicher Frömmigkeit war typisch f ü r die Generation der großen u n d der weniger wichtigen kleineren Landesväter, nicht nur f ü r einen Christoph von Württemberg oder einen August von Sachsen, die freilich auch in dieser Hinsicht durch die Förderung des Kirchenbaus u n d des f r o m men Stiftungswesens, durch den privilegierten Rang von Schule, Bildung und Religion in ihren Ländern eine Vorbildfunktion übernahmen. Nicht nur das tägliche Studium der Bibel, der gebildete theologische Diskurs mit den Präzeptoren und Prädikanten am H o f , schließlich der Sinn f ü r die verfeinerte sakrale Musik- und Festkultur in den Schloß- und Stiftskirchen der fürstlichen Residenz waren Manifestationen des obrigkeitlichen U m gangs und Einsatzes f ü r das Wohl und die Z u k u n f t der eigenen Religion. Auch das Verfassen von individuellen Glaubenszeugnissen, das Nachdenken über gelehrte theologische Traktate, über Gutachten, Relationen und Streitschriften zeichnete den selbstbewußten frommen und kontemplativen Fürsten aus, der seinen Glauben in einer Zeit der konfliktbetonten kämpferischen Konfessionalität persönlich ernstnahm, der sich selbst u m den exklusiven und sensiblen Bereich von Kirche und Religion kümmerte und dennoch zugleich immer Politiker und Administrator in der säkularen Welt des Regierens blieb." Auch ein politischer Aktivist und versierter Bündnispolitiker wie der protestantische Renaissancefürst Philipp von Hessen hat sich sein persönliches Glaubensrefugium stets bewahrt und seinen religiösen Standort trotz aller kompromißgeneigter politischer Winkelzüge mit großem spirituellem Ernst verteidigt. 51 Auf beiden Seiten des konfessionellen Lagers hat es diesen T y p des motivierten und überzeugten f r o m m e n Fürsten gegeben, freilich nicht in jedem Fall mit einer so entschiedenen Konsequenz wie bei Wilhelm V. von Bayern, der nach seiner Abdankung 1598 in nahezu monastischer Abgeschiedenheit ganz nach den Gesetzen seiner individuellen Frömmigkeit lebte und dabei von katholischer Seite dem Bild des gläubigen, auf sich bezogenen „Betefürsten" entsprach. 55

" Exemplarisch ausgeführt bei Rudersdorf, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg (wie Anm. 17), S. 205-249; Ders., Lutherische Erneuerung (wie Anm. 3), S. 130-153. - Allgemein: Schilling, Aufbruch und Krise (wie Anm. 10), S. 184-192; Schmidt, Geschichte des Alten Reiches (wie Anm. 1), S. 75-131. " Vgl. hierzu August von Sachsen und Christoph von Württemberg als exponierte Beispiele: R. Kötzschk e / H . Kretzschmar, Sächsische Geschichte, 3. Aufl., N D 1977, S. 219-235; H.-M. Maurer, Herzog Christoph (wie Anm. 17), S. 136-162. M Rudersdorf, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg (wie Anm. 17), S. 29-38; V. Press, Landgraf Philipp von Hessen, in: K. Scholder/D. Kleinmann, Hg., Protestantische Profile, 1983, S. 60-77; G. Müller, Karl V. und Philipp der Großmütige, in: Jahrbuch der hessischen kirchengeschichtlichen Vereinigung 12 (1961), S. 1-34. 55 Kraus, Geschichte Bayerns (wie Anm. 12), S. 221-226; dazu die ältere Studie von B. Ph. Baader, Der bayerische Renaissancehof Herzog Wilhelms V. (1568-1579), 1943. - Andere Facetten der katholischen Konfessionalisierung offenbart das Beispiel Würzburg: M. Rudersdorf, Konfessionalisierung und Reichskirche - Der Würzburger Universitätsgründer Julius Echter von Mespelbrunn als Typus eines geistlichen Fürsten im Reich (1545-1617), in: P. Herde/A. Schindling, Hg., Universität Würzburg und Wissenschaft in der Neuzeit. Beiträge zur Bildungsgeschichte, gewidmet P. Baumgart anläßlich seines 65. Geburtstages, 1998, S. 37-61.

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2. Der regierende Fürst Der reformerische Aufbau und Ausbau von Staat und Kirche hing auf das engste mit der Durchschlagskraft der landesherrlichen Initiativen zusammen, so daß es nunmehr gilt, den Typus des regierenden Fürsten in den Blick zu nehmen, des Politikers und Verwalters nämlich, des hierarchisch vornehmsten Administrators im Land, der mit einem professionellen, in der Regel studierten und loyal ergebenen Räte- und Dienerverband zielbewußt für die Verstetigung und die Vereinheitlichung im Territorium sorgte, der darüber hinaus mit Nachdruck den säkularen Prozeß der Institutionalisierung, der Bürokratisierung und der Verrechtlichung förderte und damit zugleich seiner originären landesfürstlichen Regentenpflicht nachkam, die heute etwas plakativ und zugespitzt als Auf- und Ausbau des frühmodernen Staates in Deutschland bezeichnet wird. Gerade die Generation der sogenannten Epigonen, der patriarchalischen Landesväter, hat sich im Zeichen der relativen Ruhe im Reich als die eigentliche, die wahre und in mancher Hinsicht sogar als die originelle und identifikationsbereite Baumeistergeneration gezeigt, die in der Kontinuität der noch jungen reformatorischen Tradition ihrer Väter stand und durchaus in prestigebewußter Manier bereit war, sich auf den zentralen Aufgabenfeldern der frühmodernen zeitgemäßen Territorialstaatspolitik zu engagieren, die nicht nur den Bereich von Kirche, Schule und Konfession, sondern auch den von Justiz, Finanzen und Ökonomie in einem umfassenden Sinne miteinschloß.56 Es kam daher entscheidend darauf an, inwieweit der einzelne Fürst willens und in der Lage war, die gesteigerte Intensität der Verwaltungs- und Regierungsarbeit auf sich zu nehmen, den Kompetenz- und den Machtzuwachs rational zu steuern und damit auch die veränderten neuartigen Aufgaben der Lenkung und der Subdelegation effizient und sinnvoll zu überwachen. Für das Funktionieren des politischen Systems im territorialen Fürstenstaat der Zeit war die hervorgehobene und herausgeforderte Position des Fürsten als oberster Befehls- und Entscheidungsinstanz zweifellos von konstitutiver Bedeutung - die Position eines Fürstentyps im übrigen, dessen Landesherrschaft sich immer mehr zu einem „Amt" fortentwikkelt und ausgebildet hat.57 Die zeitgenössische Aufgabe der institutionellen und verwaltungsmäßigen Ausgestaltung der deutschen Territorien war geprägt von einer allgemeinen grundlegenden Tendenz der strukturellen Gleichförmigkeit und umfaßte die katholisch gebliebenen Fürstenstaaten ebenso wie die neuen evangelischen. Die behördenmäßig organisierte, betont landesherrlich durchwirkte Infrastrukturpolitik, die Herzog Albrecht V. etwa in Bayern nach 1550 mit großem Erfolg verfocht, stand der Institutionalisierungs- und Zentralisie" Zu den säkularen, nicht-konfessionellen Aufgaben des frühneuzeitlichen Fürstenregiments vgl. L. Zimmermann, Der Ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV. von Hessen, 2 Bde., 1933-1934; K. Krüger, Finanzstaat Hessen 1500-1567. Staatsbildung im Ubergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat, 1980; U. Schirmer, Die Finanzen der Kurfürsten und Herzöge von Sachsen zwischen 1485 und 1547, in: Ders./J. Matzerath, Hg., Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag, 1997, S. 259-283; Ders., Grundriß der kursächsischen Steuerverfassung (15.17. Jahrhundert), in: Ders., Hg., Sachsen im 17. Jahrhundert. Krise, Krieg und Neubeginn, 1998, S. 161207; Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert (wie Anm. 18), S. 220-231; Hammerstein, Physiognomie des konfessionellen Zeitalters (wie Anm. 49), S. 80-83. 57 Grundsätzlich: G. Oestreich, Das persönliche Regiment der deutschen Fürsten am Beginn der Neuzeit, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, 1969, S. 201-234. - Exemplarisch am Fallbeispiel Bayern untersucht: M. Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern 1511-1598, 1980; Ders., Herrschaftsausübung im frühmodernen Staat. Zur Regierungsweise Herzog Wilhelms V. von Bayern, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 51 (1988), S. 77-99. Rudersdorf, Patriarchalisches Fürstenregiment und Reichsfriede (wie Anm. 9), S. 309-327.

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rungspolitik Kurfürst Augusts von Sachsen oder Herzog Christophs von Württemberg in nichts nach. Der systematische Zugriff dieser Fürsten auf die notwendig gewordene Reorganisation und Neuformierung von Kanzlei, Bürokratie und Verwaltung, dazu die Errichtung neuer Behörden und verbesserter Regimentsstrukturen in Gestalt der Konsistorien und Geheimen Räte war durchaus ein Charakteristikum für den erhöhten Reformdruck und Reformeifer, dem gerade die Regentengeneration nach 1555 in besonderer Weise - unbehelligt von äußerer Intervention und akuter Kriegsgefahr - ausgesetzt war. Die Wirksamkeit der patriarchalischen Landesväter führte trotz ihrer reichspolitischen Passivität keinesfalls nur in die vielbeschworene Sackgasse des politischen Stillstandes und der Reformstagnation, sondern sie brachte Figuren hervor, die sich im Zeichen des innenpolitischen Konsolidierungspostulats als geschickte Architekten und erfolgreiche Sanierer ihrer Territorien erwiesen.58 Sachsens zeitweilig sehr einflußreiche Vorbildfunktion als gefestigter, technisch wie materiell fortschrittlich entwickelter lutherischer Modellstaat im Reich beruhte denn auch zuvorderst auf seinen großen innenpolitischen Leistungen, die in Staat und Kirche zu einem beträchtlichen Modernisierungs- und Verdichtungsschub geführt hatten. Nicht mehr Kurfürst Moritz, der ambitionierte Vorkämpfer um die fürstliche Libertät im Reich, sondern sein jüngerer Bruder August nutzte die nach 1547 neuerrungene Position des wettinischen Kurstaates voll aus, um in der Kurfürstenresidenz in Dresden ein saturiertes patriarchalisches Fürstenregiment von exemplarischer Bedeutung weit über Sachsen hinaus zu errichten. Die erbverbrüderten Nachbarn Kurbrandenburg und Hessen, aber auch die lutherische Hochburg im deutschen Südwesten, das Herzogtum Württemberg, selbst das altgläubige Bayern in der Ära Herzog Albrechts V. orientierten sich längere Zeit an dem straff und effektiv regierten Musterstaat. 5 ' Geradezu auffallend verkörperte der kaisertreue lutherische Kurfürst August im Schutz des Reichs- und Religionsfriedens die Verbindung von erfolgreichem Landesfürst und anerkanntem Reichspolitiker, von fürstlichem Reformeifer und konfessionellem Er-

neuerungswillen. Fromm, friedliebend, reichspolitisch kaisertreu, haushälterisch und sit-

tenstreng, konfessionell entschieden und abwehrbereit - so repräsentierte August beispielhaft den Typus des omnipotent wirkenden lutherischen Landesvaters in seiner Zeit, der als Integrationsfigur nach innen die Einheit von Territorium, Dynastie und Konfession symbolisierte, während er nach außen die gefährdete Stabilisierung des Friedenssystems im Reich sowie das Funktionieren der Reichsverfassung gewährleisten half.60

" Vgl. hierzu komparatistisch die komplementäre ständische Gegenseite im territorialen Fürstenstaat: Press, Formen des Ständewesens (wie Anm. 11), S. 2 8 0 - 3 1 8 ; Mörke, Bedeutung des Konfessionellen (wie Anm. 11), S. 125-164. - Zu einem profilierten Einzelbeispiel aus Norddeutschland: Staatsklugheit und Frömmigkeit. Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg, ein norddeutscher Landesherr des 16. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, 1989. 39 Auf die Zentralität der Regierungszeit des Kurfürsten Moritz für die sächsische Politik des 16. Jahrhunderts weisen zurecht hin: G. Wartenberg, Moritz von Sachsen - zur Politik des ersten albertinischen Kurfürsten zwischen Reformation und Reich, in: Vogler, Europäische Herrscher (wie Anm. 20), S. 106— 122; Ders., Moritz von Sachsen (1521-1553), in: Theologische Realenzyklopädie 23 (1994), S. 3 0 2 - 3 1 1 ; K. Blaschke, Moritz von Sachsen. Ein Reformationsfürst der zweiten Generation, 1983. - M. Rudersdorf, Von Fürsten und Fürstensöhnen im Alten Reich: Die Kraft der hessisch-sächsischen Erbverbrüderung und das Jahr 1561, in: K. Czok/V. Titel, Hg., Leipzig und Sachsen. Beiträge zur Stadt- und Landesgeschichte vom 15.-20. Jahrhundert. S. Hoyer zum 70. Geburtstag, 2000, S. 33-47. Eine moderne politische Biographie dieses oft als biederen Haushälter und strengen Verwalter unterschätzten Kurfürsten wäre dringend vonnöten. Im Spiegel der hessischen Korrespondenzakten läßt sich ein anderes differenziertes Bild zeichnen, das jedoch der weiteren Überprüfung und Abrundung bedarf. Rudersdorf, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg (wie Anm. 17); Kötzschke/Kretzschmar, Säch-

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So ist es kein Zufall, daß gerade der sächsische Rat und Rechtsgelehrte Melchior von Osse in seinem vielbeachteten „Politischen Testament" von 1555/56, einer Art staatstheoretischer Denkschrift für Kurfürst August, pointiert die Notwendigkeit eines geordneten Regiments und einer geordneten Landesverwaltung hervorgehoben hat. Sein Plädoyer - modern gesprochen - für obrigkeitliche Strukturpolitik erzielte später weit über Sachsen hinaus erkennbar Resonanz und praktisches Interesse. Effizienz in der Verwaltung, Sanierung der Finanzen, Rationalisierung des Rechtswesens, Förderung der Wirtschaft und nicht zuletzt der Ausbau von Schulen und Hochschulen als Medien für die Vermittlung des Evangeliums - das waren in besonderer Weise die wichtigen, die zentralen Handlungsfelder, in denen sich der Ordnungssinn und die Regierungskunst einer gestärkten patriarchalischen Landesvätergeneration zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg manifestierten.61 Dabei war das aufstrebende Dresden zwar ein wichtiges, aber keineswegs das einzige Gravitationszentrum im Netz der lutherischen Residenzen in Deutschland, in denen das patriarchalische Regiment im Gefolge der Reformation zur Entfaltung gelangte. Der Typ des erfolgreich regierenden konfessionellen Landesvaters fand sich ebenso in Berlin und Wolfenbüttel, in Stuttgart und Heidelberg, in Marburg und Ansbach, in Neuburg an der Donau und in anderen Residenzmittelpunkten repräsentiert, die jeweils ihren spezifischen Beitrag zum politischen und zum konfessionellen Gesamtprofil der Epoche leisteten. Das konservativ-christliche Fürstenideal, das Osse in seinem „Politischen Testament" gezeichnet hatte, entsprach also für eine gewisse Zeit der Politik dieser Fürstengeneration im Reich durchaus.

3. Der „dynastische" Fürst Aber nicht nur geschlossene Konfessionalität, nicht nur wachsende Rationalität und neue Funktionalität waren prägend für das werdende System der neuzeitlichen Fürstenherrschaft - es gab noch andere Elemente, eher traditionale altertümliche Relikte, die daneben lange Zeit wirkungsmächtig blieben. Es gilt daher, zuletzt das Bild des höfischen, des „dynastischen" Fürsten hervorzuheben, auch auf die Integrations- und die Vorbildfunktion der Dynastenfamilie für die sozialen Führungsgruppen in der ständischen Gesellschaft des Territoriums hinzuweisen, schließlich auf den Fürstenhof selbst, auf jenes komplexe archaische Personal- und Sozialgebilde, das gleichwohl ein Zentrum

sische Geschichte (wie Anm. 53), S. 219-235; E. Koch, Der kursächsische Philippismus und seine Krise in den 1560er und 1570er Jahren, in: Schilling, Die reformierte Konfessionalisierung (wie Anm. 3), S. 60-77. - Zur Korrelation von Kaiser, Reich und Land in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unentbehrlich: M. Lanzinner, Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser Maximilian II. (1564-1576), 1992; A. P. Luttenberger, Kurfürsten, Kaiser und Reich. Politische Führung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II., 1994; Th. Nicklas, U m Macht und Einheit des Reiches. Konzeption und Wirklichkeit der Politik bei Lazarus von Schwendi (1522-1583), 1995; A. Edel, Der Kaiser und Kurpfalz. Eine Studie zu den Grundelementen politischen Handelns bei Maximilian II. (1564-1576), 1997; D. Heil, Die Reichspolitik Bayerns unter der Regierung Herzog Albrechts V. (1550-1579), 1998. " Zu Person und Werk Osses: O . A. Hecker, Hg., Melchior von Osse, Schriften, mit einem Lebensabriß und einem Anhange von Briefen und Akten, 1922; H . Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl., 1980, S. 113-119; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 46), S. 8 9 90; A. Schindling, „Verwaltung", „Amt" und „Beamter" in der Frühen Neuzeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7,1992, S. 47-69.

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Manfred Rudersdorf

des Regierens und der politischen Meinungsbildung, aber auch ein Ort des ständischen Interessenausgleichs zwischen Fürst, Fürstenregierung, Adel und Land war. Fragt man nach dem sozialen Bedingungsrahmen adeliger höfischer Existenz im Territorium insgesamt, so ist es sicher erforderlich, das vielschichtige Gesamtsystem der territorialen Herrschafts-, Klientel- und Lehensbeziehungen, die informellen und die offiziellen Kommunikations- und Protektionswege in den Blick zu nehmen und zu analysieren.62 Die Welt des Fürsten war die Sphäre des Hofes, seines ureigenen Hauses, war die Sphäre einer hierarchisch-aristokratisch geprägten Lebenswelt. Es war nicht der Charme der Amtsstuben, der die Mentalität und die Umgangsformen, die Herrschaftsweise und die Denkweise des Regenten bestimmte. Der frühneuzeitliche Fürstenhof entwickelte sich im Zeichen des Wandels durch Renaissance und Reformation sehr schnell zu einer natürlichen Bühne der dynastischen Repräsentation und Selbstdarstellung der Herrscherfamilie, zu einer Drehscheibe des politischen Meinungsaustausches, der diskreten Information und Kontaktpflege, schließlich auch zu einem exklusiven begehrten Personalmarkt, der Chancen des sozialen Aufstiegs, der langfristigen Karriereplanung und nicht zuletzt der adäquaten günstigen Heiratsoptionen eröffnete. Die Größe des Hofes war in der Regel ein untrügliches Kennzeichen für die Bedeutung des Landes innerhalb der ständischen Reichshierarchie sowie für den Rang der Dynastenfamilie im Konzert mit den anderen Fürstenhöfen im Reich. Es gab große und kleine, geistliche und weltliche Höfe, Grafenschlösser, Prälaturen und Rittersitze, die wie Knotenpunkte in einem Netz die unterschiedliche partikulare Herrschaftsstruktur in den Territorien und Landschaften des Alten Reichs nach außen repräsentierten." Aber die Höfe waren nicht nur herrschaftliche Manifestationen der politischen Machtausübung, sondern auch zentrale Orte einer exklusiven und privilegierten adeligen Kunst- und Kulturpflege, in der sich das spezifische Stilempfinden der Zeit widerzuspiegeln vermochte. So blühten die alten Standesideale und feudalen ritterlichen Lebensformen auch im Geiste der verfeinerten Renaissancekultur und des Späthumanismus am Ende des Reformationsjahrhunderts noch weiter fort, ja sie erreichten in der Generation der patriarchalischen Landesväter noch einmal einen unerwarteten Höhepunkt. Jagden, Turniere, Bankette und Konzerte gehörten damals ebenso zum Spektrum der höfischaristokratischen Festkultur, wie neuerdings das Sammeln von Kunst und Antiquitäten, das Anlegen von Bibliotheken und Münzkabinetten, das Bauen von Schlössern und prachtvollen Lusthäusern, die allesamt Stilelemente und Artikulationsformen einer neuen Zeit im Aufbruch, einer veränderten neuzeitlichen Fürstenmentalität im Zeichen pro-

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Die Formierung der „höfischen Gesellschaft" ist im G e f o l g e v o n N o r b e r t Elias nach wie vor ein aktuelles Thema der Forschung, aber es fehlt noch immer an regionalen empirischen Fallstudien in größerer Zahl, die zur Differenzierung des oben skizzierten Bildes beitragen könnten. N . Elias, D i e höfische G e sellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des K ö n i g t u m s und der höfischen Aristokratie, 1969 (inzwischen mehrere Auflagen); J. Frh. v. Kruedener, D i e Rolle des H o f e s im Absolutismus, 1973; R. G . Asch, D e r H o f Karls I. von England. Politik, Provinz und Patronage 1625-1640,1993; R. A. Müller, D e r Fürstenhof in der frühen Neuzeit, 1995; O . Mörke, „Stadtholder" oder „Staetholder" ? Die Funktion des H a u s e s Oranien und seines H o f e s in der politischen Kultur der Republik der Vereinigten Niederlande im 17. Jahrhundert, 1997. - Zur systematischen Auseinandersetzung mit den Thesen von Elias vgl. J . D u i n d a m , Myths of Power. N o r b e r t Elias and the Early M o d e r n C o u r t , 1995. " Zur Leitfunktion des Wiener H o f e s für die Fürstenhöfe im Reich: V. Press, T h e H a b s b u r g C o u r t as Center of the Imperial Government, in: T h e Journal of modern history 58, Supplement, 1986, S. 23—45; H . Schilling, H ö f e und Allianzen. Deutschland 1648-1763, 1989, S. 16-31; R. A . Müller, Fürstenhof (wie A n m . 62), S. 17-32; Brendle, Dynastie, Reich und Reformation (wie A n m . 23), S. 329-337.

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sperierender Wohllebigkeit und wirtschaftlichen Wohlstandes waren." Die Konjunktur der vielen neuen Renaissanceschlösser in Deutschland war zweifellos ein Parameter für die politische und die ökonomische Saturiertheit der regierenden Landesväter, die es sich trotz der drohenden Schuldenlast in der Regel dennoch leisten konnten, allein schon aus Prestige- und Statusgründen das kostspielige Projekt eines Schloßneubaus in Angriff zu nehmen und damit ihrem Residenzmittelpunkt auch äußerlich den gebührenden neuen Glanz zu verleihen. Noch heute geben die erhaltenen Renaissance-Bauwerke in München und Heidelberg, in Stuttgart und Dresden, in Wolfenbüttel, Wittenberg und Marburg Zeugnis von dieser Zeit der extensiven Bautätigkeit und der filigranen Kunstarchitektur, wie sie in den deutschen Residenzen vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges mit einem ständig gesteigerten Interesse gepflegt wurden. Der Typ des frommen, regierungstüchtigen Landesvaters, der die herrscherliche Baulust und höfische Repräsentationskunst zu verantworten hatte, konnte durchaus auch ein Genießer, ein leidenschaftlicher Trinker und Spieler, ein Mäzen der schönen Künste und ein ritterlicher Kavalier mit Esprit und Ausstrahlung sein - Eigenschaften, die für das dynastische Selbstverständnis und das Stilempfinden dieser kunstsinnigen und geselligen Regentengeneration keinesfalls unwesentlich waren. Lange Zeit hat der exzessive Trinkgenuß, haben die gelegentlichen Ausschweifungen und Übertreibungen einzelner, oft nachgeordneter Fürstensöhne und exaltierter Existenzen, das Bild einer ganzen Regentengeneration entstellt und beschädigt, die in ihrer großen Mehrzahl solide und gewissenhaft ihr Herrscheramt ausgeübt hat. Die Normalität konsolidierter Verhältnisse im befriedeten Reich begünstigte sogar noch diesen Hang zu Formen einer bequemeren Lebensweise, einer gönnerhaften Großzügigkeit und übertriebenen Spielfreude, der aber die meisten Fürsten, die ihre Verantwortung ernstnahmen, widerstanden.65 August von Sachsen, Christoph von Württemberg, Julius von BraunschweigWolfenbüttel, Georg Friedrich von Ansbach, Wilhelm und Ludwig von Hessen waren zweifellos glaubwürdige Repräsentanten des Reichsfürstenstandes in ihrer Zeit, die selbstverständlich beide Ebenen ihrer herrscherlichen Existenz fest im Blick behielten und entsprechend ausbauten und förderten: die dynastisch-höfische Ebene einerseits, die regierungsamtlich-administrative andererseits! Beide Ebenen waren in der Realität des Alltags eng miteinander verschränkt und fielen in der Person des fürstlichen Dynasten zusammen, der in seiner Politik der Herrschaftssicherung den kohärenten Zusammenhalt von Staat und Kirche ebenso wie den von Dynastie und Territorium stets beachten und gewährleisten mußte. So entsprach also der Sinn für repräsentative Baukunst, für höfische Kulturpflege und dynastische Selbstdarstellung ebenso den Tendenzen der Zeit 64

65

Vgl. hierzu vor allem E. Trunz, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, 2. Aufl. 1985; Ders., Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, in: R. Alewyn, Hg., Deutsche Barockforschung, 1966, S. 147-181; W. Braunfels, Die Kunst im Heiligen Römischen Reich, hier Bde. 1-3, 1979-1981; W. Fleischhauer, Renaissance im Herzogtum Württemberg, 1971; U . Schultz, Hg., Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, 1988; P. Münch, Lebensformen in der frühen Neuzeit 1500-1800, 1992, S. 445^(51; Th. DaCosta Kaufmann, Höfe, Klöster und Städte. Kunst und Kultur in Mitteleuropa 1450-1800, 1998. Eine zusammenhängende, moderne Kultur- und Mentalitätsgeschichte des Reichsfürstenstandes im konfessionellen Zeitalter gibt es nicht, so daß wir weiterhin auf Einzelaspekte und Einzelbeispiele angewiesen sind. Vgl. vorzugsweise Härtung, Deutsche Geschichte (wie Anm. 37), S. 80-95; Press, Kriege und Krisen (wie Anm. 15), S. 80-135; Hammerstein, Physiognomie des konfessionellen Zeitalters (wie Anm. 49), S. 72-85; M. Rudersdorf, Herzog Ludwig (1568-1593), in: R. Uhland (wie Anm. 17), S. 1 6 3 173; Weber, Dynastiesicherung und Staatsbildung (wie Anm. 13), S. 91-136. - Aspektreich und weiterführend durch das Medium einer Biographie: Moritz der Gelehrte. Ein Renaissancefürst in Europa, Handbuch zur Ausstellung im Weserrenaissance - Museum, Schloß Brake, 1997.

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wie das harte Ringen um theologische Wahrheit und erneuerte Frömmigkeit, wie schließlich der forcierte Prozeß der Bürokratisierung und der Verrechtlichung der Macht. Die Generation der Landesväter markiert daher eine interessante und wichtige Zeitspanne, in der mehrere Prinzipien der Politikgestaltung und der Herrschaftspraxis konkurrierend miteinander rangen und sich unentschieden die Waage hielten - dynastische, konfessionelle und politisch-säkulare. Die Rolle des zumeist unterschätzten dynastischen Aspekts der territorialen Fürstenherrschaft, die Rolle des Hofes und die Dignität der Fürstenfamilie, bedürfen jedoch in der Zukunft einer ungleich stärkeren Beachtung, will man insgesamt dem Profil der Zeit und dem der patriarchalischen Landesväter als Gewinnern der Reformation im besonderen adäquat gerecht werden.

Die besondere Rolle der Fürstin Eine besondere Rolle im dynastischen Selbstverständnis dieser Zeit spielte zweifellos die Ehefrau des Fürsten, weniger demonstrativ als politische Ratgeberin denn als fromme mütterliche Landesregentin an der Seite ihres Mannes, dessen Name in der Regel gleichsam der Epoche die Signatur aufdrückte. Die nach außen gewandte Stilisierung der Fürstenfamilie - das Herrscherpaar inmitten seiner Kinder - war im religiösen Kontext des Zeitalters gewiß kein Zufall, sondern eine programmatische, eine in jeder Hinsicht identitätsstiftende Absicht: Die vielen erhaltenen Epitaphien, die kunstvollen Grabdenkmäler und wertvollen Altarbilder etwa zeugen noch heute von dieser Form höfisch-feudaler, für die Zeitgenossen unmittelbar wahrnehmbarer Herrschaftspräsentation, in der sich Frömmigkeitskultur, konfessionelle Identifikationsbereitschaft und sakrale dynastische Überhöhung manifestieren. „Herrschaft" personifizierte sich hier augenfällig in der Gestalt des Landesvaters und der Landesmutter, sie artikulierte sich den Blicken der Bevölkerung personal und konkret, nicht abstrakt - sie war eine solche von Dynasten und Dynastenfamilien, also auch der Fürstin als Mitregentin und als oberster Repräsentantin des adeligen höfischen Familienverbandes.66 Die Frau des Fürsten wirkte zumeist in der Sphäre der höfisch-aristokratischen Welt, innerhalb des überschaubaren Areals des Residenzschlosses, inmitten ihres eigenen Hofstaats, aus dem in der Regel nur wenige Informationen nach außen drangen, die besonders aussagekräftig waren. Sie unterstützte ihren Mann - bisweilen eher verdeckt und diskret als offen und direkt - bei der Ausübung seiner herrscherlichen Pflichten und Amtshandlungen, zumal im Rahmen des hierarchischen höfischen Zeremoniells, und sie kümmerte sich als sorgende Mutter mit um die Erziehung des fürstlichen Nachwuchses, um seine religiöse Unterweisung und seine zeitgemäße humanistische Ausbildung im Geiste der Reformation. So waren vor allem die Fürstentöchter in einer Zeit der ausgeprägten Standessolidarität und der zunehmenden höfischen Exklusivität in hohem Maße begehrte Heiratspart"

Zur Rolle der Frau im höfischen und gesellschaftlichen Leben am Beginn der Neuzeit vgl. neuerdings die Beiträge in G . D u b y / M . Perrot, Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, hg. v o n A. Farge u. N . Z e m o n Davis, 1994; M . L . King, Frauen in der Renaissance, 1993; H . Wunder, „ E r ist die Sonn', sie ist der M o n d " . Frauen in der Frühen N e u z e i t , 1992; E . K l e i n a u / C . O p i t z , Hg., Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1 , 1 9 9 6 ; J . Mager, D i e Rolle der Frauen in der Reformation, in: 450 Jahre Reformation in O s n a b r ü c k , Ausstellungskatalog, 1993, S. 143-154; A. Schröer, Der Anteil der Frau an der Reformation in Westfalen, in: R. Bäumer, H g . , Reformatio ecclesiae. Festgabe für E. Iserloh, 1980, S. 641-660; S. Westphal, Frau und lutherische Konfessionalisierung. Eine Untersuchung z u m Fürstentum P f a l z - N e u b u r g , 1 5 4 2 - 1 6 1 4 , 1 9 9 4 ; O . Borst, Hg., Frauen bei H o f , 1998.

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ner, die über das Konnubium traditionelle politische Konstellationen vertiefen und neue konfessionelle Optionen unter den Reichsdynastien eröffnen konnten. Die soziale Konfiguration des Reichsfürstenstandes als eines eng verwandten Familienverbandes hing daher zweifellos mit der kunstvollen Heiratspolitik der exponierten Höfe im Reich zusammen, für die etwa das Beispiel der hessisch-sächsischen und der hessisch-württembergischen Liaisonen im Zeichen des neuen Glaubens paradigmatische Einsichten in die personalen Vernetzungsstrukturen und die exklusive Optionspolitik der vornehmen Reichsdynastien im 16. Jahrhundert liefert.' 7 Das Reformationsjahrhundert kannte eine Reihe besonders profilierter, markanter Fürstenfrauen, darunter tatkräftige und energische, machtbewußte und auch unglückliche, tragische Figuren. Viele von ihnen waren im humanistischen Geist erzogen, unprätentiös in der Lebensführung, fest in ihrem Glauben verwurzelt und mit einem Potential an Loyalität und altadeliger Standessolidarität ausgestattet, das über manche dynastischen und politischen Krisen im fürstlichen Familienverband und unter den Höfen klärend und konflikthemmend hinweghalf. In der Stunde ihrer tiefsten Demütigung hielt Christine von Sachsen, die Tochter des altgläubigen Herzogs Georg des Bärtigen, ihrem Mann Philipp von Hessen die Treue, als dieser 1540 eine spektakuläre Nebenehe mit dem Hoffräulein Margarethe von der Saale einging und sich damit - politisch diskreditiert und juristisch dem Bigamievorwurf ausgesetzt - auf eklatante Weise dem kaiserlichen Zugriff auslieferte.68 Am Beginn des Scheiterns der Schmalkaldischen Bundesgenossen stand also nicht zuletzt mit weitreichenden politischen Implikationen eine Familienaffäre ihres prominenten Anführers, die Aufschluß gibt nicht nur über die personengeschichtlich relevanten individuellen Schwächesymptome dieses Mannes in einer kritischen Situation der Reformations- und Reichsgeschichte, sondern auch über den Grad und die Artikulationsformen der Geschlechterbeziehungen zwischen „Mann" und „Frau" in der höfisch-aristokratischen Welt der deutschen Spätrenaissance. Die eigentliche Stunde der Macht für die Fürstinnen aber schlug erst, als ihre Männer gestorben waren und sie im Witwenstand die Sukzession für ihre minderjährigen Söhne in Gestalt von Vormundschaftsregierungen sicherzustellen hatten. Ein aristokratisches „Frauenregiment" war dies in der Regel nicht, wohl aber oft die Form einer resoluten, machtpolitisch geschickten, die fürstliche Landesherrschaft sichernden Zwischenherrschaft, die durchaus neue und eigenwillige Akzente zu setzen vermochte. Anna von

" Die enge Verbindung zwischen Hessen und den sächsischen Albertinern wurde so 1519 und 1523 durch zwei Doppelhochzeiten gekrönt: Philipp der Großmütige heiratete Christine von Sachsen, seine Schwester Elisabeth (von Rochlitz) den Bruder Christines, Herzog Johann von Sachsen, beide Kinder des katholischen Herzogs Georg des Bärtigen. Während später die Tochter Philipps des Großmütigen, Agnes, mit dem Kurfürsten Moritz von Sachsen verheiratet war, orientierten sich die drei Söhne Philipps, Wilhelm, Ludwig und Georg, anders, indem sie alle drei Töchter Herzog Christophs von Württemberg ehelichten. Mit diesem spektakulären dynastischen Orientierungswechsel Hessens auf Württemberg, eingeleitet im Jahre 1563, war auch eine temporäre politische und konfessionelle Umorientierung auf die süddeutsche Vormacht des Luthertums verbunden. Vgl. dazu Rudersdorf, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg (wie Anm. 17), S. 67-86; G. Wartenberg, Luthers Beziehungen zu den sächsischen Fürsten, in: H. Junghans, Hg., Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, Bd. 1, 1983, S. 549571; Bd. 2, S. 916-929. " Zu Hintergrund und Motiven: W. W. Rockwell, Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen, 1904, N D 1985; W. Köhler, Die Doppelehe Landgraf Philipps von Hessen, in: Historische Zeitschrift 94 (1905), S. 385-411; G. Müller, Karl V. und Philipp der Großmütige (wie Anm. 54), S. 23-27; Rudersdorf, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg (wie Anm. 17), S. 54-57; Schmidt, Geschichte des Alten Reiches (wie Anm. 1), S. 80-87.

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Mecklenburg (für ihren Sohn Philipp von Hessen), 69 Anna von Ostfriesland (für ihre beiden Söhne Edzard II. und Johann) 70 sowie Elisabeth von Braunschweig-LüneburgCalenberg (für ihren Sohn Erich II.)7' sind hierfür zweifellos prominente eingängige Beispiele. Mit Herzogin Elisabeth von Calenberg, der Tochter des altgläubigen Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg, humanistisch gebildet und selbst schriftstellerisch tätig, trat insbesondere eine Vormundschaftsregentin hervor, die 1540 bis 1546 durch Verordnungen, Mandate und Visitationen der Reformation in ihrem Land mit programmatischem Anspruch zum Durchbruch verhalf. Mit Zähigkeit verteidigte sie diese Position gegen die Revisionsversuche Herzog Heinrichs des Jüngeren, ihres benachbarten katholischen Verwandten in Wolfenbüttel: So schrieb sie 1545 einen „Christlichen Sendbrief" an ihre Untertanen und ein „Regierungshandbuch" für ihren Sohn Herzog Erich II.; weitere Traktate, Instruktionen und sogar geistliche Lieder, ein „Ehestandsbuch" für ihre Tochter Anna Maria von Preußen, sowie schließlich ein „Witwentrostbuch" von 1556 sind erhalten geblieben - Taten und Werke also, die von der tiefreligiösen Gesinnung dieser Frau, aber auch von ihrer wachen politischen Sensibilität und ihrem obrigkeitlichen Selbstverständnis als fürsorglicher christlicher Landesmutter zeugen.72 Gerade in dem entschiedenen Auftreten der literarisch tätigen Herzogin Elisabeth von Calenberg in den 1540er und 1550er Jahren zeigte sich sehr eindrucksvoll die Kombination von evangelischem Bekenntnis, von dynastischem Selbstverständnis und humanistischer Gelehrsamkeit, die keineswegs nur ein Qualifikationsmonopol der Männerwelt war, sondern im Zeichen der Renaissance und des reformatorischen Wandels immer stärker auch die Bildungswelt der Fürstentöchter und der Fürstinnen erreichte. Eine im Volksbewußtsein so populäre, wenn auch strenge und herrschsüchtige „Landesmutter" etwa wie die lutherische Kurfürstin Anna von Sachsen, die dänische Königstochter und Ehefrau Kurfürst Augusts, die sich als praktische Ökonomin und energische Ratgeberin hervortat, wäre ohne einen entsprechend geförderten gehobenen Bildungshintergrund nicht denkbar gewesen. Wie kaum eine andere wettinische Fürstin hat die selbstbewußte und ehrgeizige Frau aktiv Einfluß auf die Entwicklung des Kurstaates genommen, hat sie das Konsolidierungswerk ihres Mannes unterstützt und der lutherischen Landeskirche dogmatisch zu festerer Gestalt mitverholfen. In der Verehrung von „Vater August" und „Mutter Anna" sprach sich später die Anerkennung der Menschen für die bemerkenswerte innenpolitische Aktivität des Fürstenpaares aus, die auf die organisatorische, kulturelle und wirtschaftliche Hebung des großen Flächenstaates zielte. 7 ' Die bewußt nach außen gewandte Präsentation des Fürstenpaares als „Amtsehepaar", als Landesvater und Landesmutter, analog zur Position des Hausvaters und der Hausmutter, stand nach den Auseinandersetzungen der Reformationszeit erst am An-

" Rudersdorf, Hessen (wie Anm. 10), Bd. 4, 1992, S. 261-265. 70 M. Smid, Ostfriesland (wie Anm. 10), Bd. 3,1991, S. 167-174. - Neuerdings: H . E.Janssen, Gräfin Anna von Ostfriesland - eine hochadelige Frau der späten Reformationszeit (1540/42 - 1575). Ein Beitrag zu den Anfängen der reformierten Konfessionalisierung im Reich, 1998. 71 Ziegler, Braunschweig-Lüneburg (wie Anm. 10), Bd. 3,1991, S. 21-24. 12 Eine moderne Biographie Herzogin Elisabeths fehlt. Vgl. J. Klettke-Mengel, Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (Calenberg), in: N e u e Deutsche Biographie 4 (1959), S. 443^144; Westphal, Frau und lutherische Konfessionalisierung (wie Anm. 66), S. 297; Wunder, Frauen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 66), S. 208-211; Mager, Frau in der Reformation (wie Anm. 66), S. 148-149. 73 Eine moderne Biographie Kurfürstin Annas fehlt. - Smolinsky, Albertinisches Sachsen (wie Anm. 10), Bd. 2, 1993, S. 23-26. - Kötzschke/Kretzschmar, Sächsische Geschichte (wie Anm. 53), S. 219-235; K. Blaschke, Sachsen im Zeitalter der Reformation, 1970, S. 126-128.

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fang einer Entwicklung, die nach Orientierung und nach Leitbildern suchte und diese schließlich in dem Lebensstil des konfessionellen patriarchalischen Landesstaates fand.74 Die deutlich aufgewertete Rolle der gebildeten, der bekenntnistreuen Fürstenfrau entsprach dabei ganz der Vorbildfunktion, die von dem Ideal der intakten christlichen Fürstenfamilie in einem geordneten Fürstenstaat ausgehen sollte. Die soziale und die mentale Rückwirkung dieser Vorbildfunktion auf bestimmte Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster innerhalb der partikularisierten Reichsgesellschaft harrt indessen aber noch weitgehend der Erforschung. Hier könnte die moderne Frauen- und Geschlechtergeschichte, die sich zuletzt stärker als bisher mit Repräsentantinnen der aristokratischen höfischen Oberschicht und deren pointierter Rolle bei der konkreten Machtteilhabe am Fürstenregiment beschäftigt hat, zweifellos zu weiteren neuen kulturgeschichtlichen Einsichten und komparatistischen Ergebnissen gelangen/ 5

Ein Fazit in fünf Thesen Der hier angewandte zeitgenössische Quellentopos des „Landesvaters" markiert innerhalb der Zeitspanne des konfessionellen Zeitalters zwischen dem Augsburger Religionsfrieden und dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges eine spezifische Ausdrucksform betont patriarchalischer und konsensorientierter Repräsentations- und Regierungsweise, die als ein konstitutiv politisches und generatives Phänomen der Epoche zu bewerten ist. Die „Landesväter", die am meisten von dem reformatorischen Wandlungsprozeß profitierten, wuchsen aus der älteren Generation der originären Reformationsfürsten der ersten Stunde heraus und grenzten sich gegen den neuen Fürstentyp am Ende des Jahrhunderts ab, der im Zeichen der beginnenden frühabsolutistischen Herrschaftsweise bereits lange vor dem Ausbruch des Krieges 1618 weit weniger kompromißbereit und ständefreundlich auftrat. Die besondere Rolle der „Landesväter" als Scharniergeneration zwischen den Reformationsfürsten des 16. Jahrhunderts und den exponierten Kriegsfürsten des 17. Jahrhunderts soll zuletzt noch einmal thesenartig konturiert und zusammengefaßt werden. 1. Die Fürsten gehörten ohne jeden Zweifel zu den privilegierten Gewinnern der Reformation - sie profitierten in besonderer Weise von deren Schubkraft auf den fundamentalen Erneuerungsprozeß in Staat, Kirche und Ständegesellschaft in Deutschland. Die Ge7
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