Bildung als Mittel und Selbstzweck: Korrektive Erinnerung wider die Verengung des Bildungsbegriffs 9783495998465, 9783495483930


117 58 1MB

German Pages [236] Year 2009

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Einleitung
I. Bildungskonzepte der klassischen deutschen Philosophie
Vernunft in der Entwicklung. Kants Konzept der Erziehung und Bildung
»Menschenbildung«. Staatspolitische Erziehung beim späten Fichte
Ausbildung zum Genie. Schelling und die Bildung zur Innovationsfähigkeit
Bildung, Entzweiung, Sprache. Zur Dialektik des Bildungsgeschehens nach Hegel
II. Perspektiven der Bildungspolitik
Bildungsreformen in Ost undWest – Versuch einer Bilanz
Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität
III. Bildung im Zusammenhang der modernen Kultur
Stätten der Lebensnot? Über die Gegenwart unserer Bildungsanstalten
Aristokratisierung des Geistes. Philosophische Ortsbestimmung des Horizonts gegenwärtiger Thematisierung von Bildung
Halbbildung
Zu den Autoren
Personenregister
Recommend Papers

Bildung als Mittel und Selbstzweck: Korrektive Erinnerung wider die Verengung des Bildungsbegriffs
 9783495998465, 9783495483930

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

A

Axel Hutter Markus Kartheininger (Hg.)

Bildung als Mittel und Selbstzweck Korrektive Erinnerung wider die Verengung des Bildungsbegriffs

BAND 83 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495998465

.

B

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Das eigentümliche Konzept der Bildung ist der Leitbegriff, an dem die umfassenden Reformen an Schulen und Universitäten zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren geistigen Kristallisationspunkt und ihre Legitimation fanden. Die im Denken der klassischen deutschen Philosophie wurzelnde Bildungsreform zog für das deutsche Erziehungswesen nicht nur die Konsequenzen aus den tiefgreifenden sozialen, politischen und ideellen Veränderungen, die aus der europäischen Aufklärung hervorgingen. Darüber hinaus verstanden sich die theoretischen Modelle von Bildung als eine Aufklärung der Aufklärung, indem sie die Grenzen des utilitaristischen, auf staatliche und soziale Verwertungszwecke festgelegten Denkens der Aufklärung aufzeigten. Im Begriff der Bildung sollten demgegenüber die Aufgaben der Ausbildung und die Verantwortung für staatliche und gesellschaftliche Erfordernisse mit der selbstzweckhaften Bildung der Person zu einer neuen Einheit finden. Die klassische deutsche Philosophie ist sich dabei durchaus der Ambivalenz des Bildungsgedankens bewußt. Zwar eröffnet Bildung durch das Aufzeigen allgemeiner Perspektiven und Gesichtspunkte das Heraustreten aus dem Vertrauten und Partikularen, die Abwägung und Vergleichung der verschiedenen Aspekte einer Sache und somit die Voraussetzungen, um zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden zu lernen. Allein, die allgemeinen Gesichtspunkte garantieren nicht schon die Vernünftigkeit im praktischen und theoretischen Urteilen. Die Konkretisierung der Allgemeinbegriffe verlangt eine anspruchsvolle lebendige Aneignung durch den Träger des Wissens, so daß Bildung stets Gefahr läuft, teils in unfruchtbaren allgemeinen Kenntnissen zu erstarren, teils aber aufgrund dieses Restes an Unbestimmtheit durch partikulare Interessen instrumentalisiert zu werden. Die enge Verbindung, die etwa Hegel zwischen Bildung und »Entfremdung« aufzeigt, reflektiert daher von Beginn an bereits Erscheinungsformen von Bildung, die bis heute auch stets zur Nüchternheit gegenüber allzu überschwänglichem Pathos anhalten: die Verdinglichung von Bildung zu »Kulturgütern«, ihre Ideologisierung, ihre Instrumentalisierung für Daseinsfürsorge, soziales Prestige und Selbstdarstellung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Heute dominieren in der öffentlichen Bildungsdiskussion wie selbstverständlich betriebswirtschaftliche Kategorien und Methoden (Qualitätskontrolle, Effizienz- und Nutzenmaximierung, Evaluation, Outputorientierung, Standardisierung). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Selbstverständigung über Bildung einer korrektiven Erinnerung an die weiteren Horizonte der »klassischen« Bildungsdebatte bedarf, um die mit dem Bildungskonzept einhergehenden Sachfragen unverkürzt und ohne allzu rasche Vorentscheidungen in den Blick zu bekommen. Die Herausgeber: Prof. Dr. Axel Hutter, geb. 1961, Ordinarius für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Markus Kartheininger, geb. 1969, Hegel-Forschungsstelle, Ludwig-Maximilians-Universität München.

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.) Bildung als Mittel und Selbstzweck

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Lhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rmelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 83

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

Bildung als Mittel und Selbstzweck Korrektive Erinnerung wider die Verengung des Bildungsbegriffs

Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

2. Auflage 2013 Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / Mnchen 2009 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48393-0

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Inhaltsverzeichnis

Axel Hutter Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I. Bildungskonzepte der klassischen deutschen Philosophie Andrea Marlen Esser Vernunft in der Entwicklung. Kants Konzept der Erziehung und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

Günter Zöller »Menschenbildung«. Staatspolitische Erziehung beim späten Fichte

42

Paul Ziche Ausbildung zum Genie. Schelling und die Bildung zur Innovationsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Thomas Sören Hoffmann Bildung, Entzweiung, Sprache. Zur Dialektik des Bildungsgeschehens 82 nach Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Perspektiven der Bildungspolitik Hans Maier Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz . . . .

106

Julian Nida-Rümelin Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

7

Inhaltsverzeichnis

III. Bildung im Zusammenhang der modernen Kultur Konrad Paul Liessmann Stätten der Lebensnot? Über die Gegenwart unserer Bildungsanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146

Markus Kartheininger Aristokratisierung des Geistes. Philosophische Ortsbestimmung des Horizonts gegenwärtiger Thematisierung von Bildung . . . .

157

Axel Hutter Halbbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228

Zu den Autoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

233

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Einleitung Axel Hutter (München)

Der Begriff der »Bildung« ist einem älteren Begriff verwandt, der heutzutage einen eigentümlich unzeitgemäßen Klang besitzt: dem Begriff der Weisheit. Die Philosophie, d. h. die Liebe zur Weisheit, unterhält damit ihrem eigenen Selbstverständnis nach eine intime Beziehung zur Bildung. Daher ist es für eine Vorverständigung über den Begriff der Bildung aufschlußreich, einen kurzen Blick auf die klassische Gestalt des Weisen zu werfen, wie sie exemplarisch in Sokrates verkörpert wird. Sokrates galt nämlich nicht deshalb als besonders weise, weil er besonders viel wußte, sondern gerade umgekehrt, weil er den Mut hatte, zu bekennen, er wisse im Grunde nichts. Diese eigentümliche Provokation des sokratischen Nichtwissens lebt aber, so könnte man vermuten, in jedem angemessenen Verständnis von Weisheit und Bildung weiter und wird von ihm jeweils neu interpretiert. Die sokratische Weisheit des ironischen Nichtwissens gewinnt aber ihren historischen wie systematischen Sinn durch ihre kritische Opposition gegenüber dem Wissen der Sophisten, das als Scheinwissen entlarvt werden soll. In dieser Tradition steht etwa Aristoteles, wenn er die Sophistik als scheinbare Weisheit der wirklichen Weisheit gegenüberstellt und vom Sophisten sagt, er sei ein Mensch, der mit scheinbarem, nicht wirklichem Wissen seine Geschäfte macht. 1 Die Philosophie als Liebe zur Weisheit zeigt sich somit von dem kritischen Bewußtsein getragen, daß das Wissen nicht nur vom einfachen Nichtwissen, sondern mehr noch von einer besonderen Form des Scheinwissens bedroht ist. Die wahre Weisheit besteht deshalb für Sokrates gerade in einer subtilen Kunst der kritischen, d. h. unterscheidenden Negation, die – wie die Heilkunst des Arztes – gerade dadurch zu helfen versteht, indem sie – wie eine Diät – dem Menschen zunächst etwas 1

Aristoteles, Sophistische Widerlegungen 165 a. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

9

Axel Hutter

nimmt (die Täuschung durch den Schein), um ihn so überhaupt erst in die Lage zu versetzen, die Wahrheit zu erkennen. 2 In der mächtigen, auch heute noch andauernden Wirkungsgeschichte des sokratischen Projektes, Weisheit und Scheinwissen kritisch zu unterscheiden, nimmt Kant eine ausgezeichnete Stellung ein. Wie sehr sich die Philosophie Kants in die Tradition der sokratischen Kunst des Unterscheidens stellt, wird bereits daran deutlich, daß ihre Hauptwerke den Titel »Kritik« tragen. Es ist daher kein Zufall, daß Kant das ihn leitende Verständnis der Philosophie am Leitfaden einer kritischen Unterscheidung vorträgt, nämlich mit Hilfe der Unterscheidung eines Schul- und eines Weltbegriffs der Philosophie. »In der erstern Rücksicht« ist die Philosophie, so Kant, »eine Lehre der Geschicklichkeit; in der letztern, eine Lehre der Weisheit« 3 . Die programmatische Nähe zu Sokrates wird vollends deutlich, wenn Kant fortfährt: »Der Vernunftkünstler oder, wie Sokrates ihn nennt, der Philodox, strebt bloß nach speculativem Wissen, ohne darauf zu sehen, wie viel das Wissen zum letzten Zwecke der menschlichen Vernunft beitrage; er giebt Regeln für den Gebrauch der Vernunft zu allerlei beliebigen Zwecken. Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph. Denn Philosophie ist die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt« 4 . Die kritische Grundunterscheidung zwischen spekulativer und praktischer Vernunft, die das systematische Fundament der transzendentalen Vernunftkritik bildet 5 , gibt sich hier als erinnernde Anknüpfung an die sokratische Sophistenkritik zu erkennen: Scheinweisheit ist ein Wissen als Mittel zu beliebigen Zwecken, Weisheit hingegen ein Wissen, das den letzten Zwecken der Vernunft gerecht zu werden vermag. Kants Vernunftkritik zeigt somit ein klares Bewußtsein davon, daß die sokratische Kritik an der Scheinweisheit der Sophisten nicht nur ein historisches Phänomen ist, sondern einen systematischen Sachgehalt besitzt, der zu jeder Zeit virulent ist und immer neue historische Gestalten annehmen kann. Kants Kritik des transzendentalen Scheins der Cf. Verf., Kant und das Projekt einer Metaphysik der Aufklärung. In: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, ed. Klemme, H., Berlin, 2009. 3 Kant, Immanuel, Logik, AA IX, p. 24. 4 Ibid. 5 Cf. Verf., Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg, 2003. 2

10

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Einleitung

Vernunft bleibt also dem sokratischen Begriff der Philosophie gerade dadurch treu, daß er auf eine veränderte Gestalt des Grundproblems mit einer veränderten, neuen Form der Kritik antwortet. Im Anschluß an Kant ist es Hegel, der die Kritik, die philosophisch am sophistischen Schein geübt wird, in systematischer Absicht mit dem Bildungsbegriff verknüpft. Denn indem »Sokrates und Platon sich in einen Kampf mit den Sophisten eingelassen und den Gegensatz gegen sie gemacht« haben, sind sie auch gegen das sophistische Konzept der Bildung zu Felde gezogen. Die eigentümliche Stellung, welche die Sophisten Hegel zufolge »in Griechenland einnahmen«, war nämlich genau die, »ihrem Volke eine höhere Bildung überhaupt gegeben zu haben«. Hierdurch haben »sie sich zwar ein großes Verdienst um Griechenland erworben«, doch trifft sie zugleich »eben der Vorwurf, der überhaupt die Bildung trifft«. Hegel nimmt hier also einen Vorwurf in den Blick, der nicht etwa einen Mangel an Bildung, sondern die Bildung selbst betrifft. Gerade die Möglichkeit dieses Vorwurfs ist es aber, die für Hegel die immer wiederkehrende Aktualität der Sophistik samt der philosophischen Kritik an ihr begründet: »Die Sophistik liegt uns also nicht so entfernt, als man denkt. Wenn jetzt gebildete Menschen über Gegenstände sprechen, so kann dies sehr gut sein; aber es ist nichts anderes, als was Sokrates und Platon Sophistik genannt haben«. 6 Blickt man so mit Hegel auf Sokrates zurück, dann läßt sich nicht nur sagen, daß die Geschichte der Bildung lang, sondern ebenso, daß diese Geschichte aus sachlichen Gründen eine Geschichte der Krise und der Kritik gewesen ist. Es kann daher nicht überraschen, daß sie es bis heute geblieben ist. Vor diesem Hintergrund wollen die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze von der Gegenwart her an die Geschichte der Bildung und des Bildungsbegriffs erinnern. Am Anfang stehen dabei Erinnerungen an den Bildungsbegriff bei Kant und an die großen Bildungskonzeptionen von Fichte, Schelling und Hegel, die sich allesamt in der einen oder anderen Form an Kant anschließen. Hierauf folgen Überlegungen, die in je eigener Weise die politische Dimension der Bildung und die Erscheinungsformen der modernen Bildungskrise thematisieren. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: id., Werke, ed. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Bd. 18, Frankfurt, 19932 , p. 420.

6

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

11

Axel Hutter

Die Gefahr, die solchen Erinnerungen innewohnt, ist freilich die, daß sie bloß in einem historischen Sinne erfolgen und dadurch selbst nur zum Wissen, aber nicht zur Bildung beitragen. Denn die Krise, die man mit einigem Recht die spezifisch moderne Krise der Bildung (und der Philosophie) nennen kann, besteht nämlich ganz wesentlich darin, daß das überbordende historische Wissen zu einer bildungsfeindlichen Instanz geworden ist. Diesen Gedanken hat wohl in aller Schärfe erstmals Nietzsche formuliert, der es sich als besonderes Verdienst anrechnet, den »historischen Sinn«, auf den das 19. Jahrhundert »stolz ist, zum erstenmal als Krankheit erkannt« zu haben, »als typisches Zeichen des Verfalls«. 7 Nietzsche glaubt nämlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Krise konstatieren zu müssen, deren Leitsymptom ein »überschwemmendes, betäubendes und gewaltsames Historisieren« ist. Insbesondere der Unterricht wird hierdurch verdorben: »Der junge Mensch wird durch alle Jahrtausende gepeitscht«, und »die Masse des Einströmenden ist so groß, das Befremdende« dringt so übermächtig »auf die jugendliche Seele ein, daß sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiß«. 8 Der historische Sinn wird dergestalt zur Grundlage einer neuen Bildungsfeindschaft. Das Übermaß der rezipierten Geschichte erstickt die autonome Spontaneität der verstehenden Aneignung und die Ohnmacht des Geistes läßt die in der Bildung angestrebte Weisheit in einer unüberschaubaren Masse historischer Kenntnisse untergehen. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einer Musealisierung des Geistes: Wie »der junge Mensch durch die Geschichte läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern, so hören wir Konzerte. Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes, das wirkt anders als jenes: dies Gefühl der Befremdung immer mehr zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen zu lassen – das nennt man dann wohl den historischen Sinn, die historische Bildung«. 9 Es liegt auf der Hand, daß die hier versammelten Erinnerungen nicht auf eine solche Musealisierung des Geistes abzielen. Deshalb wer-

Nietzsche, Friedrich, Ecce Homo. In: id., Werke in drei Bänden, ed. Schlechta, Karl, München, 1980, Bd. 2, p. 1113. 8 Nietzsche, Friedrich, Vom Nutzen und Nachteil der Historie. In: id., Werke, l. c., Bd. 1, p. 255. 9 Ibid. 7

12

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Einleitung

den sie pointiert als korrektive Erinnerungen bezeichnet. Sie stellen mithin den Versuch dar, an die Konzepte der klassischen deutschen Philosophie und ihre Wirkungsgeschichte in einer Weise zu erinnern, daß diese Lehrstücke gerade aus den »Kunstkammern« der Philosophiegeschichte befreit werden. Deshalb treten die nachfolgenden Überlegungen zur gegenwärtigen Situation der Bildung nicht als fremder Zusatz hinzu; sie bilden vielmehr einen integralen Bestandteil im Konzept des vorliegenden Bandes: So wie die kritische Reflexion zu Fragen der Gegenwart blind ist, wenn sie sich nicht mit dem Wissen der Vergangenheit sättigt, so ist das Wissen der Vergangenheit für sich genommen hohl, wenn es keinen Kontakt zum Gegenwartsbewußtsein gewinnt.

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

13

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

I. Bildungskonzepte der klassischen deutschen Philosophie

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung. Kants Konzept der Erziehung und Bildung Andrea Marlen Esser (Marburg)

»Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht« (Kant, 9: 443) 1 . In dieser emphatischen, fast modern anmutenden Bemerkung zur Erziehung drückt sich eine allgemeine Kantische Grundüberzeugung aus: Vernünftiges und – darin eingeschlossen – moralisches Handeln kann nur über Kultivierung und Bildung 2 erreicht werden. Der Mensch ist der Möglichkeit nach ein freihandelndes Wesen; er kann, muß und soll daher etwas ›aus sich selber machen‹ (Cf. Kant, 7: 11). Doch eben wegen dieser Freiheit ist der Mensch der Erziehung nicht nur fähig, sondern auch bedürftig (Cf. Kant, 7: 323, 324). Denn als freiheitsfähiges Wesen kann sich der Mensch weder in seiner persönlichen noch in seiner kollektiven Entwicklung als Gattung auf eine sich ohne eigene Anstrengung entfaltende Naturbestimmung verlassen. Die einzige Bestimmung des Menschen ergibt sich aus der Vernünftigkeit, die auch seine Freiheit begründet. Sie macht es ihm zugleich zur Pflicht, sich durch »Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren« (Kant, 7: 324). 3 Dazu ist der Mensch freilich auf die Gemeinschaft mit anderen angewiesen und muß seinen Fortschritt in einem aktiven und kollektiven Entwicklungsprozeß vorantreiben, um die nur keimhaft vorliegenden intellektuellen und moralischen AnDie Schriften Kants werden im folgenden im Text (mit Bandangabe und Seitenzahl) nach der Akademieausgabe zitiert: Kant, Immanuel, Gesammelte Schriften, ed. Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig, 1902 ff. 2 Unter »Bildung« verstehe ich im folgenden mit Kant den Erziehung und Entwicklung umfassenden Begriff, der sowohl auf Entwicklungsprozesse von Individuen als auch der Gattung bezogen werden kann. 3 »Dieselbe Trias begegnet bereits im Brief an Marcus Herz Ende 1773: ›[…] eine Vorübung der Geschicklichkeit der Klugheit und selbst der Weisheit […].‹ (X 146,5–6) In der Pädagogik: ›Zu der praktischen Erziehung gehört 1) Geschicklichkeit, 2) Weltklugheit, 3) Sittlichkeit.‹ (IX 486, 6–7)« (Brandt, Reinhardt, Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg, 1999, p. 473). 1

16

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

lagen zur Entfaltung zu bringen. Diese Entfaltung vollzieht sich nach Kant in den drei erwähnten Schritten: Kultivierung, Zivilisierung, Moralisierung. Da es aber nicht nur um die »Moralisierung« einzelner, sondern auch um die der Gesellschaft insgesamt geht und schließlich sogar um den Entwicklungsgang der Menschengattung, sind nach Kant auch die Regierenden der Welt dazu angehalten, die Verbesserung der öffentlichen Erziehung zu betreiben und die staatlichen Institutionen entsprechend einzurichten. Kants Diagnose der Erziehungsideen seiner Zeit fiel, vermutlich auch von eigenen leidvollen Erfahrungen geprägt 4 , sehr kritisch aus. In den Nachschriften seiner Vorlesungen zur Pädagogik, Anthropologie und Moral lassen sich zahlreiche Äußerungen finden, in denen er die »mechanische Erziehung« (Kant, 15: 824; 7: 225; 7: 220) seiner Jugend beklagt und sie als zur Förderung des eigenständigen Denkens und der Individualität der Heranwachsenden abträglich beurteilt: »Bey den Deutschen findet man grösten theils den Geist der Nachahmung, woran unsre Schriftsteller viel Ursache haben, denn hier werden die Kinder mit nichts mehr, als mit Nachahmung und Gedächtniß Sachen gequält. Ia das ganze lateinisch-lernen in den Schulen, da die Kinder sogar die Phrases auswendig lernen müßen, und in Ausarbeitungen sich ihrer bedienen, hindert nur gar zu sehr den Schwung des Geistes. Ein jeder Mensch hat etwas eigenthümliches, aber durch solche Schulanstalten wird solches erstickt, und das Genie des Menschen gänzlich verdorben.« (Kant, 25: 305, 306) 5 . Wegen der zentralen Rolle, die die Erziehung für die angemessene Entwicklung der Menschheit spielt, genügt es Kant nicht, auf die aufklärerische Wirkung einer sich allmählich vollziehenden Reform zu vertrauen. 6 Diese hielt er zwar zur Veränderung und Gestaltung der Cf. Vorländer, Karl, Immanuel Kant. Der Mann und das Werk, Wiesbaden, 2003, p. 22–43. Ebenso Klemme, Heiner F. (ed.), Die Schule Immanuel Kants, Hamburg, 1994, p. 33 f. 5 Cf. auch in der Nachschrift Parows im Internet: http://web.uni-marburg.de/kant// webseitn/gt_ho304.htm#variant2, hier p. 305, 306. 6 Brandt macht deutlich, daß sich die »Erziehungs-Euphorie« Kants, was die Realisierung neuer Erziehungskonzepte in einer Revolution und den Beitrag der Erziehung zum Fortschritt der Menschheit angeht, in den 80er Jahren ändert und insgesamt skeptischere Töne laut werden. Der Gedanke einer Revolution »von unten«, die ihren Ausgang von den Bildungsanstalten als »Keimzellen« des Neuen Menschen nimmt, wird fallengelassen. Stattdessen wird der »republikanische Staat … die richtigen Erziehungsanstalten für seine Bürger einführen, aber es kann nicht umgekehrt die geänderte Erziehung 4

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

17

Andrea Marlen Esser

politischen Gesellschaftsstrukturen für angemessen; das Erziehungswesen aber sollte in einer »schnellen Revolution« zum Guten hin gewendet werden (Cf. Kant, 2: 499) 7 , um sicherzustellen, daß die künftigen Erzieher und durch sie auch die künftige Jugend richtig erzogen werden, denn es sei schließlich »zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind« (Kant, 9: 443). Der erste Schritt zu dieser »schnellen Revolution« besteht nach Kant darin, einen grundlegenden Mangel der zu seiner Zeit herrschenden Bildungskonzepte aufzuheben. Ihn erkennt er darin, daß »das ganze Maschinenwesen dieser Bildung … keinen Zusammenhang« mit sich hat, keinem »überlegten Plane der obersten Staatsmacht« folgt (Kant, 7: 93) und nicht aus einer recht verstandenen Idee heraus entwickelt wird. Um diesen Mangel zu beheben, sei eine gründliche kritische Reflexion auf die jeweils herrschenden Erziehungsmethoden und Bildungsinstitutionen dringend geboten. Kant legt seinen eigenen Überlegungen zur öffentlichen Erziehung und Bildung den kategorischen Imperativ als oberstes normierendes und organisierendes Prinzip zugrunde (Cf. Kant, 9: 450). Die systematische und konkrete Entfaltung des Bildungsbegriffs, die unter Anwendung dieses Prinzips vollzogen werden müßte, hat er allerdings nicht minutiös durchgeführt, sondern lediglich die Grundzüge einer entsprechenden Konzeption in verschiedenen seiner Schriften angedeutet. Fügt man die verstreuten und in ihrem Status durchaus verschiedenen Überlegungen mit Bedacht zusammen, so entsteht – für Leser der sogenannten Grundlegungsschriften möglicherweise überraschend – eine überaus pragmatische Vorstellung davon, wie Einsichten und Prinzipien einer transzendentalphilosophisch begründeten Ethik einem »Publikum« pädagogisch und didaktisch vermittelt werden könnten, so daß ihnen auch lebenspraktische Wirksamkeit zukommt. Mit Kants Erziehungskonzept eröffnet sich nicht nur die Möglichkeit, die Keimzelle des Neuen Menschen oder auch nur der Republik werden« (Brandt, Reinhardt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg, 2007, p. 185). Dies ändert freilich nichts daran, daß die Erziehung, insbesondere die zur Moralität, weiterhin eine wichtige Rolle innerhalb der kantischen Theorie einnimmt und darin auch – im Gegensatz zu Positionen der Erziehungsschriften von Johann Amos Comenius, Didactica Magna (1633), John Locke, Some Thoughts Concerning Education (1693) und J. J. Rousseau, Emile (1762) (Cf. ibid.) mit einer politischen Dimension eng verbunden bleibt. 7 Cf. hierzu auch Klemme, l. c., p. 56.

18

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

ein immer wieder aufs neue auftauchendes Vorurteil, das Kant als den rigorosen Denker der Unterwerfung unter eine »saure Pflicht« brandmarkt, zu korrigieren. Es lassen sich aus seinen Überlegungen zu Erziehung und Bildung auch einige Anregungen für die gegenwärtige Bildungsdiskussion gewinnen. Allerdings zeigt Kants Bildungskonzept gerade in der konkreten Ausgestaltung viele prämoderne und aus heutiger Sicht durchaus veraltete Züge, die nicht mehr übernommen oder in einem romantisierenden Blick verklärt werden dürfen. Produktive Anregungen für die Gegenwart sind vielmehr ausschließlich aus dem kritisch-reflexiven und durchweg antinaturalistischen Zuschnitt des Kantischen Bildungsideals und aus den eben angesprochenen pragmatischen Überlegungen zu erwarten. 8 Kants Bildungsideal hat ferner den Vorzug, daß es seine Maßnahmen nicht an beliebigen persönlichen, gesellschaftlichen oder politischen Zielen ausrichtet, sondern die konkreten Erziehungs- und Bildungsziele aus einer Verbindung der unter pragmatischen Gesichtspunkten erstrebenswerten Ziele mit dem normativen Anspruch gewinnt. Die moralisch-praktische Vernünftigkeit des Menschen soll durch Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen, die unter Berücksichtigung der konkreten menschlichen Bedingungen und Bedürfnisse entwickelt werden, verwirklicht werden. Daraus ergeben sich einerseits pädagogisch-didaktische Zweckbestimmungen, die kritisch gegen die beschränkten Zwecksetzungen der jeweiligen gesellschaftlichen Interessengruppen zu richten sind, andererseits lassen sich aus der Freiheitsunterstellung auch klare Grenzen eines legitimen erzieherischen Eingriffs für alle Stufen der Bildung formulieren. Um diese Gedanken zu verdeutlichen, werde ich zunächst I) Kants Überlegungen zu Erziehung und Bildung, wie sie in den »Schriften zur Pädagogik« nachzulesen sind, skizzieren und ihren Status und ihr Verhältnis zu seinen Ausführungen über Pädagogik in den Vorlesungen und Schriften zur Anthropologie und Ethik bestimmen. In einem weiteren Schritt II) möchte ich den Bezug der pädagogischen Schriften Kant kritisiert zwar an den pädagogischen Bildungskonzepten seiner Zeit, daß sie »gegen die Natur arbeiten«, und ist der Meinung, daß diese eine Wirksamkeit nur entfalten könnten, wenn ihre Instruktionen »weislich aus der Natur selbst gezogen« (Kant, 2: 449) würden; dies aber berechtigt meines Erachtens nicht dazu, schon auf einen »schwachen Naturalismus« (»weak naturalism«) zu schließen, wie das Louden getan hat (Cf. Louden, Robert B., Kant’s Impure Ethics, New York, 2002, p. 47).

8

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

19

Andrea Marlen Esser

zu den jeweiligen »Methodenlehren« der »Kritik der praktischen Vernunft« und der »Metaphysik der Sitten« herstellen, dadurch die »kritischen« und antinaturalistischen Elemente seines Bildungskonzeptes aufzeigen und schließlich einen Blick auf III) die Fortführung der Kantischen Pädagogik und Didaktik von Denkern des Neukantianismus werfen, um deutlich zu machen, welchen Gewinn man aus dem hier dargelegten Kantischen Bildungsbegriff zu Fragen der gegenwärtigen Diskussion ziehen kann.

I.

Kants Überlegungen zu Erziehung und Bildung

a)

Der problematische Status der Schrift »Immanuel Kant über Pädagogik«

Kants Überlegungen zu Erziehung und Bildung finden sich verstreut über viele seiner veröffentlichten Schriften, in den Vorlesungen zur Anthropologie und Ethik sowie in der von Friedrich Theodor Rink herausgegebenen Vorlesungsnachschrift »Immanuel Kant über Pädagogik« (1803). Die fragmentarische Gestalt mancher Quellen und der teils problematische Status ihrer Originalität erfordern eine klärende Bemerkung. Besonders hinsichtlich einer möglichen Hauptquelle für die Rekonstruktion des Kantischen Bildungsbegriffs, eben Rinks »Immanuel Kant über Pädagogik«, wurde spätestens mit Weisskopfs umfassender Studie aus den 1970er Jahren 9 eine Diskussion über die Authentizität dieser Schrift angeregt. Weisskopf vertritt die Auffassung, daß dieser Text keine authentische Wiedergabe der kritischen Kantischen Position darstellt, sondern aus drei verschiedenen Quellen zusammengesetzt ist: 1. aus Fragmenten der Ethik-Vorlesungen Kants 2. aus Teilen seiner Anthropologie-Vorlesungen und 3. aus persönlichen Anmerkungen und Exzerpten, die Kant anläßlich seiner Lektüre von Rousseaus »Emile« angefertigt hat. Ferner gibt Weisskopf zu bedenken, daß der Herausgeber Rink diese Quellen nicht nur kompiliert hat, sondern wohl auch stilistische und sinnfällige Eingriffe in den Text vornahm. Aus diesen Gründen gelangte er zu dem radikalen Schluß, daß man die Nachschrift nicht nur hinsichtlich ihrer Authentizität als hoch problematisch einstufen müsse, sondern sie deswegen sogar aus 9

20

Weisskopf, Traugott, Immanuel Kant über Pädagogik, Zürich, 1970.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

der »Akademieausgabe« zu entfernen sei. Die Kant-Forschung hat sich aber dennoch – auch im Zuge der verstärkten Hinwendung zu anthropologischen Fragen – weiterhin mit dem Text und dem Thema befaßt. Sie ist nicht zuletzt auch auf Grund der Edition weiterer Materialien, auf die Weisskopf noch nicht zurückgreifen konnte, und durch die elektronische Verfügbarkeit der Texte, zu neuen Ergebnissen gelangt. Kant scheint sich mit »Erziehung und Bildung« nicht nur deshalb über viele Jahre befaßt zu haben, weil er aus institutionellen Gründen regelmäßig Vorlesungen über Pädagogik halten mußte, 10 sondern auch, weil ihm das Thema gerade in Anbetracht der damaligen Diskussion um die Reform von Schule und Universität von großer Wichtigkeit zu sein schien. Das belegt nicht nur sein nachweisliches Engagement für die Basedowsche Reformschule, das Dessauer Philanthropin 11 . Darüber hinaus zeigen philologische Vergleiche auf der Grundlage der neuerdings verfügbaren verschiedenen Nachschriften der Vorlesungen zur Anthropologie und Ethik, daß sich die Pädagogik-Schrift allenfalls zu den Kollegien von 1783/4 und 1786/7 in Bezug setzen läßt, nicht aber zu früheren Vorlesungen. 12 Diese Einschätzung wird dadurch gestützt, daß der kritische Freiheitsbegriff, der deutlich im Hintergrund der kleinen Schrift über Pädagogik steht, von Kant erst mit der »Kritik der reinen Vernunft« (1781) entwickelt wurde. Folgt man diesen Überlegungen, so ist zumindest als Hypothese denkbar, daß sich in »Immanuel Kant über Pädagogik« über die Zusammenfassung traditioneller und vorkritischer Positionen hinaus durchaus originäre und originelle Überlegungen des kritischen Kant finden. Ferner stehen die Inhalte der Pädagogik auch nicht für sich: viele ihrer zentralen Begriffe und Gedanken kommen auch in Kants veröffentlichten Schriften vor. In der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in der »Kritik der Urteilskraft« und in den kleineren Schriften zur Geschichtsphilosophie sowie in den sogenannten »Methodenlehren« sind längere Passagen zur didaktischen und pädagogischen Vermittlung der Einsichten seiner allgemeinen Ethik ausgearbeitet, die sich sachlich in einen Bezug zu den

Kant hat entsprechend der Vorlesungsverzeichnisse zwischen dem Wintersemester 1776/ 77 und dem Wintersemester 1786/87 viermal Vorlesungen über Pädagogik gegeben (Cf. Klemme, l. c., p. 59; ebenso Weisskopf, l. c., p. 98–99, sowie Louden, l. c., p. 34). 11 Cf. Kant, Immanuel, Aufsätze, das Philanthropin betreffend (Kant, 2: 447–452). 12 Cf. Stark, Werner/Brandt, Reinhardt (ed.), Zustand und Zukunft von Immanuel Kants Gesammelten Schriften. In: Kant-Studien 91, Sonderheft, Berlin, 2000, p. 99 f. 10

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

21

Andrea Marlen Esser

Überlegungen in der Pädagogik bringen lassen. 13 Die in ihrer Authentizität unzweifelhaften Schriften können daher herangezogen werden, um die authentische Position Kants von etwaigen Einfügungen und Veränderungen Rinks zu scheiden und sie von den herrschenden Vorstellungen seiner Zeit und der Vorlage, dem »Lehrbuch der Erziehungskunst« von Friedrich Samuel Bock 14 , an der sich Kant orientierte, abzuheben. 15 Auch wenn »Immanuel Kant über Pädagogik« selbst sicherlich nicht im vollen Sinne als ein Kantisches Werk gelten kann, ist es also vertretbar, diese Schrift als einen Teil von Kants umfassender ethischer Theorie zu begreifen und die darin aufgestellten Überlegungen vor ihrem Hintergrund zu interpretieren und auszuwerten. 16

b) Kants Vorstellung von Pädagogik und Erziehung »Immanuel Kant über Pädagogik« folgt – zumindest dem Aufbau nach – einer klaren Gliederung: An eine allgemeine »Einleitung« schließt sich die »Abhandlung« an. Sie unterteilt die Pädagogik und Erziehungslehre in »physische« und »praktische« und erläutert diese beiden Bereiche. Schon in der Einleitung werden wesentliche Ziele des Unternehmens formuliert und weitere Einteilungen vorgenommen, die in der anschließenden Untersuchung in ähnlicher Form wiederkehren, aber nicht immer mit ihnen in Deckung zu bringen sind. Deutlich wird schon in den ersten Absätzen, welche Rolle Kant der Erziehung zuspricht: in Anbetracht der fehlenden Leitung des Menschen durch einen Instinkt ist dieser auf seine eigene Vernunft verwiesen und muß »sich selbst den Plan seines Verhaltens machen« (Kant, 9: 441). Um Cf. etwa Kant, 5: 430 ff.; 7: 325 Bock, Friedrich Samuel, Lehrbuch der Erziehungskunst, zum Gebrauch für christliche Eltern und künftige Jugendlehrer, Königsberg/Leipzig, 1780. 15 Cf. Hammerstein, Notker/Hermann, Ulrich (ed.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II, München, 2005, p. 115 f. Zur Frage der Validität der Vorlesungsnachschriften über Pädagogik und dem Charakter der Vorlesungsnachschriften insgesamt cf. Stark/Brandt, l. c. Zuvor legte Kant wohl Johann Bernhard Basedows »Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker« (1770) seinen Vorlesungen zugrunde (Cf. Weisskopf, l. c., p. 117–119; p. 130). 16 Hier ist Loudens Vorschlag zu folgen: »Kant’s educational theory is best read as a chapter within his larger applied ethics project, where ›applied‹ means studying human nature and culture empirically in order to find out which aids and obstacles exist for the species as a whole to the carrying out of a priori moral principles« (Louden, l. c., p. 36). 13 14

22

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

diesen Plan zu verwirklichen, ist der Mensch immer auf andere, seine Erzieher nämlich, angewiesen, so daß bereits die Erziehung der Individuen notwendig als ein gemeinschaftliches Unternehmen entworfen werden muß. Und da das umfassende Bildungsziel, das jede Erziehung leitet, in der Hervorbringung der »Menschheit« respektive in der Vollentwicklung aller menschlichen Anlagen liegt, kann es auch letztlich nur in der kontinuierlichen Arbeit von Generationen vorangetrieben werden (Cf. Kant, 9: 445; cf. auch 7: 321). Die Pädagogik seiner Zeit erscheint Kant zur Umsetzung dieses Plans aber nicht geeignet. Sie ist seiner Ansicht nach sogar »in ihrer Idee noch streitig« (Kant, 9: 446) und bedarf daher dringend einer wissenschaftlich begründeten Kritik, wenn ein systematischer und sicherer Fortschritt möglich sein soll. An diesem Gedanken des Fortschritts demonstriert Kant die besondere Problemstellung, mit der sich die systematische Beschäftigung im Gebiet der Erziehung konfrontiert sieht: Die Kinder sollen nicht »dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen bessern Zustande des menschlichen Geschlechts … angemessen erzogen werden« (Kant, 9: 447). Die Erziehung aber besorgen Erzieher, die in ihren Überzeugungen von der gegenwärtigen Gesellschaft geprägt sind und deshalb ihre Ziele und Methoden auch aus den gegenwärtigen Verhältnissen gewinnen. Wenn sie in dieser Weise aber der ›Normativität des Faktischen‹ folgen, können sie gar nichts zur Weiterentwicklung der Menschheit beitragen. Aus diesem Grund müssen solche kurzatmigen und den Fortschritt verhindernden Konzepte verabschiedet werden. Kinder und Staatsbürger dürfen nicht zu effektiven »Werkzeugen« fragwürdiger Staatszwecke ausgebildet werden, sondern sollen dem Ideal des Kosmopolitismus und der vollkommenen Entfaltung der menschlichen Anlagen nähergebracht werden. Die Pädagogik muß ihre Ziele daher nicht nur unter der Voraussetzung einer Idee entwerfen, sondern auch noch die Wege und konkreten Schritte zur Verwirklichung dieser Idee bestimmen. Kant ist der Auffassung, daß der Mensch dazu 1) diszipliniert werden muß, um seine »Wildheit« zu bezähmen (Cf. Kant, 9: 449) und zu lernen, seinen Willen »von dem Despotism der Begierden« zu befreien (Kant, 5: 432). Denn er ist der Meinung, daß der »Natur-Mensch durch Disziplin geschwächt werden muss« 17 , damit der Verstandes-Mensch Cf. Refl.6763: »Das Roß muß entnervt werden, damit es der menschliche centaur regiren kann« (Kant, 15: 154,20–21). Cf. auch Refl.7680: »[…] weil der Mensch ein

17

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

23

Andrea Marlen Esser

regieren kann. Der Mensch muß aber auch 2) kultiviert werden, um die Geschicklichkeit zu erwerben, sich beliebige Zwecke zu setzen, ferner 3) soll er klug und zivilisiert sein, damit er in die menschliche Gesellschaft paßt und dort auch Einfluß hat und schließlich und vor alldem muß er 4) Moralisierung erfahren und eine »Gesinnung bekommen, daß er nur lauter gute Zwecke erwähle« (Kant, 9: 450). Als solche dürfen nur gelten, »die nothwendigerweise von Jedermann gebilligt werden, und die auch zu gleicher Zeit Jedermanns Zwecke sein können« (Ibid.), die also dem Anspruch des Kategorischen Imperativs entsprechen. Die Herausforderung, die sich daraus für die weitere Ausarbeitung eines konkreten pädagogischen Programms stellt, formuliert Kant unter Berücksichtigung der schon im letzten Punkt angesprochenen menschlichen Besonderheit – seiner Freiheitsfähigkeit – und nimmt darin das in der heutigen Debatte diskutierte sogenannte »Paradox der Erziehung« 18 vorweg: »Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nöthig! Wie cultivire ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen« (Kant, 9: 453). Der letztere Punkt, der ›richtige Gebrauch der Freiheit‹, soll nämlich der alle Erziehung und Bildung organisierende Maßstab sein: An diese Einsicht, daß Freiheit nicht als das Ausleben eigener Vorstellungen und die Befriedigung eigener Bedürfnisse verstanden werden darf, sondern allein aus der Vermittlung eigener Zwecke mit den Zwecken anderer entstehen und bestehen kann, sollen die »Zwangsmaßnahmen« der Erziehung heranführen. Durch sie sollen gleichsam »positive« Erfahrungen der Koordination und Vermittthier ist, was nur unter dem Zwange Gut ist […]« (Kant, 19: 487,9–10). Cf. auch Brandt, Kommentar, l. c., p. 492. 18 Der Soziologe Niklas Luhmann bescheinigt den gängigen Theorien der Pädagogik, daß sie mit ihren Konzeptionen in ein »Paradox« gerieten. Dieses entstehe daraus, daß alle pädagogischen oder didaktischen Programme einerseits ihrem »Gegenstand« Freiheit zubilligen müßten, sofern sie sich ja an Personen richteten, daß sie aber andererseits gezwungen seien, in ihren Programmen »auf Kausalität zu setzen« und eine prägende Einflußnahme für möglich zu halten (Cf. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt, 1997, p. 977 und Luhmann, Niklas/Schorr, Karl Eberhard, Reflexionsprobleme im Bildungssystem, Frankfurt, 1988).

24

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

lung mit anderen erzwungen werden, die den »Zögling« dann auch zu diesen Erfahrungen entsprechenden Einsichten führen. Die beiden anschließenden Teile der Abhandlung versuchen, das allgemeine Ziel weiter zu konkretisieren und die Maßnahmen der physischen und moralisch-praktischen Erziehung zu nennen, die Kant offensichtlich für geeignet hält. Die Ausführungen zu den verschiedenen Stufen und Arten der Erziehung folgen nicht durchweg einer klaren Gliederung und verwenden gelegentlich auch eine schwankende Terminologie. Doch entsprechend dem ersten Satz der »Pädagogik« lassen sie sich der Unterabteilung »Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disciplin (Zucht) und Unterweisung nebst der Bildung« zuordnen. (Kant, 9: 441) Zuerst, vornehmlich in der Säuglings- und Kleinkinderzeit, ist die physische Erziehung »Wartung« oder »Verpflegung« und bedeutet überwiegend eine im Sinne Rousseaus »negative Erziehung«.19 Unter der teleologischen Voraussetzung, daß »doch die Natur nichts umsonst veranstaltet habe« (Kant, 9: 456), gilt es, die natürlichen Regungen und Möglichkeiten zu respektieren, sie nicht durch »künstliche« zu ersetzen – entsprechend etwa das Kind mit Mutter- oder Ammenmilch aufzuziehen, statt ihm tierische zum Ersatz anzubieten. Überhaupt soll die »Nicht-Erziehung« Bedingungen herstellen, die es dem Kind ermöglichen, seinen natürlichen Trieben zum Lernen und Erproben seiner Fähigkeiten und Kräfte zu folgen und sie auszuprobieren. Manche der Maßnahmen, die dazu vorgeschlagen werden, klingen freilich etwas skurril: Zwar wendet sich Kant gegen die Praxis, Kinder »wie Mumien« (Kant, 9: 458) einzuwickeln, weil dies nur der Bequemlichkeit der Erzieher diene, tatsächlich aber den Bewegungsdrang der Kinder einschränke und sie »ängstlich« und »verzweifelt« mache. Das »Windeln« sei deshalb zu verwerfen. Aber man könne die Kinder, um sie davor zu bewahren, daß sie sich verletzen oder von der Mutter im Schlaf erdrückt werden, in »Schachteln« großziehen – offenbar eine zur damaligen Zeit praktizierte italienische Technik 20 (Kant, 9: 459). Auch wenn solche und auch einige andere Vorschläge Kants und der damaligen Er-

Cf. Rousseau, Jean-Jacques, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn, 199813 , p. 72 ff. Cf. dazu etwa: Anonymus, Beschreibung einer Maschine Arcuccio genannt, deren man sich in Florenz bedient, die Erdrückung junger Kinder, durch ihre Mütter oder Ammen zu verhüten. In: Hannoverisches Magazin, 1763–1790, 1769, 7. Jg., p. 1317– 1322.

19 20

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

25

Andrea Marlen Esser

ziehungslehre uns heute sicher nicht mehr überzeugen werden, läßt sich ihnen doch in aller Regel ein vernünftiger allgemeiner Gedanke substruieren: Man soll »nicht über die Vorsorge der Natur noch eine neue hinzuthun …, sondern die Natur nur nicht stören« (Ibid.). Alle die natürlichen Regungen des Kindes einschränkenden Maßnahmen bedürfen der Legitimierung. Sie sind nur zu rechtfertigen, wenn sie dazu dienen, das Kind zu schützen, und wenn sie es bei der Entfaltung seiner natürlichen angelegten Kompetenzen unterstützen, statt es zu hindern. Die sich an die »Wartung« anschließende Disziplinierung oder »Zucht« ist ebenfalls eine »negative« Form der Erziehung. Allerdings liegt das Negative dabei nicht in dem eben vorgestellten Sinne des Unterlassens, sondern kennzeichnet vielmehr eine aktive Korrektur von unerwünschten Folgen fehlender Erziehung. Disziplinierungsmaßnahmen sollen verhindern, daß sich »schlechte Angewohnheiten« entwikkeln, und es unterbinden, daß die »Thierheit« im Menschen die Leitung übernimmt. »Disciplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihn den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen« (Kant, 9: 442). Dadurch soll die Disziplinierung die »positiven« Teile der Erziehung, die Kultivierung und Bildung oder, nach einer weiteren Einteilung: die Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung vorbereiten. Dieser positive Teil der Erziehung bezieht sich auf die Ausbildung (Kultivierung) aller Kräfte – sowohl des Körpers wie auch der Seele. Zur Kultivierung des Körpers sieht Kant vor allem Bewegungsspiele vor, Übungen der Gymnastik und Geschicklichkeitstraining. Die körperlichen Fähigkeiten sollen auf aktive, aber dabei spielerische Art geleitet werden, statt daß man das Kind »dressiert« und ihm künstliche Haltungen aufzwingt. Auch in diesem Zusammenhang findet sich ein expliziter Bezug auf Rousseau und dessen Mahnung: »Ihr werdet niemals einen tüchtigen Mann bilden, wenn ihr nicht vorher einen Gassenjungen habt« (Kant, 9: 469). Für die Kultur der Seele allerdings verläßt Kant das Rousseausche Konzept. Zwar gesteht er dem spielerischen Lernen noch einen Wert zu, doch für die Kultur der Seele und des Geistes ist seiner Ansicht nach eine Arbeitshaltung unerläßlich. Das Kind »muß also zum Arbeiten gewöhnt werden« (Kant, 9: 471), um sich intellektuelle Grundkompetenzen wie etwa Konzentration und Gedächtnis anzueignen. Interessant daran ist, daß auch in diesem, wiederum disziplinierenden Teil der Erziehung der Spontaneität und intel26

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

lektuellen Freiheit der sich entwickelnden Vernunft Rechnung getragen werden soll. Lernen und Arbeiten, auch das »Memorieren«, sollen nicht in stupidem Auswendiglernen und mechanischem Wiedergeben abstrakter Inhalte trainiert werden, sondern an Beispielen und in praktischen Übungen, die den Kindern eine aktive Leistung abverlangen und die nicht nur »einzelne Gemütskräfte«, sondern »jede nur in Beziehung auf die andere« (Kant, 9: 472) kultivieren. Auch die geistige Erziehung darf also nicht »sklavisch« sein, sondern muß vor allem die alle Gemütskräfte verbindende »Urtheilskraft« ausbilden, so daß das Kind nicht zu einem »lebendige[n] Lexikon« erzogen, sondern instand gesetzt wird, an Beispielen wie Fabeln oder Dichtungen das in ihnen verborgene »verkleidete« Allgemeine herauszuarbeiten und zu begreifen (Kant, 9: 472). Kant setzt darauf, daß »[m]an … das Gedächtniß nur mit solchen Dingen beschäftigen [soll], an denen uns gelegen ist, daß wir sie behalten, und die auf das wirkliche Leben Beziehung haben« (Kant, 9: 473). Seine Grenze findet dieses anwendungsorientierte Lernen allerdings beim »Romanlesen«. Kant hielt wohl wenig von dieser literarischen Gattung und zieht sie auch in anderen Schriften heran (Cf. Kant, 3: 384; 5: 273; 7: 243), um vor den künstlichen und nutzlosen Affekten zu warnen, die das Lesen von Romanen und »weinerlichen Schauspielen« seiner Ansicht nach hervorbringt. Insgesamt aber folgen Kants Vorstellungen von Kultivierung weniger dem, was wir heute als das Humboldtsche Bildungsideal bezeichnen würden, als den praxisorientierten Konzepten Basedows. Auch votiert Kant explizit mit Basedow für eine Unterrichtsform, in der die Kinder im aktiven Vollzug und über praktische Tätigkeiten lernen, so daß sie »allmählich das Wissen und Können zu verbinden suchen« (Kant, 9: 474). In der systematischen Zusammenfassung (Kant, 9: 475 ff.), die noch einmal den ganzen Zweck der Erziehung, die Moralisierung, in Bezug auf 1) die allgemeine Kultur der Gemütskräfte und die 2) besondere Kultur der Gemütskräfte in Erinnerung bringt, finden sich einige Überlegungen – der Maximenbegriff und die Gründung des Charakters –, die eigentlich schon der »praktischen Erziehung« zuzurechnen sind. Die besondere Kultur der Gemütskräfte führt die Sokratische Methode an und erkennt in ihr die angemessene Form, die Gemütsvermögen, insbesondere die Vernunft zu kultivieren, denn »man lernt das am gründlichsten und behält es am besten, was man gleichsam aus sich selbst lernt« (Kant, 9: 477). Die »moralische Kultur« dient dann der Vorbereitung der »prakA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

27

Andrea Marlen Esser

tischen Erziehung« im engeren Sinne. Sie hat zum Ziel, daß das Kind nicht allein die moralischen Begriffe und Gesetze kennt, sondern einen »Charakter« herausbildet, um sein Handeln nicht situativ bestimmen zu lassen, sondern an Maximen auszurichten. Dazu ist es nach Kant aber nicht sinnvoll, das Kind anläßlich einer moralischen Übertretung zu strafen. Dadurch würde es nur lernen, Strafen zu vermeiden, und versuchen herauszufinden, wie es »gut in der Welt fortkommen kann« (Kant, 9: 481 f.), nicht aber zu Einsicht und freiwilligem Gehorsam gegenüber dem moralischen Gesetz gelangen. Daß Kant sich den erwünschten Effekt der moralischen Einsicht ausgerechnet von der »Beschämung« (Kant, 9: 482) als moralischer Strafe verspricht, ist freilich höchst befremdlich. Etwas überzeugendere Wege zur Vermittlung der moralischen Inhalte und der entsprechenden Grundhaltung stellt der anschließende und letzte Teil mit der Überschrift »Von der praktischen Erziehung« bereit. Er beginnt ebenfalls mit pragmatischen Überlegungen: Die praktische Erziehung sieht vor, eine a) Geschicklichkeit zu vielen Zwecken zu fördern – und schließt auch b) die Weltklugheit als ein Erziehungsziel ein. Wenn moralische Einsichten nämlich Wirkungen in der Welt zeitigen sollen, so muß man wohl auch seine »Geschicklichkeit an den Mann bringen« können und dazu »die Kunst des äußeren Scheins« erwerben. Zum »äußeren Schein« gehören der »Anstand« und die Fähigkeit, seine Temperamente zu zügeln. Entscheidend aber für die c) Sittlichkeit ist, wie eben bereits erwähnt, die Gründung eines Charakters. Einen Charakter zu haben, stellt deshalb einen Schritt zur Sittlichkeit dar, weil es möglich ist, so meint Kant, daß sich jemand nicht einmal an seine eigenen Vorsätze und subjektiven Grundsätze halte. Und »[v]on [j]emand, der die Ausübung seiner Vorsätze immer verschiebt, ist nicht viel zu halten« (Kant, 9: 488), ja wahrscheinlich »traut er sich am Ende selbst nicht mehr« (Ibid.). Doch für die Gründung eines moralischen Charakters ist noch mehr gefordert als die Beharrlichkeit im Vorsatz. Um einen moralischen Charakter zu bilden, muß man dem Kind seine Pflichten – sowohl die gegen sich selbst als auch die gegen andere – in Beispielen und Anordnungen beibringen und seine Urteilskraft am besten an populären Fällen die »sich im gemeinen Leben zutragen« (Kant, 9: 490) schärfen. Kant greift in diesem Zusammenhang auf einige, von ihm oft herangezogene, Beispiele (wie etwa auf das Lügenproblem) zurück und schließt mit Abschnitten über die einzelnen Tugenden und über das Verhältnis zur Religion, deren 28

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

beider Inhalt sich mit den Überlegungen deckt, die er in der »Metaphysik der Sitten« und der »Religionsschrift« vertritt.

II.

Der kritische und antinaturalistische Charakter der Pädagogik und moralischen Erziehung

Viele Inhalte der Nachschrift »Immanuel Kant über Pädagogik« erscheinen aus heutiger Sicht nicht nur wunderlich, sondern auch inakzeptabel, weil die konkreten Ratschläge eng an die damals herrschenden, heute aber veralteten Vorstellungen gebunden sind. Der Erziehungs- und Entwicklungsgedanke, den sie im allgemeinen zugrunde legt, ist zumindest vom Ansatz her »kritischer« und darin auch vernünftig. Außerdem enthält er ein kritisches Instrumentarium zur Korrektur der jeweils entwickelten Maßnahmen. Viele inhaltliche Überlegungen der Pädagogik-Schrift sind auch in den veröffentlichten kritischen Schriften zu finden – insbesondere in den Methodenlehren der »Kritik der praktischen Vernunft« und der Tugendlehre der »Metaphysik der Sitten« sowie in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«. In den pädagogisch-didaktischen Passagen dieser Schriften hat Kant versucht, sein »kritisches« Freiheitsverständnis in der Anwendung zu bewähren, so daß sich vor ihrem Hintergrund auch Kants Erziehungsvorstellung in der Pädagogik lesen und auf seine kritischen Elemente hin auswerten läßt.

a)

Die Pädagogik-Schrift im Verhältnis zu den Methodenlehren der »Kritik der praktischen Vernunft« und der Tugendlehre der »Metaphysik der Sitten«.

Die Methodenlehre der »Kritik der praktischen Vernunft« befaßt sich nicht mit der Frage, wie man Kinder erziehen und mit den Inhalten der Moralität vertraut machen soll, sondern stellt die Frage, »wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d. i. die objectiv praktische Vernunft auch subjectiv praktisch machen könne« (Kant, 5: 151), und ist insofern »Methodenlehre« der moralischen Bildung und Übung (Kant, 5: 288). Wie auch die Pädagogik-Schrift, so dringt schon die Methodenlehre der »Kritik der praktischen Vernunft« A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

29

Andrea Marlen Esser

darauf, sich für die Vermittlung moralischer Inhalte konkrete Beispiele zunutze zu machen und dadurch die Ausbildung der Urteilskraft anzuregen. Über den sittlichen Wert bestimmter Handlungen oder gar des Charakters von Personen werde »in gemischten Gesellschaften« gerne räsoniert, bemerkt Kant (Kant, 5: 153). Das hohe Interesse an moralischen Fällen und die Subtilität, die die Beteiligten dabei – zumeist freilich in ihrer Kritik an anderen – aufbringen, sollten die Erzieher der Jugend aufmerken lassen. Statt ihren »Lehrlingen« die Pflichten nur abstrakt zu begründen und vorzuführen, kann es viel zweckmäßiger sein, »in Biographien alter und neuer Zeit« nach Beispielen zu suchen (Kant, 5: 154). Solche kann man einerseits zum Beleg für die Wirklichkeit von echten Tugendhandlungen anführen, aber andererseits auch dazu einsetzen, die moralische Urteilsfähigkeit der Jugend herauszufordern. Freilich warnt Kant auch in diesem Zusammenhang davor, diese Beispiele ›edler (überverdienstlicher) Handlungen‹ aus Romanen auszuwählen, weil fiktive Romanhelden nur, wie er auch in der Pädagogikschrift herausstreicht, zu »leeren Wünschen und Sehnsuchten nach übersteigerter Vollkommenheit« anregen (Kant, 5: 155). Derart unerreichbare Vorbilder »verziehen« die Kinder nur zu Phantasten, die sich in Träumereien über ihre künftigen großen Taten ergehen und gleichzeitig aber das moralische Tagesgeschäft vernachlässigen (Kant, 5: 157). Man solle sie stattdessen besser in einem ersten Schritt daran gewöhnen, alle Handlungen – sowohl die fremden als auch ihre eigenen – kontinuierlich einer kritischen moralischen Beurteilung zu unterstellen, und ihnen dann, in einem zweiten Schritt, Beispiele für die Reinheit moralischer Gesinnung vorführen, um ihnen dadurch die Möglichkeit innerer Freiheit plausibel zu machen. Auch die »Ethische Methodenlehre« der Tugendlehre der »Metaphysik der Sitten« befaßt sich mit der pädagogisch-didaktischen Vermittlung ihrer vorher dargelegten Tugendpflichten. Sie entdeckt in der dialogischen (sokratischen) und katechetischen Lehrart zwei geeignete Methoden zur »Bildung der Tugend«. Und wie in der Schrift »Über Pädagogik« weist Kant auch hier das Prinzip der Nachahmung äußerlich moralischer Handlungen als unzureichend zurück. Er dringt darauf, einen Prozeß zur aktiven Annahme von moralischen Maximen zu initiieren, statt nur äußerlich korrektes, lediglich »legales« Handeln anzugewöhnen. Über solche inhaltlichen Parallelen und ähnlichen Wendungen in den kritischen Schriften und der Pädagogik hinaus, ist das verbindende Element, das die verschiedenen Quellen von Kants Er30

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

ziehungs- und Bildungskonzept auf eine gemeinsame Grundlage stellt, aber vorrangig das kritische und normative Freiheitsverständnis. Dieses prägt – zumindest der allgemeinen Idee und Anlage der Erziehungs- und Methodenlehren nach – auch die darin jeweils entwickelten Kriterien und Verfahren: Zum einen muß dem zu Erziehenden oder »Lehrling«, wie Kant sagt, als Person grundsätzlich unterstellt werden, daß er die Möglichkeit zur Freiheit hat. Als Person ist er jederzeit fähig, zu – etwa den angestrebten Erziehungszielen entsprechenden – neuen Einsichten zu gelangen und von der Selbstbestimmungsfähigkeit seines Willens dahingehend Gebrauch zu machen, daß er auch sein Verhalten den erlangten Einsichten anpaßt. Aufgrund der Freiheitsfähigkeit des »Erziehungsgegenstandes« und der Entwicklungsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, kann die moralische Erziehung ihre angestrebten Wirkungen allerdings auch immer nur in Abhängigkeit von dieser »inneren Freiheit« des zu Erziehenden entfalten. Niemals ist es möglich, unmittelbar auf diese Freiheit einzuwirken oder Erziehungsziele in einem kausalen Prozeß sicher herbeizuführen. Den entscheidenden Schritt zur Übernahme von Erziehungszielen und Einsichten, wie überhaupt die Initiative, die eigene Freiheitsfähigkeit zu realisieren, kann nur und muß daher die jeweils erzogene Person selbst tätigen. Insofern ist letztlich auch die »Erziehung zur Moralität«, die bei Kant nichts anderes als »Erziehung zur Freiheit« sein kann, allein indirekt zu »bewirken«. Maßnahmen, wie sie auch die moralische Erziehung und Vermittlung vorsieht, können sich so gesehen zunächst also nur an die »unfreie«, affektive und daher auch beeinflußbare Seite des Menschen richten. Weil unsere Wünsche, Handlungsziele, Gefühle und Affekte das Resultat von Prägungen sind, deren Gesetze sich rekonstruieren lassen, können sie überhaupt zum Gegenstand von Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen gemacht werden. Diese zielen darauf ab, gesellschaftlich und moralisch problematische Affekte und Ressentiments aufzulösen, Irrtümer über vermeintlich bestehende moralische Verpflichtungen oder Erlaubnisse aufzuklären, moralische Impulse und Initiativen der jeweiligen Person zu fördern und zu verstärken und ihr bei der Gestaltung ihrer Lebensumstände zu helfen, so daß sie der Realisierung freier moralischer Entschlüsse und Handlungen nicht nur nicht hinderlich, sondern auch zuträglich sind. Moralische Erziehung stellt insofern, wie die physische auch, den Versuch dar, unter Berücksichtigung der jeweiligen Affektlage und der bestehenden moralischen A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

31

Andrea Marlen Esser

Überzeugungen und Maximen (sei es eines Individuums oder einer Gruppe oder Gemeinschaft von Individuen) einen Selbstaufklärungsprozeß anzuregen und zu fördern. Die Wirksamkeit der dazu jeweils angewendeten Mittel ist freilich immer von empirischen Einsichten abhängig: Wenn Kant in der »Ethischen Elementarlehre« der Tugendlehre davon abrät, einem »Lehrling« einen konkreten Menschen als Muster und zum Vergleich aufzustellen, weil ihm das »nur zur Ursache dien[t], diesen zu hassen, weil er durch ihn in ein nachtheiliges Licht gestellt wird« (Kant, 6: 480), so erkennt er diesen psychischen Effekt aufgrund eines empirischen, im allgemeinen wirksamen »Kausalgesetzes« der Psychologie. Und wenn gegenwärtige Forschungen deutlich machen, daß die sogenannte »passive«, also beiläufige, unabsichtliche Erziehung durch die im Alltag tatsächlich gelebte Praxis hochwirksam ist, weil sie von den Kindern nachgeahmt wird, und dadurch eine ernstzunehmende Konkurrenz zu allen »aktiven«, intendierten Erziehungsmaßnahmen darstellt, so handelt es sich ebenfalls um eine Einsicht in empirische Kausalverhältnisse, die man allerdings wiederum in der »aktiven« Erziehung berücksichtigen und fruchtbar machen kann. Freilich bleibt, wenn man der Kantischen Freiheitsunterstellung folgt, eine prinzipielle Unwägbarkeit: Auch wenn im allgemeinen bestimmte Maßnahmen der Erzieher und Lehrer bestimmte Effekte auf Seiten der Erzogenen und Schüler hervorzurufen scheinen, tun sie dies doch nicht in jedem Fall und auch nicht unabhängig von den jeweiligen Umständen. Der wesentliche, im Antizipationsprozeß möglicher Erziehungsund Bildungseffekte nicht zu berechnende und daher Unsicherheit produzierende Faktor, liegt in der individuellen Realisierung der Freiheitsmöglichkeit der sich entwickelnden jeweiligen Person. Insofern wird, auch wenn das etwas beunruhigend anmutet, Erziehung immer ein stückweit »Experiment« (Cf. Kant, 9: 444, 451) bleiben. An der Freiheitsmöglichkeit des Menschen findet offensichtlich jede empirische Untersuchung der Effekte bestimmter pädagogischer und didaktischer Maßnahmen also ihre Grenze. Mit seinem geradezu emphatischen Freiheitsverständnis scheint Kants Moralphilosophie in sich ein Moment zu tragen, das die von Kant propagierte »moralische Erziehung« und »moralische Bildung« geradezu unmöglich macht. Aus dem in der heutigen Diskussion als »Paradox der Erziehung« bezeichneten Problem scheint auch schon Kant keinen Ausweg gefunden zu haben: Versteht man Freiheit als eine kausal nichtbestimmbare Fähigkeit, die der »Natürlichkeit« des Menschen entgegengesetzt ist, dann steht sie ge32

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

rade für die »nichterziehbare«, »unbeschulbare«, aller Erziehung unverfügbare Dimension des Menschen. Soll also die Erziehung im Sinne einer kausalen Einwirkung auf Freiheitswesen möglich sein, so müssen die Erzieher ihrem Gegenstand die unterstellte Freiheit wieder absprechen. Die Schwierigkeit, Freiheit und Kausalität in ein angemessenes Verhältnis zu setzen, stellt sich aber nicht nur im Zusammenhang von Kants Pädagogik. Ob und wie diese beiden Dimensionen des menschlichen Daseins miteinander vereinbar sind, ist ein grundlegendes systematisches Problem, das die kantische Ethik insgesamt betrifft. Viele Interpreten der Kantischen Freiheitslehre versuchen, das Verhältnis zwischen dem »Natur-Mensch« und dem »Freiheitswesen« als das zweier – strikt getrennter – »Welten« zu rekonstruieren, und geraten damit aber in die eben skizzierte Schwierigkeit der Vermittlung. Die Lehre von den zwei getrennten Welten wird aber weder dem Kantischen Anliegen in den Grundlegungsschriften gerecht, noch lassen sich auf ihrer Basis die Inhalte der späteren Schriften, in denen sich Kant um die Anwendung und konkrete Ausgestaltung seiner zuvor »grundgelegten« Ethik bemüht, in eine Beziehung zu den Einsichten der Grundlegungsschriften setzen. Große Teile der Kantischen Ethik – nämlich alle sogenannten »Anwendungsschriften«, die sich mit der »natürlichen Seite« des Menschen befassen – müßten in der Konsequenz dieser Annahme als »unkritisch« oder »naturalistisch« herabgesetzt und letztlich aus der kritischen Ethik Kants ausgeschlossen werden. Dieses Ergebnis läßt sich meines Erachtens aber nicht zwingend aus Kants Freiheitsbegriff im allgemeinen ableiten, sondern nur aus einem bestimmten, aber inadäquaten Verständnis desselben. Ich werde daher im folgenden versuchen, eine angemessene Rekonstruktion von Kants praktischem Freiheitsbegriff zu skizzieren, um zu zeigen, daß Kant die Freiheit und Natürlichkeit des Menschen nicht zwei getrennten Seinssphären zuordnet, sondern daß er Freiheit und Natürlichkeit immer als zwei aufeinander wechselseitig bezogene Momente des menschlichen Daseins begreift und auch nur deshalb Erziehung – auch zur Moralität und zur Freiheit hin – überhaupt für möglich und wirksam halten kann.

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

33

Andrea Marlen Esser

Exkurs: Die menschliche Freiheit als Möglichkeit und Aufgabe Weder ist der Mensch nach Kant frei, noch hat der Mensch einen freien Willen. Der Begriff der Freiheit beschreibt im Rahmen der kantischen Philosophie auch weder einen Sachverhalt, noch bezeichnet er eine empirische Eigenschaft. Die Möglichkeit »freier«, kausal nicht determinierter Akte, die wir in unseren normativen Ansprüchen und moralischen Verbindlichkeiten voraussetzen, gewinnt Kant aber auch nicht aus der Beschreibung einer »anderen Welt«, die von der Welt der Erfahrung abgetrennt und ihr gegenüber gesetzt existierte, sondern er entwirft und rechtfertigt sie im Rahmen einer kritischen Reflexion auf unsere moralisch-praktischen Ansprüche, die wir allerdings tatsächlich, d. h. in der Erfahrung nachweisbar, erheben und in derselben Welt, auf die sich auch unsere Erfahrungen beziehen, erfüllt sehen wollen. Kant knüpft mit seinem Freiheitskonzept an die Überlegung an, daß wir die durch Erfahrung erkannten Ursachen unserer Handlungen (oder unsere »Antriebe«) zum Gegenstand der Reflexion machen können. Er hält uns darüber hinaus für fähig, sie kritisch zu beurteilen, um dann unser Handeln entsprechend unserer Einsicht zu modifizieren. Bemerkenswert an der Kantischen Konzeption der Freiheit ist allerdings, daß sie aus der Einsichtsmöglichkeit in die Ursachen unseres Strebens (Willkür) nicht schließt, daß Freiheit insgesamt unmöglich sei. Sie traut es der Reflexion, die uns von den wirkenden Ursachen distanziert, vielmehr zu, nicht nur die uns bestimmenden Gesetze zu erkennen, sondern – zumindest für unser Handeln – solche Gesetze in Gedanken auch selbst zu entwerfen und unser Streben dann, wenn wir meinen, daß wir die richtigen gefunden haben, auch entsprechend zu bestimmen. Dieses Bestimmungsverhältnis muß man allerdings korrekterweise statt in Begriffen von »Ursache und Wirkung« mit dem Begriffspaar »Zweck und Mittel«, also in einer finalen statt in einer kausalen Relation beschreiben. Daher ist – entgegen einer weitverbreiteten Ansicht – bei Kant mit der »Freiheit des Willens« auch nicht die völlige Unabhängigkeit vom Kausalgesetz der Natur gemeint: Ganz abgesehen davon, daß wir als Wesen mit einem natürlichen Körper den Naturgesetzen und deren Kausalität unterstehen, die auf unseren Körper wirken, sind wir lediglich in den eigenen Zwecksetzungen von vermeintlichen »Anschlußzwängen« bereits erkannter Zweck-Mittel-Relationen frei. 34

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

Wir können in der Reflexion – aber auch nur in dieser – auf unsere als Zwecke beschriebenen Antriebe der Willkür Einfluß nehmen. Tun wir dies nicht, so sind wir nicht positiv, sondern nur negativ frei. Die im metaphorischen Sinne »Welten« 21 generierenden Gesetze der Freiheit und der Natur »gibt« es nun nicht im Sinne zweier ontologisch gegebener Welten; sondern sie entstammen vielmehr der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit, durch die wir uns allein als frei Handelnde begreifen und die damit verbundenen Ansprüche legitimieren können. Schon mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit setzt der Geltungsdiskurs die vermeintlich parallelen Welten in ein Bedingungsverhältnis statt in eine Opposition. Das aber bedeutet: Nur unter Voraussetzung des entwickelten Selbstbezugs des Willens sind Akte der Willkür auch in der Realität als frei zu beschreiben.

b.

Keine Freiheit ohne Natur – die Anwendung des Kantischen Freiheitsbegriffs in der konkreten ethischen Praxis

Diesen Einsichten entsprechend stellt sich auch die Rolle der Natur im Kantischen Freiheitskonzept neu dar und ermöglicht es, die reflexiv gewonnene allgemeine Struktur des Willens mit der Naturkausalität und ihrer Erkenntnis zu vermitteln. Wenn nämlich der Wille allenfalls metaphorisch als mit einer »Kausalität« ausgestattet beschrieben werden darf, tatsächlich aber die praktische Reflexion nur auf die jeweils angestrebten Zwecke gerichtet ist, so stellt sich unweigerlich auch die Frage nach den Mitteln, die diese Zwecke wirklich machen könnten. Diese Frage aber verweist uns selbstverständlich auf Kenntnisse der Naturkausalität. Die Zweckbestimmungen des Willens sind nämlich nur in der Natur und unter Anwendung von tauglichen, d. h. nach Kenntnis der Naturkausalität rationalen Mitteln realisierbar. Insofern gilt: Ohne Natur auch keine Freiheit! Das stand auch Kant klar vor »Es ist ein Urtheil, dessen sich selbst der gemeinste Verstand nicht entschlagen kann, wenn er über das Dasein der Dinge in der Welt und die Existenz der Welt selbst nachdenkt: daß nämlich alle die mannigfaltigen Geschöpfe, von wie großer Kunsteinrichtung und wie mannigfaltigem zweckmäßig auf einander bezogenen Zusammenhange sie auch sein mögen, ja selbst das Ganze so vieler Systeme derselben, die wir unrichtiger Weise Welten nennen, zu nichts da sein würden, wenn es in ihnen nicht Menschen (vernünftige Wesen überhaupt) gäbe« (Kant, 5: 442)

21

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

35

Andrea Marlen Esser

Augen, so daß er dem Handelnden nicht nur eine moralische Gesinnung, sondern auch die Aufbietung aller ihm verfügbaren Mittel abverlangt. Allerdings hat er die Frage nach der Ausdifferenzierung konkreter Orientierungen und die Bestimmung der angemessenen Mittel der Willkür nicht in den Grundlegungsschriften, sondern erst in der »Tugendlehre« der »Metaphysik der Sitten«, in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« sowie in den Vorlesungen, wie sie in »Immanuel Kant Über Pädagogik« wiedergegeben werden, dargelegt. Diese Schriften thematisieren die Natur und die Natürlichkeit des Menschen – und zwar unter der nunmehr pragmatisch-praktischen Fragestellung, wie hinsichtlich unseres jeweiligen Wissensstandes unsere moralischen Zwecksetzungen und die entsprechenden Mittel ihrer Verwirklichung angesichts der konkreten menschlichen Natur inhaltlich bestimmt werden müssen. Die Natur erweist sich dabei gegenüber der Freiheit gar nicht als ein »anderes«, sondern als genau der gesetzliche Zusammenhang, in dem die Ansprüche der praktischen Vernunft in konkreten Zwecke und Orientierungen ausdifferenziert und verwirklicht werden müssen. Diesen Gedanken bringt Kant auch im Zusammenhang der Pädagogik zum Ausdruck: »Es fehlt in den gesitteten Ländern von Europa nicht an Erziehungsanstalten und an wohlgemeintem Fleiße der Lehrer,« schreibt Kant in der kleinen Schrift über das Philanthropin, »und gleichwohl ist es jetzt einleuchtend bewiesen, daß sie insgesammt im ersten Zuschnitt verdorben sind, daß, weil alles darin der Natur entgegen arbeitet, dadurch bei weitem nicht das Gute aus dem Menschen gebracht werde, wozu die Natur die Anlage gegeben, und daß, weil wir thierische Geschöpfe nur durch Ausbildung zu Menschen gemacht werden, wir in kurzem ganz andre Menschen um uns sehen würden, wenn diejenige Erziehungsmethode allgemein in Schwang käme, die weislich aus der Natur selbst gezogen und nicht von der alten Gewohnheit vorher und unerfahrener Zeitalter sklavisch nachgeahmt worden.« (Kant, 2: 449). Um die Einsicht, die Kant hier formuliert, noch deutlicher zu machen, müßte man eigentlich die Wendung »von der Natur selbst« korrigieren und statt dessen »in Analogie zur Natur« sagen, denn Kant meint wohl, daß die Sorge, die bei der Aufzucht von Pflänzchen nötig ist, und die freilich auf Kenntnissen von deren »Natur« gegründet ist, auch auf die Erziehung und Bildung der Menschen übertragen werden sollte, weil hier wie dort einerseits die Spontaneität und Lebenskraft des 36

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

Organismus und analog dazu die Freiheitsfähigkeit der Person beachtet werden muß, weil aber andererseits die Manifestation dieser Spontaneität und Freiheit in einem konkreten biologischen System oder in einem lebendigen Leib natürlichen Gesetzen folgt, die wir kennen müssen, wenn wir nicht die für Entwicklung und Entfaltung grundlegenden biologischen, leiblichen und emotionalen Voraussetzungen der Moralität zerstören wollen. Diesem Gedanken entsprechend verwandelt Kant auch das in den Grundlegungsschriften überwiegend begrifflich erörterte Verhältnis von Wille und Willkür, Freiheit und Natur in den sogenannten Anwendungsschriften durchweg in ein dynamisches Kräfteverhältnis. Dieses sollten sich sowohl die Erzieher als auch die sich jeweils selbst erziehenden Personen zunutze machen, um den allgemeinen moralischen Einsichten auch im konkreten Handeln Geltung zu verschaffen. Die praktischen Begriffe insgesamt (nicht nur die natürlichen Motivationen der Willkür, sondern auch die der Tugend und der Untugend) werden von Kant als in einem immanenten Kräftefeld auch affektiv mit dem Subjekt verbunden verstanden, so daß moralische Überzeugungen nicht nur als gedachte und gewußte Pflichten, sondern auch in Gestalt von Gefühlen in einem Verhältnis zu den sogenannten »Neigungen« stehen. Das moralische Gefühl, das Gewissen, die Menschenliebe und die Achtung sind so gesehen auch »Anlagen«, die jeder Mensch als moralisches Wesen in sich hat. Zugleich mit dem moralischen Selbstverständnis, mit dem Bewußtsein praktischer Selbstbestimmung und dem der Willensbestimmung gehen auch Gefühle einher, die insofern »ursprünglich« sind, als sie unmittelbar zusammen mit dem Bewußtsein der Willensbestimmung entstehen. Sie gilt es, etwa durch Erziehung zu »kultivieren«, um hinderliche Affekte aufzuheben, die Kant als »pathologische Gefühle« oder Leidenschaften bezeichnet. Mit diesen Überlegungen nimmt uns Kant einerseits die Illusion, daß wir über unser Handeln jederzeit vollkommene Macht haben, und klärt uns andererseits über den Irrtum auf, daß wir uns ohne Kenntnis unserer Natur unmittelbar durch moralische Prinzipien zum Handeln bestimmen könnten. Die empirisch möglichen Einsichten in die Genese und Wirkungsweise unserer Affekte hindern uns aber keinesfalls bei der Verwirklichung unserer moralischen Einsichten, sondern sie setzen uns vielmehr instand, uns auch unsere natürliche Seite anzueignen, weil wir erst auf ihrer Grundlage zu einer vernünftigen und realistischen A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

37

Andrea Marlen Esser

Selbststeuerung gelangen können. Ein Beispiel für eine solche ›listige Selbststeuerung‹ findet sich in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« in dem Abschnitt »Von dem erlaubten moralischen Schein« (Kant, 7: 151 ff.). Etwas überraschend ist freilich schon der Titel, denn als »Schein« dürfte auch die Lüge gelten, von der wir aber wissen, daß Kant sie immer und unter allen Umständen als eine Verletzung der »Pflicht des Menschen gegen sich selbst« angesehen hat. In dem erwähnten Abschnitt der Anthropologie wird aber gar nicht die Lüge verhandelt, sondern es werden Strategien ersonnen, die der Realisierung moralischer Ziele nützlich sind. Inhaltlich geht es in dieser Passage um die gesellschaftliche Praxis der gegenseitigen Achtungsbekundung, von der Kant sagt, daß es, auch wenn die beteiligten Personen sie »nicht herzlich« meinen (Kant, 7: 151), doch sehr gut sei, auf diese Weise in der Welt miteinander umzugehen. Denn dadurch, daß Menschen die Rolle einer höflichen, achtungsvollen Person spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch dabei nur erkünsteln, nach und nach auch wirklich erweckt. Kant setzt also auf eine Art Gewöhnung, die dann allmählich ihre Wirkung auch auf die moralische Überzeugung tun wird. Mit Gewalt könne man dagegen »wider die Sinnlichkeit in den Neigungen« nichts ausrichten, man müsse die moralisch problematischen Affekte vielmehr »überlisten«! (Kant, 7: 152). Statt nun die »Niederschlagung« der Neigungen oder absoluten Gehorsam gegen das moralische Gesetz zu propagieren, zeichnet Kant uns in der »Anthropologie« mit Swift das Bild der moralischen Person – dasselbe gilt sicher auch für den moralischen Erzieher – als das eines klugen Steuermanns, der unter Umständen eben »dem Walfisch eine Tonne zum Spiel hingeben [müsse], um das Schiff zu retten« 22 . Sogar fiktive Entwürfe der eigenen Person in Gestalt größerer moralischer Vollkommenheit hält Kant für ein probates Mittel, um uns nach und nach auf eine entsprechende gute Gesinnung zu leiten. 23 Cf. »D Jonathan Swifts Mährgen von der Tonne«. In: Satyrische und ernsthafte Schriften von Dr. Jonathan Swift, 1756 ff., III, p. 46, »Vorrede«. Cf. Refl. 1482 (Kant, 15: 686,7) u. Swift, Jonathan, Satyrische und ernsthafte Schriften, übers. Waser, J. H., Hamburg/Leipzig, 1756 ff. 23 »Höflichkeit (Politesse) ist ein Schein der Herablassung, der Liebe einflößt. Die Verbeugungen (Complimente) und die ganze höfische Galanterie sammt den heißesten Freundschaftsversicherungen mit Worten sind zwar nicht eben immer Wahrheit (Meine lieben Freunde: es giebt keinen Freund! Aristoteles), aber sie betrügen darum doch auch nicht, weil ein jeder weiß, wofür er sie nehmen soll, und dann vornehmlich darum, weil 22

38

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

Allerdings müssen wir uns immer darüber bewußt bleiben, daß es sich nur um funktionale Mittel, nicht schon um den eigentlichen angestrebten Zweck einer moralischen Wirklichkeit handelt. Dieses Ziel bleibt freilich eine Idee, die eingesehen und begründet werden muß, und keinem pragmatischen Kalkül geopfert werden darf.

III. Institutionen der Bildung bei Kant, ihre Weiterentwicklung durch den Neukantianismus, und ein Blick auf die Gegenwart Ein wichtiger letzter Punkt, den Kant im Rahmen der pragmatischen Umsetzung der Idee anmahnt, ergibt sich aus der Einsicht, daß Erziehung nur als ein Prozeß und dieser auch nur als eine gemeinschaftliche Unternehmung bewältigt werden kann. Die öffentliche Dimension der Bildung und die Einsicht, daß es dazu eines organisierten wohlstrukturierten institutionellen Zusammenhangs bedarf, streicht Kant vor allem in seinen geschichtsphilosophischen Schriften und den beiden kurzen Aufsätzen zum »Philanthropin« heraus. Gerade weil die Wirkmacht der, wie man heute sagen würde, »passiven Erziehung« so groß ist, muß für die Jugend in den institutionellen Formen der Erziehung gleichsam eine künstliche Umwelt geschaffen werden. Diese müssen so konzipiert und gestaltet sein, daß die prägende Wirkung, die von ihnen ausgeht, auf die Nachahmung, zu der die »Zöglinge« nun einmal neigen, den aktiv angestrebten und wünschenswerten Erziehungszielen korrespondiert, statt sie zu verhindern oder gar zu konterkarieren. Interessanterweise ist Kant, was die konkreten Inhalte und Verfahrensweisen der Bildungsanstalten angeht, recht weit von der heute immer noch geschätzten »humanistischen« Schule entfernt. Er plädiert für eine sehr praxisnahe Ausbildung, will dem Lateinunterricht wie auch den alten Sprachen eher ein geringes Gewicht in der Schulbildung geben. Die Schulen sollen nicht isoliertes Wissen eintrichtern, sondern es bereits in Ordnungen und Systemen präsentieren, zu eigenen Einsichten anregen und ihre Curricula durchaus unter dem Aspekt der Nützlichkeit für das tatsächliche gesellschaftliche und berufliche Leben konzipieren. Auch wenn Kant sich später von der Basedowschen Rediese anfänglich leeren Zeichen des Wohlwollens und der Achtung nach und nach zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hinleiten« (Kant, 7: 152). A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

39

Andrea Marlen Esser

formschule, die sich diese Ziele auf die Fahnen schrieb, distanzierte, hat ihn aber wohl doch deren grundsätzliches Konzept mehr überzeugt als die bildungsbürgerliche Schulvariante, die heute mitunter mit dem »humanistischen« Gymnasium verbunden wird. Der Kantische Bildungsbegriff taugt weder als narzißtisches Persönlichkeitsideal einer sich entwickelnden Individualität, noch will er der Ideologie des »selbsterworbenen Besitzes« folgen. 24 Der Bildungsprozeß liegt nicht allein in der Hingabe an die Sache, in der intellektuellen Arbeit und in einer ihrer selbst bewußten Praxis, sondern »alle bildende Tätigkeit [vollzieht sich] auf dem Boden der Gemeinschaft«, denn »das isolierte Menschenindividuum [ist] … selbst eine bloße Abstraktion …, ein Atom, und in Wahrheit gar nicht Mensch ohne die menschliche Gemeinschaft«. 25 Der in der Kantischen Konzeption schon angelegte Antiindividualismus ist in den neukantischen Fortentwicklungen zu noch größerer Deutlichkeit gelangt und von seinem »Restindividualismus« befreit. So fußt Paul Natorps »Sozial-Pädagogik« explizit auf einem dialogischen Prinzip und streicht die Wechselbeziehung zwischen der Gemeinschaft und der in und durch sie erzogenen Individuen heraus. Natorp entwickelt seinen Bildungsbegriff, wie Kant, nicht auf der Grundlage zweckrationaler Ermächtigungsstrategien von individuellen Fähigkeiten, noch stellt er ihn in den Dienst einer Elitenbildung. Erziehung und Bildung dürfen auch seiner Ansicht nach nicht aus dem moralisch-praktischen Zusammenhang herausgelöst werden, weil sie wesentliche Faktoren zur Entwicklung eines qualitativ, nicht additiv verstandenen Gemeinschaftsbegriffs darstellen. Das primäre Ziel von Erziehung und Bildung ist damit nicht bloß die erfolgreiche »Übertragung von Bildungsstoff« (Natorp), sondern die Gemeinschaft im Sinne einer »Vereinigung geistiger Welten« (Natorp). Diese muß nach Natorps Dafürhalten erst einmal mit der Vermittlung der grundlegenden Einsichten der Einzelwissenschaften ansetzen und ihre Inhalte und Techniken schrittweise in individualisierten Bildungsprozessen vermitteln. Doch schon in diesem »Weltenbildungsprozeß« muß deutlich und seinerseits vermittelt werden, daß bereits das Selbstbewußtsein wie auch der Wille des Individuums, die beide in der Vermittlung von Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede, Frankfurt, 1984, p. 50, 55 f. Natorp, Paul, Philosophische Grundlegung der Pädagogik. In: Neukantianismus. Texte der Marburger und Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker, Stuttgart, 1982, p. 97–127, p. 123.

24 25

40

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Vernunft in der Entwicklung

Bildungsinhalten bereits vorausgesetzt werden müssen, »in jeder Hinsicht durch die Gemeinschaft bedingt [sind] … wie umgekehrt eine menschliche Gestaltung der Gemeinschaft bedingt ist durch eine ihr gemäße Bildung der Einzelnen, die an ihr teilnehmen«. 26 Mit diesem Gedanken der Wechselseitigkeit zwischen Individuum und Gemeinschaft wird freilich auch die letzte naturalistische Festlegung des Menschen, die man in Kants Rede der »natürlichen Anlage« wittern könnte, überwunden. Denn nun stellt sich das Problem von Erziehung und Bildung nicht mehr als ein Problem der Vermittlung von Natur und Freiheit, sondern als das zwischen einem bereits kulturell geprägten Individuum und einer Kulturgemeinschaft. Was darin als »natürliche Anlage« anerkannt ist, hängt vom jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Einsicht in die prägenden und bedingenden Faktoren und Gesetze der menschlichen Existenz ab und eröffnet in Abhängigkeit von ihr die Möglichkeit der entsprechenden erzieherischen Gestaltung und Umgestaltung der erkannten »Natur«. Nur vor dem Hintergrund dieses nicht naturalistischen Natur- und Bildungsverständisses kann der Kantische Satz gelten: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht« (Kant, 9: 443).

26

L. c., p. 125. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

41

»Menschenbildung«. Staatspolitische Erziehung beim späten Fichte 1 Günter Zöller (München)

»Diese Art der Bildung (trophen) [sc. zum vollkommenen Staatsbürger (politen)] sondert unsere Rede heraus, wie mir scheint, und nur diese möchte sie jetzt als Erziehung (paideian) bezeichnen, die Bildung dagegen, die auf Gelderwerb (chremata) oder auf Körperkraft (ischyun) geht, bezeichnet sie als handwerksmäßig (banauson) und eines Freien unwürdig (aneleutheron).« 2 »Wir sehen von der Phraseologie der Bildung als ›Selbstzweck‹ habi.« 3

Der Beitrag präsentiert und analysiert die politische Pädagogik von Fichtes staatstheoretischem Spätwerk vor dem Hintergrund antiker und neuzeitlicher Ansätze zur bildenden Erziehung des Menschen und im Kontext von Fichtes philosophischem Programm der progressiven Selbstbefreiung des Menschen aus natürlichen und kulturellen Zwängen. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen Fichtes ge-

Nachweis des Zitats im Titel: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, ed. Lauth, Reinhard et al., Stuttgart-Bad Cannstatt, 1964 ff. (im folgenden »GA«, gefolgt von einer römischen-arabischen Doppelzahl zur Angabe von Reihe und Band sowie, nach dem Doppelpunkt, einer arabischen Zahl für die Angabe der Seite), I/10:248 (Reden an die deutsche Nation). Der folgende Beitrag ergänzt meinen Beitrag zu Fichtes politisch-philosophischer Theorie universitärer Bildung (»Veredlung des Menschengeschlechts durch wissenschaftliche Bildung«. Die Universität als Kunstschule des wissenschaftlichen Verstandesgebrauchs bei J. G. Fichte. In: Philosophie und Gestalt der Europäischen Universität. Akten der Internationalen Fachtagung Budapest, vom 6.–9. November 2003, ed. Fehér, István M./Oesterreich, Peter L., Schellingiana Bd. 18, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2008, p. 103–122) um die geschichtsphilosophische Perspektive auf die Menschenbildung im Kontext der Staatsbildung. 2 Platon, Nomoi 644a, in der Übersetzung von Klaus Schöpsau (Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch, Bd. 8, Erster Teil, Darmstadt 1977, p. 57). 3 Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, ed. Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino, Bd. 7, Nachgelassene Fragmente 1871–1872, München, 1999, p. 412 (Ende 1871–Frühjahr 1872). 1

42

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

schichtsphilosophische Begründung politischer Bildung und das diffizile Zusammenspiel aufklärerischer und theokratischer Theoriestränge in Fichtes Lehre vom Vernunftstaat.

1.

Humanismen

Zweihundert Jahre nach der Geburt der deutschen Universität aus dem Geist des philosophischen Idealismus, hundertfünfzig Jahre nach der institutionellen Etablierung der deutschen Forschungsuniversität als akademischem Exportmodell, fünfundsiebzig Jahre nach der widerstandslosen Gleichschaltung der deutschen Universität und ihrer eifrig betriebenen ethnischen Selbstsäuberung und vierzig Jahre nach der ansatzweisen sozialen Öffnung der deutschen Universität ist die »Zukunft unserer Bildungsanstalten« (so die Titelwendung von Nietzsches Baseler Überlegungen zum pädagogischen Mißverhältnis von deutschem Reich und deutschem Geist 4 ) wieder einmal von Aufbruch und Umbruch im großen Stil geprägt. Und wieder einmal nimmt die Umerfindung der deutschen Universität ihren Ausgang von Maßgaben der Politik, die mit bürokratischen Vorgaben die internationale Standardisierung der universitären Lehre und Forschung in Deutschland und darüber hinaus in Europa betreibt. Zwar war die deutsche Universität in den zwei Jahrhunderten ihres Bestehens durchweg eine staatliche Einrichtung und als solche kaum geeignet zu Abstand und Widerstand gegen das Eindringen politischer Interessen in die Ausgestaltung des Lehr- und Forschungsbetriebes. Doch erstaunt auch vor diesem Hintergrund die Eilfertigkeit und Übereiltheit, mit der Kolleginnen und Kollegen landauf landab die eigenen Arbeitsbedingungen und geistigen Lebensformen und die Formationsbedingungen des Akademikerstandes dem über die Politik vermittelten Diktat des Marktes und seiner neoliberalen Wirtschaftsideologie unterordnen. Dabei verfügen gerade die Geisteswissenschaften und unter ihnen insbesondere die Philosophie über die historischen, systematischen und kritischen Ressourcen, um die Auswirkungen, die Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge. In: Nietzsche, Sämtliche Werke, l. c., Bd. 1, p. 641–752. Es handelt sich um fünf, von Nietzsche nicht publizierte Vorträge (Cf. l. c., Bd. 14, p. 102 f. (Kommentar) u. Bd. 15, p. 38 f. (Chronik)).

4

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

43

Günter Zöller

der institutionelle Um- und Abbau der deutschen Universität auf die geistige und kulturell-politische Verfassung der in ihr Lernenden und Lehrenden haben wird, kritisch zu imaginieren und zu reflektieren. Speziell die Rückbesinnung auf den Begriff der Bildung als Zentralkonzept der Theorie und Praxis von philosophisch begründeter Erziehung ist wie kaum eine andere Begriffsbestimmung dazu geeignet, das historische Erbe, den systematischen Anspruch und das kritische Potential der klassischen deutschen Erziehungsphilosophie als zeitlich entrücktes Gegenbild zum hektischen Reformismus der Macher und Kaputtmacher in Stellung zu bringen. Wer sich in gegenwartskritischer Absicht der Wort- und Begriffsgeschichte von »Bildung« im Deutschen und bei den Deutschen entsinnt, wird schnell die gängige Gegenüberstellung von Bildung als Mittel und Bildung als Zweck hinter sich lassen. Nicht erst die jüngere Instrumentalisierung der Bildung für Belange beruflicher Schulung hat den auratischen Begriff der Bildung für externe Zwecke und Ziele eingespannt. Die Vorstellung, Bildung könne, ja solle Selbstzweck sein, entspricht nicht so sehr einem traditionellen Verständnis von der Selbstbezüglichkeit und Selbstgenügsamkeit der Bildung, das es historisch kaum je gegeben haben dürfte, als vielmehr dem Kurzschluß vom Refus der rezenten Funktionalisierung der Bildung zum Wirtschaftsgut auf die gegenteilige Vorstellung, Bildung habe sich aller Indienstnahme und Inanspruchnahme zu entziehen. Doch semantisch betrachtet ist Bildung ein mehrfach ungesättigter Begriff, der um die Angabe dessen, das bildet, dessen, das gebildet wird und dessen, zu dem gebildet wird, ergänzt werden muß, um Bedeutung zu haben. Vor allem aber ist »Bildung« von der Wortgeschichte her ein Ausdruck, der nicht der Pädagogik entstammt, sondern der Naturphilosophie und dessen Übertragung aus der Sphäre natürlicher Wachstumsprozesse in die Bereiche gesellschaftlich vermittelter Formung von Menschen in die lange Geschichte der konzeptuellen Kreuzung von Natur und Kultur gehört, die von der kunstvollen Bewirtschaftung des Bodens beim Ackerund Gartenbau (cultura) bis zur Vorstellung von der Erziehung als Unternehmen der quasi-agrarischen oder -hortikulturellen Aufzucht reicht, die sich etwa in Plutarchs Abhandlung über die Kindererziehung aus den Moralia findet. 5 Beim Bildungsbegriff der deutschen Sprache und Vorstellungs5

44

Zur historischen Zwischenstellung des Bildungsbegriffs zwischen Naturphilosophie

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

welt tritt zu diesem generischen Hinter- und Untergrund von Kultur in Natur die spezielle Auffassung von der kulturellen Formung als plastischem Vorgang. Die Formgebung erfolgt bei der Bildung genau genommen nicht subtraktiv und negativ – wie das der Fall ist bei der Skulpturierung eines Marmorblocks, die alles entfernt, was nicht zur fertigen Skulptur gehört –, sondern additiv und positiv, durch Auftragen von formbarem Material, das dabei der Formgebung unterzogen wird. So verbindet sich im klassischen deutschen Bildungsbegriff die naturphilosophische Vorstellung der lebendigen Prägung und des organischen Ursprungs mit der artisanalen Vorstellung der willentlichen Gestaltgebung und des demiurgischen Ursprungs. Eine weitere Eigentümlichkeit des deutschen Bildungsbegriffs ist dessen Funktion als Gattungsbegriff für zwei Arten von Bildung der Menschen durch Menschen mittels Entwicklung von Potentialitäten (»Vermögen«) zu Aktualitäten: die theoretische oder kognitive Bildung, die typischerweise mit »Aufklärung« gleichgesetzt wird, und die praktische oder technische Bildung, die als »Kultur« im engeren Sinne gilt. 6 Die theoretisch-praktische Doppelorientierung des klassischdeutschen Bildungsbegriffs kulminiert in der traditionell vorherrschenden Vorstellung von der finalen Ausrichtung der Bildung auf den Menschen in seiner Ganzheit jenseits – oder vielmehr diesseits – von einseitiger Spezialisierung auf partikulare Fähigkeiten und Funktionen in einem arbeitsteilig angelegten gesellschaftlichen Leben. Gegenstand der allgemein-menschlichen Bildung ist die tendenziell komplette Entwicklung des Menschen als Mensch oder die Ausbildung der Menschheit. »Menschheit« bezeichnet dabei nicht primär die intendierte Extension der Bildungsprozesse auf alle Menschen, sondern die angestrebte Intension von Bildung, ihr Abzielen auf die Menschheit in der Person jedes Menschen. 7 Die integrale Funktion des Bildungsund Kulturphilosophie cf. Zöller, Günter, »Molteplicità e attività«. La »Kulturphilosophie« critica di Wilhelm von Humboldt. In: Rivista di filosofia 97 (2006), p. 409–437. 6 Zum Verhältnis der Begriffe Bildung, Aufklärung und Kultur in der deutschen Spätaufklärung cf. Zöller, Günter, Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft. In: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, ed. Klemme, Heiner, Berlin/New York 2009, p. 82–99. 7 Zum philosophischen Begriff der Menschheit, speziell bei Kant, cf. Kant’s gesammelte Schriften, ed. Preußische Akademie der Wissenschaften (Bde. 1–22), Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Bd. 23), Akademie der Wissenschaften zu GöttinA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

45

Günter Zöller

begriffs in der klassischen deutschen Philosophie ist zudem nicht auf ein deskriptives Konzept von Menschheit bezogen, im Sinne einer empirisch gestützten Menschenkunde, sondern axiologisch ausgerichtet auf Menschheit als unbedingte Norm für die Bildung der Menschen. Die gezielte Abwendung von deskriptiver Anthropologie hin zu einem normativen Menschheitsdenken rückt die klassische deutsche Bildungsphilosophie in die chronologisch weitgespannte, aber doktrinal recht spezifische Traditionslinie des humanistischen Denkens, für das die Erziehung, Bildung oder Formung des Menschen im Mittelpunkt der theoretischen und praktischen Bemühung um ihn steht – einer Bemühung, die die Grenzen und die Gefährdung des Menschen ebenso in den Blick nimmt wie seine Möglichkeiten und seine Größe. Die Gestalten solcher »Sorge um den Menschen« (epimeleia tou anthropou) – oder solcher Humanismen – reichen von der aggressiven Anthropozentrik der griechischen Aufklärung (Sophistik) und den klassischen Gegenentwürfen des kosmisch situierten Menschen bei Platon und Aristoteles über die eklektische Vermenschlichung der griechischen Meisterdenker in der römischen Philosophie (Cicero, Seneca) zum pedantisch-akribischen Gelehrten-Humanismus an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, zur tragisch-umdüsterten Antike-Rezeption der französischen Klassik (Racine) im Kontext der Querelle des anciens et des modernes und schließlich zur klassisch-romantischen Auseinandersetzung mit der Antike in deutscher Philosophie und Dichtung um 1800. Dabei zielt der reverentielle Rekurs auf frühere Menschenbilder nicht primär auf Rückwendung und Renaissance. Vielmehr entspringt er dem Abzielen auf ein, wenn nicht zeitloses, so doch übergeschichtliches Allgemein-Menschliches, das in Orientierung an historischen Vorbildern, insbesondere am klassischen Griechenland, in der eigenen Zeit noch zur Verwirklichung gelangen soll. Erst der Historismus des neunzehnten Jahrhunderts hat den Humanismen die hermeneutische Unschuld genommen. Die erneuten Bemühungen um einen Humanismus im zwanzigsten Jahrhundert – einen »dritten Humanismus« nach dem Prototyp zu Beginn der Neuzeit und dem Neuhumanismus der deutschen Klassik –, bei Werner Jaeger und ihm folgend bei Wolfgang Schadewaldt, 8 reflektieren bereits die gen (ab Bd. 24), Berlin, später Berlin/New York, 1902 ff., Bd. 4, p. 439 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Zweiter Abschnitt). 8 Jaeger, Werner, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, ungekürzter photo-

46

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

unüberbrückbare historische Distanz, die jede gegenwärtige Bemühung um das humanum von griechischer Menschenbildung als einem unnachahmlichen Vorbild trennt. Doch auch schon die Bildungskonzeption des deutschen Neuhumanismus um 1800 ist nicht eigentlich rückwärtsgewandt und an einem zurückzuholenden Vorgänger ausgerichtet, sondern primär prospektiv und auf eine offene, allererst zu gestaltende Zukunft hin angelegt. Das klassische deutsche Bildungsdenken teilt hier ganz die Vorstellung der europäischen Aufklärung von der Perfektibilität des Menschen, die näherhin als durch den Menschen an sich selbst zu leistende Vervollkommnung verstanden wird. Unter Rückgriff auf die seit der gleichnamigen Schrift von Spalding im deutschen Kulturleben von Spätaufklärung und Idealismus geläufige Wendung von der »Bestimmung des Menschen« konzeptualisiert das Nachdenken über die Vervollkommnung des Menschen von Lessing und Herder über Kant und W. v. Humboldt bis zu Fichte und Hegel die menschliche Bildung als Selbstbildung und plaziert dabei die heautoplastische Anthropogenese unter die Zielvorstellung von der Bestimmung des Menschen zur frei-vernünftigen Selbstbestimmung. 9 Zweck der Bildung ist die Befähigung des Menschen – einzeln und in der Gemeinschaft – zur Entwicklung der Menschheit in ihm.

2.

Bildungsbürger und Bürgerbildung

In den neo-humanistischen Bildungsentwürfen der deutschen Klassik lassen sich zwei große Linien ausmachen, die auf die Fundamentaldifferenz zwischen Kant und seinem abtrünnigen frühen Schüler Herder zurückgehen. Während Kant die Frage nach dem Menschen universalisiert zur Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen endlicher Vernunft in Theorie, Praxis und Poiesis und so das spezifisch Anthropologische zugunsten eines generischen Endlich-Vernünftigen an den Rand mechanischer Nachdruck in einem Band, Berlin/New York, 1973 (1. Auflage 1933, 1944 bzw. 1947). 9 Zu Geschichte und Funktion des Konzepts der Bestimmung des Menschen cf. Zöller, Günter, Die Bestimmung der Bestimmung des Menschen bei Mendelssohn und Kant. In: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des 9. Internationalen Kant-Kongresses (26. bis 31. März 2000 in Berlin), ed. Gerhardt, Volker/Horstmann, Rolf-Peter/Schumacher, Ralph, Berlin/New York, 2001, Bd. 4, p. 476–489. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

47

Günter Zöller

der Philosophie drängt, rückt bei Herder die historisch verwurzelte Singularität des Menschen als Einzelwesen wie als Gemeinschaftswesen und damit die Individualität anstelle der Universalität in den Vordergrund. Die intrikate Verknüpfung der gegenläufigen Linien kantischer und herderischer Orientierung bedingt das bunte Bild der Bildungsentwürfe in der deutschen Theoriebildung um 1800, bei dem das individualistisch-freiheitliche Konzept von privater Bildung im Frühwerk W. von Humboldts und Goethes Abzielen auf die zum Kunstwerk ausgestaltete eigene Persönlichkeit neben die utopischen Projekte der Neubildung der menschlichen Gesellschaft bei Schiller und Hölderlin treten. Doch eignet praktisch allen Einzelentwürfen der Zeit zur menschlichen Bildung ein Zug ins Ästhetische, der die Entwicklung des freien Menschen in Absetzung und Entfernung von den realen politischen Verhältnissen und gesellschaftlichen Gegebenheiten konzipiert und so die Bildung auslagert in eine separate, geschützte Sphäre künstlicher Existenz abseits, ja jenseits der als potentiell oder aktuell unfrei erfahrenen zeitgenössischen Wirklichkeit. Ein extremes Exemplum für den ästhetischen Eskapismus des deutschen Bildungsdiskurses um 1800 ist die Vision des als humanistischen Fortschritt verstandenen Übergangs von den kantischen Sphären rechtlichen Zwangs und moralischer Nötigung in das pseudo-kantische Reich von freiem Spiel und schönem Schein in Schillers Utopie einer staatslosen Gesellschaft auf der Grundlage der ästhetischen Erziehung des Menschen. 10 Die Tendenz zur Ästhetisierung und damit zur Privatisierung der Bildung im deutschen Denken um 1800 findet wenig später ihre gesellschaftsprägende Fortsetzung in der Rezeption des klassischen deutschen Bildungsdenkens durch das nachklassische deutsche Sozialphantom des Bildungsbürgertums, das fehlenden Kapitalbesitz und einstweilen auch ausbleibenden Machtbesitz durch Kulturbesitz kompensiert. Die zunehmende Kommerzialisierung der Kultur und ihre Transformation von bereichernder Bildung zu verbrauchendem Konsum im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts hat dann allerdings das deutsche Bildungsbürgertum auch kulturell weitgehend entmachtet und es inzwischen praktisch auf seine letzten Reservate in Charlottenburg und Schwabing reduziert. Da sollte es auch nicht mehr verwunCf. Schiller, Friedrich, Sämtliche Werke, ed. Fricke, Gerhard/Göpfert, Herbert G., 5 Bde, München, 1975, Bd. 5, p. 667 (Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 27. Brief).

10

48

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

dern, wenn das verbürgerlichte, eingebürgte Verständnis von Bildung den nationalökonomisch motivierten Bildungsreformen heutzutage weder Widerstand noch Vitalität entgegenzusetzen vermag. Sucht man nach einem Gewährsmann für ein alternatives, aggressives und offensives Verständnis von Bildung und ihrer Bürgerlichkeit – eines, das sich nicht in die ästhetische Ecke bugsieren läßt, sondern sich selber politisch versteht und so auch auftritt –, dann wird man am ehesten fündig bei Johann Gottlieb Fichte, der auch dann kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte, wenn es ihn Amt und Stellung kosten konnte, wie es dies denn auch im sog. Atheismusstreit getan hat. Bei Fichte tritt wie bei kaum einem anderen der deutschen Bildungsklassiker an die Stelle der Vorstellung vom Bildungsbürger die von der Bürgerbildung. Die Bildung gilt hier nicht dem bourgeois, sondern dem citoyen. Fichtes gesamte Philosophie, unter Einschluß der ihr einbeschriebenen gelebten oder zu lebenden Praxis, ist geradezu um die Idee der menschlichen Bildung zentriert. Dies gilt für die Menschenbildung im engeren und eigentlichen Sinne, bei der der Mensch unter der Einwirkung von seinesgleichen zur selbständigen Entwicklung und Fortentwicklung seiner selbst angeregt – oder, wie Fichte sagt, »aufgefordert« – wird. 11 Es gilt aber auch für das Verhältnis des Menschen zur Natur, die Fichte durchweg als Gegenstand von zu leistender Formung und Gestaltung zu menschlichen Zwecken versteht. Für die Natur in uns und außerhalb unserer lautet das Fichtesche Bildungspostulat: wo Natur war, soll Kultur werden, oder in Fichtes spekulativer Begrifflichkeit: wo Nicht-Ich war, soll Ich werden. 12 Die von Kant herstammende Gegenüberstellung von Vernunftnatur und Sinnennatur wird dabei von Fichte aber nicht als ein Verhältnis von Unterdrückung oder Überwindung aufgefaßt, sondern als die dynamische Doppelrelation der Umund Zubildung des Naturalen in das Geistige sowie umgekehrt der Aus- und Einbildung des Geistigen in das Natürliche. Im Hintergrund von Fichtes scheinbar subjektzentrierter transzendentaler Theorie von Subjekt-Objektivität steht eine ursprüngliche Zweieinheit (»DupliciZu Terminus und Konzept der Aufforderung bei Fichte cf. Zöller, Günter, Leib, Materie und gemeinsames Wollen als Anwendungsbedingungen des Rechts. In: Fichtes Grundlage des Naturrechts, ed. Merle, Jean-Christophe, Reihe Klassiker auslegen, Berlin, 2001, p. 97–111. 12 Cf. GA I/3:27–33 (Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, Erste Vorlesung). 11

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

49

Günter Zöller

tät«), die erst der endlichen Reflexion in die separaten Reihen des Realen und des Idealen auseinanderfällt und zum Gegensatz von Subjekt und Objekt gerät. 13 Der charakteristische Grundzug von Fichtes Philosophie der menschlichen Bildung, deren umfassende Perspektive von der Rechtslehre und Sittenlehre über die Geschichtsphilosophie und Staatsphilosophie bis zur Pädagogik und Didaktik schulischen und universitären Lehrens und Lernens reicht, ist der scharfe Fokus auf Freiheit als Ursprung, Medium und Ziel allen Bildens von Menschen durch Menschen. Im Vordergrund der Bildung steht bei Fichte nicht die Vermittlung partikularer Inhalte, sondern die Heran- und Herausbildung der Menschen zu selbständigem, selbstbestimmtem Denken und Handeln. Der angestrebten formalen Freiheit im deliberierenden Umgang mit möglichen Denkgegenständen und Handlungszwecken korrespondiert dabei die materiale Freiheit von allen kognitiven und voluntativen Normen, die sich nicht der aktuellen oder potentiellen Erwägung und Entscheidung des in seiner Menschheit (aus-)gebildeten Menschen – des theoretisch Aufgeklärten wie praktisch Kultivierten – verdanken. An Fichtes Ausgestaltung der aufklärerisch-idealistischen Programmformel von der Bestimmung des Menschen zur Selbstbestimmung ist im Hinblick auf die Spezifikation des Bildungsbegriffs zweierlei bemerkenswert. 14 Zunächst verknüpft Fichte die formal-universalistische Ausrichtung der Bildung auf ein allen Menschen gemeinsames Ziel – »Freiheit um der Freiheit willen« 15 – mit der material-partikularen Anbahnung dieses Ziels, die im Ausgang von je individuell verschiedenen zufälligen Ausgangsbedingungen innerer und äußerer Art (Charakter, Umstände) erfolgt. Fichte verbindet formal-teleologische Universalität und material-instrumentelle Partikularität in der Vorstellung unendlich vieler, nach Ausgang und Verlauf abweichender Handlungslinien (»Reihen«), die in einem unendlich entfernten, aber auch unendlich zu approximierenden Zielpunkt konvergieren. Daraus resultiert ein im Wortsinn konkreter Bildungs-

Zur systematischen Funktion des Theorems von der ursprünglichen Duplizität bei Fichte cf. Zöller, Günter, Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will, Cambridge, 1998 (Paperback Ausgabe 2002). 14 Cf. dazu Zöller, Günter, Bestimmung zur Selbstbestimmung. Fichtes Theorie des Willens. In: Fichte-Studien 7 (1995), p. 101–118. 15 Cf. GA I/5:132 (System der Sittenlehre, § 10). 13

50

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

begriff, in dem Allgemeines und Besonderes zu einem progressiven Freiheitsprozeß fusioniert sind. 16 Sodann unterzieht Fichte den Bildungsbegriff zusätzlich zu dessen Konkretisierung der Sozialisierung. Alle Bildung von Menschen, auch und gerade die des Individuums, erfolgt zwischenmenschlich. Die Interpersonalität von Bildung reicht auch hinaus über den manifesten Umstand, daß sich Prozesse der Bildung in einem präexistenten sozialen Kontext vollziehen. Radikal gedacht ist Bildung nicht bloß Bildung innerhalb und durch Gemeinschaft, sondern Bildung zur Sozialität. Erst durch die elementaren, korrelierten und konvertierten Bildungsleistungen von »Aufforderung« und »Anerkennung« kommt es, Fichte zufolge, zur Bildung einer Gemeinschaft, genauer: einer freien Gemeinschaft oder einer Gemeinschaft Freier, die einander im Modus der Wechselseitigkeit als Freie wahrnehmen und dem entsprechend behandeln können und sollen. 17 Alle weitere Bildung zu partikularen Gemeinschaften, gleich welcher Extension und Intension, steht in normativer Hinsicht unter der kategorischen Vorgabe, die Urbildung zu freier Gemeinschaftlichkeit als Vorbild für alle weitere Bildung und Ausbildung von Gemeinschaft zu behandeln. In der Ausgestaltung in Raum über Zeit vollzieht sich die Bildung menschlicher Gemeinschaft, so Fichte, zu und in spezifischen, eigengesetzlichen Sphären, deren Grundformen die rechtliche, ethische, religiöse und wissenschaftliche Gemeinschaftlichkeit bilden. 18 Kennzeichnend für alle diese Formen von Gemeinschaftsbildung ist die vorgängige Integration des Individuums in die je spezifische gemeinschaftliche Ganzheit. Dabei tritt neben die faktische Bildung der Gemeinschaft durch die sie konstituierenden Individuen die normative Bildung der Individuen durch die ihnen vorgängige Gemeinschaft, so daß Individuation und Sozialisation im Wechselverhältnis stehen. In Erweiterung der kantischen Konzeption von der doppelten Bürger-

Zu Fichtes Projekt einer konkreten praktischen Philosophie cf. Zöller, Günter, Konkrete Ethik. Universalität und Partikularität in Fichtes System der Sittenlehre. In: Ethikbegründungen zwischen Universalismus und Relativismus, ed. Engelhard, Kristina/ Heidemann, Dietmar H., Berlin/New York, 2005, p. 203–229. 17 Cf. GA I/3:383–386 (Grundlage des Naturrechts, § 7). 18 Zur Lehre Fichtes von den spezifisch verschiedenen Standpunkten der Weltbetrachtung cf. GA II/8:416–421 (Wissenschaftslehre 18042 , XXVIII. Vortrag) sowie GA I/ 9:144 f. (Die Anweisung zum seeligen Leben, Achte Vorlesung). 16

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

51

Günter Zöller

schaft des Menschen in der Sinnen- und in der Verstandeswelt 19 ist bei Fichte eine multiple Bürgerschaft in pluralen Welten und ihren je spezifischen Formen von Bildung zur Bürgerschaft geltend zu machen.

3.

Politische Bildung

Unter den vielförmigen Manifestationen von individuell-sozialisierter Bildung nimmt die Bildung zur aktiven Mitgliedschaft in der staatlichen Gemeinschaft bei Fichte eine zentrale Stellung ein. Von den frühen, anonym veröffentlichten Schriften zur Verteidigung und Fortführung der Französischen Revolution (1793/94) 20 über die staatstheoretischen Partien der Jenaer Rechts- und Sittenlehre (1796/97 bzw. 1798) 21 bis zu den späteren populären Vorträgen über Volk, Staat und Nation (1806 bzw. 1808) 22 und der späten Staatslehre (1813) 23 steht Fichtes Philosophie, die – bei aller spekulativen Strenge – wesentlich praktische Philosophie und als praktische Philosophie essentiell Gesellschaftsphilosophie ist, im Zeichen der projektierten Bildung des Menschen zum gleichberechtigten Staatsbürger. 24 In methodologischer Hinsicht läßt sich im Verlauf der mehr als zwei Jahrzehnte von Fichtes Nachdenken über den Staat und seine Bürger eine Entwicklung ausmachen, die vom frühen Fokus auf der prin19 Cf. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, p. 456–458 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Abschnitt). 20 Cf. GA I/1:167–192 (Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten) sowie GA I/1:201–404 (Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution). 21 GA I/3: 311–460 und GA I/4:4–165 (Grundlage des Naturrechts) sowie GA I/5:19– 317 (Das System der Sittenlehre). 22 GA I/8:189–396 (Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters) und GA I/10:97–298 (Reden an die deutsche Nation). 23 Fichtes Werke, ed. Fichte, Immanuel Hermann, 11 Bde, Berlin, 1971 (kompilierte Wiederveröffentlichung von: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, ed. Fichte, Immanuel Hermann, 8 Bde, Berlin, 1845/46 und Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke, ed. Fichte, Immanuel Hermann, 3 Bde, Bonn, 1834/35; im folgenden: FW) 4:369–600 (Die Staatslehre, oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche; publiziert postum 1820) sowie 7:574–613 (Excurse zur Staatslehre; publiziert postum 1845/46). 24 Zum praktischen Grundcharakter von Fichtes Philosophie cf. Fichtes praktische Philosophie. Eine systematische Einführung, ed. Manz, Hans Georg von/Zöller, Günter, Hildesheim, 2006.

52

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

zipientheoretischen Grundlegung von Recht und Staat zum späteren Schwerpunkt auf der philosophischen Ortsbestimmung des Staates in der Geschichte verläuft. Während die Staatsphilosophie des frühen Fichte die überpositiven Normen von Recht und Politik in relativer Abstraktion von den Umständen ihrer möglichen Verwirklichung erörtert, bezieht der späte Fichte in die normative politische Theorie zunehmend auch die Reflexion auf Ursprung, Entwicklung und Ziel von staatlicher Gemeinschaft und die historische Bildung des Staates ein. Der Einbezug der geschichtlichen Perspektive in die Staatsphilosophie verdankt sich dabei nicht nur dem formalen Ziel der Komplettierung einer übergeschichtlich konzipierten Geltungstheorie des Staates um die Dimension von kontingenter Anwendung und faktischer Verwirklichung. Vielmehr ist die Reflexion auf die hinter der Geschichte der Staaten sich abzeichnende Geschichte von Staatlichkeit beim späten Fichte integraler, ja zentraler Bestandteil einer Geschichtsphilosophie, die wesentlich Philosophie der politischen Bildung der Menschheit in der Geschichte ist. 25 Indem Fichte Geschichte als Staatsgeschichte und diese als politische Geschichte begreift, unterzieht er den faktischen Geschichtsverlauf einer normativen Deutung – einer politischen Hermeneutik –, die den prinzipiellen Gegensatz von Geltung und Faktum in der Doppelkonzeption einer als vernünftig zu denkenden Geschichte und einer als geschichtlich sich verwirklichenden Vernunft überbrücken soll. 26 In der normativen Perspektive von Fichtes geschichtlicher Analyse der Staatlichkeit ist die politische Bildung wesentlich die Bildung des Politischen – die geschichtliche Herausbildung solcher staatlicher Strukturen, die die Bildung des Menschen zum politisch aktiven Bürger ebenso fördern wie fordern. Es macht die Eigentümlichkeit und die historische Originalität von Fichtes geschichtsphilosophischer Konzeption politischer Menschenbildung aus, daß der Bildungsprozeß zu politischer Freiheit nicht, wie noch bei Kant oder Herder, auf naturale oder supra-

Zu Fichtes systemarchitektonischem Konzept der »angewendeten Philosophie« cf. FW, Bd. 4, p. 389 f. (Die Staatslehre, oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche). 26 Zur politischen Auslegung der Geschichte beim späten Fichte cf. Zöller, Günter, Politische Hermeneutik. Die philosophische Auslegung der Geschichte in Fichtes Reden an die deutsche Nation In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, ed. Figal, Günter, Bd. 7, »Hermeneutik der Geschichte«, Tübingen, 2008, p. 39–64. 25

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

53

Günter Zöller

naturale Mechanismen, zurückgeführt, sondern als die freie und somit auch fallible Leistung der Menschen selbst angesehen wird: »[…] aber die ganz eigenthümliche Zeit der Menschen, die menschlichen Verhältnisse, machen nur die Menschen sich selber, und schlechthin keine ausser ihnen befindliche Macht.« 27 Fichtes Emanzipation der politisierten Geschichtsphilosophie von der traditionellen kryptotheologischen Geschichtsteleologie macht die Bildung des Menschen zu einer Sache der Erziehung, die die Menschen selbst aneinander vorzunehmen haben. Im Zentrum von Fichtes politischer Pädagogik steht die Forderung nach öffentlicher Erziehung. 28 Gegen die zeitgenössische zweigeteilte pädagogische Praxis von privilegierter häuslicher Privaterziehung und diskriminierender lückenhafter Volkserziehung durch kirchliche oder staatliche Institutionen stellt Fichte die gemeinsame Erziehung aller Klassen und Stände in öffentlichen Schulen und Hochschulen und die sich daran anschließende Berufs- oder Amtswahl auf der Grundlage von Talent statt Geburt und von Fähigkeiten statt Vorrechten. 29 Für die Durchsetzung seines egalitären Bildungskonzepts erwägt Fichte die faktische Aufhebung der Familienerziehung und ihren Ersatz durch die Unterbringung der Kinder in einem wirtschaftlich wie administrativ autarken Bildungsstaat nach Art der »Pädagogischen Provinz« aus Goethes Wilhelm Meister, vielleicht auch angeregt durch seine eigenen Erziehungserfahrungen im bildungsklösterlichen Internatsbetrieb von Schulpforta. 30 Fichtes strategischer Einsatz der allgemeinen Bildung als Vehikel für die zukünftige Egalisierung einer bislang traditionell ständisch gegliederten Gesellschaft gehört in den Kontext seiner Planung und Agitation für einen umfassenden politischen Neuanfang im nachnapoleoGA I/10:289 (Reden an die deutsche Nation, Vierzehnte Rede). Cf. GA I/10:218 und 235 (Reden an die deutsche Nation, Neunte Rede und Zehnte Rede) sowie FW, Bd. 4, p. 454 (Staatslehre). Zur zeitgenössischen Programmatik öffentlicher Erziehung cf. Krautkrämer, Ursula, Staat und Erziehung. Begründung öffentlicher Erziehung bei Humboldt, Kant, Fichte, Hegel und Schleiermacher, München, 1979. 29 In seiner eigenen Biographie hat Fichte, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte, aber durch einen Zufall in den Genuß von privater Förderung und höherer Bildung kam, beide Welten der Erziehung kennengelernt. 30 Zu Art und Ausmaß von Fichtes Portenser Erziehung cf. Bacon, Stefano, Fichte in Schulpforta (1774–1780). Kontext und Dokumente, übers. v. Monhardt, Stefan. Mit einer Übersetzung der Fichteschen Valediktionsrede von Stefan Monhardt, StuttgartBad Cannstatt, 2007. 27 28

54

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

nischen Deutschland, der in eins mit der usurpatorischen Universalmonarchie Bonapartes auch die Erbmonarchien und dynastischen Fürstenherrschaften der deutschen Länder ad acta legen sollte, um an deren Stelle eine vom politisch geeinten Staatsvolk (»Nation«) getragene »Republik der Deutschen« 31 zu setzen. So steht noch im Hintergrund der manifest antifranzösischen Reden an die deutsche Nation die grundsätzliche Verbundenheit mit den politisch-philosophischen Idealen der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit, die Fichte in die durch eine andere Geschichte geprägten deutschen politischen Verhältnisse zu übertragen sucht. Für Fichte liefert der zeitgenössische Kontext von französischer Revolution, napoleonischem Kaiserreich und preußischer Militär- und Staatskatastrophe den historischen Anlaß für die Fundierung und Propagierung einer Politik der Zukunft, die mit erzieherischen Mitteln philosophische Idealvorstellungen in gesellschaftliche Wirklichkeit umsetzen soll. Im Mittelpunkt von Fichtes Bildungspolitik steht dabei die Erziehung des Menschen durch den Staat für den Staat. Staatliche Erziehung zielt darauf ab, das Denken und Wollen der Menschen zur äußerlichen wie innerlichen Übereinstimmung mit der staatlichen Etablierung und Garantierung der Freiheit durch das Recht zu bilden. Während Fichte mit Kant übereinstimmt in der normativen Einschätzung des Staates als zwangsberechtigter Institution zur Ermöglichung von allgemeinem äußeren Freiheitsgebrauch, 32 modifiziert er den intendierten Modus staatlicher Autorität von äußerlichem Zwang zu freier Einsicht. 33 Konstitutiver Teil von politischer Bildung ist für Fichte die Erziehung zur theoretischen Erkenntnis und praktischen Anerkenntnis des Vernunftgebots, die Ausübung der individuellen Freiheit auf Bedingungen ihrer Kompatibilität mit der Freiheit aller einzuschränken. Die Integration der Vermittlung von Rechtseinsicht in die Ausübung von Rechtszwang bedingt den eminent erzieherischen Charakter des Staates beim späten Fichte, der sich insbesondere in der Doppelfunktion der Regierenden als Erziehender manifestiert. Das Ziel der Staatspädagogik des Pädagogikstaates bei Fichte ist So die Titelwendung einer fragmentarischen politischen Utopie Fichtes. Cf. GA II/ 10:377426 (Die Republik der Deutschen zu Anfange des zwei u. zwanzigsten Jahrhunderts unter ihrem fünften Reichsvogte). 32 Cf. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, p. 311–313 (Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, §§ 43–45). 33 Cf. FW, Bd. 4, p. 430–460 (Staatslehre). 31

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

55

Günter Zöller

aber nicht die Maximierung etatistischer Machtausübung mittels Bildung, sondern die Selbstabschaffung des Staates als Zwangsanstalt und sein Ersatz durch eine zwanglos-freie Gemeinschaft, die Fichte, im Rückgriff auf das Vokabular der politischen Theologie, »Reich« nennt und näherhin als »Reich des Rechts und der Freiheit« und als »Vernunftreich« kennzeichnet. 34 Fichtes Geschichtsphilosophie verzeichnet die stufenweise Annäherung an die politische Endzeit als einen Prozeß der Universalisierung von Recht und Freiheit, der von der Bevorrechtung einzelner und weniger zur Gleichberechtigung vieler und schließlich aller führen soll. Im Hinblick auf die rechtliche Egalisierung unterscheidet Fichte noch zwischen der historisch früheren Ausbildung der Gleichheit des Rechts (im Singular), bei der alle so Berechtigten den Schutz des Rechts genießen, und der zu Fichtes Zeit allererst zu erringenden Gleichheit der Rechte (im Plural), die allen so Berechtigten die Ausübung der gleichen Rechte gewährt. 35 Zu den von Fichte benannten Bedingungen für die Rechte-Gleichheit gehören die Abschaffung des erblichen Adels, der erblichen Herrschaftstitel, der erblichen Wirtschaftsgüter, der Leibeigenschaft und der Sklaverei. In wirtschaftlicher Hinsicht ähnelt der endgeschichtliche Freistaat der staatssozialistischen Utopie, die Fichte in seiner früheren Schrift Der geschlossene Handelsstaat (1800) entworfen und gefordert hatte. 36 In politischer Hinsicht ist der Freistaat durch die negative Freiheit von rechtlicher Diskriminierung und die positive Freiheit der willigen Selbstbeschränkung auf das Vernunftgebot gekennzeichnet. Die politische Bildung bei Fichte zielt also nicht sosehr auf freie Gleichheit oder Freiheit durch Gleichheit, dank derer einer anderes sein darf als der andere, als auf gleiche Freiheit oder die Gleichheit durch Freiheit, dank derer jeder dasselbe wollen und tun darf und soll.

Cf. FW, Bd. 4, p. 411–430 (Staatslehre). Zu Fichtes später politischer Lehre vom Reich als der Gemeinschaft der Freien cf. Zöller, Günter, »Freiheit aller von der Freiheit aller«. Das Reich des Rechts in Fichtes geschichtsphilosophischer Staatslehre, erscheint in: Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800, ed. Döring, Tobias/Vinken, Barbara/Zöller, Günter, München. 35 Cf. GA I/8:336 f. u. 360 (Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Zwölfte Vorlesung und Vierzehnte Vorlesung) 36 Cf. GA I/7:37–141 (Der geschloßne Handelsstaats. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik). 34

56

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

4.

Inhumanismen

Mit der Stärkung des Staates zur dominierenden Erziehungsmacht, der normativen Orientierung des Menschen hin auf die Bürgerschaft im Staat, der Tendenz auf die Abschaffung der bürgerlichen Familie und des privatem Kapitalbesitzes, vor allem aber mit der Assimilation der Regierung an die Erziehung und des politischen Herrschers an den philosophischen Lehrer (»Gelehrten«) gemahnt das Konzept politischer Bildung beim späten Fichte an die neokonservative Paideia in den beiden staatstheoretischen Hauptwerken Platons, dem Verfassungsentwurf des Idealstaates (Politeia) und dem Gesetzgebungsentwurf für den zweitbesten Staat (Nomoi). Eine auffällige Analogie besteht auch zwischen der konstitutiven Verknüpfung des Rechtszwangs mit der Rechtsrechtfertigung beim späten Fichte und der Beigebung einer begründenden »Vorrede zum Gesetz« (prooimion tou nomou) beim späten Platon. 37 Fichte selbst nährt die Vermutung seiner Nähe zu Platons Lehre von der integrierten Menschen- und Staatsbildung, wenn er bei der Erörterung des politischen Gegensatzes zwischen Athen und Sparta im Hinblick auf Athen – und mit einem Seitenblick auf die eigene Zeit – den innigen Zusammenhang von innenpolitischer Liberalisierung, Pluralisierung und Irreligiosität (»Demokratie«) und außenpolitischem Imperialismus (attischer Seebund) herausstellt und dem im Hinblick auf Sparta – und mit einem Seitenblick auf die politische Zukunft – innenpolitisch die Stabilität der Adelsherrschaft (»Aristokratie«) und außenpolitisch die Unabhängigkeit der Poleis voneinander gegenüberstellt, nicht ohne dabei auf die weit verbreitete Lakophilie unter der athenischen Elite zu verweisen (Thukydides, Xenophon und Platon). 38 Auch Fichtes Gesamteinschätzung der antiken Staaten (unter Einschluß Roms und des jüdischen Staates) als Formen von Gottesherrschaft mit der Tendenz auf ein »Universalreich« (»Theokratien«) 39 ist nicht an der athenischen Demokratie – und auch nicht an ihrer Variante als gelenkter Demokratie unter Perikles – ausgerichtet, sondern reflektiert eine grundsätzliche politische Affinität zur Herrschaft der Besten (aristoi), die ihrerseits nach Maßgabe eines göttlichen Gesetzes 37 38 39

Nomoi, 722e. Siehe FW, Bd. 4, p. 503 f. (Staatslehre). FW, Bd. 4, p. 504 (im Original Hervorhebung). A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

57

Günter Zöller

zu regieren beanspruchen. Mit diesen politischen Sympathien Fichtes und ihren staatspädagogischen Implikationen stimmt auch zusammen, daß er die eigene geschichtsphilosophische Konzeption des Vernunftreichs oder des »Reichs des Himmels auf der Erde« ausdrücklich als eine »Theokratie« kennzeichnet. 40 Doch Fichtes Verhältnis zur politisch-pädagogischen Tradition des theokratischen Denkens in der vorchristlichen Antike (»Alte Welt«) und der christlichen Nachantike (»Neue Welt«) ist nicht ungebrochen. 41 Zum einen diagnostiziert Fichte schon in der Antike, speziell im demokratischen Athen, den Übergang von der Herrschaft des unbefragten, »factischen Glauben[s]« 42 an die göttliche Weltregierung zur intellektuellen Überprüfung und areligiösen Neubegründung staatlicher Herrschaft (»Constitution«, »Verstandesberechnungen«) und damit das »Ende der Theokratie«. 43 Zum anderen differenziert Fichte im Hinblick auf das Christentum zwischen dessen zufälliger, historisch bedingter äußerer Gestalt als Glaubenslehre von einem anthropomorphen, über die Welt und die Menschen herrschenden Gott und dem »metaphysischen« Kern des Christentums, 44 einer am Johannes-Evangelium und speziell an dessen Logos-Prolog orientierten Lehre von der Erscheinung Gottes als Mensch und von der geistigen Einheit des Menschen mit Gott, die das Christentum zu einer »Sache des Verstandes, der klaren Einsicht« macht, 45 für die es weder Sünde noch Entsündigung und weder Wunder noch die »persönliche Wiederkunft Jesu« gibt. 46 Zum Kernbestand des philosophisch purifizierten Christentums FW, Bd. 4, p. 583 (Staatslehre). Zur politischen Philosophie der Religion beim späten Fichte cf. Zöller, Günter, »Die beiden Grundprincipien der Menschheit«. Glaube und Verstand in Fichtes später Staatsphilosophie, erscheint in: Philosophie und Religion. Historische und systematische Beiträge, ed. Gabriel, Markus/Halfwassen, Jens, Heidelberg. 41 Cf. FW, Bd. 4, p. 497–520 (»Alte Welt«) und p. 521–600 (»Neue Welt«). 42 FW, Bd. 4, p. 594 (Staatslehre). 43 FW, Bd. 4, p. 510 (Staatslehre). 44 Cf. FW, Bd. 4, p. 522 und p. 539 (Staatslehre). 45 FW, Bd. 4, p. 524 (Staatslehre). 46 Cf. FW, Bd. 4, p. 521–592, bes. p. 524, 535 und 557 (Sünde, Entsündigung) sowie p. 548 (Wunder) und p. 580 (Wiederkunft). Zu Fichtes Deutung des Logos-Prologs cf. Zöller, Günter, Ex aliquo nihil. Fichtes Antikreationismus, erscheint in: Der Eine oder der Andere. »Gott« in der klassischen deutschen Philosophie und im Denken der Gegenwart, ed. Asmuth, Christoph/Drilo, Kazimir. 40

58

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

gehört für Fichte eine Einsicht, die für das politische und pädagogische Denken der neuen Welt maßgeblich werden sollte: die mit der Gleichheit aller Menschen vor Gott begründete »Aufhebung aller Oberherrschaft und bürgerlichen Ungleichheit«. 47 Fichte betont den Gegensatz zwischen dem exklusiven Status von Staatsbürgerschaft in der klassischen Antike, der den rechtlichen Stand und Status eines Menschen von der Mitgliedschaft in einer partikularen politischen Gemeinschaft abhängig macht, von der die meisten Menschen ausgeschlossen bleiben (Metöken, Frauen, Sklaven), und der christlich-modernen Vorstellung von der grundsätzlichen Mitgliedschaft aller im Himmelreich, das Fichte dabei politisch deutet als Reich gleichen Rechts und gleicher Rechte. 48 Man sollte nun erwarten, daß Fichte die von ihm diagnostizierte ursprüngliche politische Einsicht des Christentums im produktiven Rückgriff auf die antiken, speziell attischen Ansätze von demokratischer Herrschaft und bürgerlicher Regierung für eine spezifisch moderne, nachantike wie postreligiöse Politik und Pädagogik fruchtbar macht – zumal Fichte selbst die Verwirklichung des Reichs des Rechts von der »Ausbildung der freien Persönlichkeit« abhängig macht. 49 Doch statt die von ihm auf ihren christlichen Ursprung zurückgeführte Vorstellung vom unbedingten Eigenwert des menschlichen Individuums mit der griechischen Vorstellung von der agonalen Auszeichnung des individuellen Menschen produktiv zusammenzubringen, blendet Fichtes Politik und Pädagogik der Zukunft die griechische Bildung des demokratischen Menschen völlig aus und fokussiert die »Kunst der Menschenbildung« 50 auf die Fortführung und Festigung der Theokratie. Zwar besteht die von Fichte projektierte und propagierte Theokratie der Zukunft nicht mehr durch blinden Gehorsam, sondern durch Einsicht und Verstand aufgrund der allgemeinen Bildung von Intellekt und Wille, doch unterstellt die theokratische Willensbildung den Menschen einer außermenschlichen Macht, die die »Ergebung seines Willens in den göttlichen« fordert. 51 Für den späten Fichte ist »menschliche Freiheit« nichts anderes als »Willkür« und zu überwinden durch

47 48 49 50 51

FW, Bd. 4, p. 523 (Staatslehre). Cf. FW, Bd. 4, p. 423, 507, 519 f. und 522 f. (Staatslehre). FW, Bd. 4, p. 429 (Staatslehre). FW, Bd. 4, p. 586 und 597 f. (Staatslehre). FW, Bd. 4, p. 588 (Staatslehre). A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

59

Günter Zöller

die gezielt herausgebildete Hingabe an jenes überindividuelle und übermenschliche Tätig-Unbedingte (»geistiges Leben«), »das sich selbst gestaltet, und die Personen aus und durch sich«. 52 Mit ihrem Verständnis der Bildung als Befreiungsprozeß von willkürlicher Freiheit und als Anleitung zur freien Ergebung in die Theokratie scheint sich Fichtes späte politische Philosophie beträchtlich zu entfernen von den zeitgenössischen Ausprägungen neohumanistischen Denkens im Umkreis des deutschen Idealismus, die durchgängig den philosophischen Fokus auf die Ermöglichung und Verwirklichung von Freiheit zu legen beanspruchen. Die von Fichte vorgesehene Bildung scheint dagegen die Freiheit – genauer: die Freiheit der selbstbestimmten Lebensform – der Gleichheit – genauer: der Gleichheit des Rechts und der Rechte – aufzuopfern und alle Menschen, Regierende wie Regierte, in den Dienst an einem Außer- und Übermenschlichen zu stellen. So sieht Fichte auch die Leistung des Rechtsfortschritts und den Zuwachs an Rechtsbewußtsein primär als Wechsel im Modus der Motivation zum Rechttun – vom fremden Zwang zu freier Unterwerfung – und nicht etwa als die gezielte Gewährung eines individuellen Freiraums für die Gestaltung dessen, was weder geboten noch verboten und deshalb erlaubt ist. Doch statt den späten politischen Fichte als Ausnahmeerscheinung im Spektrum der philosophischen und pädagogischen Ansätze um 1800 anzusehen, empfiehlt es sich, seine Extremposition als Indiz zu gebrauchen für die Implikationen und Konsequenzen von Ansätzen und Tendenzen, die Fichte durchaus mit den anderen Protagonisten der klassischen deutschen Philosophie teilt. So entspricht die Abwertung der Willkürfreiheit zugunsten der reinen Vernunftbestimmung des Willens durchaus der moralphilosophischen Konzeption Kants von der Autonomie des Willens, und dies insbesondere dann, wenn man die Rede Fichtes von der Theokratie ihres kontextbedingten religiösen Vokabulars entkleidet und sie als Herrschaft des Vernunftgesetzes (Logokratie) interpretiert, dem sich der Wille des Individuums samt dessen freier Willkür im Bewußtsein unbedingter Verpflichtung unterzuordnen hat. Unter dieser Voraussetzung schwindet auch der Anschein von Heteronomie und speziell von Theonomie beim späten Fichte, der dann vielmehr in Übereinstimmung mit Kant als Advokat der Legislation oder Nomothetik durch ein höheres, überindividuelles 52

60

FW, Bd. 4, p. 591 (Staatslehre).

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

»Menschenbildung«

Selbst angesehen werden kann. Eine ähnliche latent präterhumanistische Orientierung wäre geltend zu machen für die idealistische Uminterpretation menschlicher Subjektivität durch die Konzeption des Geistes bei Schelling und Hegel, für die bereits Ansätze bei Kant und Fichte vorliegen, 53 sowie für den dezidierten Antihumanismus in späterer, nachidealistischer Zeit, insbesondere in Nietzsches Lehre vom Übermenschen und Heideggers Existenzialanalytik des Daseins und Seinsereignisgeschichte. Die Auffassung von der Bildung des Menschen bei Fichte wie bei wichtigen weiteren Protagonisten der klassischen deutschen Philosophie scheint also den Menschen nur insoweit ins Zentrum theoretischer Überlegungen und praktischer Bemühungen zu stellen, als sie ihn zugleich depotenziert zum – wie auch immer ausgezeichneten oder gar uniken – Medium, Ort oder Vehikel für die Erscheinung eines Absoluten (Gott, Geist, Gesetz), das über ihn hinausverweist, auch wo es an ihn zurückverweist. Der Vorstellung von der Bildung des Menschen, insbesondere seiner politischen Bildung, fehlt dadurch, zumindest beim späten Fichte, bei aller Orientierung an den modernen politischen Normen von Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit, jene Dimension der Freiheit als Freizügigkeit oder Liberalität, durch die das Individuum im kulturellen Kontext seiner Prägung durch die Formen der Gemeinschaftlichkeit zur selbst- und eigenständigen Bildung als politisch aktivem Bürger gelangen kann. Der dezidiert illiberale Grundzug des politischen Denkens bei Fichte gehört dabei in den größeren Zusammenhang einer deutschen Bildungsmisere, die das Spekulieren über die Freiheit nicht anders in Praxis umsetzbar zu denken vermochte als in Gestalt autoritärer Politik. So mußte dann aus der politischen Bildung die Erziehung zum Staatsdienst, aus dem Lehrer der Staatsdiener und aus der Freiheit der einsichtige Gehorsam werden. In der jüngeren deutschen Geschichte hat nun zwar die antidemokratische politische Bildung ihr einstweiliges Ende gefunden, doch ist an ihre Stelle nicht eigentlich die Bildung des freien Menschen getreten, sondern die schulische und hochschu53 Cf. Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, p. 313 (Kritik der Urtheilskraft, § 49) und GA I/6:333–361 (Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen). Zu Grundcharakter von Fichtes Philosophie als einer Philosophie des Geistes cf. Zöller, Günter, Die Sittlichkeit des Geistes und der Geist der Sittlichkeit. Fichtes systematischer Beitrag. In: Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Nietzsche und Levinas, ed. Düsing, Edith/Klein, Hans-Dieter, Würzburg, 2009, p. 217–238.

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

61

Günter Zöller

lische professionelle Ausbildung des Individuums für den Beruf, der ihm die Teilhabe an der wirtschaftlichen Prosperitätsspirale von Erwerb und Verbrauch ermöglicht und der ihn in seiner sog. Freizeit den vorgefertigten Lebensentwürfen seines Milieus überantwortet. Mit der rezenten curricularen Verengung und zeitlichen Verkürzung des Studienverlaufs auf die berufliche Qualifizierung und der damit einhergehenden faktischen Erledigung der alten Philosophischen Fakultät und ihres Lehrprogramms der freien, eines Freien würdigen Künste (artes liberales) hat sich die deutsche Universität weitgehend selbstentmachtet zur willfährigen Berufsschule für die höheren Einkommensgruppen. Einhundertdreißig Jahre nach Nietzsches Decouvrierung des Bildungsphilisters ist die deutsche Universität dabei, als dessen Nachfolger in Serie den Bildungsbanausen zu fabrizieren, dem das erforderliche Fachwissen in prädigerierter Form durch ein standardisiertes Curriculum (»Module«) im Umfang eines leicht erweiterten Grundstudiums – unterstützt von eigens für ihn verfaßten Studientexten, Handbüchern, Examenshilfen und anderen Paukutensilien – schnell und schmerzlos ins Kurzzeitgedächtnis befördert wird, während freie Bildung wieder einmal und bis auf weiteres den happy few vorbehalten bleibt.

62

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie. Schelling und die Bildung zur Innovationsfähigkeit Paul Ziche (Utrecht)

1.

Kunst und Produktion: Das Philosophiestudium und die Poesie in der Philosophie

Kaum jemand wird bezweifeln, daß Schelling sich als Genie verstanden und zugleich für die Philosophie das Ideal strenger Wissenschaftlichkeit geltend gemacht hat. Damit fordert er das Modell des Künstlers auch für die Wissenschaft der Philosophie und exponiert sich zugleich philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich gegenüber Kant, der den Wissenschaften das Geniepotential im engeren Sinne abgesprochen hatte; denn die Wissenschaften sind Kant zufolge jedenfalls im reproduktiven Nachvollzug erlernbar. 1 Zwischen dem Entdecker neuer Theorien und dem nachvollziehenden Lehrling besteht in den Wissenschaften, so Kant, ein nur gradueller Unterschied. Schelling ist mit der Betonung des Genies und der Annäherung von wissenschaftlichem und künstlerischem Genius in guter romantischer Gesellschaft; ein Kantisches Problem in der Abstimmung von Lehrbarkeit, Genieleistung und Philosophie wird er aber er nicht los, die Schwierigkeit nämlich, Philosophie zu erlernen, die Kant prominent und von Schelling wiederholt zitiert betont hatte. 2 Was tut dann aber ein Hochschullehrer der Philosophie und ein Wissenschaftspolitiker wie Schelling, der gleich wiederholt zu hochschuldidaktischen, wissenschaftsorganisatorischen und speziell philosophiepädagogischen Fragen Stellung nimmt? 3 Er wird AA I,9,1,323 f.; Bezugsstelle bei Kant: Kritik der Urteilskraft, § 47, B 183 f. Schelling bezeichnet hier Kepler mit allem Nachdruck als Genie. – Werke Schellings werden, soweit bereits erschienen, nach der historisch-kritischen Akademieausgabe (AA) bzw. nach der Ausgabe der Sämmtlichen Werke (SW) zitiert. 2 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 837/B 865; Schelling nimmt zu dieser Einschränkung mehrfach ausdrücklich Stellung z. B. AA I,4,144; SW I,9,357. 3 Schelling nimmt in der akademischen Lehre wiederholt zu bildungspolitischen und institutionellen Fragen Stellung, so in seinen Jenaer Vorlesungen über die Methode des 1

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

63

Paul Ziche

ein Bildungsprogramm zu entwerfen haben, das diese Schwierigkeiten einer genaueren Betrachtung unterwirft. Die sechste Vorlesung von Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1802/3 handelt »Ueber das Studium der Philosophie insbesondere« und spiegelt genau diese Problemlage wider. Schellings Stellungnahme zur Lehrbarkeit der Philosophie ist eigentümlich ambivalent: Eine Seite der Philosophie, ihre Kunstseite – Kunst hier im Sinne von techne gebraucht – ist lern- und lehrbar; Schelling benennt diese auch als »Dialektik«. Philosophie aber ist natürlich nicht einfach Anwendung einer Technik; »Kunst und Produktion«, »Speculation und Reflexion« sind untrennbar, »so wenig als Form und Stoff in der Poesie getrennt seyn können«, wie Schelling hier mit einem interessanterweise der Kunst entlehnten Vergleich betont. 4 Das impliziert aber, daß auch die Dialektik nicht einfach äußerlich erlernt werden kann. Zur Verdeutlichung verschiebt Schelling die zunächst auf Technik und deren produktive Umsetzung gemünzte Formel von »Kunst und Produktion« hin zur Formel von »Poesie in der Philosophie«, indem er dabei zweierlei tut: Die Kunst im Sinne der techne wird nun zur Poesie, also zur emphatisch ästhetischen Kunst, in die zweitens auch noch der produktive Aspekt der Poiesis hineingeschoben ist. Die Parallelisierung von Kunst und Philosophie baut Schelling in den Vorlesungen weiter aus: »Jedes wahre durch Einbildungskraft geschaffene Kunstwerk ist die Auflösung des gleichen Widerspruchs mit dem, der in den Ideen vereinigt dargestellt ist.« 5 Dieses Zitat weist Eigentümlichkeiten auf, die in Schellings Überlegungen zum Bildungsakademischen Studiums, in seinen Erlanger Vorträgen, in seinen Vorlesungen in München, wirkt aber auch durch seine Positionen in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und als Leiter des »Generalkonservatoriums der wissenschaftlichen Sammlungen des Staates«. In dieser Funktion war er in die Neuordnung der Akademie bzw. der Sammlungen 1807 und 1827, im Zusammenhang mit der Translokation der Universität von Landshut nach München von 1826, eingebunden, ebenso in die Neuordnung der Universität nach deren Umzug. – Cf. zu diesen Entwicklungen u. a. Dickerhof, Harald (Bearb.), Dokumente zur Studiengesetzgebung in Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin, 1975; Böhm, Laetitia/Spörl, Johannes (ed.), Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten, 2 Bde, Berlin, 1972, 1980; Perger, Eduard von, Geschichte des Philosophieunterrichts und der philosophischen Lehramtsprüfung im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert in Bayern und Preussen, Diss., München, 1959. 4 SW I,5,267. 5 SW I,5,267.

64

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie

programm der Philosophie wiederholt begegnen. Die Aktivität des Produzenten des Kunstwerks bzw. die aktive Vereinigung eines Widerspruchs in den Ideen treten im Zitat zurück; zudem entzieht es sich eigentümlich der Festlegung, wenn man fragt, wo hier eigentlich die Philosophie zu stehen kommt. Eigentlich steht sie auf beiden Seiten dieses Vergleichs; ein Philosoph braucht, wie Schelling im gleichen Zusammenhang eigens betont, die Einbildungskraft, die wesentlicher Faktor für das Schaffen von Kunstwerken ist, aber natürlich ist er auch Experte für das Darstellen von Ideen bzw. das Darstellen in Ideen. Für den hier geforderten Umgang mit Ideen wiederholt Schelling dann das Verdikt der Unlehrbarkeit: »Man kann den Sinn für Ideen nicht schaffen«; 6 deshalb seien alle Anweisungen, die im Zusammenhang mit Ideen zu geben seien, eigentlich negativer Art. An dieser Formulierung fällt ein Aspekt auf, der ebenfalls aufzugreifen sein wird: Ein »Sinn« ist eigentlich ein aufnehmendes, ein passives Vermögen, über dessen aktive Erzeugbarkeit hier negativ befunden wird, das Schelling andererseits aber dennoch für das Darstellen in Ideen und damit für Kunst und Philosophie für strikt erforderlich zu halten scheint. Damit formuliert Schelling sehr präzise die Spannungen, die Bildung durchgehend kennzeichnen: Den Anspruch nämlich, durch vorgegebene Ausbildungsprogramme zur Realisierung einer jeweils besonderen Individualität und Persönlichkeit zu kommen, durch techne zur Produktivität anzuleiten, oder, im Kanon einer humanistischen Bildungsidee formuliert, durch Studium des Bewährten die Fähigkeit zur Innovation zu bilden. Gerade die erlernbare Kunstseite führt allen diesen Ansätzen zufolge zugleich in die nicht erlernbaren, kreativen Dimensionen hinein und wird damit Bedingung ihrer eigenen Transzendierung. In den Vorlesungen formuliert Schelling diesen Sachverhalt, in terminologischem Anschluß an Hegel, als einen Zusammenhang von Spekulation und Reflexion. Die Ambivalenz dieses Bildungskonzepts ist kaum irgendwo besser zu sehen als in einem Aufklärungstext wie Lessings Erziehung des Menschengeschlechts: »Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter.« 7 Lessings Erläuterung steht selbst zwischen der menschlichen Selbstbestimmung bzw. der Hilfe zu dieser Selbstbestimmung 6 7

SW I,5,268. Lessing, Gotthold Ephraim, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Berlin, 1780, § 4. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

65

Paul Ziche

auf der einen und – in der Unmöglichkeit, dem Menschen durch Bildung völlig neue Horizonte zu eröffnen – einer defaitistischen, auch einen status quo konservierenden, dadurch fast mechanistisch-deterministisch wirkenden Konzeption auf der anderen Seite. Schellings Methodenschrift positioniert sich in dem von Lessing exemplarisch formulierten Problemfeld sehr eindeutig: Es kann nach Schelling nicht um ein durchgängiges Schöpfen aus sich selbst gehen; vielmehr ist eine Form der Interaktion von außen und innen nötig, deren Möglichkeit Schelling in seinen Methodenvorlesungen durch sein Konzept absoluter Identität sicherstellt. Repräsentant der strikten Selbstkreation wäre ein Autonomiegedanke, der, der Kantischen Idee von Freiheit folgend, eben die kontrastierende Gegenüberstellung von frei und bestimmt abweist. Schelling macht einen anderen Vorschlag, der neben der Selbstbestimmung eine Fremdbestimmung anerkennt, allerdings eine solche, die – wie für Bildung zu fordern – nicht mit der Selbstbestimmung in Streit steht. Schelling komprimiert alle diese Aspekte in seine Antwort auf die Frage, wem der Mensch vertrauen dürfe, wenn es um seine Bildung geht: »Am meisten sich selbst und dem bessern Genius, der sicher leitet«, dann aber auch denjenigen unter seinen Lehrern, die erkennen lassen, daß sie über die höchste Wissenschaftsstufe verfügen. 8 Der Genius wird damit in eigenartiger Weise gleichzeitig dem Subjekt zugeschrieben, andererseits gerade nicht mit dem Subjekt identifiziert; er markiert, genau wie bereits der Geniebegriff im letzten Hauptstück von Schellings System des transscendentalen Idealismus, eine subjektüberschreitende Instanz im Subjekt. Zur Grammatik von »Bildung« gehört, daß es sich bei »Bildung« keineswegs um ein Erfolgswort handelt; Bildung lebt davon, unabschließbar zu sein, auch hier genau wie das Kunstwerk und dessen ästhetische Erfassung. Im Zusammenspiel mit dem Genie- oder Geniusbegriff kann der Bildungsauftrag, den Schelling diskutiert, auch als die Forderung verstanden werden, sich selbst zum Kunstwerk zu machen. Andererseits hat Bildung einen naturalen oder technischen Aspekt: Sie ist nicht völlig von Maßstäben, Anleitung, Kontrolle und Vorbildern freigestellt – wieder wie das Kunstwerk, wie aus Kants Ausführungen zum Verhältnis von Geschmack und Genie deutlich wird. 9 Schelling SW I,5,214. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 48, 50; bei Schelling cf. AA I,9,1,318 f., hier mit der Gegenüberstellung von »Kunst« (im Sinne von techne) und »Poesie« formuliert.

8 9

66

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie

hat, wieder in den Methodenvorlesungen, eine sogar sehr starke Bedingung für die eingrenzende Festlegung von Bildungsprogrammen; notwendiges Leitbild für Bildung müsse die Idee oder das Wesen des Menschen sein, die wiederum mit der »Wissenschaft des Menschen« engstens zusammenhängen: »Alle wahre Wissenschaft des Menschen kann nur in der wesentlichen und absoluten Einheit der Seele und des Leibes, d. h. in der Idee des Menschen […] gesucht werden.« 10 Auch diese Formel schwankt in interessanter Weise: Geht es um Wissenschaft, die der Mensch besitzt, oder die von ihm handelt? Auch hier wird man, vor allem auch vor dem Hintergrund späterer Formulierungen Schellings zum Zusammenfall von Mensch bzw. menschlicher Seele und Wissenschaft, von der Untrennbarkeit beider Betrachtungsweisen ausgehen müssen; der Mensch ist immer zugleich Gegenstand von Wissenschaft und Ausübender von Wissenschaft, und deshalb führt von der Idee des Menschen ein direkter Weg zur Art und Weise, wie der Mensch Wissenschaft zu betreiben hat, und auch, wie er zu bilden ist. Daß gerade diese Formel von der Idee des Menschen und ihrer Relevanz für das Problem der Bildung mehr oder weniger wörtlich in den bildungsphilosophischen Überlegungen Friedrich Immanuel Niethammers, mit dem Schelling auf fast allen Karrierestationen zusammenkam, 11 übernommen wird, ist angesichts ihrer Bedeutsamkeit innerhalb von Schellings Konzeption eines philosophiebasierten Ausbildungsprogramms dann kein Zufall.

2.

Humanität versus Animalität: Von Schelling zu Niethammer

Niethammer 12 betreibt das Programm einer Bildung durch Klassizität in forcierter Weise; auf ihn geht wesentlich unser Begriff »humanistisch« zurück, und er plant, ganz konkret, die Schaffung neuer KlasSW I,5,270. – SW I,5,242 wird die Idee der »sterblichen Natur« des Menschen gegenübergestellt 11 Niethammer, 1766–1848, studierte wie Schelling am Stift, ging 1790 nach Jena, 1803 nach Würzburg und 1808 nach München, wo er als Zentralschulrat und Oberkirchen-, später als Konsistorialrat wirkte. Zur frühen Beziehung zu Schelling cf. Dammköhler, Georg, Schellings Beziehungen zu Niethammer vor seiner Berufung nach Jena. Nebst 46 unedierten Briefen Schellings aus den Jahren 1795–1798, Diss., Leipzig, 1913. 12 Zu Niethammer cf., aktuell und mit Verweisen auf die übrige Literatur: Wenz, Gunther, Hegels Freund und Schillers Beistand. Friedrich Immanuel Niethammer (1766– 10

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

67

Paul Ziche

siker, insbesondere eines neuen klassischen, nationalen Lesebuchs, das von modernen Autoren geschaffen werden soll: Niethammer schweben dafür Goethe oder Voss vor. 13 Seine bildungstheoretischen Überlegungen arbeitet Niethammer in seinem Buch über den Streit des Philanthropinismus und Humanismus von 1808 ausführlich aus; Schelling bespricht dieses Buch in einem eigenen Aufsatz. 14 Entstanden ist dieser Text im Zusammenhang mit Niethammers erstem bildungspolitischen Projekt für Bayern, seinen Überlegungen zur Gymnasialreform. In seiner Kritik am Philanthropinismus – der von Johann Bernhard Basedow 1774 institutionalisierten und von Niethammer durch »die überwiegende Tendenz auf sogenannten Real-Unterricht« 15 kritisch benannten Bildungsrichtung – greift Niethammer sehr bewußt ein ganzes Zeitalter, das Zeitalter der Aufklärung, an, in dem diese Bildungsidee wurzelt, und sieht hier eine Gegenüberstellung eines alten Bildungssystems, das vornehmlich auf die »Humanität« des Auszubildenden gerichtet sei, und eines »modernen«, »welchem vermöge desselben Eintheilungsgrundes die Benennung des Animalismus zukäme«, da dieses Bildungssystem durch die einseitige Ausrichtung auf eine unmittelbare Nutzbarma1848), Göttingen, 2008; zu seiner humanistischen Bildungskonzeption p. 193–206. Cf. auch die einführende Darstellung in: Schauer, Markus, Friedrich Immanuel Niethammer und der bildungspolitische Streit des Philanthropinismus und Humanismus um 1800. In: Pegasus-Onlinezeitschrift V/1, 2005, p. 28–45 (http://www.pegasus-onlinezeitschrift.de/erga_1_2005_schauer.html; 12. 9. 2008), sowie Hojer, Ernst, Die Bildungslehre F. I. Niethammers. Ein Beitrag zur Geschichte des Neuhumanismus. Frankfurt a. M., 1965; Schwarzmeier, Michael, Friedrich Immanuel Niethammer, ein bayerischer Schulreformer, München, 1937. 13 Cf. dazu auch Kittler, Friedrich A., Aufschreibesysteme 1800 · 1900, München, 19953 , p. 188–195. 14 Niethammer, Friedrich Immanuel, Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit, Jena, 1808. – In einer Fußnote p. 3 f. erläutert Niethammer die neue Zusammensetzung »Erziehungsunterricht«: »Da es nun für den Zweck dieser Abhandlung darauf ankam, ein Wort zu finden, welches den Begriff des Unterrichts, soweit er die allgemeine Bildung umfaßt, nicht nur in seinem ganzen Umfang, sondern zugleich auch in seinem bestimmten Gegensatze zu der speciellen Bildung (der Berufserlernung, des Fachstudiums etc.) deutlich bezeichnete: so schien die Zusammensetzung des Ausdruckes Erziehungsunterricht verantwortlich […] zu seyn, da keiner der drei obengenannten Ausdrücke jenen Begriff ganz erschöpft, dagegen aber der Ausdruck Erziehungsunterricht, sofern die eigentliche Erziehung mit dem Uebergang des Lehrlings zum Berufsunterricht geendigt ist, die Periode der allgemeinen Bildung vollkommen richtig bezeichnet.« 15 Niethammer, l. c., p. 15.

68

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie

chung von Wissen bestimmt sei. 16 Humanistische Ausbildung, auf die Niethammer als eine bereits bestehende Tradition zurückblickt, habe zwar eine sicher im Detail verbesserungsbedürftige und weiter zu entwickelnde Tendenz, die alten Sprachen statt zum Mittel zum Selbstzweck zu machen, das rechtfertige aber nicht die philanthropinische Gegenreaktion, die Niethammer so umschreibt: »Die Forderung realer Nützlichkeit war jetzt an der Tagesordnung; reale Nützlichkeit aber hieß nur Einträglichkeit, materielle Production.« 17 Dem wird immer wieder die »allgemeine Bildung« gegenübergestellt, die Niethammer auch direkt wertend als »besser[e] Bildung« bezeichnet. 18 Niethammer geht in seinem Buch weit über die kritische oder polemische Diskussion von bildungspolitischem Tagesgeschehen hinaus. Er sucht einen »wissenschaftlichen Gesichtspunkt« zur Darstellung und Diskussion der verschiedenen Bildungstheorien, und dazu greift er auf Schellingsches Vokabular zurück, indem er einen »Hauptgegensatz« aufsuchen möchte, der in der »Idee des Menschen« bzw. in der »willkürlichen Construction des Begriffes vom Menschen« liege, auf der ein Bildungssystem basieren müsse. 19 Da der Mensch im Rahmen einer Bildungskonzeption nicht als vorgegebene Größe verstanden werden kann, ist es möglich, daß bestimmte Bildungsauffassungen diese Idee des Menschen auch gänzlich verfehlen können. Niethammer faßt die Gegenüberstellung gelingender und scheiternder Bildungsauffassungen in einem ganz traditionellen Begriffspaar zusammen, indem er Tier und Mensch gegenüberstellt: »in dem Gegensatz von Geist und Thier, Vernunft und Kunstverstand [hier also im Sinne der techne verstanden, P. Z.], Rationalität und Animalität, die in dem Menschen zu Einem wunderbaren Ganzen verknüpft sind.« 20 Alle Gegenüberstellungen, auf die Niethammer den Gegensatz von Philanthropinismus und Humanismus zuspitzt, lassen sich auf diesen Grundgegensatz beziehen: allgemeine Bildung vs. besondere Ziele; Ideen vs. Sachen; geistige vs. materiale Kenntnisse. Damit erhält der philosophisch sanktionierte Gedanke einer im Menschen liegenden Einheit des Animalischen und des Geistigen eine

16 17 18 19 20

L. c., p. 8. L. c., p. 15. L. c., p. 25. L. c., p. 36. L. c., p. 37. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

69

Paul Ziche

ganz konkrete bildungspraktische Umsetzung; wenn unterschiedliche Bildungsauffassungen idealtypisch durch diese beiden Prädikate zu bezeichnen sind, die Idee des Menschen aber deren Einheit verkörpert, kann im Bildungsalltag nicht eine dieser Seiten selektiv betont, mithin auch nicht die Ratio einfach gegen die Animalität ausgespielt werden. Das wäre eine einseitig bleibende Abstraktion, von der immerhin der Humanismus, wie er Niethammer vorliegt, nicht ganz freizusprechen sei. Umgekehrt, und in tendenziell viel radikalerer Weise, verwechsele der Philanthropinismus die Vernunft mit dem »aufgeregte[n] animale[n] Geist«, wie sich insbesondere an seiner Gegenstellung gegen den Glauben und seinem Verkennen des Ideals des Glaubens zeige. 21 Eigentliches Ziel eines Bildungsprogramms muß also sein, die beiden fundamentalen Unterrichtssysteme zu vereinigen, um so das Bildungsziel der »Humanitätsbildung« zu erreichen. 22 Dies ist wieder am besten aufgrund einer »Construction« des Begriffs des Menschen möglich, da der Mensch eben, wie Niethammer nochmals eigens hervorhebt, ein »Drittes aus beiden, durch Vernunft modificirte Thierheit und durch Thierheit modificierte Vernunft« sei. 23 Nur hieraus lasse sich auch die »Bestimmung des Menschen« begreifen. Niethammers Ansätze zur Überwindung dieser Gegenüberstellung, soweit sie philosophisch formulieren, verwenden durchgehend Schellingsche Konzepte und argumentieren auf einem sehr abstrakten Niveau. Er wendet sich gegen die einfache Gegenüberstellung von »Sachen« und Begriffen; auch Ideen seien schließlich, hier genau wie die Sachen, »durch die Anschauung mit dem Begriffe vermittelt«, 24 wodurch die »Sachen« zu den von Niethammer wiederholt als bildungsrelevant ausgezeichneten »geistigen Gegenständen« werden und wodurch die humanistische Betonung der Sprache als Vermittlung von Worten und Ideen ihre Rechtfertigung erhält. Diese unmittelbare Durchdringung von Anschauung und Begriff in den »Sachen« findet sich wiederum in aller Deutlichkeit bei Schelling, wenn er beispielsweise feststellt, daß man »nie etwas anderes als Begriffe« anschaue. 25 Bei Niethammers Suche nach einer konkreten Umsetzung dieser L. c., p. 55. L. c., p. 66, ausdrücklich hervorgehoben auch bei Wenz, l. c., z. B. p. 94. 23 Niethammer, l. c., p. 67. 24 L. c., p. 177. 25 SW I,4,292; dazu cf. Ziche, Paul, Metaphern und Identität. Schellings Metaphern und die Darstellung philosophischer Identitätsstrukturen. In: Bowman, Brady (ed.), Darstel21 22

70

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie

programmatischen Konzeption fallen einige zunächst schwer verständliche Vorschläge auf. Drei solche Aspekte seien benannt: Humanistische Bildung ist notwendig gekennzeichnet durch eine Beschränkung, die zunächst nicht mit dem Ideal der Allgemeinheit in Übereinstimmung zu bringen scheint; die alten, toten Sprachen seien der ausgezeichnete Weg, um Kreativität und Innovationsfähigkeit auszubilden, und, in ähnlicher Weise zunächst fraglich, gerade die Pflege des Gedächtnisses liefere die Grundlage für diese zu erzielenden Leistungen. Niethammer liefert jeweils die erforderlichen Argumentationen nach, um diese zunächst kontraintuitiv erscheinenden Forderungen begründen zu können. Beschränkung »auf einzelne Kreise des Wissens« 26 wirke einer allgemeinen Nivellierung, in der alle Inhalte auf einer Ebene und zugleich möglichst simplifiziert präsentiert würden, entgegen. In seiner Argumentation für das Gedächtnis scheint er die Problematik zunächst allerdings noch zuzuspitzen, indem er dem Gedächtnis ein anderes, traditionell mit kreativen Leistungen verbundenes Leitvermögen, die Urteilskraft, gegenüberstellt, deren Ausbildung zentrale Zielstellung der Philanthropinisten sei. Sein Argument gegen eine Privilegierung der Urteilskraft gegenüber dem Gedächtnis betont die Relevanz des Wissens für das Urteilen: Ohne erst über Wissen zu verfügen, wie es das Gedächtnis bereithält, bleibe das bloße Urteilen unsolide. Der Philanthropinismus drehe also die sachlich angemessene Abfolge von Wissenserwerb und Urteilen um; es sei in keiner Weise wünschenswert, die Schüler dazu auszubilden, über alles ein Urteil zu haben, wenn nicht vorher das nötige Wissen bereitstehe – und solches Wissen könne eben nicht auf allen Gebieten erworben werden. Hiermit ist zugleich die Relevanz der klassischen Philologie erwiesen, die vornehmlich geeignet sei, das Gedächtnis auszubilden durch die Einbindung in eine Erinnerungskultur, in der man »keinen Punkt einmal errungner Bildung untergehen« lassen dürfe. 27 Hieraus erklärt sich der zentrale Rang des Wortes; »Liebe zum Wort« sei eine »wahre Kunstliebe«, 28 und die dafür erforderlichen grammatischen Kenntnisse seien eben am besten an den toten Sprachen zu erlernen.

lung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Literatur und Philosophie nach Kant, Paderborn, 2007, p. 195–210. 26 Niethammer, l. c., p. 83. 27 L. c., p. 217. 28 L. c., p. 221 f. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

71

Paul Ziche

Damit sollen nach Niethammer alle diese zunächst nicht intuitiv plausibel erscheinenden Programmpunkte den Zielen der Humanitätsbildung und Individualitätsförderung dienen. Die zunächst befremdlichen Einschränkungen im Bildungsprogramm entsprechen genau dem konzeptuellen Problem von Bildung, das Niethammer, unter Verbindung der Kantischen Formulierung zur Unlehrbarkeit der Philosophie mit dem eher an Schelling orientierten Begriff der Allgemeinheit dahingehend formuliert, daß man Allgemeines nicht lehren könne, es müsse vielmehr vom Lehrling gefunden werden. 29 Dies übersehe eben der Philanthropinismus.

3.

Persönlichkeit vs. Humanismus: Von Niethammer zu Schelling

Schelling antwortet auf Niethammers Überlegungen in einer Besprechung von Niethammers Buch in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung von 1809, im Jahr der Freiheitsschrift also. 30 Schellings Text stellt weniger eine Rezension als eine wissenschaftliche Auseinandersetzung dar, zu welcher, so Schelling, die transparente Struktur und der Anspruch von Niethammers Text einladen. Zunächst könnte man erwarten, daß Schelling weitreichende Sympathien für Niethammers Betonung einer »allgemeinen«, von der Oberflächlichkeit einer unmittelbar praktischen Zielsetzung abgesetzten Bildung hege; dies ist aber keineswegs uneingeschränkt der Fall. Er setzt sich sogar gleich in zwei Stufen von dieser Idee ab, einmal bei der Formulierung des relevanten Grundgegensatzes, zum anderen auf der Ebene der praktischen Umsetzung. Sein Angriffspunkt liegt beim organisierenden Prinzip von Niethammers Text, der Gegenüberstellung der animalischen und rationalen Aspekte am Menschen, die Niethammer, wie gesehen, in Schellingschen Begriffen formulierte. In der angemessenen Aufstellung und Behandlung eines solchen Gegensatzes müsse, so gesteht Schelling L. c., p. 267. Schellings Text ist in der Literatur kaum diskutiert; die wichtigste Ausnahme: Shibuya, Rie, Persönlichkeit und Selbstbildung. Niethammers Beitrag zu Schellings Überwindung der Transzendentalphilosophie. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 13, 2003, p. 15–34. – Shibuya präzisiert die Abfassungszeit des Textes, im Rückgriff auf die Jahreskalender, auf das Jahr 1808.

29 30

72

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie

zu, die Lösung für das Bildungsproblem liegen – diese Lösung verfehle Niethammer aber. Niethammer bleibe in seinem Plädoyer für den Humanismus immer noch zu einseitig; er sehe zwar die Notwendigkeit, die beiden Ebenen zu verbinden, gehe dabei aber nicht weit genug. Durch seine unzureichende Auffassung von der Beziehung dieser Aspekte im Menschen könne Niethammer gerade der Idee des Menschen und damit einem Grundthema der Philosophie überhaupt, nämlich der Persönlichkeit, nicht gerecht werden. 31 Der Humanismus, so sein Vorwurf, depersonalisiere. 32 Wenn dies zutrifft, liegt hier ein gerade bildungspraktisch besonders scharfes Verdikt gegen den Humanismus. Schelling geht noch weiter; diese depersonalisierende Tendenz gehe mit einer allgemeingesellschaftlich verbreiteten Zurückdrängung der Individualität einher; 33 der Vorwurf der Nivellierung, den Niethammer gegen den Philantropinismus und, mit vergleichbarer Stoßrichtung, Schelling in den Methodenvorlesungen unter dem Stichwort des »Applanirungssystems« 34 gegen die Aufklärung gewandt hatte, wird nun zu einem kritischen Philosophiekonzept und einem gesellschaftskritischen Theorieelement gemacht, das Schelling auch gegen Niethammer richten kann. Für Schelling wird vor der Folie des Persönlichkeitsbegriffs die Position Niethammers als die einer bloßen Indifferenzierung sichtbar. Dies ist nicht lediglich ein Problem der praktischen Umsetzung, sondern liege bereits in einem fehlerhaften programmatischen Grundansatz, der Niethammers Programm zugrundeliegt. Schelling sucht dann auch ausdrücklich, in einer direkt als noch offene Suchbewegung markierten Formel, nach einer anderen Formulierung des Grundgegensatzes: »Sollte der wahre hier allein zu suchende Gegensatz nicht folgender seyn? – Der Vernunft, die als das Vernehmende und Allgemeine in Ansehung des Menschen mehr den Charakter der Ruhe und Hingebung hat, kann bloß das Thätige, Selbstwirkende, mit Einem

Inwieweit Niethammer noch eine Form der Schellingschen Philosophie vor Augen hat, die Schelling selbst um 1809 bereits nicht mehr vertritt, kann hier nicht weiter diskutiert werden. – Zu Schellings Persönlichkeitsverständnis cf. Buchheim, Thomas / Hermanni, Friedrich (ed.), »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grunde«. Schellings Philosophie der Persönlichkeit, Berlin, 2004. 32 SW I,7,516. 33 SW I,7,517. 34 SW I,5,271. 31

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

73

Paul Ziche

Worte die Persönlichkeit entgegengesetzt werden.« 35 Schelling führt hier anstelle der Unterscheidung von Humanität und Animalität zwei neue Pole ein; dabei wird nicht einfach die Humanität durch Personalität ersetzt, 36 sondern die komplette Struktur des Gegensatzes wird verändert. Hatte die Mensch-Tier- oder Rationalität-Animalität-Disjunktion noch in einem begrifflichen Umfeld der unterordnenden und damit wertenden Abstufung operiert, so ist bei der Vernunft-Persönlichkeit-Gegenüberstellung die Wertzuweisung in keiner Weise mehr eindeutig. Durch die Einführung des neuen Eigenschaftspaares von Aktivität bzw. Passivität verlieren die beiden Seiten ihre strikte Hierarchisierung. Schelling wählt einen plastischen Vergleich, der genau diese Egalisierung von Wertehierarchien vorführt, indem er zwei verschiedenartige, aber nicht wertend abgesetzte Prädikate verbindet: Ziel von Bildung sei, wie Schelling metaphorisch-exemplarisch ausführt, eine Durchsichtigkeit, Bild für die passive Seite von Nachgiebigkeit und Offenheit, die nach dem Vorbild des Diamanten zugleich mit Härte verbunden ist. 37 Auch bei Schelling finden sich ausgesprochen überraschende Aspekte, wenn er die konkrete Umsetzung seiner Konzeption erörtert; diese lassen sich durchweg aus einer gegenüber Niethammer sorgfältiger ausgeführten Analyse der in der Bildungsproblematik gelegenen Gegensätze begreifen. Bei einer solchen Analyse, so Schelling, werde deutlich, daß der »alte und ächte Humanismus« überhaupt nicht in den strikt kontradiktorischen Begrifflichkeiten der Niethammerschen Gegenüberstellung gearbeitet habe. 38 Entsprechend erhält die philanthropinistische Idee, den Menschen »mit wenigen in der Nähe liegenden, völlig nüchternen Begriffen auszustatten«, 39 jedenfalls gegenüber einer ungenau umgesetzten Vereinigung von allgemeiner und spezieller Bildung den Vorzug. Auch die alte Universität erfährt gerade in einem ihrer eher verzopften Aspekte, der Pflege der Leibesübungen – im 18. Jahrhundert durchweg mit einem Akzent auf der studentischen

SW I,7,516. Shibuya (l. c.) betont hingegen sehr stark, daß im Übergang von Humanität zu Persönlichkeit und von »Selbstbestimmung zur Selbstbildung« die entscheidenden Ansätze Schellings lägen. 37 SW I,7,517. 38 SW I,7,519. 39 SW I,7,525. 35 36

74

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie

Kunst des Fechtens –, Anerkennung. 40 Schelling gibt demgegenüber eine ganze Reihe von Formulierungen, in denen er seinen Gegenentwurf zusammenfaßt; dabei formuliert er durchweg nicht in einfachen, bipolaren Gegenüberstellungen, sondern in bei aller Prägnanz komplexen Umschreibungen, die jeweils mehrere Wege offenlassen: Er fordert »kräftige[…] Ueberschauung des Ganzen« und »bestimmte[…] Erkenntniß des Einzelnen«, »herzhafte[…] Weltansicht« und »aufgehellte[…] sichere[…] Vernunft« 41 – letzteres sicher bewußt in aufklärerischer Metaphorik formuliert und der von ihm, mit Niethammer, als »Entgeistung« 42 kritisierten Aufklärung gegenübergestellt.

4.

Aktivieren von Passivität: Vernünftige Bildung jenseits der Dialektik von Personalität und Verstand

Schelling setzt Persönlichkeit, Verstand und Vernunft in ein neuartiges Verhältnis, das nach den beiden Polen der Aktivität bzw. Passivität hin austariert ist. Im Gegensatz zu Niethammers Bildungskonzeption ist hier keine eindeutige Entwicklungsrichtung ausgezeichnet. Auch Niethammer hatte für eine Verbindung der von ihm unter den Termini der Animalität und Rationalität gefaßten Konzeptionen plädiert, um dadurch zu echter Humanitätsbildung zu kommen, allerdings, so Schelling, unter einer inadäquaten Zuspitzung auf einen hierarchisierten Gegensatz. In seiner Kritik an Niethammers Bildungskonzeption nimmt Schelling damit die im Bildungsbegriff gelegene Problematik in viel radikalerer Weise ernst als Niethammer. Welche konkreten Optionen ergeben sich aber, wenn man den Grundgegensatz so konzipiert, daß keine eindeutige Entwicklungsrichtung mehr auszumachen ist? Die Schwierigkeit liegt wesentlich darin, daß Schelling eines der traditionellen Bildungsziele, die Kapazität für Wissenschaft, eine Fähigkeit also, die mit selbstständiger Kreativität einherzugehen scheint, mit einer Charakterisierung von Wissenschaft durch Merkmale der Passivität verbindet. Es kann also, wenn man Wissenschaft einen Wert innerhalb eines Bildungsprogramms zuschreibt, nicht schlichtweg um die Überwindung von Passivität gehen. 40 41 42

SW I,7,520; Wenz (l. c.) hebt entsprechende Überlegungen bei Niethammer hervor. SW I,7,525, 528. SW I,7,513; Niethammer, l. c., p. 18. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

75

Paul Ziche

Bereits bei Niethammer kommt einem rezeptiven und in dieser Hinsicht passiven Vermögen, dem Gedächtnis, eine zentrale Funktion zu. Schelling setzt hier noch umfassender an, indem er den Begriff der Wissenschaft selbst ausdrücklich gegen die intellektuelle Selbsttätigkeit des Wissenschaftsbeflissenen absetzt; so in aller Eindeutigkeit in den Weltalter-Texten: »Die bisher geltende Vorstellung von der Wissenschaft war, daß sie eine bloße Folge und Entwickelung eigener Begriffe und Gedanken sey. Die wahre Vorstellung ist, daß es die Entwickelung eines lebendigen, wirklichen Wesens ist, die in ihr sich darstellt.« 43 Auf diese Weise kann er den Verdacht der Subjektivierung abweisen, der resultieren könnte, wenn Wissenschaft zu eng an die Entwicklung jeweils »eigener« Gedanken des Wissenschaftlers gebunden würde, allerdings verschieben sich dadurch zugleich die Ziele und Aufgaben, auch die konkreten Wege von Bildung radikal. Deutlich wird das an der Verschiebung der Agenten in Schellings Formulierungen: »Das Lebendige der höchsten Wissenschaft kann nur das Urlebendige seyn, […]. Dieses Urlebendige, da nichts vor oder außer ihm ist, von dem es bestimmt werden möchte, kann sich, inwiefern es sich entwikkelt, nur frei, aus eignem Trieb und Wollen, rein aus sich selber, aber eben darum nicht gesetzlos, sondern nur gesetzmäßig entwickeln.« 44 Eine an Kants Autonomieauffassung geschulte Idee der strikten Gesetzmäßigkeit auf der Grundlage strikter Selbstbestimmung geht hier einher mit einem Entziehen der Wissenschaftsentwicklung aus der Sphäre der Selbsttätigkeit des Menschen; ein Entwickeln der letzten Grundlage von Wissenschaft »rein aus sich selber« bedeutet hier nicht mehr, daß der Mensch diese aus sich heraus entwickeln kann, sondern fordert Selbstentwicklung der Wissenschaft aufgrund ihrer eigenen, subjektivitätsübergreifenden Gegebenheiten. Wiederum wird dadurch ein zentraler Aspekt von Wissenschaft gesichert, nämlich die Forderung nach unbedingter Gegenstandsadäquatheit von Wissenschaft, andererseits liegt hier eine der Grundlagen für Schellings Auszeichnung der Offenbarung als Erkenntnisquelle, die sich hiermit direkt an seine Überlegungen zum Erwerb von Wissenschaft bzw. Wissenschaftsfähigkeit anschließen läßt. Wenn Schelling das Verhältnis des Menschen zur Wissenschaft als eines der »Mitwissenschaft« benennt, 45 weist er genau 43 44 45

76

SW I,8,199. SW I,8,199. SW I,8,200. – Cf. dazu auch Ziche, Paul, »Die Seele weiß nicht, sondern sie ist die

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie

darauf hin, daß der Mensch in der Mitwissenschaft zwar einen Zugang zur Wissenschaft erhält, diese aber nicht aus sich heraus und damit nicht in einem personalistischen Rahmen entwickeln kann. Bildung kann daher nicht mehr mit dem Programm identifiziert werden, durch eine Reihe vorbereitender, extern gesteuerter Übungen zur Fähigkeit kreativer Selbsterzeugung neuer Ideen zu gelangen. 46 Wiederum bleibt hier, analog zu den ausgeführten Implikationen für das Wissenschaftsverständnis, ein traditionell wichtiger Aspekt von Bildung, nämlich deren Unabgeschlossenheit, erhalten. Schelling benennt diesen explizit in einer Formulierung, die wiederum den herkömmlichen Akzent auf der Autonomie von Wissenserzeugung mit dem Schellingschen Aspekt der Passivität des Wissenschaftszugangs verbindet: »das Gewußte ist […] ein aus dem Innern durch einen ganz eigenthümlichen Proceß immer erst entstehendes«, es ist »kein von Anbeginn fertig daliegendes und vorhandenes«. 47 Zugleich wiederholt sich hier die Opazität in Hinsicht des Agenten: Nicht der Mensch agiert, der Wissen erwirbt oder, da es ja nicht von Anfang an vorliegt, erzeugt, sondern das Gewußte selbst entsteht, ohne daß die aktiven Prinzipien benannt wären. Als Konsequenz für den Bildungsauftrag ergibt sich dann, genau in dieser Spannung zwischen notwendig aktivem Selbstvollzug und der Passivität des Wissenschaftsbegriffs ansetzen zu müssen. Eine mögliche Formulierung könnte Bildung als Erweckung von Passivität umschreiben, ohne daß diese damit als Passivität aufgegeben würde; es geht vielmehr, wiederum in sich spannungsvoll, um eine Erweckung von Passivität als Passivität. 48 Auf einer philosophisch deutlich avancierten Ebene und damit nicht einfach in Kontinuität mit Niethammers Auffassungen finden sich hier Argumente, die in die Richtung genau der bei Niethammer problematisch bleibenden Bildungsvorschläge verweisen. Wissenschaft.« Zum Zusammenhang von Wissenschafts- und Personbegriffen bei Schelling. In: Buchheim/Hermanni, l. c., p. 199–213. 46 Die auch von Shibuya herangezogene Passage zur »Selbstbildung« aus den Stuttgarter Privatvorlesungen optiert zwar für die Möglichkeit einer Selbstbildung, lokalisiert diese aber eben im Spannungsfeld zwischen einem bewußten und bewußtlosen Prinzip, das erst ins Bewußtsein zu erheben ist (SW I,7,433). Damit steht dieser Prozeß nicht mehr vollständig in der autonomen Verfügungsgewalt des Menschen. 47 SW I,8,201. 48 Schelling formuliert in diesen Zusammenhängen immer wieder in einer Terminologie, die mit gender-Stereotypen aufgeladen ist; z. B. SW I,8,201: »empfangen«. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

77

Paul Ziche

In zahlreichen Formulierungen spielt Schelling die Implikationen dieses Ansatzes durch. In seinen Erlanger Vorträgen Ueber die Natur der Philosophie als Wissenschaft wird die passive Offenheit des Subjekts leitmotivisch; aus ihr folgt direkt, daß Persönlichkeits- oder Individualitätsbildung kein direktes Bildungsziel sein kann: »Durch alles durchgehen und nichts seyn, nämlich nichts so seyn, daß es nicht auch anderes seyn könnte – dieses ist die Forderung.« 49 Nur im Verzicht auf fixierende Selbststrukturierung scheint für Schelling der Rahmen für seine eigene Aufwertung von Personalität liegen zu können: »Ich sagte: eben das Indefinible jenes absoluten Subjekts müsse selbst zur Definition gemacht werden«, und wiederum gilt für das Wissen, daß gerade das passive, »ruhende« Wissen allein diejenige Unendlichkeit besitzt, die – in einer Formulierung, die wieder, wie bei Schelling wiederholt zu konstatieren, Aktivität und Passivität in systematisch opak bleibender Form zusammenspannt – »in jede Form sich geben kann«. 50 Hieraus ergibt sich nun allerdings eine sehr konkrete Handlungsanweisung für den Menschen, der nach Wissen strebt: Er hat dem »eigentlich Wissenerzeugenden« zu widerstreben; »[i]n der Philosophie ist nicht der Mensch der Wissende, sondern er ist das dem eigentlich Wissenerzeugenden widerstrebende, durch beständigen Widerspruch es anhaltende – reflektirende –, aber eben darum für sich gewinnende freie Denken.« 51 Der Mensch kann sich aktiv zum Widerspruch bestimmen und sich damit umfassend für Wissen offenhalten. In diesem radikalen Widerstreben, das noch an die Funktion von Kritik und Skepsis in den formativen Phasen idealistischen Philosophierens gemahnt, liegt zugleich eine Absicherung gegen das bereits in den Methodenvorlesungen kritisierte »Applanieren« ebenso wie eine philosophisch begründete Absetzung gegen die philanthropinistische Idee, alles wissen zu können. Damit sind zentrale Gedanken von Schellings Freiheitsschrift benannt, die vor diesem Hintergrund ebenfalls als Bildungsprogramm gelesen werden kann. Am Ende der Freiheitsschrift stellt Schelling die Vernunft als »primum passivum« der Persönlichkeit gegenüber, bereits hier mit Formulierungen, die – wie in den Weltaltern – die »anfäng-

49 50 51

78

SW I,9,215. SW I,9,218, 222. SW I,9,243.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie

liche Weisheit« eben diesem passivum übereignen. 52 Diese Vernunft »ist die ruhige Stätte, darin die ursprüngliche Weisheit empfangen wird«. In der räumlichen Metaphorik der »Stätte« liegt eine interessante Parallele zum Konstruktionsbegriff, der Schelling in den Jahren 1802/3, im Umkreis seiner bildungsprogrammatischen Methodenvorlesungen, so wichtig ist. Konstruktion wird durchweg am Vorbild des geometrischen Konstruierens im Raum eingeführt, wobei Schelling, anders als Kant, den Akzent nicht auf das Erzeugen einer einzelnen Figur im Raum legt, sondern auf das Eintragen jeder möglichen Figur in den einen Raum, der – hier als passivum auftretend – alle Figuren aufzunehmen vermag. In Schellings Formulierungen: Wenn ich konstruiere, konstruiere ich etwas, aber nicht, was ich konstruiere, sondern dasjenige, »womit« ich konstruiere, ist entscheidend. 53

5.

Neue Klassiker: Der Philologe und das Genie

Auch ein Ansatz bei der Herausbildung einer vernunftmäßigen Passivität bliebe jedoch zu einseitig. Im Raum der passiven Offenheit kann erst der konkrete Erwerb von Wissen erfolgen, den Schelling selbst terminologisch mit dem Begriffsfeld des Bildens, aber auch mit demjenigen der Erweckung umschreibt. Beide Leistungen werden dem Verstand übereignet: »Aber nur der Verstand ist es, der das in diesem Grunde verborgene und bloß potentialiter enthaltene herausbildet«; 54 der Verstand bringt eine »Erweckung« zustande, und zwar durch eine von Schelling selbst etymologisierend zerlegte und damit den Bildungsaspekt hervorhebende »Ein-Bildung«. 55 Dennoch gibt Schelling sehr konkrete Anweisungen und benennt konkrete Vorbilder für gelingende Bildung, die gerade auf der passiven, auf der Vernunftebene ansetzen. Er greift dabei sowohl die eingangs benannte Genieproblematik als auch die Leistungen des Wissenschaftlers auf und gelangt zu einer überraschenden Parallelisierung unterschiedlicher Wissenschaftsformen. Ausgangspunkt ist eine Argumen-

SW I,7,415. – Cf. auch Hutter, Axel, Das geschichtliche Wesen der Personalität. In: Buchheim/Hermanni, l. c., p. 73–90, hier p. 82. 53 SW I,5,134 f. 54 SW I,7,413 f. 55 SW I,7,362. 52

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

79

Paul Ziche

tation, die er beispielsweise in den Erlanger Vorträgen mit großem Aufwand an sprachübergreifender Etymologisierung an den Begriff der Möglichkeit anknüpft. Vernunft hat einen Raum umfassender Potentialitäten zu eröffnen, innerhalb dessen eine Erweckung durch Einbildung ihren Ort findet; diese Form der Möglichkeit wird von Schelling mit dem Terminus »Magie« verbunden und erhält damit ihrerseits, über den Zusammenhang von Möglichkeit, »Magie« und »mögen«, ein aktivisches Potential. 56 Erkenntnistheoretisch bzw. wissenschaftsmethodologisch ist dieses Interesse an Möglichkeiten gut zu motivieren: Nicht die isolierte Verfügbarkeit der einen richtigen Lösung ist wissenschaftlich entscheidend, sondern das Einbetten dieser Lösung in den logischen Raum der Möglichkeiten; nur ein im Blick auf alle möglichen oder relevanten Alternativen gerechtfertigter Erkenntnisanspruch ist haltbar. Für Schelling, in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, hängen dann auch die Konzepte der Bildung, der Wissenschaft und der Erkenntnis von Möglichkeiten untrennbar zusammen: »Alle wissenschaftliche Bildung [alle Erfindungsfähigkeit] besteht in der Fertigkeit, die Möglichkeiten zu erkennen«. 57 Er verweist dazu, mit Goethe und damit mit einem Gewährsmann für den Zusammenhang von Wissenschaft und Kunst, auf die Natur und reklamiert zugleich ausdrücklich das Genie für die Wissenschaft: »die tiefste Wissenschaft, das gründlichste Genie« hat sich in die von ihm konzipierte Erkenntnisform – der geschichtlichen Konstruktion – ergossen. 58 Diese Fähigkeit zur Erkenntnis der Möglichkeit wird, wie bereits diese Verweise andeuten, auf allen Erkenntnisbereichen wichtig. Ausgeübt wird sie vom Künstler und vom Philosophen, die hiermit unter dem Leitbegriff der »Bildung« tatsächlich auf einer Stufe zu stehen kommen, aber auch vom Philologen, der in dieser Hinsicht »mit dem Künstler und Philosophen auf den höchsten Stufen [steht], oder vielmehr durchdringen sich beide in ihm.« 59 Auch diese Parallelisierung

SW I,9,222. SW I,5,246. 58 SW I,5,226. 59 SW I,5,246. – Wenn Niethammer für die Konzeption des neu zu schaffenden Nationallesebuches Goethe, den Dichter und Naturforscher, und Voss, den Philologen und Dichter, vorschlägt, bewegt er sich im selben Rahmen. 56 57

80

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Ausbildung zum Genie

von »Künstler« und Philologen findet sich 1808 bei Niethammer. 60 Schelling analysiert, um diese Verbindung zu begründen, die methodische Praxis des Philologen: »Das Studium der Sprache als Auslegung, vorzüglich aber als Verbesserung der Lesart durch Conjektur, übt dieses Erkennen der Möglichkeiten auf eine dem Knabenalter angemessene Art«. 61 Er geht nochmals einen Schritt weiter; nicht nur der Philologe, also der Vertreter einer Wissenschaft, in der Schelling seit seiner frühen Kindheit ausgebildet wurde und die für ihn lebenslang belangreich blieb, verfügt über die Fähigkeit, das Mögliche zu erkennen; auch der Naturforscher, der durch Hypothesenbildung zur Erkenntnis von Naturgesetzen gelangt, übt dieselbe Fähigkeit aus, ebenso wie der Historiker in seiner Methode der »historischen Konstruktion«. Das Erkennen dessen, was »unter gewissen Bedingungen […] wahrhaft möglich« ist, 62 macht für alle diese Wissenschaftler den Kern ihrer Methode aus und kommt, so Schelling in den Methodenvorlesungen, mit dem überein, was dann auch wirklich ist. Unter dieser Perspektive hebt sich die Trennung zwischen der Bildungseinrichtung Schule und späterer wissenschaftlicher Betätigung auf; mit diesen Aktivitäten kann man auch im »männlichen Alter« noch »einen knabenhaft bleibenden Sinn angenehm beschäftigen«. Die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften fallen, ebenso diejenigen zwischen Schule und Wissenschaft, Propädeutik und Wissenschaft: So gewinnt dann auch Philosophie, die in Schellings Vorlesungen mit großer Emphase die Funktion der traditionellen Hinführungen übernimmt und der Schelling die Aufgabe einer absoluten Fundamentierung überträgt, eine uneliminierbare Position in der wissenschaftlichen Praxis. Bildung als Hinführung und Bildung als Resultat, die beiden Aspekte, die im Bildungsbegriff traditionellerweise untrennbar verwoben sind, erhalten hier in ihrer Bezogenheit eine philosophische Begründung.

Niethammer, l. c., p. 224. SW I,5,246. – Cf. dazu auch Ziche, Paul, Reine Wissenschaften: Mathematik, Philologie und Philosophie. In: Akademie aktuell 3, 2008, p. 26–29. 62 SW I,5,246. 60 61

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

81

Bildung, Entzweiung, Sprache. Zur Dialektik des Bildungsgeschehens nach Hegel Thomas Sören Hoffmann (Bonn)

2008 hat sich zum zweihundertsten Mal eine durchaus markante Zäsur in der Biographie des Vollenders des deutschen Idealismus gejährt, der jedoch zumeist nur eher untergeordnete Bedeutung beigelegt wird. Dennoch hat es gerade in Zeiten, in denen das Stichwort »Bildung« – wieder einmal – in aller Munde ist, einen guten Sinn, sich für einen Moment auf jene Weichenstellung in Hegels Leben zu besinnen, um die es hier geht. Hegel hat im Jahre 1808 die Stelle des Rektors am Ägidiengymnasium in Nürnberg angetreten, auf welcher er immerhin für acht Jahre ausharren sollte – womit das nach der Berliner Professur längste Engagement bezeichnet ist, das Hegel zeitlebens innehatte. Wir wissen aus den Quellen, daß Hegels Freund Friedrich Immanuel Niethammer, der im selben Jahr zum bayerischen Zentralschul- und Oberkirchenrat avanciert war, zunächst gezögert hatte, dem seit der Publikation der Phänomenologie des Geistes im Vorjahr in frischem Ansehen stehenden Philosophen einen Posten als Schulmann anzutragen, hätte der Denker des Weltgeists, wie Niethammer fürchtete, eine solche Offerte doch leicht übel aufnehmen, nämlich als »Degradation« ansehen können 1 . Das Gegenteil jedoch war der Fall: und zwar durchaus nicht nur deshalb, weil Hegel jedwedes Entkommen aus der Redaktion der »Bamberger Zeitung« – der »Zeitungsgaleere«, wie er es nannte –, und zwar ganz gleich wohin, freudig begrüßt hätte. Hegel nahm sich vielmehr, wie sich bald zeigte, der neuen Aufgabe mit so viel Hingabe an, daß er, wie seine Schüler noch Jahre später berichten, nicht Die Wendung von der »Degradation« findet sich bei Rosenkranz in der Biographie (Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, ed. Pöggeler, Otto, Darmstadt, 1977, p. 247). Niethammer hatte (im Anschluß an Pläne aus dem Vorjahr) zuerst am 8. Mai 1808 Hegel wegen seiner eventuellen »Verwendung« als Rektor angefragt und dabei bemerkt: »Der Gedanke ist mir zur Zeit selbst noch zu fremd, als daß ich mit mir darüber einig werden könnte« (Briefe von und an Hegel, ed. Hoffmeister, Johannes, Bd. 1, Hamburg, 1952, p. 225).

1

82

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

nur bei den Zöglingen einen unverhofften Bildungsstolz und, wie wir in den Zeugnissen ebenfalls lesen, »den unsterblichen Funken der Freiheit« zu entfachen vermochte, sondern, so ebenfalls der spätere Mitorganisator des Hambacher Festes Johann Georg August Wirth, der von 1814 an Hegels Schüler war, in seiner strengen und doch zugleich liberalen Art auch den Kollegen allmählich zu einem Vorbild wurde, dem sie nachzueifern versuchten2 . Hegel stand dabei vor einer veritablen Reformaufgabe, der Aufgabe nämlich, dem altehrwürdigen Nürnberger Gymnasium, das als älteste Schule ihrer Art in Deutschland nach Plänen Philipp Melanchthons eingerichtet und mit einer Eröffnungsrede desselben 1526 ins Leben gerufen worden war, die neue, von Niethammer entwickelte neuhumanistische Richtung zu geben. Hegel, der seinem Selbstverständnis nach der Rolle, ein zweiter praeceptor Germaniae zu sein, auch sonst nicht unbedingt ferne stand, hat sich dieser Aufgabe uneingeschränkt gestellt, und zwar bis in rein schulpraktische Überlegungen, etwa die Klasseneinteilung betreffend, hinein. In den Gymnasialreden der Nürnberger Zeit, gehalten meist am Schuljahresende und etwa mit einer Preisverleihung an die Jahrgangsbesten verbunden, hat er jedoch darüber hinaus auch Einblick in die ihn leitenden bildungstheoretischen Grundsätze gegeben, Grundsätze, von denen man sagen kann, daß sie, so sehr sie zu vielen Standarddiskussionen von heute auch quer stehen, doch zur Orientierung in aktuellen Fragen dienen können. Wir wollen die folgenden Überlegungen mit einer kurzen Erinnerung an diese Grundsätze eröffnen, die dann freilich rasch auf einen weiteren Horizont führen, als es jener der Bildung im Schulalltag ist. Im zweiten Teil gehen wir dann auf die systematischen Grundlagen des Bildungsbegriffs bei Hegel ein, wie sie sich der Entwicklung seines Denkens entnehmen lassen, und werden schließlich im dritten Teil zu einem Resümee zu finden versuchen, bei dem es um eine abschließende Konkretion des umfassenden geistphilosophischen Themas geht, das Bildung bei Hegel ist. Beginnen wir jedoch mit Hegels konkretem Bildungsprogramm in Nürnberg, wie er es vor Kollegen, Eltern und Schülern entfaltet hat 3 ! Cf. den Bericht aus Wirths (1798–1848) »Denkwürdigkeiten aus meinem Leben«, den G. Nicolin in Auszügen in »Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen« (Hamburg, 1970, p. 114 ff.) wiedergegeben hat. 3 Zum Kontext der Wirksamkeit Hegels als Nürnberger Gymnasialprofessor und Ägidien-Rektor cf. jetzt vor allem den »Editorischen Bericht« GW 10.2, 857 ff. (GW = Hegel, Gesammelte Werke, ed. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, 2

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

83

Thomas Sören Hoffmann

I Unter Hegels Rektorat ist es am Ägidiengymnasium zu diversen Neuerungen gekommen, die eingangs kurz erwähnt seien, weil sie den Unterschied des neuhumanistischen Ansatzes, den Hegel mit Niethammer teilte, gegenüber der althumanistischen alleinigen Konzentration auf die alten Sprachen illustrieren und der Gewinnung eines unverkürzten Bildes von Hegels Schultätigkeit dienen können. Hegel, selbst Mitglied verschiedener naturforschender Gesellschaften, konnte im Schuljahr 1810/11 stolz von der Anschaffung eines physikalischen Kabinetts berichten, mit dessen Hilfe der erste »Kursus der Experimentalphysik in der Oberklasse« hatte stattfinden können 4 . Ein Jahr zuvor schon hatte der Rektor zu seiner Genugtuung Extrastunden in der Mineralogie anbieten können, da dem Gymnasium eine systematische Sammlung von Mineralien und Solnhofer Petrifikationen vermacht worden war, während gleichzeitig die Geschichtsstunden durch das Anschauungsmaterial einer ebenfalls eingetroffenen Münzsammlung bereichert werden konnten 5 . Aber auch Neuerwerbungen der Schulbibliothek werden für Hegel zum Anlaß, Lektüren ganz außerhalb des klassischen Kanons, etwa der indischen Literatur, zu empfehlen 6 . Diese Breite des Hegelschen Bildungsinteresses 7 muß hier eigens erwähnt werden, weil auf der anderen Seite nachdrücklich festzuhalten ist, daß Hegel an einer primären Ausrichtung aller Gymnasialbildung auf die klassischen Sprachen, insbesondere das Griechische, unbedingt festgehalten hat. Wie weit Hegels persönliche Liebe zu der Sprache Homers und Platons am Ende ging, ist durch Clemens Brentano belegt, Hamburg, 1968 ff.); außerdem nach wie vor: Schmidt, Gerhart, Hegel in Nürnberg. Untersuchungen zum Problem der philosophischen Propädeutik, Tübingen, 1960. Eine zusammenfassende Würdigung der Schulreden bietet: Nicolin, Friedhelm, Die Grundmotive in Hegels Nürnberger Schulreden. In: id., Auf Hegels Spuren. Beiträge zur Hegel-Forschung, ed. Sziborsky, L./Schneider, H., Hamburg, 1996 (Hegel-Deutungen Bd. 1), p. 131–135. 4 Hegel, Rede vom 2. September 1811, GW 10.1, 490. 5 Cf. dazu die Rede vom 14. September 1810, GW 10.1, 467 ff. 6 Rosenkranz, l. c., p. 250. 7 Eine Liste der Unterrichtsgegenstände gibt Hegel in der »Rede vom 29. September 1809« (l. c., p. 463). Sie reicht vom Religionsunterricht und den »vaterländische[n] Klassiker[n]« über Mathematik, Geographie, Kosmographie, Naturgeschichte usw. bis zu den philosophischen Vorbereitungswissenschaften, dem Französischen und Hebräischen sowie zum Zeichnen und der Kalligraphie.

84

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

der Hegel in Nürnberg dabei betraf, das Nibelungenlied unter der Lektüre ins Griechische zu übersetzen, weil es ihm sonst nicht genießbar erschien 8 . Hegel weiß bei dem allen zwar, daß die in der Neuzeit etablierte, arbeitsteilige »bürgerliche Gesellschaft« notwendig unterschiedliche Bildungsstände kennt und eine innere Differenzierung nach diesen Bildungsständen sowohl für das Ganze objektiv wünschbar ist wie auch dem »natürlichen Talente« des einzelnen, der »Geschicklichkeit, Willkür und Zufall« entgegenkommt 9 . Aber auch, wenn deshalb ein Monopolanspruch der humanistischen Bildung aufzugeben ist, wie er das alte Gymnasium noch kennzeichnete, kann unter normativem Aspekt doch sie alleine für sich in Anspruch nehmen, »das geistige Bad, die profane Taufe [zu] seyn, welche der Seele den ersten und unverlierbaren Ton und Tinktur für Geschmack und Wissenschaft gebe« 10 . Und gerade, wenn dem Zeitbedürfnis entsprechend Volksschule, Realschule und Gymnasium mit unterschiedlichen Bildungsprogrammen auseinandertreten, ist um so mehr zu fordern, daß jetzt das Studium der alten Sprachen »in seiner Abscheidung frey gewähren dürfe, und von fremdartigen, störenden Einmischungen ferner unberührt bleibe« 11 . Es ist alleine dieses Studium, das Studium nämlich vor allem der Werke der Alten in der Ursprache12, das als zweckfreie, nicht auf diese oder jene Nützlichkeit hin ausgelegte Tätigkeit auch als reell befreiendes Studium gelten kann, das uns nicht nur überhaupt in »das Paradis des Menschengeistes« 13 einführt, sondern das auch alleine den Schüler jenen überlegenen Standpunkt einzunehmen befähigt, dessen es bedarf, um, von kurzatmigen Nutzenaspekten befreit, über die eigentlichen Ordnungen der menschlichen Zwecke noch Rechenschaft geben zu können. Der Grund, den Hegel dafür im allgemeinen angibt, ist der folgende: Wahre, innere Freiheit ist ohne Befähigung zur Distanznahme von allen nur vorfindlichen Zwecken nicht zu gewinBrentano an Görres, Anfang 1810, bei: Nicolin, Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, l. c., p. 103. 9 Cf. in diesem Sinne etwa: Enzyklopädie (1830), § 527. 10 Rede zum Schuljahrabschluß am 29. September 1809, GW 10.1, 459. 11 L. c., p. 458. 12 Die Ursprache ist der alleinige Schlüssel zur »ganzen Eigenthümlichkeit« und »ätherische[n] Seele« der Werke der Alten, die in »Übersetzungen« »den nachgemachten Rosen« entsprechen; die »Sprache ist das musikalische Element, das Element der Innigkeit, das in der Uebertragung verschwindet« (l. c., p. 460). 13 L. c., p. 459. 8

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

85

Thomas Sören Hoffmann

nen; die Distanzierung von der eigenen Unmittelbarkeit ist die Grundlage aller Moralität 14 . Wem deshalb die Freiheit, den Standpunkt der Freiheit bzw. des freien Geistes als in letzter Instanz einzigen Zweck einzunehmen, fehlt, der kann, so Hegel, auch keine gediegene Individualität, keine »substantielle Innerlichkeit« besitzen 15 . So viele zweckdienliche Fertigkeiten ein Mensch ohne diese zweckfrei angeeignete Freiheit auch erwerben mag, ist er nach Hegel dennoch nicht wirklich »gebildet«. Der Grund, aus dem Hegel in Nürnberg gegen die aufgeklärte Orientierung am »Nützlichen« Einspruch einlegt und konsequent einem utilitär ausgelegten (Aus-)Bildungsziel widerspricht, wie es nicht zuletzt von der Pädagogik der sogenannten »Philanthropinisten« – ich verweise hier nur auf den von Niethammer bekämpften Joseph Wismayr – vertreten wurde, liegt eben darin, daß eine solche nur scheinbar »praktische« Bildung es versäumen muß, dem Individuum einen »unabhängigen Halt« 16 in sich zu geben und es vielmehr zum Rädchen in den Geflechten der Nützlichkeit macht. Der Schule muß es entsprechend darum gehen, dem Schüler statt nur nützlicher Hilfen zu einem Leben, dessen Zweck unerkannt bliebe, vielmehr, wie Hegel sagt, einen »Schatz« zu übergeben, »welcher Leben in ihm selbst

Cf. in diesem Sinne z. B. l. c., p. 484 (Rede vom 2. September 1811): »Die wissenschaftliche Bildung hat überhaupt die Wirkung auf den Geist, ihn von sich selbst zu trennen, aus seinem unmittelbaren natürlichen Daseyn, aus der unfreien Sphäre des Gefühls und des Triebs heraus zu heben, und in den Gedanken zu stellen, wodurch er ein Bewußtseyn über die sonst nur nothwendige, instinktartige Rückwirkung auf äussere Eindrücke erlangt, und durch diese Befreiung die Macht über die unmittelbaren Vorstellungen und Empfindungen wird; welche Befreiung die formelle Grundlage der moralischen Handlungsweise überhaupt ausmacht«. 15 Cf. l. c., p. 460, wo es weiter heißt: »Haben wir nicht in neuern Zeiten sogar Staaten selbst, welche solchen innern Hintergrund der Seele ihrer Angehörigen zu erhalten und auszubauen, vernachläßigten und verachteten, sie auf die bloße Nützlichkeit und auf das Geistige nur als auf ein Mittel richteten, in Gefahren haltungslos dastehen, und in der Mitte ihrer vielen nützlichen Mittel zusammenstürzen sehen?«. Die freiheitliche »Bildung der Einzelnen« zu einer substantiellen Innerlichkeit, um die es in der Schule geht, ist dann entsprechend »die Fähigkeit derselben, dem öffentlichen Leben anzugehören« (l. c., p. 487). Wohl gemerkt ist die Schule dabei noch nicht selbst Teil des öffentlichen Lebens, sondern »innere Vorbereitung und Vorübung zu demselben« (ibid.), eine »Mittelsphäre« zwischen »Familie« und »wirkliche[r] Welt«, die zugleich einen »besondere[n] sittlichen Zustand« darstellt, der nach beiden Seiten hin nicht absorbiert werden sollte (l. c., p. 484). 16 L. c., p. 460. 14

86

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

hat, in sich fortwurzelt und fortwächst« 17 . Man kann hier von einem »dynamischen« Bildungsbegriff Hegels sprechen, dessen genauerer Sinn uns sogleich noch beschäftigen wird. Einen solchen sich aus sich selbst gleichsam vermehrenden Schatz jedenfalls, der nur erst aus dem Abstand, aus der Entfremdung gegen die eigene Welt bei gleichzeitiger Konfrontation mit einer ganzen fremden Welt dem Schüler gewonnen werden kann, finden wir nun vorzugsweise in der sich uns aus ihren Sprachwerken erschließenden Welt der Griechen und Römer, zu denen die Schüler in Kost und Logis zu geben darum auch vornehmste Pflicht des Unterrichts ist 18 . Wenn heute zugunsten der alten Sprachen gerne ins Feld geführt wird, daß ihr Studium zum Beispiel das logische Denken schule oder den Boden für viele weitere Studien bereite, greifen diese wiederum nur nutzenorientierten Argumente nicht nur deshalb zu kurz, weil sie sogleich den Erziehungswissenschaftler auf den Plan rufen, der uns an Hand von quantifizierenden Studien beweisen wird, daß es »empirische Evidenzen« für einen an die alten Sprachen gebundenen intellektuellen Warmlauf nicht gebe 19. Ich unterschlage dabei nicht, daß auch Hegel durchaus einen formalen Sinn im Studium der Grammatik gesehen und z. B. davon gesprochen hat, daß hier »der Verstand selbst an[fängt], gelernt zu werden« 20 . Für ihn ist entsprechend »das strenge grammatische Studium« der alten Sprachen, das, weil es nicht durch einen unreflektierten tatsächlichen Sprachgebrauch gelenkt werden kann, »unausgesetzte Vernunfttätigkeit« und »ein beständiges Subsumieren des Besonderen unter das Allgemeine und Besonderung des Allgemeinen« ist, »eines der allgemeinsten und edelsten Bildungsmittel« 21 . Nur ist dies noch nicht der entscheidende Punkt, der für eine verbindliche Orientierung an den alten Sprachen spricht, so L. c., p. 483; cf. auch p. 500: »die innern Schätze, welche die Eltern ihren Kindern durch eine gute Erziehung und durch Benutzung der Unterrichtsanstalten geben, sind unverwüstlich und behalten unter allen Umständen ihren Werth«. 18 »Die Studia humaniora … geben die vertrauliche Vorstellung des menschlichen Ganzen; die Art und Weise der Freyheit der alten Staaten, die innige Verbindung des öffentlichen und Privatlebens, des allgemeinen Sinnes und der Privatgesinnung«; sie konfrontieren uns mit den »großen Interessen der individuellen Humanität« wie auch den »Mächte[n], welche Völker stürzen und erheben«, zuletzt mit »Gesetze[n] und Pflichten … in lebendiger Gestalt, als Sitten und Tugenden« (l. c., p. 498 f.). 19 Cf. ein entsprechendes, leider durchaus ernstgemeintes Zitat des Erziehungswissenschaftlers und FU-Rektors Dieter Lenzen. In: Cicero 3/2007, p. 54. 20 GW 10.1, 462. 21 L. c., p. 463. 17

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

87

Thomas Sören Hoffmann

wenig es hier »um das Ueben allein zu thun« 22 sein kann. Entscheidend ist vielmehr, was bereits anklang: daß wir in den Schriften der Alten eine objektiv-geistige Welt betreten, daß wir hier in sittliche Verhältnisse als ganze eingeführt werden, an denen unser Denken und Urteilen reifen kann, ja in denen – denken wir an die Geschichte der klassischen Lyrik – die Skala unserer Empfindungen erst zu Gehalt und Reichtum entwickelt wurde und überhaupt das menschliche Leben sich in einer proportionierten Intensität zu artikulieren begann, wie es seither nicht noch einmal der Fall gewesen ist. Die Werke der Alten bieten uns so tatsächlich immer auch »den edelsten Nahrungs-Stoff«23 , einen »eigenthümliche[n] Stoff, durch welchen wir uns bereichern, und unsere bessere Substanz bereiten« 24 . »Ich glaube nicht zu viel zu behaupten«, hat Hegel in einer der Gymnasialreden gesagt, »daß wer die Werke der Alten nicht gekannt hat« – und zwar, wie sich versteht, in ihrer eigenen Sprache, dem »Element ihrer Innigkeit« 25 , – daß dieser »gelebt hat, ohne die Schönheit zu kennen« 26 . Im Angesicht des schon erwähnten »Paradis[es] des Menschengeistes« ist es dann um so leichter, sich der eigenen Befangenheiten, auch des Dünkels und Vorurteils der eigenen Zeit, bewußt zu werden, damit aber auch den Schüler dahin zu bringen, wo alle Bildung erst anfangen kann: zur Einsicht in die eigene Unfertigkeit und Bedürftigkeit, zum Bewußtsein eines dem eigenen überlegenen geistigen Lebens, kurz: zur ersten Erfahrung einer Entfremdung von sich, einer »notwendigen Trennung« 27 , die ebenso die condicio sine qua non der Entwicklung eines reellen Selbstbewußtseins wie dann ebenfalls, wie wir noch sehen werden, die entscheidende Signatur aller als solcher ausdrücklicher Bildungserfahrung ist. Hegel hat in genau diesem Sinne zeitlebens gegen die sogenannte »spielende Pädagogik« gekämpft 28 , die dem Kind die Entfremdungserfahrung erL. c., p. 459. Wir verweisen hier darauf, daß für die Hegelsche Philosophie insgesamt keine letzte Form-Inhalts-Trennung gesetzt werden kann, und sofern die Bildung in ihrem »mechanischen« Teil eine solche Trennung vollzieht, repräsentiert sie eben damit schon den Standpunkt der isolierten Mitte oder der Entfremdung. 23 L. c., p. 460. 24 L. c., p. 459. 25 Ibid. 26 Ibid. 27 Cf. l. c., p. 461: »Diese Forderung der Trennung aber ist so nothwendig, daß sie sich als ein allgemeiner und notwendiger Trieb in uns äussert«. 28 Cf. dazu Enzyklopädie § 396 Zus.: »Deshalb muß man für eine völlige Verkehrtheit die spielende Pädagogik erklären, die das Ernste als Spiel an die Kinder gebracht wissen 22

88

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

sparen will, ihm aber in Wahrheit nur den Eintritt in einen seine Subjektivität wesentlich transzendierenden Bildungsprozeß verschließt, indem sie es beständig auf die eigene, nicht in Frage gestellte Dürftigkeit zurückwirft. Man darf nach Hegel die Schule nicht familiär aufziehen wollen, weil die Schule »ein Kreis von Beschäftigungen, vornehmlich um Vorstellungen und Gedanken« ist, die den einzelnen überhaupt erst die Konzentration auf die Sache lehren 29 . Eben darin aber und in der unumgänglichen Trennung »von sich selbst« liegt nach Hegel die »Befreiung«, »welche«, wie wir schon wissen, dann »die formelle Grundlage der moralischen Handlungsweise überhaupt ausmacht« 30 . Auch der Bruch mit der unmittelbaren Sittlichkeit der Familie, das Heraustreten aus einem ersten und natürlichen Anerkanntsein in eine erste Negation dieses Seins in der »Mittelsphäre« der Bildung ist der Schule der Objektivität geschuldet, die zugleich die Voraussetzung für ein neues Anerkanntsein als Bürger ist; in der Bildung treffen wir entsprechend immer auf ein »exteriorisiertes« Selbstbewußtsein, das sich gänzlich zugunsten der Objektivität zurücknimmt 31 . Hegel ist der Auffassung, daß man das entsprechende Bewußtsein mit Einschluß des Bewußtseins des eigenen Ungenügens der Jugend nicht erst von außen einflößen muß, sondern daß Jugend als solche eben deshalb zur Bildungserfahrung prädestiniert ist, weil sie das Bewußtsein der eigenen Unfertigkeit, der eigenen Befangenheit und des Willens zur Sättigung gerade an Bildern des integrativen Allgemeinen ist 32 . Der sich unfertig will und an die Erzieher die Forderung macht, sich zu dem kindischen Sinne der Schüler herunterzulassen, anstatt diese zum Ernste der Sache heraufzuheben. Diese spielende Erziehung kann für das ganze Leben des Knaben die Folge haben, daß er alles mit verächtlichem Sinne betrachtet. Solch trauriges Resultat kann auch durch ein von unverständigen Pädagogen empfohlenes beständiges Aufreizen der Kinder zum Räsonieren herbeigeführt werden; dadurch erhalten diese leicht etwas Naseweises. Allerdings muß das eigene Denken der Kinder geweckt werden; aber man darf die Würde der Sache ihrem unreifen, eitlen Verstande nicht preisgeben« (zitiert nach Hegel, Werke, ed. Moldenhauer, E./Michel, K. M., Frankfurt/Main, 1969 ff. [= ThW], Bd. 10, p. 81). 29 GW 10.1, 487. 30 L. c., p. 484. 31 Freilich als Selbstbewußtsein zurücknimmt und insofern nicht einfach auf die Stufe »Bewußtsein« zurückfällt. Genauer geht es darum, daß sich das sich bildende Selbstbewußtsein als Moment des es umgreifenden Geistes zu begreifen lernt, von dem es dann auch sein Anerkanntsein zurückerhält. 32 Cf. z. B. aus der »Rede vom 29. September 1809«, l. c., p. 461 f.: »Diese Forderung der Trennung aber ist so nothwendig, daß sie sich als ein allgemeiner und bekannter Trieb in uns äußert. … Die Jugend stellt es sich als ein Glück vor, aus dem Einheimischen weg zu A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

89

Thomas Sören Hoffmann

wissenden Jugend dann die in Gebilden der Sprache vorhandenen Bilder einer fertigen Welt zu übergeben, ist nach Hegel – noch einmal – der wesentliche Sinn eines Schulunterrichts, der eine Bildungsgeschichte eröffnen kann, an deren Ende das gediegene Freiheitsbewußtsein steht. Was es mit dieser Geschichte in letzter Instanz auf sich hat, weist dann bereits über den Nürnberger Rahmen hinaus – wir wenden uns jetzt dem Hegelschen Bildungsbegriff im Rahmen des Gesamtsystems zu.

II Das Stichwort »Bildung« zieht sich, wie jeder nur etwas versierte Hegelleser weiß, als einer jener besonders festen roten Fäden durch das Gesamtwerk des Philosophen, die sich zugleich immer wieder zu beachtlichen Knoten schürzen. Knoten dieser Art finden sich in Sachen Bildung in den Jugendschriften, in Jena, natürlich in und mit der Phänomenologie als großer Bildungsgeschichte des Geistes, in den soeben herangezogenen Gymnasialreden, in der Rechtsphilosophie oder auch in den Berliner Vorlesungen zum System an verschiedenen Stellen. Wir können bei dem Versuch, uns der dabei sukzessive zu Tage tretenden Systematik des Hegelschen Bildungsbegriffs anzunähern, sicher nicht alle Knoten an dem erwähnten Faden lösen, sondern müssen uns auf eine Auswahl besonders relevanter Stellen beschränken. Dabei soll es darum gehen, die Volldimension von Bildung nach Hegel in den Blick zu bekommen, die sich, wie schon die betrachteten Nürnberger Positionen gezeigt haben, nicht darin erschöpfen kann, eine subjektivintentionale Unternehmung zu sein, sondern ebenso von der sich dem Subjekt erschließenden Welt her zu verstehen ist. Bildung spielt Hegelisch so immer in der Spannung von Ich und Welt, ist, wie wir sehen werden, Realität und Realisierung des Geistes, auch und gerade insofern Geist hier das Individuum übersteigt, also nicht bloß »mens« qua »subjektiver Geist«, sondern überindividuell maßgebliche »Mentalität«, ja »spiritus«, objektiver bzw. absoluter Geist ist. »Bildung« meint kommen, und mit Robinson eine ferne Insel zu bewohnen. … Auf diesen Centrifugaltrieb der Seele gründet sich nun überhaupt die Nothwendigkeit, die Scheidung, die sie von ihrem natürlichen Wesen sucht, ihr selbst darreichen, und eine ferne, fremde Welt in den jungen Geist hineinstellen zu müssen«.

90

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

so keine Münchhausen-Unternehmung einer sich selbst aus dem Sumpf der eigenen Dürftigkeit erhebenden Subjektivität und ist gerade deshalb auch nie ohne Institutionen – nie ohne Familie, Schule, Kunstleben, Kirche, Universität oder auch den Staat zu haben. Wir vergegenwärtigen uns diese Zusammenhänge an den entscheidenden Schaltstellen in der Entwicklung des Hegelschen Bildungsbegriffs. Der erste Beleg für den eigentümlichen Bildungsbegriff Hegels findet sich in einem Frankfurter Fragment, das Nohl mit dem Titel »Die Liebe« versehen hat. In diesem Fragment ist davon die Rede, daß im Kreislauf der Totalität des Lebens »das Leben … von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit«, wie sie in der Liebe begründet ist, »durchlaufen« müsse 33. Die Liebe hebt hier zuletzt »die Reflexion« und das durch sie »immer mehr Entgegengesetzte[]« »in völliger Objektlosigkeit auf[]«, womit die Rückkehr zu einem »vollendete[n] Leben« geleistet ist 34 . Man kann diese gewiß etwas kryptische Stelle in Kürze dahin zusammenfassen, daß die Reflexionstätigkeit der Bildung (und Hegel versteht aktuale »Bildung« von der Reflexion und der Endlichkeit ihrer Entgegensetzungen bzw. Objektivationen her) sich einerseits zunächst in eine unmittelbare Stellung gegen das Leben bringt und dabei in demselben Maße dem Zerbrechen der unmittelbaren Einheit des Lebens korrespondiert, wie sie auch das Leben vielmehr als eine objektive Mannigfaltigkeit von Getrennten darstellt, denen sich dann auch das Individuum selbst zunächst nur entgegensetzt. Die Bildung setzt mich insofern aus dem »Paradies« eines mentalen Naturzustandes heraus, was immer einem Moment des »Unnatürlichen« oder auch »Toten« an ihr korrespondiert – wir denken hier etwa an Faust, der als Fazit seiner gelehrten Bildung bekanntlich zu dem Schluß kommt: »Statt der lebendigen Natur, / Da Gott die Menschen schuf hinein, / Umgibt in Rauch und Moder nur / Dich Tiergeripp und Totenbein«. Andererseits aber wird Hegels theologische Jugendschriften, ed. Nohl, H., ND Frankfurt/Main, 1991, p. 379. Auf die unmittelbar auch pädagogische Bedeutung dieses Fragments für Hegels Konzeption von Bildung hat bereits Willy Moog (Der Bildungsbegriff Hegels. In: Verhandlungen des dritten Hegelkongresses vom 19. bis 23. April 1933 in Rom, ed. Wigersma, B., Tübingen/Haarlem, 1934, p. 169 ff.) hingewiesen. Auch im pädagogischen Verhältnis, so Moog, ist »jede Stufe der Entwicklung ›eine Trennung, um wieder den ganzen Reichtum des Lebens selbst zu gewinnen‹« (l. c., p. 171). 34 Nohl, l. c., p. 379 mit Anm. b. 33

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

91

Thomas Sören Hoffmann

zugleich deutlich, daß im Rücken dieser ersten dissoziierenden Bewegung der Reflexion 35 oder Bildung bereits eine andere, gegenläufige und integrierende Bewegung greift, eine Bewegung, die die innere Einheit des Lebens gerade durch seine maximale Selbstentfremdung hindurch wiederherstellt, den Selbstverlust selbst als Moment des Werdens zu sich erkennt, damit aber gerade die Liebe als innere Macht und den Grund des Lebens erst realisiert. »In der Liebe«, so Hegel, »ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes« 36 ; das Leben ist so zugleich zu Bewußtsein seiner selbst gekommen, wie es sich doch nicht in die bewußte Entgegensetzung hinein verliert. Die »transbewußte«, integrative Form, die Hegel hier »Liebe« nennt, ist in späteren Stadien seines Denkens der Geist geworden, und wir verstehen von diesem Hinweis her das Frankfurter Fragment vielleicht noch einmal besser: Die »unentwickelte[] Einigkeit« 37 des einfach Lebendigen zersetzt sich zunächst, sich von sich trennend, in der immer gegenständlich gerichteten Bewegung der Reflexion bzw. der Bildung, um doch zugleich durch die unausweichlich reflexiv werdende Antinomik der sich vollendenden Trennung vom Leben hindurch den Geist als den beide, das Leben und seine Reflexion, als Momente umfassenden Grund zu offenbaren 38 . Bildung hat entsprechend, etwas vereinfachend gesprochen, einen doppelten oder polaren, einen subjektiven wie einen objektiven Sinn – so, wie wir von der »Bildung« als dem Prozeß einer subjektiven Vervollkommnung wie auch von ihr als einer überindividuell-gestalthaften Größe sprechen, etwa wenn wir die »Bildung eines Zeitalters« thematisieren. Es kommt systematisch nicht wenig darauf an, beide Dimensionen präzise zu unterscheiden, sie aber doch zugleich auch in

Zu Hegels Parallelisierung von »Verbildung« und »Reflexion« cf. in den handschriftlichen Zusätzen zu § 7 der »Rechtsphilosophie«, ThW 7, 56. 36 Nohl, l. c., p. 379 Anm. b. 37 Ibid. 38 Ohne hier auf das Problem der Überwindung der Reflexionsphilosophie bei Hegel insgesamt eingehen zu können, mag zum näheren Verständnis der Vermeidung einer »Reflexion der Reflexion« (in unendlicher Iteration) bei Hegel der Hinweis genügen, daß Hegel die Reflexion oder Trennung sich vollständig auf sich selber anwenden und dadurch in ihren Grund gehen läßt. Voraussetzung einer mehr als formalen Selbstanwendung ist dabei die spekulative Identität von Form und Inhalt, in der jeweils auch die Gegenwart der Totalität in der einzelnen Bestimmung gesetzt ist. Sich von der Trennung wahrhaft trennen, heißt nicht, eine neue Trennung zu etablieren, sondern das »alte« Trennen zu überwinden, indem es als Moment einer Einheit erkannt ist. 35

92

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

ihrer (geistigen) Einheit zu denken. Wir kommen auf diese Fragen noch einmal zurück. Nur kurz erwähne ich hier einen der nächsten Knoten im roten Faden des Bildungsdenkens bei Hegel, den wir im System der Sittlichkeit finden 39 . In diesem Text, in Jena wohl 1802 oder 1803 entstanden, hat Hegel die politische Totalität oder den Staat als in drei »Subsysteme« zerfallend begriffen: Das politische Ganze gliedert sich in das System der Bedürfnisse (also das ökonomische System), in das System der Gerechtigkeit (also das Rechtssystem), schließlich aber in ein drittes System, in dem, wie Hegel sagt, das Absolute selbst das Allgemeine ist und das wesentlich in Erziehung, Bildung und Kinderzeugung besteht; es geht hier also um die physische, aber auch mentale Selbstreproduktion des politischen Ganzen, als die sich ein »sich bildende[s] und besprechende[s] und bewußte[s] Volk« 40 darstellt. Bildung ist hier primär von ihrer objektiven bzw. integrativen Seite und Funktion im umgreifenden Ganzen her aufgefaßt. Sie enthält aber doch auch so das Moment der Trennung bzw. Dissoziation, insofern sie sich immer auf die Reproduktion, die Konstitution einer neuen Generation des einen Staatsvolks bezieht. Dieses bezieht sich im »System der Bildung« auf sich – wir können auch sagen, es tritt hier als Subjekt auf, das sich eine immer neue Objektivität zu geben versucht, dafür aber beständig den objektiven »Status quo« überwinden muß. Mit dem Entstehungsdatum des Systems der Sittlichkeit sind wir dann nicht mehr weit von der Phänomenologie des Geistes entfernt, in der sich Hegels Bildungsbegriff zuerst in wirklich ausgereifter Gestalt präsentiert. Es ist nicht schwer, schon in der allgemeinen Bildungsgeschichte des Geistes, wie Hegel sie hier entfaltet, die Doppelung einer dissoziierenden und wieder integrierenden Bewegung auch auf methodologischer Ebene wiederzufinden. In diesem Sinne durchlaufen alle Gestalten des sich zu seiner Wahrheit bildenden Geistes jeweils eine Zuspitzung der äußersten Selbstentfremdung, in welcher die konkrete Gestalt einer Bildung dann auch tatsächlich zugrunde geht, zugleich aber ein neues Ganzes, der tragende Grund der neuen Bildung, sichtbar wird, dessen Aufscheinen freilich jeweils nicht einfach in der unmittelbaren Verfügungsmacht des selbst im Bildungsprozeß begriffenen Bewußtseins lag. Vielmehr wird gerade hier alles nur subjektive 39 40

Zur »Differenzschrift« cf. unten Anm. 45! Hegel, System der Sittlichkeit. Reinschriftentwurf, GW V, 360. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

93

Thomas Sören Hoffmann

Verständnis von Bildung durchbrochen, ja die Frage nach dem eigentlichen Subjekt der Bildung stellt sich in neuer Weise. Wir haben bereits davon gesprochen, daß nach Hegel in demselben Sinne, wie Bildung nur im Verhältnis von Ich und Welt gedacht werden kann, ihr eigentliches Subjekt der Geist ist. Wir präzisieren dies jetzt und stellen als Hegels Grundtheorem über die Bildung, wie es sich aus der Phänomenologie als ganzer ergibt, den Satz auf: Bildung ist die unmittelbare Zwecktätigkeit (Entelechie) des Geistes als solchen, und zwar des Geistes zugleich in allen seinen Dimensionen, d. h. als subjektiver, objektiver und absoluter Geist. Gerade auf diese Mehrschichtigkeit wird es ankommen – ich will versuchen, Hegels komplexen Ansatz in dieser Frage ein wenig näher zu explizieren. Der Satz, daß Bildung als unmittelbare Zwecktätigkeit (Entelechie) des Geistes aufzufassen sei, besagt tautologischerweise, daß das Bildungsgeschehen seinen Ort in der Sphäre des Geistes hat, also in jedem Fall Funktion einer es umgreifenden Totalität ist. Diese Feststellung ist deshalb von Belang, weil sie die Meinung ausschließt, man könne das Problem der Bildung alleine von einer formalen Theorie des Bewußtseins oder der Subjektivität her lösen 41 . »Geist« ist dabei, auch als Nachfolgebegriff der Liebe, das Hegelsche Kürzel für das idealistische Subjekt-Objekt, von dem auch die anderen Idealisten gesprochen hatten, das Kürzel für die daseiende Einheit von Innerem und Äußerem wie auch für Offenbarkeit als höchste Weise des Seinsvollzugs 42. Geist existiert dieser Bestimmung entsprechend, wie die Phänomenologie sich ausdrückt, stets in der Spannung von Subjekt und Substanz, die einander freilich durchdringen, sich zu Wechselmomenten setzen sollen, so daß am Ende des phänomenologischen Weges eine gehaltvolle, nicht nur formelle Subjektivität wie ebenso eine der Freiheit erschlossene, aber zugleich in ihrer Gegenständlichkeit anerkannte, nicht abstrakt übersprungene Welt steht. Bildung gibt es dann nur als Eintauchen in die lebendige Schon-Vermitteltheit bzw. SubjektObjektivität des Geistes, als den Weg zu einer ihre eigene Freiheit aus dem geklärten Verhältnis zu den Gegenständen empfangenden SubjekAllerdings sagt der Satz auch, daß Bildung ein durchaus innerphilosophisches Thema ist und nicht etwa nur die Pädagogik betrifft; wenn eines, dann ist das Thema des Geistes ein philosophisches. 42 Cf. in diesem Sinne dann etwa auch die Definition des Geistes in »Enzyklopädie« (1830), § 383, u. a. mit dem Satz »Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die Manifestation«. 41

94

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

tivität und einer dabei ebenso freigelassenen Gegenständlichkeit, einer Gegenständlichkeit, die als das Andere des eigenen Selbstseins, nicht als dessen Bedrohung gewußt ist. Bildung gibt es, was ebenfalls zu unterstreichen ist, dann aber auch nur dort, wo Geist schon ist, ja es gibt sie nur als Selbstvollzug des bereits daseienden Geistes, des substantiellen Erkennens, das sich jetzt zu Bewußtsein bringt; es gibt sie als Vermittlung von Geist durch Geist, darin als Kreis der Selbstvermittlung des Geistes, dessen Telos es ist, stets nur geistiger zu werden. Bildung ist, wenn man so will, die unmittelbare Entelechie des Geistes – eine Entelechie, die als geistige auf das konkrete Freisein des Geistes in seinen unterschiedenen Momenten geht. Daß das auf diese Weise »systemische« Geschehen der Bildung im Hegelschen Kontext selbst in Freiheit, will sagen: in gediegenem, freiem Selbstsein korrelativ auf eine als freiheitsaffin gewußte Welt kulminiert, enthält dann zugleich auch die unmittelbar sittliche Seite des Bildungsgedankens. Diese Seite besteht darin, daß sich Freiheit im Bildungsgeschehen Wirklichkeit wird. In der Rechtsphilosophie hat Hegel formuliert: »Die Bildung ist … in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit« 43 . Eine der direkten Implikationen dieses Sachverhalts ist dann die Tatsache, daß alles eigentliche Bildungswissen (im Unterschied zu anderen Arten von Wissen – wir denken hier nur an Hegels Nürnberger Thesen über die Bedeutung des Studiums der Alten zurück) einen unmittelbaren Freiheitswert hat. Im Bildungsprozeß selbst tritt dieser Freiheitswert darum zwar nicht schon unmittelbar ins Bewußtsein, weil alle Bildung (qua Reflexions- und Dissoziationsgeschehen) zunächst im Zeichen von Entfremdung steht und sich an das Andere des sich durch diesen Verlust hindurch bildenden Subjekts erst verlieren muß. Das Gemeinte ist jedoch klar: Wer sich um die Grammatik einer ihm fremden Sprache bemüht, sieht sich zunächst nur äußeren Notwendigkeiten aus- und keineswegs unmittelbar in eine (neue) Freiheit eingesetzt. Dennoch aber setzt ihn die fremde Grammatik am Ende »in Freiheit«, indem sie ihm den humanen Raum eröffnet, den die fremde Sprache geschaffen hat oder auch immer noch schafft und dessen Geist in ihren Sprachdenkmälern erhalten ist. Auf 43

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 187 Anm. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

95

Thomas Sören Hoffmann

dieser Ebene alleine beginnt im günstigen Fall ein Gespräch, wie es jenseits aller nur theoretischen Ansprüche, jenseits auch alles Nutzenkalküls nur zwischen Freien geführt wird. Der terminus ad quem aller Bildung, das (normative) Telos ihrer Entelechie ist am Ende immer dieses Gespräch, dessen Teilnehmer freie Geister und dessen Inhalt die Konkretionen des Geistes bzw. seines Lebens selbst sind. Unser Satz, daß Bildung die unmittelbare Zwecktätigkeit des Geistes, und zwar des Geistes simultan in allen seinen Dimensionen sei, besagt nun freilich auch, daß es bei der Bildung immer um den Geist als subjektiven, objektiven und absoluten zugleich geht. Wenn die immer wieder bemerkte Schwierigkeit bei der Übersetzung des deutschen Wortes »Bildung« zwar nicht nur, aber doch auch damit zu tun hat, daß wir hier ein und dasselbe Wort einmal als nomen actionis, das andere Mal als nomen rei actae gebrauchen, so weist bereits diese Tatsache darauf hin, daß der Sinn von »Bildung« den einer subjektiv-intentionalen Tätigkeit notwendig übersteigt. Hegels Einwand gegen das entsprechende, »aufgeklärte« Verständnis von »Bildung« als (subjektive) Kultur der eigenen Talente im Sinne von Selbstvervollkommnung 44 geht dabei soweit, zu unterstreichen, daß es das »autonom« sich für seine Bildung entscheidende Subjekt so wenig gibt wie – im Bilde gesprochen – den Menschen, der sich »autonom« für den Erwerb einer Muttersprache entscheidet. Denn so, wie wir uns nur sprachlich zu Sprache verhalten können – auch etwa, wenn wir uns für den Fremdsprachenerwerb entscheiden, der eben nicht sprachlos, sondern nur im Horizont einer Muttersprache möglich ist –, entsteht ein konkretes Bildungsbedürfnis ebenfalls nie aus der blanken Unbildung heraus. Es entsteht vielmehr je und je aus dem, was Hegel unter anderem die »Bildung des Zeitalters« 45 nennt, damit den »objektiven« Pol der BilDie »subjektive Bildung« (des Jünglings) kann Hegel mit einem »Schlagen ins Blaue« vergleichen (cf. ThW 18, 60). 45 Cf. die bekannte und für unseren Zusammenhang insgesamt wichtige Stelle aus der »Differenzschrift«, GW IV, 12: »Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie, und als Bildung des Zeitalters die unfreye gegebene Seite der Gestalt«. Die »Bildung des Zeitalters« hat also immer auch den Charakter des (passiv) Seienden, das von der lebendigen Subjektivität erst noch anverwandelt werden muß. Weiter heißt es: »In der Bildung hat sich das, was Erscheinung des Absoluten ist, vom Absoluten isolirt, und sich als ein Selbständiges fixirt. Zugleich kann aber die Erscheinung ihren Ursprung nicht verleugnen, und muß darauf ausgehen, die Mannigfaltigkeit ihrer Beschränkungen als ein Ganzes zu konstituiren«. Daß diese Stelle eine recht direkte Parallele zu dem oben herangezogenen Frankfurter Fragment über die Liebe bildet, wird übrigens auch 44

96

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

dung im Sinne eines überindividuell geltenden mentalen Querschnitts bezeichnend, der seinerseits Bildungsgesetzen und vor allem auch historischen Konstellationen unterworfen ist. In diesem Sinne liegen dann stets die Grenzen aller sogenannten Bildungspolitik in der objektiven Gebildetheit oder Ungebildetheit der Politik, in der sich ein Zeitalter darstellt – eine Einschränkung, die alleine schon Anlaß genug sein kann, darüber nachzudenken, ob man wirklich »Bildung« (qua kulturellem Status) als mögliches Objekt von Politik, gar als Objekt gar eines politischen Aktionismus, auffassen, damit aber Gefahr laufen soll, sie gerade ihrer vollen, immer auch überindividuell verbindlichen Realität nach aus dem Blick zu verlieren. Die »Bildung des Zeitalters« ist evidentermaßen eine Funktion des objektiven Geistes, also des Raumes der im wesentlichen präreflexiv in Geltung stehenden überindividuellen Verbindlichkeiten, für welche niemals nur die Subjekte, auch nicht die Gemeinschaft aller Subjekte, wie manche neuere konsenstheoretisch orientierte Hegel-Deutung nahelegen möchte, aufkommen kann. Auch hier gilt, daß im Rahmen des objektiven Geistes Subjekte nur insoweit Subjekte sind, als der Bildungsrahmen, in dem sie stehen, ihnen die Option der Subjektivität tatsächlich öffnet. Daß Subjektivität keine mit einem Schlage gegebene Unmittelbarkeitsposition ist, daß sie kein cartesischer oder auch transzendentalphilosophisch zu fixierender archimedischer Punkt des Selbstbewußtseins, sondern selbst noch einmal eine Funktion des umgreifenden Geistes und von daher in ihrer Erscheinung immer auch eine (nicht zuletzt im Bildungsprozeß begriffene) Fließgröße ist, gehört gerade zu den revolutionären Thesen der Hegelschen Phänomenologie und impliziert in jedem Fall, daß das Individuum die Bedingungen seiner eigenen geistigen Existenz unmittelbar nur sehr bedingt einzuholen vermag. Ein Beispiel, das verdeutlichen mag, worum es hier geht, ist die in der Bildungsdiskussion so umstrittene Kanonfrage: Der Sinn eines reellen, nicht gesuchten oder konstruierten Kanons kann nur darin bestehen, dem einzelnen wesentlich unverfügbare, ihn in seiner Einzelheit vielmehr schon bestimmenan folgendem Passus klar: »… je fester und glänzender das Gebäude des Verstandes ist, desto unruhiger wird das Bestreben des Lebens, das in ihm als Theil befangen ist, aus ihm sich heraus in die Freyheit zu ziehen; indem es als Vernunft in die Ferne tritt, ist die Totalität der Beschränkungen zugleich vernichtet, in diesem Vernichten auf das Absolute bezogen und zugleich hiermit als bloße Erscheinung begriffen und gesetzt; die Entzweiung zwischen dem Absoluten und der Totalität der Beschränkungen ist verschwunden« (l. c., p. 13). A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

97

Thomas Sören Hoffmann

de Gegenstandsorientierungen als solche zu kennzeichnen. Über den »Kanon« – sagen wir über den einer architektonischen Formensprache – haben, ohne daß deren erste »Sprecher« deshalb unschöpferisch gewesen wären, nicht einzelne, einige oder auch alle, über ihn hat vielmehr niemand oder (im Sinne Hegels) eben der »objektive Geist« entschieden. Hegel spricht für diesen Zusammenhang von einer »Ansteckung« 46 , die sich über die Individuen verbreitet, ohne daß diese nur wissen, wie ihnen geschieht. Umgekehrt realisiert sich objektiver Geist in nichts anderem als darin, daß er auf die Weise der Fixierung auf das Kanonische im Bewußtsein ist. Das Normativ, das Hegel für die Kanonfrage jedenfalls so an die Hand gibt, ist kaum überraschend: als kanonisch muß gelten, was in der Arbeit der Befreiung des Bewußtseins zu einer »unendlich fürsichseiende[n], freie[n] Subjektivität«, der zugleich eine »unendlich subjektive[] Substantialität« entspricht 47 , am weitesten führt, was qualifizierte und auch in interpersonalen Relationen tragfähige, nicht rein negative Freiheit am konkretesten aufscheinen läßt. – Wir müssen an dieser Stelle aber auch noch auf Hegels in der Sache durchaus überraschende These zu sprechen kommen, daß nicht nur der »subjektive« und auch der »objektive Geist« Subjekte von Bildung sind, sondern daß dies ebenso sehr für den absoluten Geist gelte. Es mag durchaus seltsam klingen, das Absolute in einen Bildungsprozeß hineinzunehmen – und dennoch hat eben das Hegel spätestens von der Jenenser Geistphilosophie an getan. Otto Pöggeler hat für diesen Zusammenhang sehr im allgemeinen auf »neuplatonisches Gedankengut« im Hintergrund von Hegels Bildungskonzept verwiesen 48 . Man könnte ebenso an bestimmte Bild- und Bildungslehren der Mystik, etwa bei Meister Eckhard, denken, um die Wechseleinbildung von Absolutem und Endlichem ineinander, um die es bei Hegel hier geht, entsprechend vorgebildet zu finden. In der Tat hat Hegel, inspiriert durch die christliche Trinitäts- und Inkarnationslehre, an Stelle eines »statiCf. im Bildungskapitel der »Phänomenologie des Geistes«, z. B. GW IX, 276, 295 und 380. An der erstgenannten Stelle erscheint dabei auch die Subjektivität, das Ich als (sprachlich vermittelte) »Ansteckung«. 47 Cf. Rechtsphilosophie, § 187. 48 Pöggeler, Otto, Hegels Bildungskonzeption im geschichtlichen Zusammenhang. In: Hegel-Studien 15 (1980), p. 241–269, bes. p. 250: »neuplatonisches Gedankengut, in ästhetischer und geschichtlicher Erfahrung umgeformt, trägt Hegels Bildungskonzeption«. 46

98

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

schen« ein »sich bildendes«, eine Selbstdistanzierung und Entäußerung bis zur Selbstnegation durchlaufendes Absolutes gedacht, das eben darin das absolut Absolute zu sein vermag, daß es sich selbst in seinem Anderen zu finden vermag. In höchster Instanz sind so alle geistigen Bildungsprozesse in einem Absoluten aufgehängt, das das Moment der Selbstnegation (das Moment der absoluten, d. h. sich gegen sich selber richtenden und damit überwindenden Trennung) konstitutiv in sich enthält. Es spricht sogar einiges dafür, daß eine der entscheidenden Leistungen Hegels in der Lehre vom absoluten Geist, nämlich die historische Dynamisierung auch noch von Kunst, Religion und Wissenschaft – daß, mit anderen Worten, die Entdeckung der Geschichtlichkeit des absoluten Geistes, die zugleich seine Absolutheit nicht aufhebt, nur die andere Seite eines Begriffs vom sich entäußernden, darin jedoch sich (zu sich) »bildenden« Absoluten ist. Und wenn Hegel noch in der Rechtsphilosophie auf »die Bildung als immanentes Moment des Absoluten« ausdrücklich zurückkommt 49 , so liegt die besondere Pointe hier darin, daß als letzter Anker- und Zielpunkt auch aller objektiven Bildung ein Sinnraum fixiert wird, der noch einmal über die Sphäre des (nur) objektiven Geistes, d. h. über Gesellschaft und Staat, über Kultur und Geschichte hinaus liegt. Das hat weit weniger mit der Wiederkehr einer schlechten Metaphysik als vielmehr mit einem Motiv zu tun, das ich die Rechtfertigung des Individuums als – mit Luther zu reden – selber teilhabend an einem »fröhlichen Wechsel« mit dem Absoluten nennen möchte. In den Formen und Gestalten des absoluten Geistes, auf den Ebenen von Kunst, Religion und Wissenschaft, erschließt sich dem Individuum im sich vollendenden Bildungsprozeß eine äußerste Transparenz, ein unbedingtes Verstehen, das in der Geschichtlichkeit seiner Erscheinung doch zugleich geschichtstranszendent ist und ein unantastbares Freiheitsmoment enthält. Der, weil unantastbare Freiheit gewährend, absolute Bildungsprozeß führt so auf eine Form der freien Selbsttätigkeit des Geistes,

Rechtsphilosophie, § 187 Anm.: »Ebenso macht zugleich diese Form der Allgemeinheit, zu der sich die Besonderheit verarbeitet und heraufgebildet hat, die Verständigkeit, daß die Besonderheit zum wahrhaften Fürsichsein der Einzelheit wird und, indem sie der Allgemeinheit den erfüllenden Inhalt und ihre unendliche Selbstbestimmung gibt, selbst in der Sittlichkeit als unendlich fürsichseiende, freie Subjektivität ist. Dies ist der Standpunkt, der die Bildung als immanentes Moment des Absoluten und ihren unendlichen Wert erweist« (ThW 7, 345). 49

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

99

Thomas Sören Hoffmann

die sich ihres an nichts Äußeres geknüpften Wesens und Wertes gewiß ist, dennoch aber, wie wir schon wissen, nicht einfach in der (ersten) Negation der Äußerlichkeit besteht. Sie existiert dann zunächst als der seiner selbst gewisse Geist. Wir werfen zum Abschluß noch einen kurzen Blick auf den phänomenologischen Weg zu ihm.

III In Hegels Phänomenologie des Geistes ist von der Bildung des letzteren implizit auf jeder Stufe, explizit, wie wir wissen, jedoch vor allem in einem eigenen Kapitel aus der Sektion »Geist« die Rede. Hegel hat in dieses Kapitel nicht zuletzt einige selbstbewußtseinstheoretische (bzw. -genetische) Untersuchungen gelegt, die noch der umfassenden Auslegung harren, die zugleich aber auch die Brücke zum Selbstbewußtseinskapitel und dem dort ebenfalls angeschlagenen Bildungsthema bauen. Hier wie dort ist, was man nicht übersehen darf, gesetztes »Selbstbewußtsein« primär von einem Bewußtsein der Ungleichheit her gedacht, aus dem sich ein mittelbares, »erkämpftes« Identitätsbewußtsein erhebt. Tatsächlich liegt nach Hegel der Anfang der Bildung immer in einem sich seiner Ungleichheit, seiner Entfremdung bewußten Bewußtsein. Das Individuum hatte sich auf der der Bildung im engeren Sinne vorhergehenden Stufe, im Rechtszustand, als das zunächst akzidentelle und noch ganz inhaltslose, in seiner Einzelheit unmittelbar anerkannte Subjekt dargestellt. Diese Tatsache aber, daß sich die leere Einzelheit überhaupt zum herrschenden Allgemeinen, das Akzidens zu der Substanz ins Verhältnis setzen kann, ist die unmittelbare Wirklichkeit der Bildung. Die Bildung erscheint dann näherhin ausdrücklich sowohl als »Zweck« wie als »Mittel« des in Entfremdung daseienden Bewußtseins: als Zweck, insofern sie die Abstoßung vom nur natürlichen Sein und insofern die Würde des Geistes enthält; als Mittel, insofern sie den »Übergang« der »Individualität in die Wesentlichkeit« wie »der gedachten Substanz in die Wirklichkeit« vollziehen soll 50 . Hegel spricht, was diesen zuletzt genannten Übergang betrifft – hier klingen Nürnberger Ausführungen an – davon, daß das »ohne Entfremdung an und für sich geltende Selbst … ohne Substanz« 51 sei 50 51

100

Phänomenologie, GW IX, 267. L. c., p. 260.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

und erst durch »die Entfremdung der Persönlichkeit« 52 hindurch dieser Mangel ausgeglichen werden könne; zugleich aber werde so die Substanz, der ansichseiende Geist, wirklich. Wir können hier zum einen von einer Bewegung der Bildung zu einem Ideal, einem »Jenseits« hinauf sprechen – dies ist die uns schon bekannte subjektive Seite der Bildung, die ihren Impuls dem gebrochenen Selbstbewußtsein, dem Bewußtsein der Ungleichheit entnimmt. Zum anderen aber spricht er von einer komplementären Bewegung der Bildung hinab, in der das Allgemeine, der Geist als solcher, seinerseits seine Ungleichheit gegen das Subjekt aufhebt und der sich wissende oder fürsichseiende Geist wird. Das Bildungskapitel stellt dann im einzelnen mehrere Weisen dar, auf die subjektiver und objektiver sich bildender Geist einander zunächst verfehlen; ich verweise hier nur etwa auf den bekannten Kampf von Glauben und Aufklärung, in dem nach Hegel die beiden entgegengesetzten Wege der Bildung in Gestalt eines substantiellen Denkens (Glaubens) und einer sich versubjektivierenden Substanz (Aufklärung) sich auf eine Antinomie hin zuspitzen, die eigentlich erst in der Existenz des anerkannten Gewissens ihre Lösung findet. Entscheidend dabei ist in jedem Fall, daß Hegels Bildungsbegriff stets auf die Überkreuzung beider Bewegungen zielt und so ebenso als die Erhebung des Individuums zu einem substantiellen Leben im Allgemeinen wie umgekehrt als die Konkretisierung des Allgemeinen durch sein Eintreten in das Selbstbewußtsein gedacht ist. Dabei bleibt die Entfremdung bestehen, solange beide Bewegungen nicht in ihrer wesentlichen und auf das Leben zeigenden Koinzidenz erkannt sind. Solange dies jedoch nicht der Fall ist, zeigt sich das sich bildende Selbstbewußtsein immer mehr im Zerbruch, immer mehr als die Ungleichheit, aus der es stammt. Das Selbstbewußtsein, das sich als ungleiches weiß und eben deshalb den Weg der Bildung ergreift, setzt seine Ungleichheit aus sich heraus, es potenziert – das Paradebeispiel ist hier das niederträchtige Bewußtsein oder »Rameaus Neffe« – nur seine Entfremdung und löst das Leben in ein formell geistreiches, inhaltlich jedoch nihilistisches Spiel in Worten auf. Das Selbstbewußtsein, das Hegel ein Urteil nennt, endet bei dem Versuch, sich selbst eine Welt zu gewinnen, im Verurteilen von allem und jedem. Die versuchte Bewegung hinauf erweist sich insofern auch hier als die rein dissoziierende Bewegung

52

L. c., p. 264. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

101

Thomas Sören Hoffmann

der Reflexion und fällt in seinem in Wahrheit unendlichen Urteilen auf die Stufe einer gegenstandslosen Leerheit zurück. Gleichzeitig aber hat sich auch hier, wiederum »im Rücken« der Entfremdung, etwas Anderes zugetragen. Der Geist selbst nämlich als das Ansich des Subjekts hat sich im Zerbrechen der unmittelbaren Objektivität eine eigene Gestalt und Gegenständlichkeit gegeben, eine »dynamische Gegenständlichkeit« neuer Ordnung, von welcher auch der Zynismus des niederträchtigen Bewußtseins noch abhängig ist, wenn er die Welt und das Leben eben »in Worten« meint auflösen zu können. Es ist im Kontext der Bildung, daß nach Hegel der Geist aus seiner Verborgenheit heraustritt und als der »übergegenständliche Gegenstand«, als die Sprache selbst Phänomen wird. Ich zitiere hier statt mancher anderer den entscheidenden Satz aus dem Bildungs- oder Entfremdungskapitel: »Diese Entfremdung … geschieht allein in der Sprache, welche hier in ihrer eigentümlichen Bedeutung auftritt« 53 . In der Tat ist das objektiv-geistige Medium, in welchem das substantielle Ansich und die fürsichseiende Reflexion, der Geist und das Individuum, Substanz und Subjekt einander wirklich berühren, die Sprache. Es ist klar – und durch die entsprechende Hegeldeutung vor allem der Liebrucks-Schule im vergangenen Jahrhundert auch eindringlich klargemacht worden –, daß Hegel hier »Sprache« nicht im Sinne des alten Organon-Modells, nicht als Instrument einer ohne sie schon vorhandenen Subjektivität, auch nicht als »objektives« Zeichensystem denkt; in beiden Fällen könnte es sich ihm zufolge nur um Abstraktionen von der konkreten Wirklichkeit der Sprache handeln 54 . Sprecher einer Sprache stellen, wie gerade das Bildungskapitel zeigt, keine ansich schon existierenden Wesen dar, die sich der Sprache aus einer dann notwendig vorsprachlichen Freiheit heraus »autonom« »bedienten«. Sprecher einer Sprache »ersprechen« sich ihre Wesenheit, ihr Subjektsein erst, und sie vollenden auf diese Weise ihre Bildung als Selbstbildung. In einer der eindrücklichsten Partien des Bildungskapitels, die L. c., p. 276. Cf. dazu vor allem Liebrucks, Bruno, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5: Die zweite Revolution der Denkungsart. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main, 1970; außerdem Simon, Josef, Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz, 1966, für unseren Zusammenhang dort u. a. p. 103 ff.; außerdem Hoffmann, Thomas Sören, Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). In: Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, ed. Borsche, T., München, 1996, p. 257–273.

53 54

102

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildung, Entzweiung, Sprache

wir eben bereits gestreift haben, hat Hegel dementsprechend die Genese der Subjektivität aus sprachlich-kommunikativen Kontexten am Beispiel der Konstitution des souveränen »Ich« aus der Sprache des Dienstes gezeigt: es gibt die cartesische Fiktion einer sprachfrei sich schon selbst gegenwärtigen »mens« nicht, es gibt vielmehr die »sprechende Sprache« – ausdrücklich heißt es in dem diesbezüglichen, implizit dann auch kantkritischen Spitzensatz aus dem »sich entfremdeten Geist«: »Die Sprache aber […] allein spricht Ich aus, es selbst« 55 . »Ich« ist hier nicht eine grammatische Form, die bereitstünde, um etwas zu »bezeichnen«; »Ich« ist vielmehr grundsätzlich nicht bezeichnend, sondern Index des reflexiv gewordenen Bildungsprozesses in einer Welt. Wir sind damit wiederum bei dem Gedanken angekommen, daß auch die Subjektivität als solche keine »Naturtatsache«, sondern bei aller in ihr sich selbst herstellenden Unmittelbarkeit ein Produkt der Zwecktätigkeit des (umgreifenden) Geistes, mithin aber der – hier in der Sprache wirklichen – Bildung ist. Die besondere Affinität von Sprache und Bildung, die bereits Hegels Nürnberger Schulpädagogik charakterisierte und dort vor allem das Studium der alten Sprachen als Erwerb eines sich selbst erhaltenden Schatzes erscheinen ließ, erschließt sich von hier aus in ihrer größeren systematischen Einbettung. Sprache ist das jedenfalls nächstliegende Medium der Bildung im Sinne der Entelechie des Geistes schlechthin, und sie ist als paradigmatisch »objektivierte« Sprache zugleich jener »Stoff« der Bildung, dessen es zum Gewinn einer substantiellen Innerlichkeit bedarf. Was sich dabei dann aber auch im nochmals größeren Rahmen erschließt, ist, was das eigentliche Ziel aller Bildung als immanenter Zwecktätigkeit des Geistes sein muß. Dieses Ziel liegt in einem erfüllten Zur-Sprache-Bringen von Welt und Ich, in dem alle (subjektiven) Eitelkeiten wie alle (objektiven) Entfremdungen geistig getilgt und abgearbeitet sind. Das Ziel aller Bildung ist die – mit dem Lieblingsausdruck Hegels zu reden – »gediegene« Wiederherstellung der in aller bewußten Weltstellung zerbrochenen Totalität in der Sprache, ist das nicht ephemere, sondern gewichtige Wort, das ebenso schöpferisch wie befreiend, ebenso substantiell gegründet wie ins Individuum hinein reflektiert ist. Oder anders: das Ziel der Bildung ist ein seiner selbst bewußtes Sich-Aussprechen der Freiheit, das, bei Lichte besehen, viel seltener stattfindet, als es prima facie vielleicht 55

Phänomenologie, GW IX, 276. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

103

Thomas Sören Hoffmann

den Anschein hat, das vor allem aber ohne die objektive, ja absolute Arbeit der Bildung niemals zu haben ist. Aristipp hat einmal gesagt, der Nutzen der Bildung sei doch wenigstens der, daß man als Mensch im Theater nicht wie ein Stein auf dem Steine sitze. Hegel, der den Menschen seiner Zielbestimmung nach als sich selbst konkret aussprechende Freiheit gefaßt hat, hat nicht ohne Grund diesen Satz eines Alten mit Zustimmung vor seinen Schülern in Nürnberg zitiert 56 .

Hegel, Rede vom 10. Juli 1809, GW X, 450, angelehnt an Diogenes Laertios, Vit. II, 8, 72.

56

104

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

II. Perspektiven der Bildungspolitik

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz Hans Maier (München)

Die Jahre 1958 – 1983 waren weltweit eine Zeit der Bildungsreformen. Das gilt im quantitativen wie im qualitativen Sinn. Erstmals erfaßte eine pädagogische Bewegung den ganzen Erdball: Während zahlreiche Entwicklungsländer den Schritt zu Schriftkultur und Alphabetisierung taten, weitete sich in den entwickelten Ländern das Schul- und Hochschulwesen aus wie nie zuvor. Mehr Schulen, neue Hochschulen, mehr anspruchsvolle Abschlüsse für mehr Menschen, mehr Sekundarschüler, Abiturienten, Studenten, Lehrer, Hochschullehrer – das Gesetz des Mehr und Größer, Schneller und Besser beherrschte die Szene. Dabei zeigte die Entwicklung in den östlichen und den westlichen Industriestaaten trotz manch ähnlicher Züge charakteristische Unterschiede. Von ihnen soll im folgenden zunächst die Rede sein.

I. Bekanntlich hat kein Ereignis die amerikanische Bildungsreform der späten Fünfzigerjahre so beeinflußt wie der sogenannte Sputnikschock. Daß es den Russen 1957 gelang, erstmals einen künstlichen Satelliten auf die Umlaufbahn um die Erde zu bringen, hinterließ nachhaltige Spuren in der amerikanischen Öffentlichkeit: ein jahrelang genährtes Überlegenheitsgefühl brach jäh zusammen. Man trat in eine Periode der Selbstkritik und der Reformmaßnahmen ein. Das Unterrichtswesen sollte neu gestaltet werden, man setzte Hoffnungen auf eine stärkere Differenzierung. Radikale Eingriffe schienen nötig zu sein, um den russischen Vorsprung einzuholen. Heute wissen wir, daß die zeitweilige Weltraum-Überlegenheit der Sowjetunion nichts mit den Bildungsreformen zu tun hatte, die in den Fünfzigerjahren in Rußland von sich reden machten. Der Sputnik war viel eher die Frucht der alten Lern- und Drillschule mit anschlie106

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz

ßender wissenschaftlicher Spezialisierung, die nach den Wirren der Lunacˇarsky-Ära in den Zwanzigerjahren in der Sowjetunion eingeführt worden war. Es gehört zu den Paradoxien ost-westlicher Bildungsreform, daß sich die Sowjetunion just in dem Augenblick, als der Sputnik seine Kreise zu ziehen begann, entschlossen von jener Schule abkehrte und im Rückgriff auf alte revolutionäre Traditionen das Erziehungswesen neuerlich in den Dienst gesellschaftspolitischer Ziele stellte. Dies war das Werk Nikita Chruscˇevs. Chruscˇevs Bildungsreform (1956–58) setzte an zwei Stellen an. Einmal beseitigte er den Dualismus von Siebenjahres- und Zehnjahresschule, der sich in den Dreißiger- und Vierzigerjahren herausgebildet hatte (in westlichen Begriffen ausgedrückt: das immer stärker sich differenzierende Nebeneinander von Elementar- und Gymnasialformen); in allen Teilen des Landes wurde eine einheitliche Achtjahresschule (gegliedert in Grund- und Mittelschule) eingeführt. Zum anderen wurde der Arbeitsunterricht in all seinen Formen erheblich verstärkt und erreichte in der Mittelschule bis zu einem Drittel der Unterrichtszeit. Es handelte sich nicht um Berufsausbildung; der Unterricht war polytechnisch. (Wir würden vielleicht von Arbeitslehre sprechen). Wissenschaftliche Theorie und praktische Anwendung in Industrie, Land- und Hauswirtschaft sollten verbunden werden. Die neue Achtjahresschule wurde des akademischen Charakters weitgehend entkleidet; Spezialisierung sollte erst anschließend, in einer Vielzahl darauf aufbauender Typen, erreichbar sein. Man hat die Motive für diese Bildungsreform vor allem in praktischen und wirtschaftlichen Erwägungen gesucht. Arbeitskräftemangel, hervorgerufen durch Krieg und Geburtenrückgang, habe zu einem Abbremsen der pädagogischen Expansion geführt, zumal da für eine obligatorisch eingeführte Zehnjahresschule nicht genügend weiterführende Schul- und Hochschulplätze vorhanden gewesen seien; die volkswirtschaftlichen Kosten für eine Zehnjahresschule im ganzen Land seien zu hoch gewesen; der Arbeitskräftemangel wäre verstärkt worden, hätte man die Schulpflicht bis zum 17. Lebensjahr ausgedehnt; endlich wollte man durch eine Kombination von Mittelschulausbildung und produktiver Arbeit den Bildungshaushalt entlasten. Dies mag alles zutreffen. Doch die ausschlaggebenden Erwägungen waren nicht wirtschaftlicher, sondern ideologischer Natur. Chruscˇev selbst machte mit der ihm eigenen Deutlichkeit auf dem XX. Parteitag der KpdSU darauf aufmerksam. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

107

Hans Maier

Vordergründig argumentierte er pragmatisch: es sei unmöglich, die wachsende Zahl von Absolventen der Zehnjahresschule an den Hochschulen unterzubringen; die Mehrzahl von ihnen sei unvorbereitet für das Leben – daher die Notwendigkeit, ihnen Produktionskenntnisse zu vermitteln, ihnen die industriell-technische Welt vor Augen zu stellen. Dann berührte er den entscheidenden politischen Punkt: »Es gibt bei uns immer noch eine scharfe Trennungslinie zwischen geistiger und manueller Arbeit (…). Das ist grundsätzlich falsch und läuft unserer Lehre und unseren Aspirationen zuwider. Die Buben und Mädchen, die die Mittelschule beendet haben, sind meist der Ansicht, der einzige für sie zumutbare Weg sei die Fortsetzung der Ausbildung an höheren Schulen. (…) Einige von ihnen empfinden körperliche Arbeit sogar als Schmach. (…) Solche Ansichten sind beleidigend für die Werktätigen der sozialistischen Gesellschaft. Eine derartig schlimme Situation (…) kann nicht länger toleriert werden. In der sozialistischen Gesellschaft muß doch die Arbeit nach ihrem Nutzen bewertet werden, der Antrieb darf nicht nur im Lohn, sondern – und das ist die Hauptsache – muß auch in der öffentlichen Wertschätzung liegen. Man muß der Jugend ständig einprägen, daß (…) die Arbeit für jeden Sowjetmenschen ein Lebensbedürfnis ist« 1 . Das war ein Bekenntnis zu den alten Grundsätzen kommunistischer Erziehung – und zugleich ein Versuch, pragmatischen Zwängen der gesellschaftlichen Entwicklung durch Verstärkung der ideologischen Widerlager zu entgehen. Auch in der Sowjetunion war in der Nachkriegszeit ein Stadt-Land-Gefälle entstanden (Siebenjahresschule auf dem Land, Zehnjahresschule in den Städten), eine Akademikerklasse hatte sich entwickelt, die bestrebt war, ihre Kinder wiederum in akademische Berufe aufrücken zu lassen. Die Verbindung von akademischem Studium und produktiver Arbeit hatte sich gelockert. Chruscˇevs Vorstoß galt der Wiederherstellung des revolutionären status quo ante; er mobilisierte ideologische Kräfte gegen das, was ihm eine verhängnisvolle Tendenz zur Differenzierung und Verwestlichung der Gesellschaft zu sein schien. Damit stand er im kommunistischen Macht- und Bildungsbereich nicht allein: Die Welle der Polytechnisierung erreichte in den frühen Sechzigerjahren die osteuropäischen LänCruscˇev, N. S., Über die Festigung der Verbindung der Schule mit dem Leben und die weitere Entwicklung des Volksbildungssystems im Land. Memorandum vom 21. September 1958.

1

108

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz

der; die Vereinheitlichung der Lehrpläne wirkte der Entwicklung spezifischer Schulformen und Bildungsgänge entgegen. Noch in der chinesischen Kulturrevolution der Sechzigerjahre klingen ähnliche Motive an. Schule als Formerin des »neuen Menschen« wurde mit Entschiedenheit gegen Schule als Instrument differenzierter Wissens- und Qualifikationsvermittlung ausgespielt – wohl zum letzten Mal in der Geschichte des kommunistischen Erziehungswesens. Tatsächlich scheiterte Cruscˇevs Reformversuch. In der späteren Bildungswirklichkeit der Sowjetunion und der kommunistischen Länder blieb wenig von ihm übrig. Der polytechnische Unterricht, vor allem seine betriebspraktischen Teile, stießen auf den Widerstand weniger der Schulen als der Betriebe, die für eine solche Flut von Begehungen nicht eingerichtet waren; der Unterricht wurde um fast die Hälfte der Stundenzahl verringert. Die auf die Achtjahresschule aufgestockten dreijährigen Typen wurden auf zwei Jahre reduziert und stärker differenziert, so daß sich die alte Form der Zehnjahresschule in neuer Form wiederherstellte. Bereits 1966 wurde das Einheitsschulsystem der Sowjetunion durch Zulassung von Schulen oder Klassen mit vertieftem Unterricht weiter aufgelockert, nicht zu reden von den spezialisierten Sekundarschulen für Fremdsprachen, Musik, Ballett, bildende Kunst, militärische Ausbildung und Sport, die der Begabtenauslese bereits im frühen Alter dienten. In ihnen trat der elitäre Charakter einer bewußten Kaderauslese und –ausbildung so unverhüllt hervor wie kaum irgendwo im westlichen Schulsystem. Die starke Nachfrage nach einer differenzierten Sekundarschulbildung hat in der Sowjetunion wie in den kommunistischen Ländern zu einer Vermehrung der Hochschulaspiranten und zu einem Stau vor den Toren der Universitäten geführt. Das frühere Gleichgewicht zwischen der Zahl der Studienplätze und der Studienbewerber war seit 1963 empfindlich gestört. Der numerus clausus wurde zu einem zentralen Problem des sowjetischen Bildungswesens. Wie die westlichen Länder sah sich die Sowjetunion dem Problem gegenüber, wie durch Verteilungsmaßnahmen innerhalb des Schulwesens einer Überflutung der Hochschulen gesteuert werden konnte. Daß der Zwang zur stärkeren Anspannung des Leistungsprinzips das Konzept der gesellschaftspolitischen Egalisierung störte, war eine Tatsache, die auf die Dauer kaum ideologisch verbrämt werden konnte.

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

109

Hans Maier

II. Ich sprach davon, daß Amerika auf den Sputnikschock mit Selbstkritik und vermehrten Bildungsanstrengungen reagierte. Das sowjetische Bildungswesen als System kostenloser obligatorischer Massenbildung erschien plötzlich als Vorbild; daß es in jenen Jahren unter Chruscˇev selbst in heftige Bewegung und Umbildung geraten war, sah man kaum. »Man kann bezweifeln«, schrieb George Kline von der Columbia-Universität, »ob jemals eine Gesellschaft einen so großen Anteil an Energien und Ressourcen in das Bildungswesen investiert hat, wie die Sowjetunion dies heute tut«. Und der damalige Erziehungskommissar Lawrence Derthick meinte: »Wir sind auf das Maß, in dem die Sowjetunion als Nation der Bildung als Instrument des nationalen Fortschritts verpflichtet ist, gar nicht vorbereitet. (…) Unsere erste Reaktion ist daher (…) ein Erstaunen über den Umfang, in dem dies verwirklicht zu sein scheint« 2 . Eine breite Massenbildung hatte man in den USA bereits. Ungefähr 80 % der Schulbevölkerung besuchten die High School; etwa 40 % davon wechselten zu einem College über, wiederum ein kleinerer Teil davon zur Universität. Aber über der Breite des Angebots hatte man, so schien es, die Standards und die Qualität zu wenig beachtet. So legten die aus dem Boden schießenden Streitschriften, Berichte und Darstellungen den Nachdruck auf Qualität und naturwissenschaftlich-technische Spitzenleistungen, besonders eindrucksvoll der Rockefeller-Report von 1958, der den bezeichnenden Untertitel trug: The Pursuit of Excellence. Da man aber das bereits gewonnene breite Fundament nicht gefährden wollte, und da sich außerdem in der amerikanischen Gesellschaft neue Integrationsaufgaben (Kampf gegen die Armut, Rassenproblem) stellten, trat hier der gleiche Dualismus, der in der Sowjetunion ideologisch verdeckt wurde, offen hervor: War es möglich, Massenbildung mit Qualitätsauslese zu verbinden? Oder wie John Gardner das Problem formuliert hatte: »Can we be equal and excellent too?« Die USA behandelten diese Frage pragmatisch; als Maßstab der eingeleiteten Bildungsreform galt nicht ein »neuer Mensch«, vielmehr sollten die bewährten Überlieferungen weiterentwickelt werden: Anpassungsfähigkeit und Pioniergeist, Leistungswille ohne BildungsdünZitiert nach: Grant, N., Schule und Erziehung in der Sowjetunion, Bern, 1966, p. 194 ff.

2

110

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz

kel. Den Erfolg der Bildungsmaßnahmen maß man an der Integration des Individuums in die Gesellschaft, am Aufstieg und Erfolg und nicht zuletzt am Einkommen. Die amerikanische Bildungsökonomik, ein Kind jener Jahre, stellte die jedem Amerikaner einleuchtende Hypothese auf, die Länge schulischer Bildungsmaßnahmen stehe in einem meßbaren Verhältnis zum Lebenszeiteinkommen; mehr Schule hieß also: mehr Lebenschancen für eine größere Zahl von Menschen. Es ist hier nicht der Ort, die unzähligen Programme, Initiativen und gesetzgeberischen Maßnahmen aufzuführen, mit denen Amerika in den Fünfziger- und Sechzigerjahren auf die Herausforderung der russischen Technologie und des russischen Bildungswesens reagiert hat. Erwähnt seien die vom Bund vorangetriebene Zentralisierung (unternommen meist unter dem Titel des Gesundheitswesens und der Anti-Rassismus-Gesetzgebung); der Ausbau der Vorschulerziehung, in der man besondere kompensatorische Möglichkeiten sah; die stärkere Differenzierung der High School; die Verbesserung von Lehrerausbildung und -besoldung (die in Amerika lange Zeit weit unter europäischen Standards lag), endlich die stärkere Einführung von Beratung und Psychologie in den Schulen. Aus der Vielzahl der Unternehmungen schälte sich als Kern die Forderung nach Chancengleichheit heraus. Das Schulwesen rückte damit aus einer pädagogischen in eine sozialpolitische Perspektive. Und mit der Verstärkung öffentlicher Mittel und Einflüsse auf die Schulen ging Hand in Hand die weltweite Bewegung eines pädagogischen Optimismus, der die Bildbarkeit des Menschen ebenso hoch anschlug, wie er Begabungs- und Leistungsunterschiede gering einschätzte. Die Schule wurde als Sozialisationsinstanz in weitreichende gesellschaftspolitische Programme einbezogen; Lernen schien ein universales Heilmittel nicht nur für individuelle Unwissenheit, sondern vor allem für gesellschaftliche Rückstände und Krankheiten zu sein. Inzwischen ist in den USA eine spürbare Ernüchterung eingetreten. Die Möglichkeiten des Bildungswesens, Ungleichheit in der Gesellschaft zu vermindern, ja zu beseitigen, werden heute weit skeptischer eingeschätzt als in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Nicht daß man die Forderung nach Chancengleichheit aufgegeben hätte; aber man zweifelt daran, daß sie von der Schule – und gar von der Schule allein – verwirklicht werden könnte. Christopher Jencks hat in seinem Buch »Inequality« (1972) das Ergebnis jahrelanger Untersuchungen mehrerer Forschergruppen an der Harvard-Universität in dürren A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

111

Hans Maier

Sätzen so zusammengefaßt: »Der Hauptgrund, weshalb manche Leute reicher enden als andere, besteht nicht darin, daß sie angemessenere kognitive Fertigkeiten besitzen. Kinder, die gut lesen, Rechenaufgaben richtig lösen und ihre Gedanken klar ausdrücken können, haben zwar eine etwas größere Fortkommenschance als andere, aber es spielen noch viele andere, gleich wichtige Faktoren eine Rolle. So gibt es zwischen denen, die bei Standardtests gut abschneiden, fast ebensoviel Ungleichheit wie in der allgemeinen Bevölkerung. Auch wenn man allen beibringt, gleich gut zu lesen, würde man die Zahl der ökonomischen ›Versager‹ nur unerheblich verringern (…). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß eine Schulreform das Ausmaß der kognitiven Ungleichheit, wie es von Tests der verbalen Fähigkeit, des Leseverständnisses oder der mathematischen Fertigkeiten gemessen wird, entscheidend vermindern kann. Weder schulische Hilfsmittel noch Rassentrennung wirkten sich nennenswert auf Testergebnisse oder erreichtes Bildungsziel aus (…). Der wirtschaftliche Erfolg scheint auf verschiedenen, mit Glück und Tauglichkeit am Arbeitsplatz zusammenhängenden Faktoren zu beruhen, die nur in bescheidenem Ausmaß mit dem familiären Hintergrund, der Schulbildung oder den Ergebnissen bei Standardtests zusammenhängen. Die Tauglichkeitsdefinition variiert von einem Arbeitsplatz zum anderen erheblich, scheint aber in den meisten Fällen eher von der Persönlichkeit als von technischen Fertigkeiten abzuhängen. Das macht es schwer, sich eine Strategie der Wettbewerbsegalisierung vorzustellen. Eine Strategie der Glücksegalisierung läßt sich noch viel schwerer vorstellen« 3 . Es wundert nicht, daß man angesichts der Enttäuschung über die soziale Unwirksamkeit schulischer Reformen bald wieder stärker nach der erzieherischen Rolle der Schule fragte. Anknüpfend an Dewey plädierte Jencks entschieden für Werkstattperspektiven: an Stelle kaum meßbarer Langzeiteffekte müsse man das Hier und Heute beachten, die pädagogische Unmittelbarkeit, den Umgang zwischen Lehrern und Schülern, kurz den einmaligen, unwiederbringlichen schulischen Augenblick. »Statt Schulen nach ihren Langzeiteffekten auf die Schüler zu bewerten, die relativ uniform erscheinen, halten wir es für klüger, sie Jencks, Christopher, Inequality – A Reassessment of the Effect of Family and Schooling in America, New York/London, 1972. Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe, die leider unter dem verfälschenden, den Buchinhalt ins Gegenteil verkehrenden Titel »Chancengleichheit« (Hamburg, 1973, p. 40 f.) erschienen ist.

3

112

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz

nach ihren unmittelbaren Wirkungen auf Lehrer und Schüler zu bewerten, die weit unterschiedlicher scheinen. Manche Schulen sind langweilige, deprimierende, angsterregende Orte, während andere lebendig, angenehm und beruhigend sind. Wenn wir das Schulleben als Selbstwert und nicht als Mittel zu irgendeinem Zweck betrachten, sind derartige Unterschiede sehr wichtig. Eine Beseitigung dieser Unterschiede würde zwar nicht sehr viel dazu beitragen, die Gleichheit unter Erwachsenen zu vergrößern, aber sie würde mehr Gleichheit schaffen in der Lebensqualität der Kinder und Lehrer. Da Kinder ein Fünftel ihres Lebens in Bildungsinstitutionen verbringen, wäre das eine beträchtliche Leistung« 4 .

III. Die geschilderten Bildungsreformen in der Sowjetunion und in den USA haben in den Sechziger- und Siebzigerjahren stark auf die europäischen Länder gewirkt. Viele Maßnahmen sind – phasenverzögert – in Ost- und Westeuropa übernommen worden. Die Kurve der Erfahrungen und Enttäuschungen zeichnet sich heute in Europa ebenso deutlich ab wie in den Ursprungsländern der modernen Bildungsreform. Sie führte vom Gleichheitspathos zu neuer Differenzierung, vom gesellschaftsverändernden Überschwang zu pädagogischer Ernüchterung, von der sozialpolitischen Überschätzung und Funktionalisierung der Schule zu ihrer Neuentdeckung als Ort der Bildung und Erziehung. Als Beispiel sei die Bundesrepublik Deutschland erwähnt. Sie hat seit 1964 – dem Jahr der von Georg Picht ausgerufenen »Deutschen Bildungskatastrophe« – zahlreiche Reformen in Gang gebracht. Vor allem quantitativ und organisatorisch ist das Bildungswesen ausgeweitet worden. Um nur die wichtigsten Ergebnisse zu nennen: 1964 hatten wir in der Bundesrepublik jährlich etwa 50 000 Abiturienten; heute sind es mehr als zehnmal soviel. Im öffentlichen Schuldienst waren 1964 296 000 Lehrer beschäftigt; heute sind es weit über eine halbe Million. 1964 gingen noch fast 70 % aller Schüler auf die Hauptschule; heute liegt die Zahl im Bundesdurchschnitt weit unter 50 %, die Mehrzahl der Jugendlichen geht in Gymnasien, Realschulen und Gesamt4

Ibid. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

113

Hans Maier

schulen. Die soziale und regionale Verteilung der Bildungschancen hat sich verbessert. Die Bildungsausgaben sind seit 1964 nahezu verfünffacht worden. Im ganzen gewiß eine bemerkenswerte Bilanz, zumal wenn man bedenkt, daß die Ausgangslage günstiger war als in der Sowjetunion, teilweise auch in den USA: es handelte sich weniger darum, ein neues Bildungswesen aufzubauen als ein überliefertes Bildungssystem den Zeiterfordernissen anzupassen. Sieht man näher zu, so fällt eine erstaunliche Tatsache ins Auge: die Reformen in Deutschland hatten – anders als die in der Sowjetunion und in den USA – von Anfang nicht das Ganze des Bildungswesens im Auge, sondern einen bestimmten, gewiß wichtigen Teil: die allgemeinbildenden Schulen, vor allem die Gymnasien, und die Universitäten. Sie kümmerten sich auch nicht um die Rückkoppelung zu Wirtschaft, Berufswelt und Finanzen – es ging im wesentlichen um die überlieferte pädagogische Provinz, ihr künftiges Schicksal. »Die Zahl der Abiturienten bezeichnet das geistige Potential eines Volkes«, schrieb Georg Picht 1964, »und von dem geistigen Potential sind in der modernen Welt die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialprodukts und die politische Stellung abhängig« 5 . Ähnlich Ralf Dahrendorf: »Der wichtigste Index aber und insofern das symbolische Ziel jeder Politik der Expansion des Bildungswesens liegt in der Erhöhung der Abiturientenzahlen« 6 . Das war humboldtisch gedacht; es spiegelt die humboldtsche Bildungsidee mit ihrem Pathos der Distanz zur Welt der Arbeit, der Geschäfte und Berufe. Geistige Leistung wurde mit Abitur und Akademikerstatus gleichgesetzt. Im Ruf nach mehr Studenten bei gleichzeitiger Ausblendung der beruflichen Bildung hat die humboldtsche Bildungsidee in Deutschland ihren letzten großen Sieg errungen, der sich freilich schon wenige Jahre später als Pyrrhussieg erweisen sollte. Sehen wir uns diese Bildungsidee ein wenig aus der Nähe an. Ihr Grundgedanke ist einfach, man kann ihn auf knappe Formeln bringen: zweckfreie Bildung, allgemeine Bildung, sprachliche Bildung. Das war zu Humboldts Zeit eine historisch fällige Entscheidung. Auf eine Epoche, in der die Schule in Gewohnheit und Routine abgeglitten war, Bildung ausschließlich im Dienst praktischer Nützlichkeit stand, spezialistische Fachlichkeit und Vielwisserei Studium und Forschung be5 6

114

Picht, Georg, Die deutsche Bildungskatastrophe, Freiburg, 1964, p. 26. Dahrendorf, Ralf, Bildung ist Bürgerrecht, Hamburg, 1965, p. 30 f.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz

herrschten, mußte eines Tages die Gegenreaktion folgen. Es ist beeindruckend, wie Humboldt in seinen Äußerungen immer wieder diesen einen, zentralen Gedanken herausarbeitet: daß Bildung nicht Standesbildung, nicht Spezialistentum, nicht gelehrte Vielwisserei ist, sondern allseitige Ausbildung eigener Fähigkeiten. »Alle Schulen aber«, so heißt es in seinen Bemerkungen zum Litauischen Schulplan (1809), »deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat für diese annimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. – Was das Bedürfniß des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muß abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen«. Damit rückte eine neue, eine allgemeine Bildung in den Blick. Sie entsprach den Bedürfnissen der Zeit. So wie die Gemengelage der Stände sich im 19. Jahrhundert allmählich auflöste, so wie sich im Kreis der Weimaraner, dem Humboldt angehörte, eine standesunabhängige, vorwiegend literarische Bildung entwickelte, so mußte den Standesschulen des ancien régime eines Tages auch eine allgemeine Schule folgen. Humboldt entwarf sie am Horizont mit Formulierungen, die – damals noch – das Utopische streiften: »Dieser gesamte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner, und der am feinsten Ausgebildete muß in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll (…)«. Das 19. Jahrhundert ist Humboldt nicht in allen Punkten gefolgt. Die Standes- und Spezialschulen verschwanden nicht ganz, eine »Schule für alle« – die heutige Grundschule – entstand erst nach der Revolution von 1919 (woran noch der ins Grundgesetz übernommene Satz der Weimarer Verfassung erinnert: »Vorschulen bleiben aufgehoben«.) Doch das deutsche Gymnasium, die deutsche Universität sind von Humboldts Reformen aufs stärkste geprägt worden. Das Gymnasium am meisten: es wurde jetzt (in der von Süvern ausgestalteten Ordnung) ganz auf humanistische Bildung gegründet, mit Griechisch, Latein und Mathematik als Zentralfächern; die Lektüre der alten Schriftsteller sollte den Blick öffnen für die Welt des Geistes, sollte Schüler und Lehrer hinführen zur Humanität. Noch folgenreicher war, daß das Gymnasium nunmehr immer A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

115

Hans Maier

ausschließlicher den Zugang zur Universität zu beherrschen begann und daß auch diejenigen, die sich den Gewerben zuwenden wollten, den Weg durchs Gymnasium zu nehmen hatten. In keinem Land Europas wurde die neuhumanistische Bildung so erratisch der bürgerlichen Nützlichkeit, den sehr viel älteren Realschulen, der beruflichen Bildung entgegengesetzt (Frankreich ging mit seinen »Großen Schulen« aus der napoleonischen Zeit ganz andere Wege!). Humboldts Konzept war nach meiner Meinung für die Universitäten sinnvoll und richtig – seine Reform hat dort nicht nur den Geist der Forschung wiederbelebt und das mechanische Paukstudium überwunden, sie hat auch dazu geführt, daß sich im Schoß der neugestalteten Philosophischen Fakultäten eine Grundlagenforschung entwickelte, die Bedeutung gewann für die Entfaltung von Erfahrungswissenschaften und Technik – eine Voraussetzung für den Aufstieg Deutschlands zur führenden industriellen Macht des Kontinents im späteren 19. Jahrhundert. Einen historischen Augenblick lang wurden die deutschen Universitäten damals zu Vorbildern für viele Universitäten in anderen Ländern. Am deutlichsten in Amerika. Mehrere amerikanische Universitäten übernahmen im 19. Jahrhundert das deutsche Vorlesungs- und Seminarsystem, den akademischen Grad des Dr. phil. (Ph. D.) und die Dissertation als Nachweis eigenständiger Forschungsleistungen. »Akademische Freiheit« – diese humboldtsche Parole wurde zum neuen Ideal für Lehre und Forschung auch in den USA. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu einem intensiven amerikanisch-deutschen Professorenaustausch. Ein repräsentativer Bau erinnert noch heute an diese Zeit: das Busch-Reisinger-Museum auf dem Harvard-Campus, das nach dem Vorbild des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg errichtet wurde und die deutsche Kultur mit Schriftzeugnissen und Abgüssen bedeutender deutscher Architekturund Bildwerke in der akademischen Öffentlichkeit der USA repräsentieren sollte. Bis heute grüßen Wotan und Alberich, Siegfried und Brünhilde von der Fassade des Museums, und Inschriften von Kant, Schiller und Goethe empfangen den Besucher: »Du kannst, denn du sollst«. »Es ist der Geist, der sich den Körper baut«. »Die That ist alles, nichts der Ruhm«. Der Austausch zwischen Deutschland und den USA beschränkte sich nicht auf die Universitäten, obwohl er dort am stärksten war. Für das amerikanische Geistesleben von Emerson bis Matthew Arnold war die deutsche Verbindung von Askese und Disziplin 116

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz

mit philosophischer Bildung und literarischen Interessen eine ungewohnte, aber mit Eifer aufgenommene Herausforderung. Sehr viel beengender und restriktiver hat sich die Humboldt-Süvernsche Reform in der deutschen Schulgeschichte ausgewirkt. Hier ist auch keine internationale Wirkung zu verzeichnen. Nicht nur, daß die Bürgerschulen, die Realschulen (und damit die berufsbezogene Bildung) fast für ein Jahrhundert aus den deutschen Ländern verschwanden – nur Österreich, Bayern und die Schweiz sind hier andere Wege gegangen –; nicht nur, daß alles Berufliche fortan mit dem Stigma der Unbildung, der Unfreiheit und Abhängigkeit versehen wurde; die humboldtsche Bildung hat auch versucht, den Gedanken der Humanität ganz allein aus dem griechischen Unterricht zu gewinnen – unter gänzlichem Absehen von aller religiösen und speziell christlichen Überlieferung. Gewiß ist dieser Versuch gescheitert: der Glaube an die Griechen reduzierte sich im Lauf des Jahrhunderts aufs Sprachliche, dieses wiederum aufs Philologische – so daß schon Nietzsche zu den scharfen Kritikern der antiquarisch gewordenen neuhumanistischen Bildungsidee gehörte. Dies hinderte aber nicht, daß die Orientierung an Weimar-Jena, am »gebildeten, aber bildlosen« (Goethe) Norden ältere Bildungstraditionen im deutschen Süden und Osten verkümmern ließ: nicht nur die benediktinische Tradition der Klosterschulen, die jesuitische der katholischen Reform (mit ihren Korrolarien von Spiel, Musik, Theater, beruflicher Praxis) hatte im 19. Jahrhundert im Wettstreit mit der sprachlichen Bildung des Neuhumanismus keine Chance mehr, auch die melanchthonianische Tradition eines biblischen Humanismus ging unter, sieht man von einigen sächsischen, thüringischen und fränkischen Überbleibseln ab. Und schließlich verengte sich auch – aller Proklamation einer »allgemeinen Bildung« zum Trotz – der soziale Einzugsbereich der weiterführenden Bildung: Sie wurde städtisch, bürgerlich, elitär, standesbezogen – bis dann zu Ende des Jahrhunderts die industrielle Entwicklung die neuerliche Öffnung zu den »Realien« hin erzwang und Georg Kerschensteiner der verachteten beruflichen Bildung zumindest im deutschen Süden, später auch im Westen, zur längst fälligen Revanche verhalf. So steht Humboldts Werk zwischen den Zeiten. Er hat neue Wege geöffnet – aber zugleich auch mögliche andere Wege verschlossen. Er hat der Individualität in Universität und Gymnasien die Bahn geA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

117

Hans Maier

brochen – hat aber zugleich die soziale Dimension der Bildung aufs Stadtbürgerliche, auf den Radius liberaler Eliten verengt. Von seinem pädagogischen Werk gilt, was der englische Historiker G. P. Gooch von seiner Staatsvorstellung gesagt hat: »His State is only possible in a community of Humboldts«. Seine Modelle können daher – im 20. und 21. Jahrhundert, unter den Bedingungen von »Fundamentaldemokratisierung« (Karl Mannheim) und gesellschaftlichem Ausgleich – wohl nicht mehr ohne weiteres verbindlich sein. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich denn auch das alte Gegenüber deutscher und amerikanischer Universitäten grundlegend verändert. Die Emanzipation des amerikanischen Hochschulwesens von Europa und der Aufstieg der USA zur Weltmacht haben zu einer völligen Umkehrung der Einflußströme geführt. Längst geht Amerika nicht mehr in Europa in die Schule, sucht nicht mehr den Anschluß an deutsche oder andere europäische Hochschulreformen – in der Mehrzahl der Bereiche des akademischen Lebens ist es eher umgekehrt; der american way of life hat sich auch in den kontinentaleuropäischen Universitäten weitgehend durchgesetzt. Am deutlichsten zeigt sich das in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging ein maßgeblicher Einfluß auf die wiedereröffneten und neugegründeten Hochschulen in Westdeutschland von den USA aus. Elemente des amerikanischen Universitäts- und Wissenschaftssystems wurden übernommen, zwar nicht überall, aber doch an vielen Stellen: die Präsidialverfassung anstelle des Rektoratssystems, das Department anstelle der Fakultät, die Assistenzprofessur, eine breitere Beziehung der Universität zur Öffentlichkeit anstelle der bis dahin herrschenden exklusiven Verbindung zur staatlichen Verwaltung, amerikanische Bibliotheksformen, das Konzept der Campus-Universität und vieles andere mehr. Im Augenblick erleben wir mit dem Bologna-Prozeß die letzte und wohl definitive Stufe dieser Angleichung. Der typische Universitätsabschluß in den USA ist der Bachelor – er dürfte es bald auch in Deutschland, ja in ganz Europa sein. Offen ist nur noch, in welcher Weise die BA-Studiengänge künftig auf die nachfolgenden Masterstudiengänge bezogen sein werden. Kann man also von Humboldt für die Zukunft nicht mehr lernen? Bezeichnet er nur einen Sonderweg, der im 19. Jahrhundert von Bedeutung war, heute aber unwiderruflich zu Ende ist? Wird man künftig auch bei uns – wie in aller Welt – education sagen statt Bildung, civilization statt Kultur, humanities statt Geisteswissenschaften? (Alle diese 118

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz

drei spezifisch deutschen Begriffe – Bildung, Kultur, Geist – haben sich ja erst zwischen 1770 und 1900 im öffentlichen Sprachgebrauch durchgesetzt – wenn man es personalisiert, zwischen Herder, Goethe, Humboldt, Hegel auf der einen, Simmel, Dilthey, Max Weber, Rickert auf der anderen Seite). Die Antwort kann wohl kein einfaches Ja oder Nein sein. Im Vorspann zu dieser Tagung heißt es zurecht: »Die klassische deutsche Philosophie war sich dabei durchaus der Ambivalenz des Bildungsgedankens bewußt. Zwar eröffnet Bildung durch das Aufzeigen allgemeiner Perspektiven und Gesichtspunkte das Heraustreten aus dem Vertrauten und Partikularen, die Abwägung und Vergleichung der verschiedenen Aspekte einer Sache und somit die Voraussetzungen, um zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden zu lernen. Allein, die allgemeinen Gesichtspunkte garantieren nicht schon die Vernünftigkeit im praktischen und theoretischen Urteilen. (…) Heute dominieren in der öffentlichen Bildungsdiskussion wie selbstverständlich betriebswirtschaftliche Kategorien und Methoden (Qualitätskontrolle, Effizienz- und Nutzenmaximierung, Evaluation, Outputorientierung, Standardisierung usw.). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Selbstverständigung über Bildung einer korrektiven Erinnerung an die weiteren Horizonte der ›klassischen‹ Bildungsdebatte bedarf, um die mit dem Bildungskonzept einhergehenden Sachfragen unverkürzt und ohne allzu rasche Vorentscheidungen in den Blick zu bekommen«. Ich greife das Stichwort »korrektive Erinnerung« auf und versuche es auf Humboldt – und auf sein Erbe – anzuwenden. Ich kann mich dabei auf Humboldt selbst berufen; denn sein Werk ist reicher und vielfältiger als das wenige, was davon unmittelbar in die Bildungspolitik und Bildungsgeschichte eingegangen ist. Ich möchte das abschließend an drei zentralen Begriffen seines Denkens zeigen: Staat – Bildung – Sprache. 1. Von Humboldts Staatsbegriff weiß man – oder glaubt es doch zu wissen –, daß er extrem liberal, ja libertär gefaßt ist, vor allem in seiner Jugendschrift, den »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« (1792). In der Tat herrschen hier gegenüber dem älteren Staatsbild einer treusorgenden, um alles sich kümmernden Obrigkeit deutlich andere Akzente vor. Der Staat hat sich bei Humboldt aus der unmittelbaren Sorge für das Heil, das Wohl des Menschen zurückgezogen – er ist nicht mehr jener öffentliche PräzepA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

119

Hans Maier

tor, jener »um die Kirche vermehrte Staat«, wie er sich vor allem in den reformatorischen Gebieten Deutschlands unter dem Einfluß Melanchthons und der evangelischen Fürsten seit dem 16. Jahrhundert entwickelt hatte. Dennoch bleiben ihm wichtige, ja entscheidende Aufgaben: er ist friedenstiftende Instanz, Wahrer der Rechtsgleichheit der Bürger, er hat das Gewaltmonopol und verhindert Selbstjustiz, er sichert Freiheit und Eigentum der Bürger. Dabei besteht zwischen dem Staat und der sich bildenden Gesellschaft aus Individuen ein Wechselverhältnis: der Staat kann sich nur dort aus seinen Aktivitäten zurückziehen, wo seine Aufgaben selbst in die Psyche des Bürgers, in die Eigenverantwortung aller eingegangen sind. Deregulierung des Staats, Selbstregulierung der Gesellschaft – beides hängt vom erreichten Reifegrad der Individuen ab, die zusammen das gemeine Wesen bilden. 2. So wird Bildung des einzelnen zu einer zentralen öffentlichen Aufgabe – und man versteht, weshalb Humboldt, der Liberale, zugleich ein aufklärerischer Erzieher, ja ein Zuchtmeister der Schulpflicht und Wissenschaft geworden ist – auch einer, der das Ethos des Staatsbeamten als eines Erziehers in klassischen Worten umschrieben hat: »Nichts ist so wichtig bei einem höheren Staatsbeamten, als welchen Begriff er eigentlich nach allen Richtungen hin von der Menschheit hat, worin er ihre Würde und ihr Ideal im ganzen setzt, mit welchem Grade intellektueller Klarheit er es sich denkt, mit welcher Wärme er empfindet; welche Ausdehnung er dem Begriff der Bildung gibt, was er darin für notwendig, was nur gewissermaßen für Luxus hält; wie er sich die Menschheit in concreto vorstellt, welchen Grad der Achtung oder Nichtachtung er für die niederen Volksklassen hegt, wie er bürgerlich gesinnt ist, den Menschen mit Gleichgültigkeit in der Staatsform untergehen oder im Gegenteil diese sich in der Freiheit der Individuen auflösen sieht, ob er Erziehung und Religion eine positive bildende Kraft zutraut oder sie nur für Stoffe hält, an denen der Mensch immer weitergelangt, weil er sich an ihnen versucht, wie sie auch behandelt werden mögen; wie es endlich mit seinem Glauben an und seiner Lust zur Umbildung seiner Nation steht, ob er den Feuereifer des Reformators oder nur den starken Willen treuer Pflichterfüllung nach strengen Grundsätzen oder Lust am Experimentieren hat, bei dem am meisten nur der Experimentator selbst gewinnt, wie endlich alle diese Ansichten in ihm zusammenhängen, ob sie auseinander selbst entstanden, oder zusammengerafft sind, als Maximen stehen geblieben oder zu 120

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz

Prinzipien erhoben, auch angeschaut und empfunden? Dadurch bestimmt es sich, ob ein Mensch konsequent oder inkonsequent, hoher oder gemeiner Natur, borniert oder liberal, einseitig oder vielseitig ist, und zuletzt, ob es ihm mehr auf den Gedanken, oder mehr auf die Wirklichkeit ankomme, oder ob er, was die Ansicht des großen Staatsmannes ist, von der Überzeugung durchdrungen wird, daß das Ziel nur dann erreicht ist, wann der erstere der Stempel der letzteren geworden ist« 7 . Was aber ist Bildung für Humboldt? Nichts anderes als die Kraft, wozu »Nationen und Einzelne sich emporarbeiten«, die Entfaltung der »Denk- und Empfindungskräfte der Menschen« im Aufeinanderwirken von Welt und Individuum. Und zwar bringt der Mensch die Kraft der Bildung selbsttätig und spontan aus sich selbst hervor. Bildung ist nichts, was eines Tages abgeschlossen ist, sie hat kein Endziel, sie erreicht keinen Endpunkt und Stillstand. Wie die Sprache ist sie kein Werk, sondern eine Tätigkeit – nicht Ergon, sondern Energeia, wie die berühmte Unterscheidung lautet. Sie ist auch nicht nur intellektuelle Bildung, sondern das gesamte geistige und sittliche Streben, ebenso den Verstand berührend wie das Gefühl und die Empfindungskraft. Auch die Praxis spielt hier eine Rolle – so wenig Humboldt ihr als Schulreformer eine eigenständige Stellung zugedacht hat (hier war er noch ganz vom Kampf gegen die Schulen der Frühaufklärung und ihrem Pragmatismus in Anspruch genommen). 3. Alle Bildung faßt sich zusammen in der Sprache – in jenem »unendliche[n] Gebrauch endlicher Mittel«, in dem der Mensch seine raumzeitlichen Bedingungen und Beschränkungen transzendiert. Während das Tier aus seinem geschlossenen Lebensraum nicht heraustreten kann, kann der Mensch mittels der Sprache die Sinneseindrücke, die auf ihn einströmen, ordnen und strukturieren. Er kann der Welt gegenübertreten, sie formen und verändern und sich so von den Naturgegebenheiten emanzipieren. Der Besitz der Sprache ist das Spezifische der Gattung Mensch. Sprache ermöglicht Gesellschaft, indem sie die Menschen in einem stetigen, nie abgeschlossenen Prozeß zusammenführt. Sprache ermöglicht auch Kultur, da sie als überindividueller Besitz Zeiten und Generationen miteinander verbindet. Die Sprache »inHumboldt, Wilhelm von, Werke in 5 Bdn, ed. Flitner, A./Giel, K., Bd. IV, Darmstadt, 1964, p. 83 ff.

7

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

121

Hans Maier

dividualisiert und vergesellschaftet den Menschen gleichermaßen. Im sprachlichen Zugriff auf die Welt erkennt sich der Mensch als von ihr geschiedenes Subjekt: Er nimmt seine Umgebung immer auf seine ihm eigentümliche Weise wahr und eignet sie sich nach Maßgabe seiner sprachlich vermittelten Erfahrungen denkend an. (…) Insofern ist die Sprache nicht ein (›erfundenes‹) Mittel des gesellschaftlichen Verkehrs der Individuen, sondern Voraussetzung desselben. Mit seinem Sprachbesitz ist zugleich die gesellschaftliche Natur des Menschen definiert« 8 . Die Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts ist stets als seine eigentliche wissenschaftliche Leistung betrachtet worden. Wie sehr sie auch seinen Bildungsbegriff trägt und bestimmt, wird uns erst heute deutlicher bewußt. Der Bildungspolitiker und Bildungsreformer Humboldt ist längst eine historische Figur geworden. Der Sprachphilosoph dagegen, meine ich, ist heute ganz unmittelbar gegenwärtig. In Humboldts Schul- und Hochschulpolitik wäre heute vieles zu korrigieren und zurechtzurücken – wie unangemessen das wörtliche Fortschreiben seiner Prinzipien ist, haben die sechziger und siebziger Jahre genügend ans Licht gebracht. Vom Sprachphilosophen aber könnte man lernen, was heute besonders nottut: einen Begriff von Bildung wiederzugewinnen, der resistent ist gegen die Expansion der Stoffe und Inhalte, gegen die enzyklopädische Häufung des Wissens, gegen den aus Bild- und Tonmedien täglich sprudelnden Informationsüberfluß: Bildung als geprägte persönliche Form, Bildung als Orientierung, Bildung als »Ordnung der Vorstellungswelt« (Theodor Wilhelm). Das Bildungswesen muß heute nicht mehr so vieles zeigen, erklären, veranschaulichen wie früher. Die Medien, das Internet bringen die Welt ins Haus. Stoffliche Kunde ist vielfach abrufbar geworden. Die Defizite liegen anderswo. So erzeugt der Überfluß an Informationen ein erhöhtes Bedürfnis nach Orientierung, nach der Übung und Erprobung von Denk- und Urteilsfähigkeit. Und ganz entscheidend wichtig wird die Ausbildung eines Sensoriums für Primärerfahrungen – als Gegengewicht zu der von den Medien vermittelten sekundären Realität. Das alles ist nicht möglich ohne Sprachfähigkeit – und so wird es zur wichtigsten Aufgabe des künftigen Bildungswesens werden, spreOstermann, Rainer, Die Freiheit des Individuums – Eine Rekonstruktion der Gesellschaftstheorie Wilhelm von Humboldts, Frankfurt/New York, 1993, p. 104.

8

122

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Bildungsreformen in Ost und West – Versuch einer Bilanz

chen zu lehren und Sprache zu pflegen. Sprache ist im Zeitalter des isolierten Individuums und der weltweit operierenden Medien keine selbstverständliche gesellschaftliche Mitgift mehr. Wer lehrt sie, wer gibt sie weiter? Das Elternhaus? Es verstummt heute nur zu oft vor Fernsehbild und Disco-Ton. Die Straße? Es gibt sie als Kommunikationsraum junger Menschen kaum mehr – müssen doch in den Städten junge Menschen von »Schülerlotsen« – nomen est omen! – durch die Schluchten und Klippen des Verkehrs geführt werden. Internet? Die elektronisch vernetzten globalen Schneckenhäuser sind oft das genaue Gegenteil von Kommunikation. Wie soll zwischen ihnen eine gesellschaftliche Gesamtverantwortung entstehen? Wo aber die sprachliche Verbindung fehlt, die aus Individuen Gesellschaft macht, da bewegt sich auch die Politik im luftleeren Raum. So muß wohl oder übel das Bildungswesen die Aufgabe übernehmen, die diffusen und bruchstückhaften Vorstellungen von Welt und Leben in den Köpfen junger Menschen zu einem Ganzen zu ordnen: indem sie sie zur Sprache bringt. Es gibt heute keine andere Möglichkeit, den Weg vom Privaten zum Öffentlichen, vom Individuum zur Gesellschaft freizulegen. Niemand kann dem Bildungswesen diese schwierige, fast unlösbare Aufgabe abnehmen – auch im »nachgutenbergischen Zeitalter« nicht. Aber vielleicht könnte Humboldt, der Sprachphilosoph, hier Anregungen und Hilfen bieten. Es wäre jedenfalls, meine ich, ein nützlicherer Gebrauch als jener, den man vor dreißig, vierzig Jahren in den ersten Zeiten der Bildungsreform von seiner Bildungsidee gemacht hat.

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

123

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität 1 Julian Nida-Rümelin (München)

Die Erfolgsgeschichte der deutschen Reformuniversität im 19. Jahrhundert beruhte auf den neuhumanistischen Bildungsidealen, die ihren historischen Ausgang im Streit der Fakultäten bei Immanuel Kant hatten und in die konkreten Universitätskonzeptionen Schleiermachers und Wilhelm von Humboldts mündeten. Die Umsetzung dieser Bildungsideale im 19. Jahrhundert verlagert den Schwerpunkt der Universität von der Ausbildungsstätte für drei akademische Berufe – Theologen, Juristen und Mediziner – zum Zentrum der Wissenschaft, der Wahrheitssuche. Das vielleicht wichtigste Merkmal dieses Prozesses – und an das sollte man angesichts der aktuellen Veränderung der europäischen Universität erinnern – ist, daß mit dieser Verlagerung des Schwerpunktes, ja, des identitätsstiftenden Merkmals der deutschen Reformuniversität und dann der europäischen Universität insgesamt zur Wissenschaft als solcher, zu Forschung um ihrer selbst willen, ein Innovationsschub ausgelöst wird, der zunächst die Philosophische Fakultät zur obersten Fakultät macht, aus der wie in einer Kaskade das Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen hervorgeht, das wir heute kennen: Von der Mutterwissenschaft der Philosophie lösen sich zunächst die Naturwissenschaften mit eigenständigen Forschungsparadigmen und Untersuchungsmethoden ab, dann die Geisteswissenschaften, dann die Sozialwissenschaften. Dieser Prozeß erreicht ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt, kann aber bis heute nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Der Zellteilungsprozeß von Subdisziplinen und die Rolle der Philosophie als Mutterwissenschaft ist nicht lediglich eine historische Reminiszenz. So ist die Logik als eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die heute meist von Mathematikern be-

Dieser Text beruht auf dem freien Vortrag des Verfassers, der mündliche Sprachstil wurde beibehalten. Der Text wurde von Mara-Daria Cojocaru redigiert.

1

124

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

trieben wird, ein Produkt der Veränderungen innerhalb der Philosophie Anfang des 20. Jahrhunderts. Weite Bereiche linguistischer Forschung gehen aus den neuen sprachphilosophischen Paradigmen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts hervor (Wittgensteinsche SprachspielGrammatik, Austinsche Sprechakt-Theorie als Quellen für linguistische Situations-Semantik und sozialwissenschaftliche BedeutungsTheorie). Dieser philosophisch initiierte Zellteilungsprozeß, der vor 200 Jahren beginnt, verschafft der Wissenschaft eine ungeahnte technologische, ökonomische, soziale und kulturelle Relevanz. Der wohl größte Irrtum aktueller Instrumentalisierungstendenzen der Wissenschaft ist, daß diese unter ökonomischen oder sozialen Zwecken gesteuert werden müsse, um technologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Fortschritt zu generieren. Die historische Erfahrung lehrt das Gegenteil. Die Instrumentalisierung der Akademia durch staatliche, klerikale und ökonomische Zwecke hat das Innovations-Potential der Wissenschaft stets blockiert. Das Ende dieser Instrumentalisierung ist zugleich historisch gesehen das Ende dieser Blockade und leitet eine wissenschaftlich-technische europäische Zivilisation ein, deren Produktivität nicht nur in ökonomischer Hinsicht erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzt und zu einer einmaligen ökonomischen Dominanz führt, die erst in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts gebrochen wird und wohl in diesem Jahrhundert zu Ende gehen wird. Die neue europäische Universität nach Humboldtschem Muster spielte für diese Entwicklung eine Schlüsselrolle. Die Grundlage dieses Erfolgs ist ein erkenntnistheoretischer, anthropologischer und ethischer Humanismus, dessen Grundzüge ich nun nicht in historischer Absicht – dies war Gegenstand anderer Vorträge dieses Symposions – sondern systematisch zu klären versuche. Ich muß mich darin kurz fassen. 2

Wer sich für die Details dieser Argumentation interessiert, muß an meine beiden rationalitätstheoretischen Monographien – Kritik des Konsequentialismus (1993, 2 1995) und Strukturelle Rationalität (2005) – sowie die Überlegungen zur spezifischen menschlichen Freiheit – Über menschliche Freiheit (2005) – und die Zusammenstellung von bildungs- und kulturpolitischen Reden in Humanismus als Leitkultur (2006) verwiesen werden.

2

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

125

Julian Nida-Rümelin

Grundelemente des Humanismus Im folgenden beschränke ich mich darauf, die wichtigsten Elemente humanistischen Denkens zusammenzustellen, die nicht erst für die bildungspolitischen Reformen des 19. Jahrhunderts in Deutschland ausschlaggebend waren, sondern über die gesamte europäische Bildungsgeschichte in unterschiedlichem Maße und unterschiedlicher Gewichtung Wirksamkeit hatten. Das wohl wichtigste Element ist die anthropologische These, daß der Mensch eine besondere Spezies ausmache, die die spezifische Fähigkeit habe, sich von Gründen affizieren zu lassen, das heißt, die ihre Überzeugungen und ihre Handlungen, auch ein Gutteil ihrer Emotionen an den besseren Gründen orientiere. Die Autonomie der Person, das, was in der vollendeten philosophischen Gestalt in der praktischen Philosophie Kants seinen Ausdruck findet, ist nicht über Wünsche, sondern über Gründe konstituiert. Es ist nicht die Kohärenz der Wünsche, und sei es unter Einschluß von Wünschen zweiter Ordnung 3 , die die Person konstituiert, sondern die Gründe, die sie abwägt, die praktischen, wie theoretischen Deliberationen, die zu Entscheidungen und Urteilen führen. Der locus classicus ist für mich der Theaitetos-Dialog von Platon, in dem die bloße Wortstreit-Kunst und die Instrumentalisierung der Fähigkeit guten Urteils für Zwecke der Macht und der Ökonomie zurückgewiesen werden. Es geht um die begründete und zugleich wahre Meinung, die Fähigkeit, gute Gründe von schlechten zu unterscheiden, die Geduld und die Geisteskraft, sich auf das bessere Argument einzulassen. Die ethische Dimension in Gestalt gleichen Respekts, gleicher individueller menschlicher Würde, gleicher Selbstachtung 4 ist von der theoretischen, der Fähigkeit zur Deliberation, nicht zu trennen. Dies philosophisch auf den Begriff gebracht zu haben, ist das größte Verdienst Immanuel Kants. Humanistisches Denken ist immer universalistisch: Es nimmt den Menschen, unabhängig von seiner Hautfarbe, seiner Religion, seinem Geschlecht, seiner Herkunft in den Blick und schreibt ihm die gleiche Fähigkeit zur Verantwortung, zur Deliberation, zur Freiheit, zur AutoCf. Frankfurt, Harry, Freedom of the Will and the Concept of a Person. In: Journal of Philosophy, Vol. 68, No. 1. (Jan. 14, 1971), p. 5–20. 4 Cf. Verf., Über menschliche Freiheit, Stuttgart, 2005, Kap. V. 3

126

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

nomie zu. Dieser Universalismus ist vereinbar mit der Anerkennung partikularer Prägungen, der Kultur, der sozialen Gemeinschaft, der Herkunft, auch mit besonderen Kooperationspflichten, die sich aus diesen partikularen Bindungen ergeben. Ein Thema, das für die kulturalistischen Varianten des Neuhumanismus im 19. Jahrhundert, für das spannungsreiche Verhältnis von Hegel und Kant zentral geworden ist. Humanistisches Denken ist immer auch empathisch: Es weiß um die Beschränktheit der eigenen Perspektive und verlangt, sich in die andere Person hineinzuversetzen, um Verständigung möglich zu machen. Empathie hat dabei nicht nur eine praktische, sondern auch eine theoretische Dimension. Und schließlich ist humanistisches Denken inklusiv; es bezieht alle ein, die an der Verständigung teilhaben wollen und teilhaben können. Die Poppersche Wissenschaftsethik 5 ist eine moderne Fassung dieses inklusiven Verständnisses von Wissenschaft: Wissenschaft ist immer kritisch, sie strebt nach dem besseren Verständnis über den Versuch verbreitete wissenschaftliche Meinungen zu widerlegen. Wissenschaft bezieht dabei alle ein, die einen Beitrag leisten können. Die Wahrscheinlichkeit zu einer guten Theorie zu gelangen, wird größer, je mehr an diesem Unternehmen beteiligt sind. Wissenschaft kennt zumal keine nationalen oder kulturellen Grenzen. Sie bedient sich einer universellen Sprache, die – in vielen Fällen vermittelt durch Übersetzungen – allen prinzipiell zugänglich ist. Wissenschaft ist nicht gebunden an eine Sprache und eine Kultur.

Zum humanistischen Persönlichkeitsideal Das humanistische Persönlichkeitsideal verlangt daher nach einer Distanzierung vom persönlichen Standpunkt. In der Ethik schlägt sich dies vielfältig nieder, etwa in der Konzeption eines unparteiischen Beobachters oder in der Gleichbehandlung aller individuellen Interessen in Gestalt utilitaristischer Konzeptionen oder in der universellen Geltung ethischer Prinzipien in deontologischen Konzeptionen. Ich spreche hier bewußt von »Wissenschaftsethik«, da der kritische Rationalismus Poppers als Beschreibung des für die Wissenschaft konstitutiven Ethos von großer Bedeutung ist, während der Anspruch, damit die Praxis wissenschaftlicher Forschung umfassend und treffend beschrieben zu haben, zahlreichem Zweifel ausgesetzt ist.

5

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

127

Julian Nida-Rümelin

Die äußeren Unterschiede relativieren sich angesichts der je individuellen Teilhabe an einer inklusiven Verständigungsgemeinschaft. Das Trennende der Nation, der Sprache und der Kultur erscheint aus einer humanistischen Perspektive als relativ. Die Einheit der Person wird durch die Kohärenz ihrer Deliberationen und die Kohärenz der daraus sich ergebenden Lebens- und Urteilspraxis gestiftet. Mit sich im reinen zu sein, sich als Autor des eigenen Lebens zu empfinden, ist ein humanistisches Postulat. Die Lebenskunst-Tradition philosophischen Denkens aus der Antike lebt vor allem im Frühhumanismus der italienischen Renaissance, aber auch im deutschen Neuhumanismus des 19. Jahrhunderts fort. Aufklärung ist die eigene Befreiung aus »selbstverschuldeter Unmündigkeit«. Die je gegebenen kulturellen und sozialen Spezifika, die Besonderheiten der Herkunft, der Genetik und des Geschlechts entheben den einzelnen nicht seiner Verantwortung für das eigene Leben, für die eigenen Überzeugungen und Handlungen, für die Verständigung und die Interaktion. Die Lebensform ist nicht einfach gegeben, sondern zu wesentlichen Teilen bestimmt, selbstbestimmt, autonom. Insofern ist Verantwortlichkeit, ein historisch junger Begriff, zentral für humanistisches Denken überhaupt. Die individuelle Verantwortlichkeit ist eingebettet in eine öffentliche und private Kultur der Deliberation, die der staatlichen Förderung bedarf. Daraus ergeben sich drei Forderungen für humanistische Bildungspolitik: 1. Die Autonomie der Bildungsinstitutionen, als äußerer Ausdruck innerer Freiheit, der Freiheit von Forschung und Lehre. 2. Der allgemeine, inklusive Zugang zu öffentlichen Bildungseinrichtungen und damit deren staatliche Finanzierung. Eine staatliche Finanzierung, die inhaltliche Askese verlangt – ein Paradoxon, das sich der preußische Staat gemäß den Empfehlungen Wilhelm von Humboldts weitgehend zu eigen machte. 3. Die Bildungsinstitutionen in staatlicher Verantwortung als Zentrum der nationalen Kultur, als Gegenstand des Stolzes, als Form nationalstaatlicher Repräsentation, als Beitrag zur nationalen Kulturentwicklung. Die Universitäten, ja auch die Gymnasien des 19. Jahrhunderts zeugen von diesem humanistischen Verständnis der Rolle nationaler Bildungsinstitutionen.

128

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

Zur Einheitsstiftung der modernen europäischen Universität Die moderne europäische Universität beruht auf humanistischen Bildungsidealen, nimmt von der berufsbildenden mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universität Abschied, stellt das Erkenntnisinteresse und die Idee der Persönlichkeitsbildung durch Forschung in den Mittelpunkt. Sie stiftet damit eine Einheit von Forschung und Lehre. Die Lehre bildet nicht aus, sondern vermittelt die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten, um am Prozeß der Forschung teilzuhaben. Die Forschung ist nicht abgelöst von der universitären Lehre, sondern erarbeitet ein neues Verständnis, neue Gegenstände des Wissens, neue empirische Methoden, die dann in die Lehre einfließen. In der Gestalt des neuen Professors, des Bekennenden der europäischen Universität, wird die Einheit von Forschung und Lehre in Gestalt eines spezifischen beruflichen Ethos gestiftet. Der Professor bekennt sich und bindet sich damit. Er bindet sich damit an ein spezifisches Projekt des gemeinsamen und arbeitsteiligen Unternehmens Wahrheitssuche. Dieses spezifische Projekt wird in der Venia verbindlich festgehalten. Die Venia wird ihm vom Kollegium seiner Fakultät verliehen. Zu diesem spezifischen Ethos gehört die Bindung über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Forschenden und Lehrenden, die Kooperationspflichten, die sich daraus ergeben einerseits und die Freiheit der Wahl der spezifischen Gegenstände der Forschung und Lehre andererseits. Diese Freiheit, diese Autonomie kann nur gewährt werden, wenn sie mit einer entsprechenden Verantwortung wahrgenommen wird, die die Gemeinschaft der autonom Lehrenden und Forschenden stiftet. Über das gesamte 19. Jahrhundert und bis in das 20. Jahrhundert hinein wurde versucht, darüber hinaus eine Einheit der Wissenschaft als Ganzer durch hierarchische Strukturen wissenschaftlicher Disziplinen und Subdisziplinen aufrechtzuerhalten. Dieses Projekt, an dessen Spitze die Philosophie stand und das eine spezifische Einseitigkeit des Neu-Humanismus zum Ausdruck bringt – ganz im Gegensatz zum Frühhumanismus der Renaissance oder gar zum antiken Humanismus der griechischen Klassik –, kann heute als gescheitert gelten. Die Dominanz der Geistes- über die Naturwissenschaften, ja, die innere Strukturierung etwa der Geisteswissenschaften nach Ordnungsprinzipien ist einer Campus-Struktur mit immer wieder neu sich entwickelnden Feldern der Forschung und der Lehre gewichen. Die Philosophie hat allerdings ihre Rolle als Einheit stiftende Disziplin in meinen Augen daA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

129

Julian Nida-Rümelin

durch nicht verloren – im Gegenteil: da ihre Kategorisierungen und Begriffsklärungen nicht am Anfang der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen stehen, ist ihre Aufgabe schwieriger geworden, die einzelnen Forschungsergebnisse kohärent zusammenzuführen, zu einem wissenschaftlichen Weltbild beizutragen, zwischen den unterschiedlichen Terminologien und Methoden der Einzelwissenschaften zu vermitteln und immer wieder neu ein humanistisches Menschenbild in ein wissenschaftlich verfaßtes Weltbild einzupassen. 6

Neue Herausforderungen des Wissenschaftsethos Dieses interne Wissenschaftsethos, das ganz auf epistemischer Rationalität beruht, das dem besseren Argument zum Durchbruch verhelfen will, das alle einbezieht, die an der wissenschaftlichen Kommunikationsgemeinschaft teilhaben, das Studierende als Partner und nicht mehr als Schüler behandelt, muß durch ein Ethos praktischer Rationalität angesichts der engen Verbindung von wissenschaftlicher Grundlagenforschung einerseits und technischer sowie ökonomischer Anwendung andererseits ergänzt werden. Die strikte Trennung wissenschaftlicher Grundlagenforschung, die zweckfrei zu geschehen hat, von deren Fruchtbarmachung, etwa in Technik und Ökonomie, läßt sich immer weniger aufrechterhalten. Die Verbindungen sind aus einer Reihe von Gründen enger geworden; zu diesen Gründen gehört, daß ein Gutteil der Grundlagenforschung große finanzielle Mittel erfordert, die aus den Universitäten selbst heraus meist nicht mehr geleistet werden können. Hinzu kommt, daß die praktischen Implikationen der Anwendung wissenschaftlicher Grundlagenforschung ohne Beteiligung der Wissenschaft selbst schwer abgeschätzt werden können. Die Wissenschaft hat zunehmend also auch eine externe Verantwortung, so daß das interne Ethos epistemischer Rationalität durch ein externes VerantworDie interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Humanprojekt« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hat sich einen zentralen Aspekt dieser Aufgabe zum Ziel gesetzt, nämlich zu prüfen, welche Implikationen sich aus den jüngsten biologischen und neurowissenschaftlichen Forschungen für unser Menschenbild ergeben und eben die Einpassung eines humanistischen Menschenbildes in ein wissenschaftlich verfaßtes Weltbild zu leisten. Bei de Gruyter erscheinen die Ergebnisse dieser Erörterungen in einer neuen Buchreihe »Humanprojekt«, herausgegeben von Detlev Ganten, Volker Gerhardt und Julian Nida-Rümelin.

6

130

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

tungsethos komplettiert werden muß. Damit entsteht eine neue Begründungs- und Transferproblematik. Eine Begründungsproblematik insofern, als die Wissenschaft sich gegenüber einer breiteren, auch politischen Öffentlichkeit zu verantworten hat und dies in einer Sprache geschehen muß, die die disziplinären Grenzen des eigenen Fachs überwindet. Die Wissenschaft ist aufgerufen, dazu beizutragen, daß ihre Ergebnisse Eingang in die technische, ökonomische, soziale und kulturelle Praxis finden. Die Wissenschaft als Ganze hat mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen – um die nicht unproblematische Sprache der Systemtheorie zu verwenden – zu kooperieren. Im Hinblick auf ihre Finanzierung durch Steuergelder und Drittmittel aus anderen Ressourcen und hinsichtlich ihrer zentralen Rolle für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung. Das, was neudeutsch mit public understanding of science bezeichnet wird, muß zu einem integralen Bestandteil des Wissenschaftsethos werden und darf sich nicht auf die Naturwissenschaften beschränken. Die Wissenschaftspublizistik hat die verantwortungsvolle Rolle, wissenschaftliche Forschungsergebnisse einem breiteren Publikum nachvollziehbar zu machen, irrationale Ängste abzubauen, aber auch auf Gefährdungen durch wissenschaftliche Forschungen und ihre Anwendung hinzuweisen. Kurz, das wissenschaftsinterne Verantwortungsethos, das im wesentlichen epistemische Rationalität sichert, muß durch ein externes Verantwortungsethos ergänzt werden. 7

Komplettierung statt Abbruch Das alte humanistische Wissenschaftsideal der Wahrheitsorientierung und der Einheit von Forschung und Lehre, das die Führungsrolle der deutschen Reformuniversität europa- und schließlich weltweit für einige Jahrzehnte sicherte, ist nicht obsolet. Es bedarf der Komplettierung, nicht des Abbruchs, gar in Gestalt einer Rückkehr zur mittelalterlichen Ausbildungsstätte, zur Stätte der Konditionierung, der bloßen Methodenvermittlung ohne Erkenntnisanspruch, der bloßen Vermittlung von Fähigkeiten, nicht von Einsichten, der Abrichtung, nicht der Bildung. Cf. hierzu ausführlicher: Verf., Wissenschaftsethik. In: id., (ed.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart, Kröner 20052 .

7

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

131

Julian Nida-Rümelin

Bologna-Irrtümer Insofern gefährdet der vor 10 Jahren eingeleitete Bologna-Prozeß die Substanz der europäischen Universität, auch wenn seine ursprünglichen Ziele durchaus im Einklang mit den hier skizzierten humanistischen Bildungsidealen waren. Ich illustriere diese Gefährdungen anhand von fünf Fehlentwicklungen, die ich jeweils als Bologna-Irrtum bezeichne, da diese Fehlentwicklungen im Rahmen des Bologna-Prozesses auftreten, unabhängig davon, ob sie den ursprünglichen Intentionen der Bologna-Autoren entsprechen oder nicht. Der erste Bologna-Irrtum besteht in der Unterscheidung von Berufsfeld- gegenüber wissenschaftsorientierten Studiengängen. Die Grundidee der humanistischen Reformuniversität war ja gerade, daß dieser Gegensatz nicht besteht, daß Forschungs- und Wissenschaftsorientierung per se auch eine Berufsqualifizierung mit sich bringt, daß sie die Persönlichkeitsbildung fördert, Entscheidungsfähigkeit und Urteilskraft vermittelt, die dann auch außerhalb akademischer Berufe eine erfolgreiche Praxis ermöglicht. Es ist ein grober historischer – wie systematischer – Irrtum, zu meinen, daß die Wissenschaftsorientierung der Humboldtschen Reformuniversität darauf gerichtet war, lediglich wissenschaftlichen Nachwuchs zu produzieren. Die Neuhumanisten waren vielmehr davon überzeugt, daß die Konfrontation mit der Forschung für einige Jahre des Lebens eine Persönlichkeitsentwicklung ermögliche, die dann auch außerhalb akademischer Berufe zu erfolgreicher Verantwortungsübernahme befähigt. Es gibt hinreichend viele empirische Untersuchungen, die diese Idee stützen. Der eminente Erfolg der Geisteswissenschaften seit dem Verlust ihrer fast ausschließlichen Orientierung am Beruf des Gymnasiallehrers im Verlaufe der letzten drei bis vier Dekaden ist einer dieser Belege. Während die damaligen Bildungsexperten ein akademisches Proletariat befürchteten, stellte sich heraus, daß die vielen, die nun den neu geschaffenen geisteswissenschaftlichen Magisterabschluß anstrebten, erstaunlich problemlos in der Berufswelt integriert werden konnten. Die in der gleichen Zeit von der Wissenschaftspolitik hingenommene massive Überlastung, insbesondere der geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge, wurde in einer Art Notwehrreaktion der Universitäten mit einer schwach ausgeprägten Strukturierung und Betreuung der Studierenden beantwortet. Dies hat in der Tat zu skandalös hohen Abbrecherquoten in einer Vielzahl von geistes- und sozialwissenschaft132

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

lichen Studiengängen geführt und die Berufsfähigkeit insofern beeinträchtigt. Daß diesem Mißstand abgeholfen werden mußte, liegt auf der Hand. Der vernünftigste Weg, diesem Mißstand abzuhelfen, hätte in einer deutlichen Anhebung der staatlichen Ausgaben für die Universitäten und dem massiven Ausbau der Fachhochschulen bestanden, um eine adäquatere Verteilung der Studierenden auf stärker anwendungsbezogene und verschulte Studiengänge zum einen und auf stärker forschungsorientierte zum anderen zu ermöglichen. Stattdessen wird nun ein Teil der Universitäten zu einer Art Berufsakademie umgebaut, die in ihren wissenschaftlichen Ansprüchen in der Regel deutlich unter den bisherigen Fachhochschulstudiengängen liegt, und für die weder die Lehrenden, noch die institutionellen Strukturen der Universitäten in Deutschland geeignet sind. Hier werden Fehler der Wissenschaftspolitik, die zum Teil in die späten 60er und 70er Jahre zurückreichen, in einer Weise korrigiert, die zumindest für die Geisteswissenschaften den Schaden noch vergrößert. Der zweite Bologna-Irrtum besteht in dem hohen Maß an Verschulung der Bachelor-Studiengänge, das offenbar in der Praxis der Umstellung deutscher Universitäten auf modularisierte Studiengänge im europäischen Vergleich besonders ausgeprägt ist. Dies bedeutet die Aufhebung der Einheit von Forschung und Lehre und die massive Einschränkung der Forschungsfreiheit, das heißt der Autonomie von Kunst, Forschung und Wissenschaft, wie es im Grundgesetz Art. 5 festgeschrieben ist. Diese Verschulung bedeutet für unterschiedliche Wissenschaftskulturen in den einzelnen Disziplinen sehr Verschiedenes. Während ein Studium der Philosophie ohne viele Stunden in den Bibliotheken kaum denkbar ist, ist umgedreht ein Physikstudium mit dem Zwang Bibliotheken schon in den frühen Semestern aufzusuchen, kaum vorstellbar. Für die eine Wissenschaft ist die Verschulung daher gängige Praxis, die erst in den letzten Semestern vor dem Diplom dann für die Doktoranden aufgehoben wird, während Verschulung für die Philosophie, um dieses Beispiel zu nennen, eine verheerende Wirkung auf die Studierenden insgesamt hat. Sie verlernen im Vergleich zu früheren Generationen selbständiges Denken und Arbeiten, sie gewöhnen sich an vorgekaute pdf-Häppchen im Intranet, sie verlieren die Übersicht über die jeweiligen Oeuvres der behandelten Klassiker, sie glauben, daß ein Philosophiestudium in erster Linie in der Aneignung von Wissensstoff und nicht im Selberdenken bestünde. Der deutsche Magister kannte bisher zwei Nebenfächer und war A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

133

Julian Nida-Rümelin

daher generalistisch angelegt. Die gegenwärtig erfolgende hochgradige Spezialisierung ist demgegenüber als dritter Irrweg zu verstehen. Die Regelung des Ein-Fach-Bachelors mit der Möglichkeit, nach dem Bachelor ein anderes Fach zu wählen, das man dann innerhalb von vier Semestern mit einem Master abschließt, zerstört gerade die Stärken der europäischen Universität gegenüber der amerikanischen. Es war immer schon ein Mißstand der US-amerikanischen Universitäten, einschließlich der Spitzenuniversitäten, daß die Studierenden dort etwa Classics studierten, ohne griechische und lateinische Originaltexte lesen zu können, daß sie über Immanuel Kant Doktorarbeiten schrieben, ohne Kant im Original zu verstehen, daß sie Kunstgeschichte ohne Italienisch studierten, kurz, daß sie kurzatmig, aber in hohem Maße spezialisiert zu arbeiten gewöhnt waren. Dies ist einer der Gründe, warum bis vor kurzem der europäische, speziell der deutsche oder französische Magister weit mehr galt als ein vergleichbarer US-amerikanischer Masterabschluß. Ja, bis in die 70er Jahre hinein galt die Regel, daß der wirklich anspruchsvolle geisteswissenschaftliche Doktortitel nur an europäischen Universitäten, nicht an US-amerikanischen erworben werden konnte. Die aktuelle Zerstörung dieses »Standortvorteils« der europäischen Universität ist nicht nur mutwillig und beruht vermutlich auf Unkenntnis der internationalen Situation, sondern bricht mit dem humanistischen Ideal der Persönlichkeitsbildung an der Universität. Der vierte Bologna-Irrtum besteht in der zwangsläufigen Konventionalisierung der Lehrinhalte, die sich etwa aus den detaillierten Modulbeschreibungen ergeben. Wer in Modulbeschreibungen die Lehrziele und möglicherweise noch die relevante Literatur festschreibt, der verhindert genau das, was den Kern der modernen europäischen Universität ausmachte, nämlich die konstitutive Rolle eigener Forschungserfahrungen für die Lehre. Wenn es egal wird, welche Professoren welche Lehrveranstaltung in welchem Modul anbieten, weil die Inhalte jeweils festgelegt sind, dann kann es notwendigerweise keinen Zusammenhang mehr zwischen den aktuellen Forschungs- und Publikationsprojekten und der jeweils angebotenen Lehre geben. Die Zeiten wären endgültig vorbei, die es erlaubten, sich bei seinen Studierenden für die zahlreichen Anregungen, die in die letzte Monographie eingeflossen sind, zu bedanken – zum Nachteil der Autoren, aber auch zum Nachteil der Studierenden. Der hier als letzter genannte Bologna-Irrtum äußert sich in der 134

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

Neuverteilung von Lehr- und Forschungspflichten, die den einen das Privileg (?) der Konzentration auf die Forschung in Gestalt von Forschungs-Professuren und den anderen die Pflicht (?) der bloßen Lehre in Gestalt von Lehr-Professuren zuordnet. Zweifellos war das bisherige System zu starr, es berücksichtigte die auch im biographischen Verlauf sich ändernden Schwerpunktsetzungen der Professoren nur unzureichend. Es gab nicht die Möglichkeit, sich einmal für einige Jahre überwiegend auf die Forschung zu konzentrieren, und insbesondere war das Lehrdeputat für alle im internationalen Vergleich bei weitem zu hoch und wurde bis in die jüngste Zeit noch weiter erhöht. Wissenschaftspolitiker reagierten mit Unverständnis, wenn man sie darauf hinwies, daß neun Wochenstunden für einen Professor während des Semesters bedeuten, daß er, wenn er diese Lehre neben all den administrativen und Betreuungspflichten ernsthaft wahrnimmt, nicht mehr zur Forschung kommt. »Wie können denn neun Wochenstunden in dieser Weise das Zeitbudget in Anspruch nehmen?« war die gängige Rückfrage. »Studienräte unterrichten doch auch über 20 Wochenstunden.« Dies zeigt eben das Mißverständnis, daß die universitäre Lehre nichts anderes sei als eine anspruchsvolle Form des Schulunterrichts. Natürlich kann man auch die universitäre Lehre so gestalten, Zeit sparend und fernab der Forschungsfront. Damit wird man aber dem Geist der modernen europäischen Universität nicht gerecht. Die Wissenschaftspolitik ist unterdessen aufgewacht, sie hat feststellen müssen, daß Berufungen aus dem Ausland, insbesondere dem US-amerikanischen, an deutsche Universitäten regelmäßig an diesem Übermaß an Lehrdeputat scheitern. Man kann es deutlicher sagen: Wenn man US-amerikanischen Kollegen von der Betreuungsrelation berichtet, die an europäischen Universitäten üblich ist, dann können sie sich gar nicht vorstellen, daß daneben noch Forschung stattfindet. Die übliche Größe eines Seminars an guten amerikanischen Universitäten ist acht bis zwölf oder maximal vierzehn Studierende. Das übliche Maß der Lehrverpflichtung: ein bis zwei Seminare für full professors. Die mittelalterliche Regel lautete pro Kolleg ein Tag Vor- und Nachbereitung. Nach diesem Muster kann man zweieinhalb Kollegs pro Woche abhalten, und bindet damit etwa die Hälfte der Arbeitskraft. Wer ernsthaft das Ziel verfolgt, daß nicht nur der wissenschaftliche Nachwuchs, sondern auch die Professoren mindestens die Hälfte ihrer Arbeitszeit der Forschung widmen, sollte auf durchschnittlich zwei Lehrveranstaltungen pro Semester heruntergehen. Jetzt werden neue Stellen geschafA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

135

Julian Nida-Rümelin

fen, die achtzehn Wochenstunden universitärer Lehre vorsehen, die bei Wahrnehmung besonderer Aufgaben auf vierzehn Semesterwochenstunden reduziert werden können – und andere können sich vollständig und auf viele Jahre von der universitären Lehre für die Forschung verabschieden. Dies ist der fünfte gravierende Bologna-Irrtum, den ich hier aufführe.

Zum Scheitern des Bologna-Prozesses Interessanterweise steht die Praxis des Bologna-Prozesses nicht nur im Gegensatz zu den Prinzipien der modernen, humanistisch geprägten europäischen Universität, sondern scheitert auch gemessen an seinen eigenen Zielen.

Erstes Ziel: Förderung der Mobilität der Studierenden Die Förderung der Mobilität der Studierenden in Europa war ein richtiges Ziel des Bologna-Prozesses von Anfang an. Die Einführung des Erasmus-Programms spielte eine Art Vorreiterrolle für den BolognaProzeß, da dieses Programm nur Erfolg haben konnte, wenn die erbrachten Studienleistungen in unterschiedlichen europäischen Ländern auch jeweils wechselseitig anerkannt werden. Die Maßeinheit der ECTS-Punkte und die Vorgabe, in Modulen die jeweiligen Lernziele festzuhalten, sollten diese Vergleichbarkeit sicherstellen und damit die Mobilität der Studierenden erleichtern. An diesem Ziel gemessen ist der Bologna-Prozeß nicht nur in Deutschland, sondern europaweit ein Fehlschlag. Die unterschiedlichen Formen der Modularisierung von Studiengängen, die ganz unterschiedliche Bepunktung mit ECTS, vor allem aber die mit der Umstellung auf modularisierte Studiengänge in den meisten europäischen Ländern – und wie schon gesagt: ganz besonders in Deutschland – einhergehende Verschulung haben die Mobilität nicht gefördert, sondern sogar dramatisch eingeschränkt. Im Rahmen der dreijährigen, zeitlich strukturierten, von Modulen, die wechselseitig aufeinander aufbauen, geprägten Studiengängen ist ein vorübergehender Wechsel an eine andere Universität sehr schwierig geworden, weit schwieriger als zuvor. Wenn hier keine drastische Reform der Reform folgt, ist zu erwarten, daß in Zukunft Studierende vor 136

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

Abschluß ihres B.A. nur in den seltensten Fällen an andere Universitäten wechseln. Die Verteidiger des Bologna-Prozesses halten dem entgegen, daß es ja nicht so sehr auf die horizontale, sondern auf die vertikale Mobilität ankomme, daß es ausreiche, wenn nach dem Bachelor und gegebenenfalls nach dem Master und vor Aufnahme des PhD-Studiums ein Wechsel nicht nur möglich, sondern auch gefördert wird. Angesichts der Tatsache, daß es zumindest das Ziel in Deutschland und in den meisten europäischen Staaten ist, das Gros der Studierenden mit dem Bachelor berufsfertig auf den Arbeitsmarkt zu entlassen, ist diese Verteidigung an Zynismus kaum zu überbieten. Dies hieße nämlich, daß entgegen der ursprünglichen Zielsetzung, den Studierenden an europäischen Universitäten generell Mobilität zu ermöglichen und diese durch unterschiedliche Programme zu fördern, was ganz unabhängig von der späteren Berufstätigkeit von großer Bedeutung ist und auch der Persönlichkeitsentwicklung dient, nun Mobilität neu definiert wird, nämlich auf den Teil der Studierenden eingeschränkt, die ein genuin wissenschaftliches Studium in Gestalt eines M.A.-Studiums fortsetzen und dann als Mitglieder eines Graduierten-Kollegiums die Wissenschaft zum Beruf machen, also zum wissenschaftlichen Nachwuchs gehören. Diese elitäre Einschränkung der Mobilität auf den Teil, der über den Bachelor hinaus weitere akademische Qualifikationen anstrebt, steht nicht nur in deutlichem Kontrast zu den ursprünglich bekundeten Zielsetzungen eines einheitlichen europäischen Hochschulraums mit einem hohen Maße an Mobilität für alle Studierenden, sondern ist auch unter bildungs- und arbeitsmarktspolitischen Gesichtspunkten inakzeptabel. Angesichts der Europäisierung und Internationalisierung des Arbeitsmarktes ist es für alle Studierenden von hohem Wert, während ihres Studiums Freiräume nicht nur der eigenen Lebensgestaltung, sondern auch des Ortswechsels zu haben, um während des Studiums eine Fremdsprache lebensweltlich zu vertiefen und anspruchsvoll kommunizieren zu können. Wenn diese Möglichkeit dem Gros der Akademiker auf Dauer vorenthalten wird, müßte der Bologna-Prozeß als Ganzes als gescheitert gelten. Das Projekt der europäischen Integration kann nur Erfolg haben, wenn die wechselseitige Wahrnehmung der Nachbarkulturen und Bildungstraditionen weit über das heute Übliche hinaus vertieft wird. Eine monozentrische Ausrichtung der europäischen Bildungskulturen auf die USA würde Europa als Ganzes marginalisieren und das Projekt A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

137

Julian Nida-Rümelin

der europäischen Integration auch wissenschaftspolitisch gefährden. Die europäische Wissenschafts- und Bildungstradition ist reichhaltig, sie kann in ihrer Vielfalt und in ihrer Größe, was die Zahl der Studierenden und Lehrenden angeht, mit der US-amerikanischen konkurrieren, mit Schwächen in der Spitze, aber mit Stärken in der Breite. Dies setzt aber voraus, daß die europäische Integration auch für das Gros der Studierenden konkret erfahrbar ist.

Zweites Ziel: Internationale Konkurrenzfähigkeit der Abschlüsse Die bisherigen Studienabschlüsse in Deutschland, insbesondere das Diplom in den Natur- und Technikwissenschaften, sowie der Magister in den geisteswissenschaftlichen Fächern, waren international nicht nur anerkannt, sondern in hohem Maße respektiert. In einer ganzen Reihe geisteswissenschaftlicher Fächer, wie etwa der Geschichte, den Altphilologien, auch der Philosophie, gilt das Studium in Deutschland und die dabei erworbenen oder vorausgesetzten Sprachkenntnisse als besonders anspruchsvoll. Dies schlägt sich auch darin nieder, daß in einigen europäischen Nachbarstaaten es in solchen Fächern empfohlen ist, Deutsch soweit beherrschen zu lernen, daß man deutschsprachige Fachliteratur lesen kann. Fast dreißig Prozent aller Zitationen in den Geschichtswissenschaften beziehen sich auf deutschsprachige Texte. Durch die Verkürzung der Studienzeit in fast allen deutschen Bundesländern bis zur Hochschulreife von dreizehn auf zwölf Schuljahre (Verkürzung des Gymnasiums auf acht) und der Festlegung auf dreijährige Bachelor-Studiengänge – eine Festlegung, die nirgends von den Bologna-Richtlinien vorgeschrieben war – wird nun der deutsche BachelorAbschluß schon nach 15 Jahren erreicht, während er in den USA erst nach 16 Jahren erreicht wird. Dies gibt den US-amerikanischen Universitäten die Möglichkeit, sich gegen die gefährliche (Billig-) Konkurrenz aus Deutschland dadurch zu schützen, daß die Bachelor-Abschlüsse in Deutschland in der Regel nicht an amerikanischen Universitäten als einem amerikanischen Bachelor gleichgestellt anerkannt werden. Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen und es wird wohl auch keine US-weite Regelung geben. Die amerikanischen Universitäten und Fakultäten entscheiden hier weitgehend autonom. Wenn es dabei bleibt, dann war die simultane Verkürzung der Schulzeit und die Festlegung

138

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

auf einen dreijährigen Bachelor (ohne Not) ein kapitales Eigentor der deutschen Wissenschaftspolitik. Die internationale Konkurrenzfähigkeit, die uns weniger im Hinblick auf ukrainische oder chinesische und japanische Universitäten Sorgen macht, sondern vor allem im Hinblick auf US-amerikanische Universitäten, wäre dahin, das Gros der Studierenden, die ihr Studium mit einem Bachelor abschließen, wäre auf dem amerikanischen Markt mit diesem Abschluß nicht mehr konkurrenzfähig und müßte zusätzliche Qualifikationen erwerben, um ein Master/PhD-Studium aufzunehmen. Die vordem hoch geachteten deutschen Abschlüsse, Diplom in den Natur- und Technikwissenschaften und Magister in den Geisteswissenschaften, würden dann zugunsten eines Abschlusses aufgegeben, der international, sprich transatlantisch, nicht konkurrenzfähig ist – und das mit dem erklärten Bologna-Ziel, die internationale Konkurrenzfähigkeit der europäischen Studienabschlüsse zu verbessern. Das zweite Ziel des Bologna-Prozesses muß damit ebenfalls als gescheitert gelten, wobei die flächendeckende Umstellung auf Master/ PhD-Abschlüsse abzuwarten ist, bis ein abschließendes Urteil gefällt werden kann.

Drittes Ziel: Einheitlicher europäischer Hochschulraum Die Legitimation der Europäischen Union für eine Reform der Universitäten und Hochschulen kann nur aus ihrem Auftrag, zur Integration beizutragen, gezogen werden. In der Tat soll der Bologna-Prozeß zu einer stärkeren Integration des europäischen Hochschulraumes beitragen und war seinerseits eine Reaktion auf EU-Austauschprogramme, insbesondere ERASMUS. Der Studienaustausch innerhalb Europas wurde über Jahre hinweg durch unterschiedliche Studieninhalte und Studienorganisationen behindert, die einheitliche Bewertung von Studienleistungen in ECTS-Punkten und die Vereinheitlichung der Studienabschlüsse sollte hier Abhilfe verschaffen. Tatsächlich zeigen die jetzt vorliegenden empirischen Befunde, daß die Umstellung auf die neuen Studienabschlüsse, die Bewertungen mit ECTS-Punkten und die Modularisierungsformen in Europa sehr unterschiedlich vorgenommen wurden, so daß das Integrationsziel in bildungspolitischer Hinsicht verfehlt wird. Die Beteiligung Großbritanniens und die Unwilligkeit Großbritanniens, am eigenen Studiensystem etwas zu änA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

139

Julian Nida-Rümelin

dern, hat zudem eine eigenständige Profilierung des europäischen Bildungs- und Wissenschaftsraumes im Hochschulsektor blockiert. Ein Beitrag zu einem einheitlichen europäischen Hochschulraum wäre nur in deutlicher Profilierung und Eigenständigkeit dieses Hochschulraumes im Vergleich zu anderen internationalen Hochschulräumen möglich gewesen. Das beginnt bei der Titulierung der Abschlüsse. Die nun durchgängig üblichen amerikanischen Bezeichnungen sind Indiz für eine Orientierung des Bologna-Prozesses am US-amerikanischen Vorbild, taugen aber keineswegs, um einen einheitlichen europäischen Hochschulraum in Konkurrenz zu anderen zu schaffen. Die etablierten und renommierten kontinentaleuropäischen Abschlüsse, Magister, Diplom- und Staatsexamen, hätten beibehalten und gegebenenfalls mit einer lateinischen vereinheitlichten Benennung komplettiert werden sollen. Die Spielräume, die die Bologna-Vorgaben in diese Richtung gegeben haben (lateinische Bezeichnungen), wurden fast überall in Europa nicht genutzt. Nur ein Vereinheitlichungswille, eine leitende Idee, den europäischen Hochschulraum gegenüber anderen zu profilieren, hätte diese Fehlentwicklung verhindern können. Das hohe Maß an Bürokratisierung und Verschulung, das gegenwärtig mit der Umstellung auf modularisierte Studiengänge auch in denjenigen Fächergruppen zu beobachten ist, die bislang wenig strukturiert waren, die in hohem Maße auf Selbststudium setzten und die Leistungskontrolle erst gegen Ende des jeweiligen Studiums vorsahen, behindert sogar gegenwärtig ganz offenkundig die größere Vernetzung, den Austausch von Studierenden in Europa und damit die europäische Bildungsintegration. Die Bereitschaft der Studierenden, während ihres BA-Studiums in ein anderes europäisches Land zu wechseln und dort ihr Studium fortzusetzen, nimmt gerade in denjenigen Fächergruppen ab, die bislang durch ein relativ hohes Maß an innereuropäischer Mobilität geprägt waren, wie etwa Romanistik oder Kunstgeschichte. Die Umstellung auf modularisierte Studiengänge nach dem Bologna-Muster hat also ziemlich genau das Gegenteil des Beabsichtigten in diesen Fächergruppen zur Folge.

Viertes Ziel: Mehr Akademiker und weniger Studienabbrecher Insbesondere diejenigen europäischen Länder, in denen die Studierenden- und vor allem die Absolventenquote im internationalen Vergleich 140

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

niedrig ist, wollten im Zuge der Bologna-Reformen die Voraussetzungen dafür schaffen, einen größeren Prozentsatz jedes Jahrgangs zu einem Studienabschluß zu führen. Es stellt sich nun heraus, wie nicht anders zu erwarten, daß der drastische Zuwachs an sogenannten Kontaktzeiten, also Zeiten, in denen die Studierenden in den Seminaren und Vorlesungen sitzen, die Intensivierung der Betreuung bei im ganzen gleich bleibendem Personalbestand der Lehrenden in vielen Fächern zu einem Abbau der Studierendenzahlen zwingt. Lediglich die in der Finanzierungsnot nun eingeführten Studiengebühren in Deutschland von 500 Euro pro Semester (in den meisten Bundesländern) haben (geringe) Spielräume für die Einstellung von Lehrkräften mit besonderen Aufgaben verschafft, die diesen Effekt nun mildern sollen. Tatsächlich zeigt schlichte Arithmetik, daß folgende Ziele miteinander logisch unverträglich sind: 1. die Intensivierung der Betreuung, 2. die Ausweitung der Präsenzzeiten der Studierenden, 3. die Stagnation des Personalbestandes an den Hochschulen, 4. die Ausweitung der Studierenden- und Absolventenquote. Diese Ziele sind simultan nicht zu realisieren, werden aber irrationalerweise simultan von der Wissenschaftspolitik verfolgt. In dieser Hinsicht war von Anfang an klar, daß der Bologna-Prozeß in Deutschland scheitern mußte. Eines der Ziele der Bologna-Reform war die hohe Abbrecherquote von Studierenden, also die Diskrepanz zwischen Studienanfängern und Absolventen insbesondere in den GKS (wie der deutsche Bundestag in einer Anhörung die Fächergruppen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften – ohne BWL, VWL, Jurisprudenz und Psychologie – zusammenfaßt) deutlich zu senken. Die ersten empirischen Studien zeigen dagegen, daß zwar möglicherweise die Abbrecherquote in dieser Fächergruppe leicht sinkt – sofern in diesem Bereich die Umstellung schon erfolgt ist –, dafür aber die Abbrecherquote in den anderen betroffenen Fächergruppen ansteigt; im Mittel jedenfalls hat die Abbrecherquote zu- und nicht abgenommen, als Folge der Umstellung auf modularisierte Studiengänge. Dies kann man nur als Desaster für die Reform bezeichnen. Zugleich ist durch die Einführung von Studiengebühren das Interesse an einem Studium leicht gesunken, so daß das Ziel der Ausweitung der Studierendenquote ebenfalls verfehlt wird. Fazit: Gemessen an den eigenen Zielen muß der Bologna-Prozeß heute – zumindest in Deutschland – als gescheitert gelten.

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

141

Julian Nida-Rümelin

Zur Aktualität der Humboldt’schen Universitätsidee Ich bin weit davon entfernt, den Zustand der europäischen Universität, zumal auch der deutschen, vor Einsetzen des Bologna-Prozesses zu idealisieren. Die mangelnde finanzielle Ausstattung, die Unwilligkeit der Professoren im Interesse der Studierenden zu kooperieren, die mangelnde administrative Effizienz der Universitätsverwaltungen, vor allem aber die ganz unverantwortliche Überlastung, das heißt das katastrophale Betreuungsverhältnis in vielen Fächern, haben die europäischen Universitäten im internationalen, speziell US-amerikanischen Vergleich absinken lassen. Der Schlüssel, um die Spitzenstellung des 19. und auch noch des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zurückzugewinnen, hätte eine andere bildungspolitische Prioritätensetzung erforderlich gemacht. Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland und den meisten europäischen Ländern ist bei weitem zu niedrig. Eine Universität mittlerer Größe von sagen wir 20 000 Studierenden, ausgestattet mit einem Jahresetat von 2 Milliarden Euro, was in etwa US-amerikanischen Standards der Spitzenuniversitäten entspricht, würde exzellente Berufungen, ein exzellentes Betreuungsverhältnis, eine exzellente Ausstattung mit Labors und Kollegräumen ermöglichen. Eine solche Universität könnte nach meiner Einschätzung innerhalb von fünf Jahren zur Weltspitze aufrücken. Die deutsche Politik hat bislang nicht den Mut aufgebracht, einen solchen Schritt zu wagen, obwohl Anfang dieses Jahrhunderts für einige Monate die Chance dazu bestand, die dann in der Dissonanz föderaler Eifersüchteleien und öffentlicher Bedenkenträger unterging. Mein – bescheidener – Traum sähe in etwa so aus: Wir halten in Deutschland an der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Studienstandorte fest. Wir erlauben eine Konzentration von Forschungskompetenz bestimmter Disziplinen und Themen in Gestalt von Graduierten-Kollegs und Drittmittel-Clustern. Universitäre Lehre bleibt an aktuelle Forschung gekoppelt und universitäre Forschung wird durch die Integration außeruniversitärer Forschungseinrichtungen in die universitäre Lehre und universitären kollegialen Kooperationen gestärkt. Die zurückgehenden Jahrgangstärken werden mittel- und langfristig genutzt, um die Betreuungsrelationen auf ein vernünftiges Maß abzusenken, das etwa dem doppelten desjenigen der Ivy-League-Universitäten entspricht. Das universitäre Lehrpersonal wird entsprechend 142

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität

aufgestockt. Die Studienbeiträge werden durch eine KMK 8 -Vereinbarung auf 500 Euro pro Semester für alle auf Dauer festgeschrieben. Es erfolgt also kein Einstieg in die zu wesentlichen Teilen über private Studienbeiträge finanzierte Universität amerikanischen Musters. Nach dem Vorbild der Stiftung Preußischer Kulturbesitz wird eine Bund-Länder-Stiftung durch Bundes- und Landesgesetze eingerichtet, die zum Träger einer Stiftungsuniversität wird. Der für ausländische Studierende attraktivste Studienort, nämlich Berlin, wird als Sitz dieser Bund-Länder-Stiftungsuniversität auserkoren. Die deutsche Wirtschaft ist bereit, in Gestalt einer 50prozentigen Zustiftung die staatlichen Mittel aufzustocken. Die Humboldt-Universität wird aus der Trägerschaft des Landes Berlin mit Zustimmung des Landes Berlin herausgenommen und in Gestalt der Gebäude zum Nukleus der neuen deutschen Reformuniversität, die es mit den internationalen Spitzenuniversitäten erklärtermaßen aufnehmen will, erkoren. Die Studierendenzahlen werden auf etwa 20 000 beschränkt, das Lehrpersonal gegenüber dem jetzigen verdreifacht und der Etat verzehnfacht, um dieses Niveau erreichen zu können. Jede deutsche Universität profitiert in Gestalt von Forschungskooperationen, Stipendienprogrammen, Forschungsaufenthalten für Lehrende und Studierende, internationalen Austausch an dieser neuen deutschen Reformuniversität. Die Lehre an dieser Universität ist mehrsprachig, neben deutsch und englisch auch andere zentrale Wissenschaftssprachen in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Das Lehrpersonal wird auf dem internationalen akademischen Markt gewonnen und im Angestelltenverhältnis, in der Regel befristet, eingestellt. Angesichts des hohen Etats können die besten Forscher weltweit gewonnen werden. Da die Trägerschaft nicht beim Bund, sondern bei der Stiftung liegt, entsteht kein Konflikt mit der föderalen Ordnung. Die Erfolge dieser Universität können sich Bund, Länder und Zustifter gleichermaßen auf ihre Fahnen schreiben. Die Stiftungsverfassung schafft einen zusätzlichen Schutz gegenüber politischer oder ökonomischer Instrumentalisierung. Die jährlichen Mittel werden gesetzlich festgeschrieben, die Kooperation der Zustifter durch langfristige Verträge gesichert. Die Geschichte der US-amerikanischen Universitäten, die zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet wurden, zeigt, daß eine mit solchen Möglichkeiten ausStändige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland

8

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

143

Julian Nida-Rümelin

gestattete Universität innerhalb weniger Jahre zur globalen Spitze aufrücken kann. Voraussetzung dafür ist die Autonomie, Gleichgewichtigkeit und Einheit von Forschung und Lehre, die Persönlichkeitsbildung und damit Berufsqualifikation durch wissenschaftliche Forschung. Die Humboldtsche Universitätsidee hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

144

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

III. Bildung im Zusammenhang der modernen Kultur

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Stätten der Lebensnot? Über die Gegenwart unserer Bildungsanstalten Konrad Paul Liessmann (Wien)

Als Friedrich Nietzsche in seiner Baseler Zeit über Bildung sprach, gab er diesen Vorträgen den Titel »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten«. Zukunft ist ein offener Begriff, und es wäre verführerisch, diesen so zu bestimmen, daß man Nietzsches Zukunft als unsere Gegenwart begreift. Der von Nietzsche schon damals konstatierte und extrapolierte Gegensatz zwischen den Notwendigkeiten von praxisorientierten Ausbildungsprozessen und der Idee der Bildung könnte dann auch als jene Dichotomie beschrieben werden, an der sich allemal die Frage nach dem Stellenwert von Bildung entscheidet. Natürlich: Über Bildung wird nach wie vor gerne und viel gesprochen. In keinen Bereich des Lebens wurde seit der Entwicklung moderner Gesellschaften soviel Hoffnung gesetzt wie in den der Bildung. Bildungsgipfel und Bildungsoffensiven lösen einander ab, Bildungsreformen und Bildungsdiskussionen bestimmen das öffentliche Leben, und die bildungsfernen Schichten bereiten den gebildeten Eliten große Sorgen. Bildung war und ist nämlich das Vehikel, mit dem Unterschichten, benachteiligte Frauen, Migranten, Außenseiter, Behinderte und unterdrückte Minderheiten emanzipiert und integriert werden sollen, Bildung gilt als begehrte Ressource im Kampf um die Standorte der Informationsgesellschaft, Bildung ist das Mittel, mit dem unter anderem Vorurteile, Diskriminierungen, Arbeitslosigkeit, Hunger, Aids, Inhumanität und Völkermord verhindert, die Herausforderungen der Zukunft bewältigt und nebenbei auch noch Kinder glücklich und Erwachsene beschäftigungsfähig gemacht werden sollen. Gerade weil dies alles nicht geht, wurde und wird in kaum einem Bereich soviel gelogen wie in der Bildungspolitik. 1 Zum selbstillusionierenden Vokabular der Bildungsbranche cf. Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (ed.), Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Wissensmanagement, Wien, 2006.

1

146

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Stätten der Lebensnot?

Ist heute von Bildung die Rede, dann denkt deshalb auch fast niemand mehr an die neuhumanistischen Ideale, die mit diesem, im deutschen Sprachraum erst seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff einstens assoziiert waren. Im gegenwärtigen Diskurs fungiert »Bildung« eher als Sammelbegriff für all jene Lern- und Trainingsprozesse, denen sich die Menschen unterziehen müssen, um im Kampf um die knapper und anspruchsvoller werdenden Arbeitsplätze mithalten zu können. Die Wettbewerbsrhetorik spielt deshalb im Bildungsdiskurs mittlerweile eine entscheidende Rolle, wie die Individuen stehen auch die Bildungsinstitutionen in einem Konkurrenzverhältnis, das durch künstliche Maßnahmen wie periodische Tests, Evaluationen und Rankings noch verschärft wird. Als ein – wenn auch nicht alleiniges – Kriterium für die Qualität von Bildungseinrichtungen fungiert dann auch folgerichtig die Nähe zum Arbeitsmarkt. Die Nützlichkeit erworbenen Wissens und angeeigneter Kompetenzen für berufliche Karrieren einerseits und für die Erfordernisse einer dynamischen, globalisierten Wirtschaft andererseits werden zum entscheidenden Gesichtspunkt, an dem sich letztlich die Lehrpläne von Volksschulen ebenso zu orientieren haben wie die Curricula universitärer Studiengänge. Man spricht zwar noch von »Bildung«, meint aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete »maßgeschneiderte« Qualifizierung von Menschen, also ihre »Ausbildung«. Dieser Prozeß läßt sich an zahlreichen Indizien ablesen. Die große Bedeutung, die Lebensnähe, Praxisorientierung und Verwertbarkeit in unterschiedlicher Ausprägung auf allen Ebenen gewonnen haben, spricht eine ebenso deutliche Sprache wie die Verdrängung von Inhalten und Disziplinen, die dem Verdacht ausgesetzt sind, nur totes, nutzloses oder bestenfalls luxuriöses Wissen zu vermitteln. In der Rede von den »Orchideenfächern« schlägt sich dies ebenso nieder wie in den Lehr- und Studienplänen, die permanent in Hinblick auf die Vermittlung wirklich brauchbarer Kenntnisse und Fähigkeiten durchforstet und deshalb ständig umgestaltet werden müssen. Alte Sprachen, die Künste, Literatur, aber auch Mathematik und Geschichte sowie die Grundlagen- und Geisteswissenschaften sehen sich so ständig unter dem Damoklesschwert nicht einlösbarer Nützlichkeitserwartungen. Nur in Verbindung mit dem Versprechen auf Anwendung ist deren Existenz zu sichern, und so mutiert die Literatur– zur Medienwissenschaft und die Theologie zu einem Kompetenzzentrum für pastorale A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

147

Konrad Paul Liessmann

Dienstleistungen. Aber auch die Konzeption, Schule als Lebensraum zu deuten und jeden Bildungsgang eher als interdisziplinäres, praxisnahes Projekt, denn als disziplinierten, geistigen Aneignungsprozeß zu initiieren und zu organisieren, zollt diesem Anspruch ihren Tribut. Daß nun in jedem Curriculum mit großem rhetorischen Aufwand die arbeitsmarkttauglichen Qualifikationen aufgezählt werden müssen, die ein Mensch nach dem Durchlaufen eines Bildungsangebotes angeblich oder wirklich erwirbt, stellt in diesem Zusammenhang eine logische Konsequenz dar, die zudem den Vorteil hat, daß man sich über Bildungsinhalte kaum mehr den Kopf zerbrechen muß, da diese durch das, was – angeblich – gerade gebraucht wird, vorgegeben werden. Nun wäre es Unsinn zu leugnen, daß Ausbildungsprozesse und eine breite Palette von Ausbildungsmöglichkeiten für eine moderne Gesellschaft von allergrößter Bedeutung sind. Ebenso scheint klar, daß eine Bildungsidee, die sich in einem kulturell verhärteten Wissen erschöpft, das bestenfalls einmal dazu taugte, die gesellschaftliche Stellung von Eliten symbolisch zu codieren, mit Fug und Recht obsolet genannt werden kann. Das Bildungswissen des Bildungsbürgers, das sich im Nachbeten eines Kanons und in einem unausgewiesenen Zitatenschatz erschöpfte, war nicht nur unnütz, sondern seiner eigenen Idee gegenüber unangemessen. »Halbbildung« hatte dies Theodor W. Adorno genannt. 2 Fraglich aber bleibt, ob im Gegenzug Bildung tatsächlich auf Lebensnähe, Praxisrelevanz und eine am Kriterium des ökonomischen Nutzens orientierte Ausbildung reduziert werden kann. Das Problem beginnt schon damit, daß der Begriff des »Nutzens« selbst höchst vage ist und oft nicht mehr als divergierende gesellschaftliche Interessen beschreibt, die sich zudem rasch ändern. Abgesehen davon hatte Bildung aus guten Gründen immer eine bestimmte Distanz zum Leben zur Voraussetzung. Oder, um es mit den Worten des mittlerweile vergessenen Bildungsphilosophen H. J. Heydorn zu sagen: »Wäre Bildung Leben im Sinne des unmittelbaren Lebensvorganges, so könnte sie dem Leben überlassen bleiben.« 3 Bildung, wie immer man sie inhaltlich auch genauer bestimmen wollte, hatte in den klassischen Konzeptionen aus guten Gründen mit Freiheit und Muße, mit KonzenAdorno, Theodor W., Theorie der Halbbildung. In: id., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt/Main, 1980, p. 93 ff. 3 Heydorn, Heinz Joachim, Zur Aktualität der klassischen Bildung. In: id., Bildungstheoretische Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main, 1980, p. 308. 2

148

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Stätten der Lebensnot?

tration und Kontemplation, mit Distanz und Spiel zu tun. Dort, wo schon an den Organisationsformen von Bildungsinstitutionen abzulesen ist, daß es nur noch um Wettbewerb und Erfolg, um Effizienz und Praktikabilität geht, handelt es sich, nach den Worten von Friedrich Nietzsche, offenbar um keine Stätten der Bildung, sondern um »Stätten der Lebensnot«. Stätten der Lebensnot also. Dazu einige Anmerkungen. Im Jahre 1872 hatte der junge Friedrich Nietzsche, soeben als Professor für alte Sprachen an die Universität Basel berufen, in mehreren öffentlichen Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten räsoniert. In diesen Reflexionen, denen Nietzsche die etwas konstruierte literarische Form eines belauschten Dialogs zwischen einem Philosophen und seinem hitzigen Schüler gegeben hatte, konstatierte der junge Altphilologe eine unendliche Differenz zwischen den Anmaßungen, denen sich eine humanistische Schule mehr oder weniger freiwillig aussetzte und ihrer, daran gemessen, oft nur allzu erbärmlichen Realität. Dem Anspruch nach, so Nietzsche, will die höhere Schule ja wirklich »Bildung« vermitteln, gar »klassische Bildung«, in der Realität aber sah die Sache für den jungen Philologen anders aus: »Das Gymnasium [erzieht] nach seiner ursprünglichen Formation nicht für die Bildung, sondern für die Gelehrsamkeit und [es nimmt] neuerdings die Wendung, als ob es nicht einmal mehr für die Gelehrsamkeit, sondern für die Journalistik erziehn wolle.« 4 Was Nietzsche befürchtete, ist natürlich längst eingetreten: Das Gymnasium erzieht mittlerweile nicht nur zur Journalistik, sondern auch mit Hilfe der Journalistik. Medien im Unterricht heißt das dann. Allerdings: Das war von Nietzsche keine Anklage, sondern ein Befund. Das Humboldtsche Gymnasium verfehlte schlicht sein Ziel, weil dieses unerreichbar schien: »Eine wahrhaft ›klassische Bildung‹ ist etwas so unerhört Schweres und Seltenes und fordert eine so complizirte Begabung, daß es nur der Naivetät oder der Unverschämtheit vorbehalten ist, diese als erreichbares Ziel des Gymnasiums zu versprechen.«5 Von Allgemeinbildung, Bildung überhaupt läßt sich mittlerweile ähnliches sagen. Und eine Mischung aus Naivität und Unverschämtheit kennzeichnet nach wie vor jeden allgemeinen Bildungsanspruch. Das Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, ed. Colli, Giorgio/ Montinari, Mazzino, (KSA), München, 1980, Bd. 1, p. 677. 5 Nietzsche, KSA 1, p. 682. 4

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

149

Konrad Paul Liessmann

eigentlich Verstörende an Nietzsche war und ist schlicht die Behauptung, daß Bildung schlechthin an Individuation gebunden und schlechterdings nicht verallgemeinerungsfähig ist. Wird dies dennoch versucht, so sind für Nietzsche die unausweichlichen Konsequenzen klar: »Die allergemeinste Bildung ist eben die Barbarei.« 6 Wie wenige hat Nietzsche die Hände in die Wunde der Idee der Allgemeinbildung gelegt. Sofern es dieser um das Individuum und seine Entfaltung geht, läßt sie sich nicht verallgemeinern. Dort, wo sie tatsächlich zu einer allgemeinen Bildung wird, muß sie sich dem einzelnen und seinen Möglichkeiten gegenüber gemein verhalten. Kein höheres Bildungswesen, das von diesem Widerspruch frei geblieben wäre. Das alles bedeutet natürlich nicht, daß es nicht Stätten der Ausbildung geben kann, ja geben muß, in denen Menschen auf Berufe, auf mehr oder weniger stereotype Handlungs- und Arbeitsabläufe vorbereitet und in sozialen und kommunikativen Kompetenzen ausgebildet werden müssen. Das wußte natürlich schon Nietzsche: »Ich für meinen Theil kenne nur einen wahren Gegensatz, Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnoth: zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich.« 7 Das meint allerdings nicht, daß der junge Nietzsche diese Stätten der Lebensnot gering geschätzt hätte. »Glaubt also ja nicht, meine Freunde, daß ich unseren Realschulen und höheren Bürgerschulen ihr Lob verkümmern will: ich ehre die Stätten, an denen man ordentlich rechnen lernt, wo man sich der Verkehrssprachen bemächtigt, die Geographie ernst nimmt und sich mit den erstaunlichen Erkenntnissen der Naturwissenschaft bewaffnet.« 8 Man achte auf die Verben: lernen, bemächtigen, ernst nehmen, bewaffnen! Diese Schulen, die zu Recht an den Erfordernissen und Bedürfnissen des praktischen Lebens orientiert und am Nutzen für dieses Leben und seinen Kämpfen gemessen werden können, sind eben keine Bildungsanstalten im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern Stätten der Ausbildung, des Trainings, des Erwerbs von durchaus wichtigen und lebensdienlichen Kompetenzen. Nietzsche forderte deshalb auch nicht, daß generell Schulen zu höheren Bildungsanstalten werden oder deren Aufgaben übernehmen sollten. Er beklagt lediglich, daß solche Stätten der Bildung nicht (mehr) existierten. 6 7 8

150

Nietzsche, KSA 1, p. 668. Nietzsche, KSA 1, p. 717. Nietzsche, KSA 1, p. 716.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Stätten der Lebensnot?

Stätten der Lebensnot sind mittlerweile unsere Schulen aber auch in einem weit über Nietzsches Analyse hinausgehenden Sinn: Die Not des Lebens zwingt sie mittlerweile dazu, alles an Aufgaben anzunehmen, was durch die Gesellschaft an sie herangetragen wird: Sie sind Ersatz für zerfallende Familien, letzter Ort emotionaler Kommunikation, mehr oder weniger hilflose Agenten der sozialen, politischen und psychischen Erziehung, Drogen- und Aidsprophylaxeinstitution, erster Therapieplatz und vor allem: Sie sind eine Problemlösungsanstalt für die ungelösten Fragen der Erwachsenenwelt, von der Umweltverschmutzung bis zu den Kriegen, von der Integration der Migranten bis zum Kampf der Kulturen, vom Elend der Dritten Welt bis zur Zukunft der Europäischen Union. Man kann sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, daß eine Reihe der Probleme, die die Erwachsenen nicht lösen können oder lösen wollen, den Schulen überantwortet wird. Nichts ist verräterischer als der Satz: Damit muß man in der Schule beginnen. Dahinter steckt der Glaube, daß den Schulen nahezu überirdische Kompetenzen als Problem- und Konfliktlösungsanstalten zugeschrieben werden können. Soviel zum angeblichen realitätsorientierten Pragmatismus der Bildungspolitik. Das bedeutet aber auch: Alles müssen Schulen heute sein, nur eines dürfen sie nicht mehr sein: Schule! Stätten der Bildung waren für Nietzsche nämlich der Gegensatz zu Anstalten der Lebensnot. Orte, die nicht von den Dürftigkeiten und Bedürftigkeiten des Lebens und den Sachzwängen der Politik und Ökonomie geprägt sind, sondern Orte der Freiheit, und dies deshalb, weil diejenigen, die sich dort als Lehrende und Lernende befinden, frei vom Zwang zur Nützlichkeit, zur Praxisrelevanz, zur Lebensnähe, zur Aktualität sein sollten. Mit einem Wort: Es waren die Orte der Muße. Damit hatte Nietzsche der Schule nur ihren ursprünglichen Wortsinn zurückgegeben. Schule läßt sich über das lateinische schola auf das griechische scholé zurückführen und meinte ursprünglich ein »Innehalten in der Arbeit«. Die Weisheit der Sprache ist oft eine größere als es sich unsere sprachvergessene Kultur träumen läßt: Eine Schule, die aufgehört hat, ein Ort der Muße, der Konzentration, der Kontemplation zu sein, hat aufgehört eine Schule zu sein. Sie ist in der Tat auch in einem sehr unmittelbar erfahrbaren Sinn eine Stätte der Lebensnot geworden. Und in dieser dominieren dann die Projekte und Praktika, die Erfahrungen und Vernetzungen, die Exkursionen und Ausflüge. Zeit zum Denken gibt es nicht. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

151

Konrad Paul Liessmann

Im Zentrum einer kontemplativ orientierten Schule aber stehen für Nietzsche nicht Inhalte, sondern – darin ist er ganz modern – zwei Vermögen, heute Kompetenzen genannt: Sprechen und Denken. Und hier lagen für ihn auch die Defizite der sogenannten Bildungsstätten seiner Zeit: »In Summa: das Gymnasium versäumt bis jetzt das allererste und nächste Objekt, an dem die wahre Bildung beginnt, die Muttersprache: damit fehlt ihm der natürliche fruchtbare Boden für alle weiteren Bildungsbemühungen.«9 Deshalb kann Nietzsche, Karl Kraus antizipierend, den Gymnasien seiner Zeit höhnisch zurufen: »Nehmt eure Sprache ernst! … Hier kann sich zeigen, wie hoch oder wie gering ihr die Kunst schätzt und wie weit ihr verwandt mit der Kunst seid, hier in der Behandlung unserer Muttersprache. Erlangt ihr nicht so viel von euch, vor gewissen Worten und Wendungen unserer journalistischen Gewöhnungen einen physischen Ekel zu empfinden, so gebt es nur auf, nach Bildung zu streben …« 10 Der physische Ekel vor der journalistischen Sprache: Welcher Pädagoge wagte es noch, dies als das erste Bildungsziel des Deutschunterrichts, ja der höheren Bildungsanstalten überhaupt zu formulieren? Sprache im Sinne Nietzsches ernst zu nehmen bedeutete überdies nicht nur, sie in ihrer syntaktischen Differenziertheit und semantischen Ausdrucksbreite zu beherrschen, sondern auch den Respekt vor ihrer Geschichte, die Achtung ihrer gewordenen Struktur, die auch und gerade deshalb ein getreuliches Spiegelbild der Entwicklung einer Kultur ist und deren Höhen ebenso aufbewahrt wie deren Tiefen. Das konnte und kann natürlich nie bedeuten, die Sprache auf einem Entwicklungsstand einfrieren zu wollen – Nietzsche, selbst ein Sprachschöpfer von Rang, wäre solches nie in den Sinn gekommen. Das kann aber auch nicht bedeuten, die Ausdrucks- und Differenzierungsmöglichkeiten der Sprache jedem beliebigen Modernismus und jeder zeitgeistigen Reformattitüde zu opfern, wie fortschrittlich und globalisiert sich diese auch immer geben mag. In zeitgemäßer Fassung, ohne Nietzsches schneidende Polemik, ließe sich dieser Gedanke mit den Worten des Berliner Philosophen Peter Bieri auch wie folgt formulieren: »Überhaupt ist der Gebildete einer, der vor bestimmten Dingen Ekel empfindet: vor der Verlogenheit von Werbung und Wahlkampf; vor Phrasen, Klischees und allen Formen der Unaufrichtigkeit; vor den Euphemis9 10

152

Nietzsche, KSA 1, p. 683. Nietzsche, KSA 1, p. 676.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Stätten der Lebensnot?

men und der zynischen Informationspolitik des Militärs; vor allen Formen der Wichtigtuerei und des Mitläufertums, wie man sie auch in den Zeitungen des Bürgertums findet, die sich für den Ort der Bildung halten.« 11 Und das Denken? Nietzsche konnte in Menschliches, Allzumenschliches noch ebenso schlicht wie aufreizend schreiben: »Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie kann ja darauf rechnen, daß menschliche Unklarheit, Gewöhnung und Bedürfniss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen.« 12 Abgesehen von der Invektive gegen die Religion, in der Nietzsche natürlich recht hat – als Glaube ist die Religion keine Sache des Denkens, deshalb kann es in einer wirklichen Bildungsstätte nur eine religionswissenschaftliche Propädeutik, die in alle großen religiösen Systeme einführt, geben, aber keinen konfessionell gebundenen Religionsunterricht –, zeigt sich in diesen Überlegungen auch eine Menschenkenntnis, die viele angebliche Bildungsexperten oft so schmerzlich vermissen lassen: Gerade weil die Alltäglichkeit des Lebens die Genauigkeit des Denkens, die nur in der Muße, im relativ sorgenfreien Spiel gedeihen kann, wieder abschleifen wird, kann diese guten Gewissens in der Schule und nur in der Schule geübt werden. Heute pflegt man aus diesem Befund den gegenteiligen Schluß zu ziehen: Was nicht immer schon der Praxis verschwistert und durch diese abgeschliffen ist, braucht erst gar nicht gelernt zu werden. Daher auch das Mißtrauen gegenüber Fächern, in denen Formen des Denkens oft spielerisch erfahren und geübt werden können, die keinen unmittelbaren Bezug zu einer Praxis haben: Alte Sprachen, Philosophie, Mathematik, klassische Literaturen, Kunst und Musik. Alle Versuche, diesen Fächern ihre Legitimität zu bewahren, indem auf deren Nützlichkeit für das anstrengende Leben in der Wettbewerbsgesellschaft verwiesen wird, mögen bemüht sein, sind letztlich aber nur peinlich.

Bieri, Peter, Wie wäre es, gebildet zu sein? Festrede, gehalten an der Pädagogischen Hochschule Bern am 4. November 2005. http://www.phbern.ch/fileadmin/Bilder_und_ Dokumente/01_PHBern/PDF/051104_Festrede_P._Bieri.pdf, abgerufen am 7. 12. 2008, p. 7. 12 KSA 2, p. 220. 11

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

153

Konrad Paul Liessmann

Was darüber hinaus bei einer Reduktion von Bildung auf Ausbildung verloren gehen könnte, wird klar, wenn man sich an der Bestimmung der Differenz von Bildung und Ausbildung orientiert, wie sie Peter Bieri vorgeschlagen hat: »Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.« 13 Im Gegensatz zu vielen sieht Bieri dann auch kein Problem darin, die wesentlichen Dimensionen von Bildung auch inhaltlich zu bestimmen: Selbstorientierung, Aufklärung, historisches Bewußtsein, Artikuliertheit, Selbstbestimmung, moralische Sensibilität und poetische Erfahrung gelten ihm als jene Faktoren, an denen sich die Bildungsprozesse von Menschen orientieren sollten. Bildung ist so nicht denkbar ohne Neugier, ohne Leidenschaft, ohne Reflexion und Selbstreflexion, ohne Wertung und Bewertung, ohne das Wagnis, sich durch das, was man im Bildungsprozeß erfährt, verändern zu lassen. Ausbildung hingegen orientiert sich an operationalisierbaren Kenntnissen und Fähigkeiten, die nicht in Hinblick auf ihr bildendes Potential, sondern in Hinblick auf die Einsetzbarkeit des Menschen für verschiedene Zwecke vermittelt und geübt werden. Das Interesse an anderen Kulturen, an Sprachen, Werthaltungen, Religionen und Lebensweisen wird unter einem Bildungsanspruch zum Beispiel nicht nur aus einem »notwendigen« strategischen Kalkül gespeist werden – weil man etwa mit den Angehörigen einer anderen Kultur Geschäfte machen will –, sondern auch das eigene Weltbild verändern und den eigenen Standpunkt relativieren. Voraussetzung aller Bildung ist so in der Tat eine Neugier auf das, was in der Welt ist, eine Neugier, die sich weder der schon von Ludwig Wittgenstein kritisierten wissenschaftlichen Sensationslust noch dem Eroberungs- und Verwertungsdrang ganz unterordnet. Daß Menschen von diesen Ambitionen völlig frei sein könnten, wäre in der Tat zu viel verlangt. Daß man die Welt aber auch unter anderen Gesichtspunkten als den von Marktanteilen betrachten und erfahren kann – wer, der einmal etwa der Faszination des Schönen unterlag, wollte dies leugnen? 13

154

Bieri, l. c., p. 1.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Stätten der Lebensnot?

Bildung hat deshalb viel mit den ästhetischen Dimensionen unseres Lebens zu tun. Vielleicht ist die »Geschmacksbildung« wirklich eines der grundlegenden Modelle für Bildungsprozesse überhaupt. Daß die Kunst und die Auseinandersetzung mit ihr in vielen klassischen Bildungsdiskursen – man denke nur an Friedrich Schiller – eine so große Rolle spielten, hat unter anderem mit einer Erfahrung zu tun, die man paradigmatisch an Kunstwerken machen kann: Daß es Dinge gibt, die um ihrer selbst willen beachtet, geachtet und bewundert werden können, ohne daß daraus ein anderer Nutzen als eben diese Erfahrung gezogen werden könnte. Und wenn die These von Immanuel Kant stimmt, daß die Würde des Menschen letztlich darin ihre Wurzel hat, daß jeder Mensch als vernunftbegabtes Wesen sich selbst als Zweck setzen kann und deshalb auch den anderen Menschen nie nur als Mittel, sondern auch als Zweck an sich betrachten muß, dann wird klar, welche Bedeutung diese ästhetische Erfahrung zweckfreier Schönheit für eine humane Bildung haben muß. Der Zusammenhang zwischen Bildung und Autonomie machte dann auch immer den eigentlichen politischen Kern der neuhumanistischen Bildungsidee aus. Die Forderung, daß allen Menschen zumindest der Zugang zur Bildung möglich gemacht werden müsse, hat nicht nur den Gedanken zur Voraussetzung, daß man ohne bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten im Wettbewerb nicht bestehen kann; mindestens so wichtig ist, daß nur eine Bildungsidee, die daran festhält, daß etwas um seiner selbst willen geschätzt und geachtet werden kann, die Voraussetzung für eine wechselseitige Anerkennung in Würde ist. Ein Bildungsbegriff, der auf Verfahren und Techniken von Ausbildungsgängen reduziert wird, ist nicht schlechterdings inhuman. Er vergißt aber, daß Menschsein mehr bedeutet, als beschäftigungsfähig zu sein. Teilt man allerdings die Unterscheidung von Bildung und Ausbildung, wie sie Peter Bieri vorschlug, so ergeben sich daraus auch einige interessante Konsequenzen für die Organisation von Bildungsprozessen. Da wir uns nur selbst bilden, aber von anderen ausgebildet werden können, können, in einem strikten Sinn, nur Ausbildungsprozesse organisiert, kontrolliert und operationalisiert werden. Nur was jemand kann, kann überprüft werden, nicht, wie jemand in der Welt ist. In der Transformation unserer Bildungssysteme in effiziente Ausbildungsstätten liegt deshalb durchaus eine gewisse Logik. Was sich hartnäckig noch immer Bildung nennt, orientiert sich deshalb nicht mehr an den Möglichkeiten und Grenzen des Individuums zu seiner SelbstA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

155

Konrad Paul Liessmann

bildung, auch nicht an den invarianten Wissensbeständen einer kulturellen Tradition, schon gar nicht am Modell der Antike, sondern an externen Faktoren wie Markt, Beschäftigungsfähigkeit, Standortqualität und technologischer Entwicklung, die nun jene Standards vorgeben, die der »Gebildete« erreichen soll. Unter dieser Perspektive erscheint die »Allgemeinbildung« genauso verzichtbar wie die »Persönlichkeitsbildung«. In einer sich rasch wandelnden Welt, in der sich Qualifikationen, Kompetenzen und Wissensinhalte angeblich ständig ändern, scheint »Bildungslosigkeit«, zumindest der Verzicht auf verbindliche geistige Traditionen und klassische Bildungsgüter, zu einer Tugend geworden zu sein, die es dem Einzelnen ermöglicht, rasch, flexibel und unbelastet von »Bildungsballast« auf die sich stets ändernden Anforderungen der Märkte zu reagieren. In dem Maße aber, in dem Bildung im humanistischen Sinne nicht als private Idiosynkrasie, sondern als notwendige Voraussetzung einer Gesellschaft erscheint, die sich an der Idee der Würde und Autonomie des Menschen orientieren will, bleibt die Frage nach den Chancen authentischer Bildung eine öffentliche Angelegenheit. Man muß sich aber im Klaren darüber sein, daß das Gelingen von Bildungsprozessen weder an Standards gemessen noch an Erfolgsquoten welcher Art auch immer überprüft werden kann. Ob es in den Stätten der Lebensnot – andere gibt es nicht mehr – für diese Bildung zumindest noch eine Chance gibt, läßt sich allein daran ablesen, welche Erfahrungsmöglichkeiten neben der sinnvollen und notwendigen Ausbildung den Menschen zusätzlich noch eingeräumt werden. Anders formuliert: Die Qualität von Bildungseinrichtungen wäre auch danach zu beurteilen, wie viel Freiheit, wie viel Risiko, wie viel Neugier, wie viel ästhetische Erfahrung, wie viel Nutzloses, wie viel Schönes, ja: wie viele Seitensprünge sie erlauben.

156

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes. Philosophische Ortsbestimmung des Horizonts gegenwärtiger Thematisierung von Bildung Markus Kartheininger (München)

»Da muß ich etwas ganz neues zu hören bekommen« 1 – mit solch Lessingscher Ironie wird heute die Option zu rechnen haben, angesichts des Problems der Bildung in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft auf die klassische Antike zurückzugehen. Die unweigerlich zu erwartende Skepsis gegenüber einer solchen Option resultiert daraus, daß man den Rekurs auf die Antike zunächst nicht – wie es angemessen wäre – als eine Reflexion auf das Scheitern des Humanismus auffassen, sondern vielmehr derjenigen Antikenrezeption zuordnen wird, die von der Generation um 1800 initiiert worden war und maßgeblich das bildungspolitische Programm des Neuhumanismus bestimmte. Die Zuordnung zum Neuhumanismus aber gilt heute deswegen als keine Empfehlung, weil der Humanismus angesichts der Probleme, mit Blick auf welche heute »Bildung« in der Öffentlichkeit rege diskutiert wird, jeden Kredit verloren hat. Es lassen sich nämlich zwei Brennpunkte unterscheiden, die in der heutigen Bildungsdiskussion als dringlich empfunden werden: ein sozialtechnologischer und ein demokratisch-egalitärer. In bezug auf beide wird dem Humanismus jede Lösungskompetenz abgesprochen. Der sozialtechnologische Gesichtspunkt betrifft Bildung als wesentlichen volkswirtschaftlichen Produktionsfaktor in der hochindustrialisierten Wohlstandsgesellschaft. Die Sicherung des Wohlstands ist im verschärften internationalen Wettbewerb nur durch spezialisierte Fachkräfte und stete Innovationen in Wissenschaft und Technologie

So die ironische Antwort Lessings auf Friedrich Heinrich Jacobis Bekenntnis, sein Credo stehe im Spinoza nicht und er glaube eine verständige, persönliche Ursache der Welt (Cf. Jacobi, Friedrich Heinrich, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. In: id., Werke, ed. Hammacher, Klaus/Jaeschke Walter, Bd. 1,1, Hamburg, 1998, p. 20).

1

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

157

Markus Kartheininger

zu gewährleisten. Die Wohlstandssicherung, in deren Dienst hier Bildung gestellt wird, zielt in eins auf den Erhalt von ökonomischer und damit auch politischer Macht. Für die Individuen in solchen Gesellschaften ist Bildung wiederum ein Mittel der Subsistenzsicherung. Kenntnisse und Qualifikationen bestimmen die Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt. Die jeweilige Bildung zeichnet für die Individuen nicht nur die künftigen Konsummöglichkeiten vor; sie indiziert auch weitgehend den sozialen Status, der ihrem Träger im gesellschaftlichen Leben zukommen wird. Mit Blick auf diese ökonomischen Zwänge, die das Thema der Bildung heute dominieren, hat der Humanismus schon allein deshalb einen schweren Stand, weil ihm in seinem Begriff von Bildung ein wenn nicht feindseliges, so doch indifferentes Verhältnis zu Ökonomie und Technik eignet. Der zweite Gesichtspunkt, der beim Thema Bildung heute in der Öffentlichkeit auf Resonanz stößt, ist ein demokratisch-egalitärer. Ausgangspunkt ist hier die durch viele Erhebungen bestätigte Beobachtung, daß Bildungsbeteiligung und -erfolg in der Bundesrepublik maßgeblich durch die soziale Herkunft bestimmt werden. Anstatt gesellschaftliche Unterschiede auszugleichen und herkunftsbedingt Benachteiligten den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, scheint das Bildungssystem soziale Ungleichheiten vielmehr zu reproduzieren und zu zementieren. Und auch in der Diskussion dieses Problemfelds steht der Humanismus ganz am Rande. Er ist indifferent nicht nur gegenüber Ökonomie und Technik, sondern auch gegenüber den sozialpolitischen Forderungen nach Chancengleichheit. Der Humanismus steht viel zu sehr für den selbstgenügsamen Rückzug ins Unpolitische, Aesthetische, als daß er für die Durchsetzung solcher gesellschaftspolitischen Forderungen die richtige Adresse sein könnte. Diesen Horizont, in dem sich die öffentliche Bildungsdiskussion bewegt, gilt es zunächst in aller Nüchternheit zur Kenntnis zu nehmen. Und jede Stellungnahme, die sich zu diesem gesellschaftlichen Rahmen, in dem »Bildung« heute problematisiert wird, nicht in Beziehung zu setzen vermag, muß zwangsläufig an ihrer Zeit und ihren Problemen vorbeigehen. Auf der anderen Seite hat allerdings der allzu direkte Anwendungs- und Praxisbezug, der aus diesen Überlegungen gefolgert und gefordert werden mag, seine Tücken. Impliziert er doch eine vorschnelle Akzeptanz des faktischen Horizonts, in dem das Thema der Bildung heute gesellschaftlich diskutiert wird. Eine philosophische Thematisierung von Bildung kann sich die Probleme und Fra158

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

gestellungen, in deren Licht das Thema zu sehen und zu beurteilen ist, nicht schlicht von der gesellschaftlichen Diskussion vorgeben lassen. Philosophie hat vielmehr selbst den Horizont, in dem einer Zeit die Probleme erscheinen, zu thematisieren und zu überprüfen. Sie unternimmt eine Ortsbestimmung der Gegenwart – aber ohne das Koordinatensystem hierzu dem Zeitgeist zu entnehmen. Darin ist eine Aufgabenstellung von Philosophie wiedergewonnen, die Hegel einst in der Formel bestimmte, Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« 2 . Die Einlösung dieser Aufgabenstellung muß allerdings unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts eine andere, bescheidenere Form annehmen, als Hegel ihr gegeben hat. Wie zu sehen sein wird, sind Maßstab und gesellschaftliche Realität, Vernunft und Wirklichkeit, die Hegel geschichtsphilosophisch zur Einheit zu bringen sich vornahm, gerade auch im Bereich der Bildung auseinandergedriftet. Es kommt allerdings heute nicht weniger darauf an, beide Seiten, die versachlichte, ethisch nicht mehr ausdeutbare moderne Welt einerseits und die Frage nach dem normativen Maßstab andererseits, in Beziehung zu setzen und miteinander zu verklammern. Denn ohne einen solchen Bezug auf einen Maßstab, der nicht dem »Hier« und »Jetzt« entnommen ist, ist die Distanzierung von der Gegenwart gar nicht mehr möglich. Weder darf in solchem normativen Bezug, in dem die gesellschaftliche Realität zu beschreiben ist, diese selbst aus dem Blick geraten, noch dürfen die Maßstäbe schlicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren vermeintlichen Anforderungen angepaßt werden. Für das Problem der Bildung heißt dies jedoch, daß diese auf Vollkommenheit, auf die Perfektion der menschlichen Natur, ausgerichtet sein muß und daß tatsächliche Erziehungs- und Bildungsvorgänge nur in diesem Lichte adäquat zu beschreiben und zu beurteilen sind. Bildung muß damit aber – gerade unter Bedingungen der modernen Massendemokratie und –kultur – auf eine Aristokratisierung des Geistes zielen.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, Hamburg, 19674 , p. 16.

2

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

159

Markus Kartheininger

I. Thematisiert man nun den Horizont, in dem Bildung heute in der Öffentlichkeit auf Resonanz stößt, so ist zunächst die zunehmende Bedeutung der Fachschulung bemerkenswert. Bildung meint hier in erster Linie fachliche Qualifikation, Aneignung von fachlichem Wissen und Kompetenzen. Die zunehmende Bedeutung der Fachqualifikation impliziert eine Tendenz zur Versachlichung, die nicht nur von dem sozialtechnologischen Gesichtspunkt der Anpassung an die Anforderungen von Technologie und Wirtschaft gefordert ist. Auch der demokratisch-egalitäre Kampf um Chancengleichheit weist in diese Richtung, da der soziale Aufstieg hiernach ja gerade nicht mehr von persönlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen abhängig sein soll, die durch die Sozialisation in bevorzugten Schichten und Milieus mitbedingt sind, sondern vielmehr sich nach objektiven, sachlichen Kriterien richten soll. Allein, der Verweis auf die Anforderungen der modernen Technologie und Ökonomie und auf den Egalitarismus charakterisiert den faktischen Horizont der heutigen Thematisierung von Bildung noch gar nicht, da diese Hinweise sich selbst ja innerhalb desselben bewegen. Der Horizont als solcher kommt erst in den Blick, wenn man auf die heute kaum mehr explizierte bzw. die offenbar nicht mehr explizierbare kulturelle Einbindung der fachlichen Qualifikation sieht. In bezug auf die jüngeren Bildungsreformen ist treffend vom »Gravitationsverlust der Kultur« gesprochen worden, der darin zum Ausdruck komme 3. Allerdings bedarf der Begriff der »Kultur«, der heute in sehr verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird, einer genaueren Bestimmung, wenn damit etwas Spezifisches gesagt sein soll. Bildung meint zunächst eine Formierung des Menschen in seiner Lebensführung, seinen Leidenschaften und seinem Wissen. Diese Formierung betrifft sowohl die grundlegenden Ziele als auch die erforderlichen Mittel und Fähigkeiten zur Erlangung derselben. Dieser Vorgang kann als Kultivierung bezeichnet werden, sofern der zu Bildende hierin in die Lebensformen einer Kultur, die in dieser für gut und richtig gehalten werden, hineinwächst. Teils geschieht diese Formierung anonym durch die Ordnungen, in die der einzelne gestellt ist und durch Cf. Henrich, Dieter, Philosophie im Prozeß der modernen Kultur, Frankfurt, 2006, p. 42 ff.

3

160

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

die er geprägt wird, teils ist Bildung in Erziehung und Unterricht auch Nebenwirkung von Anstrengungen, die ausdrücklich auf die Kultivierung bedacht sind. Bildung ist aber nie ungebrochen das Resultat von zweckrationalen Maßnahmen von außen, da der Bildungsvorgang je durch das Wissen des zu Bildenden vermittelt ist. Dieser ist daher in der Bildung nie bloß Gegenstand, sondern stets auch selbsttätig bzw. Mitautor der Formierung. Was besagt vor diesem Hintergrund die These, daß heute, da die Fachqualifikation eine hervorragende Bedeutung gewonnen hat, die kulturelle Einbindung dieser Fachqualifikation zum Problem geworden ist? Ist die Kultivierung im eben beschriebenen Sinne, die Einbettung von Kompetenzen und Fachwissen in kulturelle Lebensformen, hier nicht selbstverständlich genauso gegeben? Und wird nicht im heutigen Horizont neben den fachlichen Kompetenzen und dem Fachwissen ebenso auf persönliche und soziale »Kompetenzen« Wert gelegt? Max Weber diagnostiziert bereits während des ersten Weltkriegs die zunehmende Bedeutung der Fachqualifikation in modernen Gesellschaften – es ist ihm zufolge ein Effekt der unaufhaltsamen Bürokratisierung in allen öffentlichen und privaten Herrschaftsbeziehungen, also auch im Bereich der Privatwirtschaft. Zugleich legt er dabei ein besonderes Augenmerk auf die »Kulturwirkungen« dieser Entwicklung. Eigentümlich sei der bürokratischen gesellschaftlichen Ordnung in der Moderne nicht, daß die erworbenen Bildungspatente maßgeblich das soziale Prestige bestimmen und dieses seinerseits wieder in ökonomische Vorteile umgesetzt wird. Spezifisch für die moderne Gesellschaftsordnung sei vielmehr, daß das soziale Prestige im Vergleich zu anderen historischen Gesellschaftsformen auf abweichenden inhaltlichen Grundlagen beruhe. Denn in diesen »war Ziel der Erziehung und Grundlage der sozialen Schätzung, bei aller noch so großen Verschiedenheit dieser Fälle untereinander, nicht der ›Fachmensch‹, sondern (…) der ›kultivierte Mensch‹«. Diese Rede will Weber freilich in einem durchaus wertfreien Sinn gebrauchen. Sie soll besagen, »daß eine Qualität der Lebensführung, die als ›kultiviert‹ galt, Ziel der Erziehung war, nicht aber spezialisierte Fachschulung. Die, je nachdem, ritterlich oder asketisch oder (wie in China) literarisch oder (wie in Hellas) gymnastisch-musisch oder zum konventionellen angelsächsischen Gentleman kultivierte Persönlichkeit war das durch die Struktur der Herrschaft und die sozialen Bedingungen der Zugehörigkeit zur Herrenschicht geprägte Bildungsideal. Die Qualifikation der HerrenA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

161

Markus Kartheininger

schicht als solcher beruhte auf einem Mehr an ›Kulturqualität‹ (in dem durchaus wandelbaren, wertfreien Sinn, der diesem Begriff hier beigelegt wurde), nicht von Fachwissen« 4 . Es sind also die inhaltlichen Grundlagen des sozialen Prestiges, es ist der »moralische Geschmack« der Gemeinschaft, der sich in der bürokratischen Ordnung verändert hat. Der moralische Geschmack der Ordnung bezeichnet das, was eine Gemeinschaft bewundert und zu dem sie aufschaut. Dieser moralische Kern der Ordnung – er ist es, worauf Platon im Begriff der »Politeia« zielt – manifestiert sich in der Art der Lebensführung, in der die Menschen ihr Menschentum auslegen und ihr qualitatives Wesen offenbaren. Er ist deshalb daran ablesbar, welcher Typus von Mensch der Gemeinschaft als maßgebend gilt, welcher Typus in ihr gefördert wird, optimale Chancen der Entfaltung hat und Gehorsam erzwingen kann. Diese Qualität der Lebensführung, die sich im maßgebenden Typus verkörpert und die die inhaltliche Grundlage des sozialen Prestiges ausmacht, ist in eins das Ziel der Erziehung bzw. der Kultivierung. Da die Kultivierung nicht nur durch Erziehung und Unterricht erfolgt, sondern ebenso durch die Ordnungen, in die der einzelne gestellt ist, verlangt Weber in seiner Antrittsrede als Nationalökonom, daß auch noch die Volkswirtschaftslehre auf die Kultivierung als dem letzten Fluchtpunkt ihrer Arbeit orientiert sein muß. Denn »eine Wissenschaft vom Menschen, und das ist die Volkswirtschaftslehre, [fragt] vor allem nach der Qualität der Menschen, welche durch jene ökonomischen und sozialen Daseinsbedingungen herangezüchtet werden« 5 . Und in einer Kultur, die letztlich auf die Kultivierung des Menschen ausgerichtet ist, ist daher die Frage, die in Wahrheit auch jeder wirtschaftspolitischen Arbeit zugrundeliegen muß, »nicht wie die Menschen der Zukunft sich befinden, sondern wie sie sein werden (…). Nicht das Wohlbefinden der Menschen, sondern diejenigen Eigenschaften möchten wir in ihnen emporzüchten, mit welchen wir die Empfindung verbinden, daß sie menschliche Größe und den Adel unserer Natur ausmachen« 6 .

Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, ed. Winckelmann, Johannes, Tübingen, 19855 , p. 578. 5 Weber, Max, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftslehre. In: id., Gesammelte Politische Schriften, ed. Winckelmann, Johannes, Tübingen, 19885 , p. 1–25, p. 13. 6 L. c., p. 12/13. 4

162

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

Die Ausrichtung auf die Kultivierung des Menschen, die Weber hier – in seiner Antrittsrede im Jahre 1895 – selbst noch von der Nationalökonomie und der Wirtschaftspolitik einfordert, umfaßt selbstverständlich auch Fachwissen und Fachkönnen; und sie hat dies auch in allen historischen Gesellschaftsordnungen getan. Aber das Fachwissen bildete eben nicht den Schwerpunkt der Bildung, wie Weber es dann in »Wirtschaft und Gesellschaft« von der modernen bürokratischen Ordnung diagnostiziert. Wird aber die Fachqualifikation zur inhaltlichen Grundlage des sozialen Prestiges und zum vorrangigen Ziel der Erziehung, dann geht Bildung nicht länger auf die Kultivierung, auf die Qualität der Lebensführung. Und die kulturelle Einbindung der Fachqualifikation bleibt offen.

II. Die These, daß die kulturelle Einbindung von Fachwissen und Fachkompetenzen heute zum Problem geworden ist, ist damit aber allererst exponiert. Es ist darin noch nicht verstanden, inwiefern dem so ist, und was es bedeutet. Bevor diese Fragen thematisiert werden können, gilt es zunächst zu sehen, daß die Qualität, um die es der Kultivierung zu tun ist, personal gebunden ist. Sie ist nicht objektivierbar, haftet an ihrem Träger. In den von Weber beschriebenen Formen des »Kulturmenschentums« wird sie von einer »Herrenschicht« verkörpert bzw. manifestiert sich in ihrer Lebensführung. Insofern geht Bildung auf das Sein des Menschen – der Gesichtspunkt, auf den die Anstrengungen zu richten sind, liegt nicht darin, wie die Menschen »sich befinden, sondern wie sie sein werden«. Darin folgt Weber einem wesentlichen Aspekt der klassischen Auffassung von Bildung: »›Ja, mein Guter‹, sagte Goethe, ›hierauf kommt alles an. Man muß etwas sein, um etwas zu machen‹« 7 . Weber selbst bringt dieses Seinsmoment zur Geltung, indem er die »Kultivierung« als einen Vorgang begreift, der zwischen zwei Extremen zu positionieren ist, nämlich der charismatischen Begabung und Erziehung einerseits und der rein fachmäßigen Lehre andererseits. »Die genuin charismatische Erziehung ist aber der radikale Gegenpol der von der Bürokratie postulierten fachspezialisierten Lehre. Zwi7

Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe, Eintrag zum 28. Oktober 1828. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

163

Markus Kartheininger

schen der auf charismatische Wiedergeburt gerichteten Erziehung und dem auf bürokratisches Fachwissen gerichteten rationalen Unterricht mitten inne liegen alle jene auf ›Kultivierung‹ in dem früher besprochenen Sinn des Wortes: Umgestaltung der äußeren und inneren Lebensführung, gerichteten Arten der Bildung, welche die ursprünglichen irrationalen Mittel der charismatischen Erziehung nur in Resten bewahren, und dessen wichtigster Fall von jeher die Heranbildung zum Krieger oder Priester war« 8 . Das eine Extrem, das Charisma, ist qua Extrem noch gar nicht Gegenstand der Erziehung. Denn Charisma als die einer Person anhaftende Gnadengabe kann weder mitgeteilt, noch angeeignet werden. Erst wenn das Charisma zu einer sachlichen Qualität wird, ist der Weg zu einer Verwandlung der Gnadengabe zu etwas im Prinzip Erwerbbarem beschritten. Erst dann wird sie zum Gegenstand der Erziehung – und zwar zunächst nicht in Form von rationaler Lehre, sondern als Übertragung durch magische Mittel, durch die auf die »Wiedergeburt« der ganzen Persönlichkeit abgezielt ist. Die Formen, in denen eine solche »Wiedergeburt« und Umgestaltung der gesamten Lebensführung initiiert wird, setzen sich teils (!) – wie in der Internatserziehung – bis in die Praktiken der jüngeren Zeit fort: Isolierung der Zöglinge von der gewohnten Umgebung und Familie, Eintritt in eine Erziehungsgemeinschaft, Askese, körperliche und seelische Exerzitien, Prüfungen, psychische Erschütterung, Torturen, Verstümmelung (Beschneidung), bis hin zur Rezeption in den Kreis der bewährten Träger des Charisma 9 . Die Positionierung der »Kultivierung« zwischen charismatischer Begabung und dem auf Fachwissen gerichteten »rationalen« Unterricht macht deutlich, daß Bildung nicht in der Aneignung von objektivierbarem Wissen und von Kompetenzen aufgeht. Bildung als Kultivierung umgreift zwar in der Tat solche Kenntnisse, die die Person hat und die dementsprechend auch objektiviert und mitgeteilt werden können; sie betrifft aber darüber hinaus auch das, was eine Person ist. Die Rede von fachlichen, sozialen oder persönlichen »Kompetenzen«, die heute vielfach gebraucht wird, um diesem Seinsmoment an Bildung gerecht zu werden, genügt der Sache nur unzureichend. Gewiß ist ein »Können«, ein »Know how«, in einem stärkeren Maße an den Träger 8 9

164

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, l. c., p. 677. Cf. ibid.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

gebunden als ein objektivierbares, mitteilbares Wissen und muß durch praktische Einübung angeeignet werden. »Kompetenzen« sind aber letztlich doch etwas, was eine Person hat. Sie können dem Menschen in seiner Lebensführung ganz äußerlich bleiben. Sie stehen zur Disposition und können zu verschiedenen Zwecken eingesetzt oder bewußt auch nicht eingesetzt werden. Der Begriff der Kompetenz ist daher nicht geeignet, um die Qualität der Lebensführung, auf die die Kultivierung geht, zu greifen. Wie zu sehen sein wird, läßt sich das Seinsmoment an der Bildung hingegen sehr wohl philosophisch erfassen. Philosophisches Wissen geht qua Selbsterkenntnis sogar ganz wesentlich auf das Sein des Menschen. Max Weber aber, der aus teils guten, teils schlechten Gründen der Religion eine viel bedeutendere Rolle in bezug auf die Lebensreglementierung zuspricht als der Philosophie, bringt die Ausrichtung von Bildung auf die Qualität der Lebensführung, die sich nicht objektivieren läßt und daher nur bedingt – durch besondere, »irrationale Mittel« – zu »übertragen« und anzueignen ist, in den Blick, indem er die Kultivierung in eine Kontinuität zu archaischen, magischen oder religiösen Praktiken stellt, in denen das, was nicht ohne weiteres mitteilbar ist, auf die Person »übertragen« bzw. in ihr initiiert und erweckt werden soll. Dieses »irrationale« Moment der »Übertragung« ist im säkularisierten Zusammenhang zumindest darin noch wirksam, daß Kultivierung auch hier zum großen Teil Nebenwirkung des Miteinanderlebens ist, durch das der Heranwachsende in die Lebensformen einer Kultur sich einlebt. Dieser Vorgang kann schon allein deshalb nicht als ein direkt zielgerichtetes Tun begriffen werden, weil die Lebensformen einer Gemeinschaft dieser großenteils unmittelbar sind. Es sind die Formen, in denen eine Gemeinschaft sich darlebt, mit denen sie sich identifiziert hat und die insofern ihre Identität und ihr Sein ausmachen 10 . Robert Spaemann macht dieses Moment der Unmittelbarkeit durch den Hinweis deutlich, daß man sich Erziehungsziele nicht ausdenken kann, daß man Interessen und Überzeugungen haben muß, um solche bei anderen wecken und sie vermitteln zu können: »Gerade weil Erziehung Nebenwirkung menschlichen Umgangs mit Kindern, des Lebens mit Kindern ist, darum können wir uns nicht für unsere Kinder Erziehungsziele ausdenken. Wir können die Kinder nur teilnehmen lassen an dem, was uns selbst erfüllt, was uns selbst wirklich ist …« (Spaemann, Robert, Erziehung zur Wirklichkeit. In: id., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart, 2001, p. 503–512, p. 505).

10

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

165

Markus Kartheininger

Wenn Kultivierung Nebenwirkung des menschlichen Miteinanderlebens ist und das Hineinwachsen in eine Lebensform sich als Nebeneffekt des Miteinanderumgehens einstellt, ist die These vom »Gravitationsverlust der Kultur« in den heutigen Formen von Bildung aber umso mehr erläuterungsbedürftig. Die Nivellierung muß in der Eigenart der Kultur selbst ihren Grund haben. Denn die Kultur muß selbst Ausdruck einer qualitativen Differenzierung sein, wenn in Erziehung und Bildung eine Qualität der Lebensführung übertragen werden soll.

III. Es gibt einen moralischen Konflikt, der aus der personalen Gebundenheit, dem Seinsmoment von Bildung resultiert. Die Idee der Bildung ist nicht beliebig transportierbar. Sie ist zwar als Kultivierung im Prinzip erwerbbar; gerade aber weil sie Nebenwirkung des Miteinanderumgehens ist, bleibt die Übertragung der Qualität der Lebensführung – anders als der »rationale Unterricht« von Fachwissen – großenteils an soziale Lebenszusammenhänge gebunden, die sich der Verfügung entziehen. Damit konfligiert das »Kulturmenschentum« aber mit den gerechten Forderungen nach sozialer Mobilität und Chancengleichheit. Sein Nimbus und sein Gewicht scheint paradoxerweise gerade damit zu steigen und fallen, inwiefern die Qualität sich dem Willen entzieht, sie nichts äußerliches ist, das sich leichthin aneignen oder verteilen ließe. Etwas überspitzt formuliert dies Theodor W. Adorno: »Bildung läßt sich (…) überhaupt nicht erwerben; Erwerb und schlechter Besitz wären eines. Eben dadurch aber, daß sie dem Willen sich versagt, ist sie in den Schuldzusammenhang des Privilegs verstrickt: nur der braucht sie

Das »Haben« der Überzeugungen und Interessen ist dann aber freilich nicht in einem äußerlichen Sinn zu verstehen. Die Überzeugungen und Interessen bestimmen vielmehr das Sein des Menschen. Hegel hat dies mit Blick auf die platonischen Ideen auf vollendete Weise zum Ausdruck gebracht. Diese seien gerade nicht etwas, was man in die Tasche stecken und gegebenenfalls wieder herausnehmen könne: »Wie einfältig! Das sieht aus, als sei der Philosoph im Besitz seiner Gedanken wie der äußerlichen Dinge. Die Gedanken sind aber ganz etwas anderes. Die philosophische Idee besitzt umgekehrt den Menschen« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke, ed. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Bd. 19, Frankfurt, 1986, p. 21).

166

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

nicht zu erwerben und nicht zu besitzen, der sie ohnehin schon besitzt« 11 . In der Tat muß die Ausrichtung der Bildung auf die Kultur des Menschen, d. h. die Orientierung der Bildungsanstrengungen auf eine »Qualität der Lebensführung«, heutigen Ohren denn auch fremd anmuten. Das Befremden wird sich zunächst gegen die harsche Herrschaftssoziologie Webers richten, die in solchen Bildungsvorstellungen zum Ausdruck kommt. Denn die Qualität des Menschen, die Ziel der Kultivierung ist, kommt nach Weber vorzüglich einer »Herrenschicht« (sh. I.) zu, die den Ton der gesellschaftlichen Ordnung bestimmt bzw. ihren moralischen Geschmack verkörpert. Die Herrenschicht qualifiziert sich als solche durch das »Mehr an Kulturqualität«, nicht durch das Mehr an Fachwissen. Soll diese Qualität der Lebensführung den Ton der Ordnung prägen, so muß sie aber doch von der ganzen Gesellschaft als »Qualität« anerkannt sein. Insofern ist letztere der ganzen Gesellschaft wirklich, wenngleich sie nur in einer bestimmten sozialen Gruppierung realisiert ist. Bildung als Kultivierung impliziert folglich eine in öffentlicher Geltung stehende Rangordnung inhaltlich bestimmter Lebensformen. »Kultivierung« ist offenbar für Weber ein leeres Wort in einer Gesellschaft, die keinen Konsens über die Rangordnung von Lebensformen zu erzielen vermag bzw. die eine solche Rangordnung im Sinne des Pluralismus explizit offen läßt. Freilich gibt es auch in der pluralistischen Massendemokratie de facto Kriterien der sozialen Differenzierung. Aber die Kategorie des »Lebensstandards« indiziert eine bloß ökonomische Differenz. Analog zur Fachqualifikation wird man nicht behaupten können, daß sich in ihr die »Qualität des Menschen« bzw. »menschlicher Adel« zum Ausdruck bringen läßt. Die Differenzierung nach »Lebensstilen« ist hingegen bloß privater, unverbindlicher Natur. Sie kann daher nicht die inhaltliche Grundlage sozialer Schätzung und den Zielpunkt von Erziehung und Kultivierung ausmachen. Die Gründe für die öffentliche Unverbindlichkeit, die der Bildung als Kultivierung und damit auch der kulturellen Einbindung der Fachqualifikation den Boden entzieht, liegen aber nicht nur im moralischen Selbstverständnis heutiger demokratischer Gesellschaften, das aus Gründen des Egalitarismus den Pluralismus und die substantielle UnAdorno, Theodor W., Theorie der Halbbildung. In: id., Soziologische Schriften I, ed. Tiedemann, Rolf, Frankfurt, 1979, p. 93–121, p. 107.

11

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

167

Markus Kartheininger

bestimmtheit der politischen Gemeinschaft moralisch bejaht. Denn bereits das »Mehr an Kulturqualität«, das die Herrenschicht als solche qualifiziert, hatte eine Ordnungsfunktion. Es hing nicht »in der Luft«, schwebte nicht über den realen Lebensverhältnissen und ihrer Ordnung, sondern war vielmehr sozial in der Struktur der Herrschaft verankert. So ist der Feudalismus gekennzeichnet durch den »rein personalistischen Charakter ebenso der ökonomischen wie der politischen Gewaltverhältnisse, bei welcher die Justiz und vor allem die Verwaltung ein Kosmos des Sichauswirkens persönlicher Unterwerfungsverhältnisse ist, beherrscht durch Willkür und Gnade, Zorn und Liebe, vor allem aber durch gegenseitige Pietät der Herrschenden und Unterworfenen …« 12 . Ebenso aber wie die Rangordnung inhaltlich bestimmter Lebensformen im Feudalismus ist auch das moralische Selbstverständnis moderner demokratischer Gesellschaften mit der Weise ihrer sozialen Organisation verflochten, aus der sich dann allererst verstehen läßt, warum hier der Fachqualifikation ein vorrangiges Prestige zukommt, das sich von der Einbindung in qualitativ differenzierte kulturelle Lebensformen emanzipiert hat.

IV. Nach Weber ist es »das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit …«. Der Verweis auf die Rationalisierung zielt aber auf die Versachlichung der sozialen Beziehungen, aufgrund derer die »sublimsten Werte« aus der öffentlichen Bedeutsamkeit gewichen sind und nur noch »innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo,« 13 pulsieren. »Rationalisierung« meint zunächst eine Disziplinierung und methodische Gestaltung der Lebensführung durch Wissen. Insofern ist Rationalisierung Intellektualisierung; und sie kann Weber zufolge nach verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen – je nach dem, welche Zwecke gesetzt werden. Rationalisierung ist »Entzauberung der Welt«, weil sie von der Annahme sich leiten läßt, daß die Bedingungen und 12 13

168

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, l. c., p. 361. Weber, Max, Wissenschaft als Beruf, Stuttgart, 1995, p. 44.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

Zusammenhänge, in denen das Leben geführt wird, nicht von geheimnisvollen Mächten abhängen, deren Gunst durch Magie und Gebet zu gewinnen wäre; die Lebensbedingungen gelten vielmehr als prinzipiell durch Berechnung beherrschbare. Die wissenschaftliche Erforschung der Lebensbedingungen in ihrer fortschreitenden Differenzierung und Spezialisierung und die wissenschaftlich orientierte Technik sind wesentliche Glieder und Triebkräfte dieses Entzauberungsprozesses 14. Die Tendenz zur Versachlichung und in eins damit der enorme Bedeutungszuwachs der Fachqualifikation in modernen Gesellschaften folgt im Keim daraus, daß in der Rationalisierung Sphären des gesellschaftlichen Lebens in ihrer inneren Eigengesetzlichkeit bzw. Sachlogik herauspräpariert und ausdifferenziert werden. Die bürokratische Organisation in Staat, Kirche, Wirtschafts- und Wissenschaftsbetrieb, Klinik, Heer, Partei, Interessenverband, Verein usf. bringt diese innere Betriebsrationalität der jeweiligen Sphäre im sozialen Leben und Handeln zur Geltung. Denn sie bietet das »Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung (…) nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezialistisch abgerichtete und in fortwährender Übung immer weiter sich einschulende Funktionäre« 15 . Bürokratisierung impliziert also u. a. eine unpersönliche Ordnung kraft sachlicher Regeln, einen kontinuierlichen regelgebundenen Betrieb von Geschäften, die aktenmäßige Durchführung der Verfahren, rational abgegrenzte sachliche Zuständigkeiten des Personals und nicht zuletzt dessen Fachschulung als Voraussetzung der Teilnahme an solchen Verbänden. Bürokratie ist »Herrschaft kraft Wissen« und sie ist in bezug auf Effizienz, Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit, Verläßlichkeit und Berechenbarkeit gegenüber allen anderen Formen der sozialen Organisation technisch überlegen. Aufgrund der Sozialisierung der Überlebensmöglichkeiten und der Güterversorgung ist die moderne Gesellschaft an das stetige, korrekte Funktionieren der Bürokratie gebunden. »Unser gesamtes Alltagsleben ist in diesen Rahmen eingespannt. Denn wenn die bureaukratische Verwaltung überall die (…) formal-technisch rationalste ist, so ist sie für die Bedürfnisse der Massenverwaltung (…) heute schlechthin unentrinnbar. Man hat nur die Wahl zwischen ›Bureaukratisierung‹ und ›Dilettantisierung‹ der Ver14 15

Cf. l. c., p. 18/19. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, l. c., p. 562. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

169

Markus Kartheininger

waltung, und das große Mittel der Überlegenheit der bureaukratischen Verwaltung ist: Fachwissen, dessen völlige Unentbehrlichkeit durch die moderne Technik und Ökonomik der Güterbeschaffung bedingt wird …« 16 . Zum einen geht hieraus deutlich hervor, warum die Bedeutung von Fachwissen und Fachkompetenzen in der modernen Gesellschaft vorrangig ist und diese Qualifikationen soziales Prestige genießen; zum anderen setzt aber die Versachlichung und Verunpersönlichung der sozialen Beziehungen die kulturelle Einbindung der Fachqualifikation in qualitativ differenzierte Lebensformen außer Kraft. Die ökonomischen und politischen Gewaltverhältnisse waren im Feudalismus Ausdruck persönlicher Unterwerfungsverhältnisse. Sie waren daher einer ethischen Reglementierung zugänglich. Anders, wenn die persönlichen Pietätsbeziehungen im Zuge der Rationalisierung in sachlich definierte Ordnungen transformiert sind: »›Ohne Ansehen der Person‹, ›sine ira et studio‹, ohne Haß und deshalb ohne Liebe, ohne Willkür und deshalb ohne Gnade, als sachliche Berufspflicht und nicht kraft konkreter persönlicher Beziehung erledigt der homo politicus ganz ebenso wie der homo oeconomicus heute seine Aufgabe gerade dann, wenn er sie im idealsten Maße im Sinn der rationalen Regeln der modernen Gewaltordnung vollzieht« 17 . Die verselbständigten, einer sachlichen rationalen Eigengesetzlichkeit folgenden Ordnungen sind indifferent gegenüber der Qualität der Lebensführung. Sie verweigern sich einer personalen, ethischen Ausdeutung. Die Indifferenz der realen Lebensverhältnisse gegenüber der Kultur bedingt deren Gravitationsverlust. Kultur wird etwas »Unnützes«, gegenüber den realen Lebensverhältnissen Eigenständiges. Die funktionale Durchrationalisierung der Gesellschaft neutralisiert die substantielle Bestimmtheit der politischen Gemeinschaft oder verschiebt sie ins Private, wo sie in der unverbindlichen, weil ihres Bezugs zur realen Lebenspraxis entäußerten Gestalt von »Lebensstilen« fortdauern mag. Die Qualität der Lebensführung wird damit ihrer öffentlichen Bedeutsamkeit entkleidet; sie verschwindet in den zwecklosen, L. c., p. 128. L. c., p. 361. Deshalb verzichtet der einzelne in den versachlichten sozialen Zusammenhängen, »wo die Berufserfüllung nicht direkt zu den höchsten geistigen Kulturwerten in Beziehung gesetzt werden kann, (…) heute meist auf ihre Ausdeutung überhaupt»(Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 19889 , p. 204).

16 17

170

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

aber perfekten Regelkreisen zwischenmenschlichen Verhaltens, deren einziges Ziel ihr Funktionieren ist. Mit guten Gründen läßt Weber freilich keinen Zweifel daran, daß die Rückkehr zu einem Personalismus unter den modernen Bedingungen, bei denen alle existentiell vom Funktionieren der bürokratischen sozialen Organisation abhängig sind, fatal wäre und in einen sachfremden »Dilettantismus« führte. Die Flucht aus den »kalten« rationalen Ordnungen hin zu den »Götzen« von »Persönlichkeit« und »Erleben« gilt ihm als Schwäche, weil diese unter den modernen Bedingungen zu bloßen »Surrogaten« geworden sind 18 . Nimmt man schließlich hinzu, daß im Zuge der Rationalisierung verschiedene Sphären des gesellschaftlichen Lebens in ihrer inneren Eigengesetzlichkeit herauspräpariert werden und gegenseitig zueinander in eine antagonistische Spannung geraten 19 , so zeigt sich, daß die öffentliche Unverbindlichkeit bzgl. der Rangordnung inhaltlich bestimmter Lebensformen von der sozialen Organisationsform dieser Gesellschaft geradezu gefordert ist. Denn der Typus, der durch die pluralistische Ordnung begünstigt wird, ist das vielseitige, zu häufigem Rollentausch fähige Individuum, das sich im Antagonismus der inneren sachlichen Konsequenzen der Teilsysteme bewegen kann. Dieses Individuum weist denn aufgrund seiner substantiellen Unbestimmtheit auch ein Höchstmaß an Anpassungsfähigkeit und Flexibilität auf, die in heutigen modernen Gesellschaften mit Blick auf die Subsistenzsicherung verlangt sind.

V. Es zeigte sich, inwiefern der faktische Horizont der heutigen Thematisierung von Bildung durch die nicht mehr explizierbare kulturelle Einbindung der Fachqualifikationen gekennzeichnet ist. Eine solche Einbettung von Fachwissen und Fachkompetenzen bleibt in heutigen modernen Gesellschaften offen. Denn Bildung als Kultivierung setzt eine in öffentlicher Geltung stehende Rangordnung inhaltlich bestimmter Lebensformen voraus. Eben diese Voraussetzung ist in der Cf. Weber, Wissenschaft als Beruf, l. c., z. B. p. 16. Cf. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, (Zwischenbetrachtung), l. c., p. 541 u. 570.

18 19

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

171

Markus Kartheininger

öffentlichen Unverbindlichkeit pluralistischer moderner Gesellschaften nicht länger gegeben. Das alte »Kulturmenschentum« zieht heute nicht nur moralische Bedenken auf sich, insofern es den gerechten Anforderungen nach sozialer Mobilität und Chancengleichheit nicht zu genügen scheint; die substantielle Unbestimmtheit moderner demokratischer Gesellschaften ist vielmehr auch in der Weise ihrer sozialen Organisation tief verankert. Denn die Versachlichung der sozialen Beziehungen entkleidet die Qualität der Lebensführung ihrer öffentlichen Bedeutsamkeit und macht zugleich die vorrangige Bedeutung fachlicher Qualifikationen verständlich, auf die moderne Gesellschaften existentiell angewiesen sind. Diese fachlichen Qualifikationen haben sich von der Einbettung in qualitativ differenzierte Lebensformen emanzipiert 20 . Es zeigte sich ferner, daß Bildung als Kultivierung auf das Sein des Menschen geht und darin – zumindest im Weberschen Verständnis von »Rationalität« – ein »irrationales Moment« in sich begreift. Dieses entzieht sich der planenden Verfügung, weil es die substantielle Bestimmung und Identität einer politischen Gemeinschaft betrifft, die dieser unmittelbar ist. Solche substantielle Bestimmtheit, die den »Ton« einer gesellschaftlichen Ordnung prägt, verdampft aber in der verwissenschaftlichten, vielfach vermittelten Lebenspraxis des modernen Alltags, in der inzwischen selbst noch Erziehung und Bildung an Schulen und Universitäten – teils sogar in den Familien – zweckrational durchrationalisiert werden und in welcher Überzeugungen, Lebensformen und Identitäten eine nurmehr hypothetische Geltung zukommt. Mit all dem ist aber die Aufgabe, die eingangs formuliert wurde, nur zum Teil erfüllt. Die Aufgabe stellte sich darin, daß der faktische Horizont der gegenwärtigen Diskussion von Bildung zu thematisieren und überprüfen ist – aber ohne in dieser Ortsbestimmung der Gegenwart das Koordinatensystem dem Zeitgeist zu entnehmen. Der faktische Horizont sollte also in bezug auf einen Maßstab thematisiert werden, der nicht dem »Hier« und »Jetzt« verhaftet ist, sondern vielmehr

Selbstverständlich soll damit nicht gesagt sein, das Leben in der versachlichten modernen Welt bewege sich in einem »moralfreien« Raum. Aber die moralischen Wertvorstellungen, wie sie in den Menschenrechten und den Verfassungen moderner westlicher Demokratien niedergelegt sind, beschreiben nur abstrakte Minimalbestimmungen. Sie bleiben daher mit Blick auf die Qualität der Lebensführung, die ein Maximum, eine Perfektion beschreibt, stumpf.

20

172

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

gerade eine Distanzierung, Überprüfung und nüchterne Einschätzung des »Hier« und »Jetzt« ermöglicht. Stellt man nun aber an Max Weber die Frage nach einem solchen Maßstab, so zeigt sich, daß sein Ansatz selbst noch ein Ausdruck dessen ist, was er kritisch diagnostiziert. Denn worin besteht der Maßstab bei Weber? Worin liegt die »Qualität der Lebensführung«, mit der die Empfindung zu verbinden wäre, »daß sie menschliche Größe und den Adel unserer Natur« ausmacht? Wie gesehen, ist nach Weber die Qualität der Lebensführung, die im »Kulturmenschentum« Ziel der Erziehung ist, dasjenige, was der jeweiligen politischen Gemeinschaft als kultiviert gilt (sh. I). Die Soziologie Webers gebraucht die Rede vom »kultivierten Menschen« wertfrei, in einer bloß deskriptiven Haltung. Bereits in seiner frühen Antrittsrede als Nationalökonom, in der Weber die Volkswirtschaftslehre und die Wirtschaftspolitik auf die Orientierung an der Qualität des Menschen verpflichtet, ist dieser Verzicht auf eine normative Auszeichnung eines Maßstabs nur ein Verzicht, der der Wissenschaft auferlegt wird. Es ist nicht ein Verzicht auf einen normativen Maßstab und eine Wertung überhaupt! Die Antrittsrede macht sich sogar die »Darlegung und Rechtfertigung des persönlichen und insoweit ›subjektiven‹ Standpunktes bei der Beurteilung volkswirtschaftlicher Erscheinungen« 21 explizit zum Thema. Webers Antwort auf die Frage nach dem Maßstab gipfelt in dem Satz, daß »die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik (…) eine politische Wissenschaft« ist. Das heißt aber, die Frage, was als »kultiviert« zu gelten hat, ist keine Frage, die zu beantworten der Wissenschaft zukäme. Es ist eine politische Frage, wie Weber in schneidendem Ton behauptet: »Die Volkswirtschaftslehre als erklärende und analysierende Wissenschaft ist international, allein sobald sie Werturteile fällt, ist sie gebunden an diejenige Ausprägung des Menschentums, die wir in unserem eigenen Wesen finden. (…) Die Volkswirtschaftslehre eines deutschen Staatswesens ebenso wie der Wertmaßstab des deutschen volkswirtschaftlichen Theoretikers können deshalb nur deutsche sein« 22 . Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, l. c., p. 1. L. c., p. 14/15. Bemerkenswert hierzu der Stolz und die Genugtuung über den Tabubruch, die Weber in einem Brief an seinen Bruder Alfred mit Blick auf seine Antrittsrede an den Tag legt: »Mit meiner Antrittsvorlesung habe ich Entsetzen über die Bruta-

21 22

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

173

Markus Kartheininger

Das Gebot der Werturteilsfreiheit soll also Webers Verständnis zufolge nicht den Verzicht auf Werturteile überhaupt implizieren. Webers Lösung, die Maßstäbe der Beurteilung ins Politische zu verschieben, ist aber wenig überzeugend, ja geradezu paradox. Denn zu sagen, der Maßstab der Kultivierung sei ein politischer, heißt in eins, diesen Maßstab als partikularen, bloß provinziellen zu desavouieren. Das Selbstverständnis, das den Maßstab als einen politischen weiß, ist im Wissen über diesen vorgeblichen Maßstab je schon hinaus und versteht sich im Lichte des Allgemeinen. Ein Maßstab, der die Qualität des Menschen angeben soll, beinhaltet als Maßstab den Anspruch auf Universalität. Er kann daher nicht explizit als politischer gewußt werden, ohne dadurch seiner Maßstäblichkeit verlustig zu gehen. Dieses Paradox hängt unmittelbar mit dem »irrationalen Moment« der Kultivierung zusammen. Der Vorgang der Kultivierung stellte sich als eine Nebenwirkung des Miteinanderlebens dar, worin der einzelne sich in die kulturellen Lebensformen einer politischen Gemeinschaft, die dieser unmittelbar, substantiell sind und mit denen sie sich identifiziert hat, einlebt. Kultivierung begreift insofern nach Weber ein »irrationales Moment« in sich, das sich der planenden Verfügung entzieht. Erklärt man nun aber den Maßstab der Kultivierung explizit zu einem politischen, so soll darin ein Substantielles aus Willkür aufgerichtet werden. Solcher Gewaltakt straft aber die Substantialität Lügen, nach der er die Hände ausstreckt. Die künstliche Wiederherstellung von Substanz gelangt lediglich zu einer »nachgeahmten Substantialität« 23 , die im Ansatz der faschistischen Reaktion auf die substantielle Unbestimmtheit der Moderne entspricht. Webers Ansatz zeugt somit aber selbst vom Pluralismus. Kultur tritt hierin im Plural

lität meiner Ansichten erregt, fast am zufriedensten waren die Katholiken, weil ich der ›ethischen Kultur‹ einen festen Tritt versetzt habe« (Brief vom 17. Mai 1895; zitiert nach Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung, Tübingen, 1987, p. 171/172). 23 Cf. Habermas, Jürgen, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt, 1987, p. 107 ff. Im Grunde kehrt bei Webers Verschiebung der Maßstabsfrage ins Politische Rousseaus Problemstellung der »bürgerlichen Religion« wieder. Das Christentum, die »Religion des Menschen«, hat nach Rousseau mit seinem Universalismus die innere Loyalität der Bürger zum politischen Verband untergraben. In dem zum »Emile« alternativen, politischen Erziehungsprogramm skizziert Rousseau in der »bürgerlichen Religion« eine sakral überhöhte politische Lebensform, die freilich unter den Bedingungen der Moderne totalitäre Züge annehmen muß (Cf. Rousseau, Jean-Jacques, Du Contract Social, IV, Kap. 8).

174

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

auf. Weber ist der Historiker des »Kulturmenschentums«. Er erinnert es als etwas vergangenes. Es bleibt die Bildung durch die Wissenschaft. Immerhin vermag diese, – neben der Vermittlung fachlicher Kenntnisse und Methoden – zur Klarheit bezüglich der letzten praktischen Stellungnahmen in der Lebensführung zu verhelfen, indem sie die verschiedenen Alternativen in ihren inneren Konsequenzen darlegt. Diese Alternativen sind nach Weber Ausdruck eines »Polytheismus« der Wertordnungen, die »in unlöslichem Kampf untereinander stehen«. »Und über diesen Göttern und in ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine ›Wissenschaft‹« 24 . Webers Diagnose der Bildung in der modernen Gesellschaft ist damit aber selbst Ausdruck der öffentlichen Unverbindlichkeit, die er kritisch analysiert. Der faktische Horizont der Thematisierung von Bildung ist darin nicht auf einen Maßstab bezogen, der eine nüchterne Einschätzung und Selbsterkenntnis allererst möglich machte.

VI. Wenn sich angesichts des Pluralismus der Wertordnungen kein Konsens mehr über eine Rangordnung inhaltlich bestimmter Lebensformen erzielen läßt und die Idee des »Kulturmenschentums« an die Beschränktheit auf einen partikularen Horizont gebunden scheint, dann liegt eine pragmatische Haltung nahe, die die Formierung des Menschen in seiner Lebensführung innerhalb sehr allgemeiner Minimalbestimmungen offen läßt. Diese pragmatische Lösung ist überdies überaus bequem, sofern der oben beschriebene moralische Konflikt (sh. III) entfällt. Denn wenn sich jenseits der fachlichen Qualifikationen und des Spezialistentums nicht mehr sagen läßt, was und wer Elite ist, dann entfällt auch die Spannung zwischen einer qualitativ bestimmten Rangordnung von Lebensformen und der egalitären Forderung nach der Gleichstellung aller Lebensweisen. In der Tat bezeugen bereits die eingangs berührten Gesichtspunkte, die heute in der öffentlichen Diskussion um Bildung auf Resonanz stoßen und im Vordergrund stehen, daß sich heute gar nicht mehr gehaltvoll sagen läßt, was Bildung ist. Der sozialtechnologische Aspekt 24

Weber, Wissenschaft als Beruf, l. c., p. 32 u. 33. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

175

Markus Kartheininger

restringiert Bildung auf die Anpassung an die Funktionsimperative des ökonomischen Systems; der demokratisch-egalitäre Gesichtspunkt thematisiert Bildung hingegen als gesellschaftspolitisches Instrument zur Herstellung von sozialer Gleichheit. Diesem Pragmatismus entspricht in der Pädagogik die dominant werdende Tendenz, Erziehung und Bildung nicht länger an einem Maximum, einem Maßstab der Perfektion zu orientieren, sondern vielmehr von einem Minimum auszugehen. Das Problem an den traditionellen Bildungskonzepten sieht etwa Heinz-Elmar Tenorth darin, daß »hier weniger die Anfangsgründe, als vielmehr die lichten Höhen von Zielbegriffen angesprochen [werden], die das Ende und das Maximum, nicht die realistisch beschriebene Grundlage oder den alltäglichen Ausgangspunkt von Bildungsprozessen beschreiben« 25 . Die realistisch beschriebene Grundlage, von der auszugehen sei, bestehe aber in einer »Sockelqualifikation«: in der »für das Funktionieren von Gesellschaften notwendige[n] und unentbehrliche[n] Mindestqualifikation der Bevölkerung« 26 . Die traditionelle Orientierung am Maximum ist Tenorth »Ideologie«. In ihr seien pseudotheoretisch ständisch-soziale Differenzen legitimiert worden. Zumindest ist an diesen Ausführungen richtig, daß der traditionelle Bildungsbegriff infolge der Nivellierung dieser gesellschaftlichen Differenzen seine Verankerung in der sozialen Organisation der Gesellschaft verliert und sich gegenüber den realen Lebensverhältnissen verselbständigt (sh. IV). Bildung blieb »nur noch als idealistisch-programmatische Einheitsformel zurück, ohne die Fähigkeit, die Differenzen an Erwartungen und Programmen und die Schematisierung der Institutionen zu beschreiben« 27 . Weil das neuhumanistische Pathos aber jeden Kontakt zur Realität verloren hat, ist die »normative Fixierung« auf ein Maximum nach Tenorth aufzugeben. Denn sie verschleiere mit ihrem Pathos nur die tatsächliche Bildungsarmut, an der allein effektiv etwas verändert werden könne, wenn man – wie in der PISA-Studie – Mindeststandards definiere, die im Gegensatz zu den verschwommenen, lichten Maxima eine zielgerichtete, kontrollierbare und effiziente Arbeit an den Problemen allererst erlaube. Tenorth, Heinz-Elmar, Stichwort: »Grundbildung« und »Basiskompetenzen«. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, 7. Jg., Heft 2/2004, p. 169–182, p. 170. 26 L. c., p. 173. 27 Ibid. 25

176

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

In der Tat – darin ist Tenorth recht zu geben – wirkt die Orientierung an der »allseitigen Ausbildung der Persönlichkeit« tragischkomisch und wird karikiert, wenn Jugendliche nach dem Durchlauf der Schule die Fähigkeiten von Lesen, Schreiben und Rechnen nicht beherrschen. Das Auseinandertreten von Anspruch und Wirklichkeit, auf das hier abgehoben ist, soll nicht geleugnet werden. Dennoch ist gegen Tenorth zurecht eingewandt worden, daß es sich bei der von ihm vorgeschlagenen Orientierung an den transnationalen »Kulturwerkzeugen« (sprachliche, mathematische, naturwissenschaftliche Kompetenzen) gar nicht länger um ein Konzept von Bildung handle und statt dessen einem bloßen »Qualifikationskonzept« das Wort geredet sei: einem »nackte[n] Instrumentalismus, der in der Ausrüstung mit ›basalen Kulturwerkzeugen‹ so etwas wie Grundbildung erblicken will« 28 . Was diesem »Qualifikationskonzept« zur Bildung fehlt, ist deren Seinsmoment: der Bezug darauf, was der Mensch ist 29 . Vor allem aber liegt der heute sich ausbreitenden Option, für die Tenorths Ausführungen gleichsam exemplarisch stehen, ein prekäres Verständnis des Verhältnisses von Materiellem und Geistigem, von Mittel und Zweck, von der gewiß unentbehrlichen Aneignung von Kompetenzen und Fachqualifikationen einerseits und der Integration dieser Qualifikationen auf ein Ganzes, ein Maximum hin andererseits zugrunde, so daß sich die Frage stellt, ob die Abkehr von der traditionellen Orientierung am Maximum nicht nochmals zu überdenken wäre. Verräterisch ist bereits die Rede von »Sockelqualifikationen«; gleichfalls der Sinn, in dem von den »Anfangsgründen« des Bildungsprozesses gesprochen wird (sh. oben). Natürlich will Tenorth Bildung nicht auf die Aneignung der »unentbehrlichen Mindestqualifikation der Bevölkerung« beschränken. Diese hat lediglich den »Sockel«, die »Basis« bereitzustellen, die dann später erweitert und auf der sich eine »höhere« Bildung erheben soll. Denn das »Literacy«-Konzept der Basiskompetenzen »definiert das Minimum, bindet es aber zugleich als Voraussetzung und Basis in ein Kontinuum von Steigerungsformen Koch, Lutz, Allgemeinbildung und Grundbildung, Identität oder Alternative? In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, 7. Jg., Heft 2/2004, p. 183–191, p. 188. 29 Deshalb spricht Koch mit Blick auf Tenorths Orientierung an der »unentbehrlichen Mindestqualifikation« von »entkernten Subjekten«. Zur Bildung fehle Tenorths Vorstellungen das Moment der »Selbstapplikation« des Lernens, die »Veränderung und Bereicherung des Selbst bzw. der Person« (ibid.). 28

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

177

Markus Kartheininger

ein …« 30 . Aber es fragt sich, wie diese »Einbindung« aussehen soll, wenn die Aneignung der Minima nicht schon je im Lichte eines Maximums geschieht, das dem Bildungsprozeß von Beginn an vorausgehen und schon im ersten Schritt präsent sein muß. In der Auffassung von den »Sockelqualifikationen« bleibt dieses Verhältnis von Teilen und Ganzem nicht nur unverstanden; sie steht für ein alternatives, statisches Modell, demzufolge zunächst das Notwendige, Materielle sicherzustellen ist und auf dem dann gegebenenfalls das Geistige, scheinbar »Überflüssige« der »Kultur« – wenn man es sich leisten kann – daraufgebaut werden kann. Analog steht es mit den »Anfangsgründen«. Im Altgriechischen ist das Problem schon in der Sprache reflektiert. Denn »archè« hat die Bedeutung von »Anfang, Ursprung« und zugleich von »Herrschaft«. Und das griechische Sprichwort »Der Anfang ist mehr als die Hälfte des Ganzen«, auf das die Klassiker rekurrieren, bringt zum Ausdruck, daß von Beginn an die Ausrichtung auf das Ganze, das Maximum präsent sein muß, denn die »archaí« »haben großes Gewicht für alles weitere« 31 . Der Sinn, in dem Tenorth von den »Anfangsgründen« spricht, ist hingegen ein ganz anderer. Die »Anfangsgründe« sind hier gerade gegen das Maximum, das Ganze definiert, welches eben »später« kommen soll. Die »Anfangsgründe« sind hier isolierte Kompetenzen, basale »Kulturwerkzeuge«, die nicht im Lichte, nicht in Ausrichtung auf ein Ganzes angeeignet werden sollen. Das Konzept, das »Bildung« in Form von Basiskompetenzen denken und sich an den Minima orientieren will, bedeutet deshalb die Beschränkung von Bildung auf einen Pragmatismus mit Froschblick, der von der Hand in den Mund lebt. Und es ist die Frage, wie die Heranwachsenden, nachdem sie eine solche Schule durchlaufen haben, noch einen Zugang finden sollen zum Geistigen und Sublimen. Alle Erfahrungen weisen vielmehr darauf hin, daß ein solcher Zugang alles andere als selbstverständlich und nurmehr schwer zu finden ist, wenn nicht »im Anfang« bereits die Grundlagen hierfür geschaffen sind. Die Verlegenheit bezüglich des Maximums, das in Bildung vorausgesetzt ist und dessen wir uns zugleich angesichts des Pluralismus Tenorth, l. c., p. 176. Aristoteles, EN, 1098b. Cf. auch Platon, Nomoi, 753e 6 ff.: »Denn mit dem Anfang ist nach dem Sprichwort bereits die Hälfte Arbeit überall getan, und einen guten Anfang rühmen wir alle ja bei jeglichem Ding«.

30 31

178

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

nicht mehr unmittelbar versichern können, bildet aber lediglich die Krise der Universität und das Problem der Einheit der Wissenschaften ab. »… there is no vision, nor is there a set of competing visions, of what an educated human being is. The question has disappeared, for to pose it would be a threat to the peace. There is no organization of sciences, no tree of knowledge« 32 . Auch an den Universitäten, in der Organisation des Wissens, herrscht bezüglich der Ziele von Bildung die »Offenheit« vor, die eine »freie Entwicklung der Persönlichkeit« gewährleisten soll. »I hear that the good things were ›greater openness‹, ›less rigidity‹, ›freedom from authority‹ etc. – but these have no content and express no view of what is wanted from a university education« 33 . In Wahrheit ersetzt die »Offenheit« des Pluralismus »etwas« durch – »nichts«. Die Weigerung über die Inhalte von Bildung nachzudenken und der Verzicht auf eine Vision, was eine gebildete Person ist, überläßt den partikularen Interessen, den funktionalistischen Imperativen und dem Spezialistentum das Feld, dem die Studenten so ungeschützt anheimgegeben sind. Wahre Offenheit wird eben gerade dadurch nicht erreicht, wenn man auf eine inhaltliche, qualitativ bestimmte Strukturierung der Wissenschaften und Universitäten verzichtet. Dann besetzen vielmehr andere Kräfte und Mächte das Feld. »The university has to stand for something« 34 . Aber wofür? Ist die Infragestellung des Pluralismus hinsichtlich einer Rangordnung inhaltlich bestimmter Lebensformen nicht gerade eine Selbstbeschränkung auf ein Partikulares, Provinzielles? Käme sie nicht einer geradezu bedenklichen Verengung des eigenen Horizonts gleich, wie sie sich bei der Diskussion von Max Webers politischer Lösung des Problems abzeichnete? Der erste Schritt einer Lösung muß darin bestehen, die Aporie zu formulieren. Bildung ist Kultivierung, das Hineinwachsen in die Lebensformen einer Kultur, die in dieser für gut und richtig gehalten werden. Eine andere Form von Bildung scheint es nicht zu geben. Aber »›Culture‹ is now no longer, as people say, an absolute but has become relative. It is not easy to say what culture suspectible of being used in the plural means. (…) If we contrast the present day usage of ›culture‹ with the

32 33 34

Bloom, Allan, The Closing of the American Mind, New York, 1988, p. 337. L. c., p. 320. L. c., p. 337. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

179

Markus Kartheininger

original meaning, it is as if someone would say that the cultivation of a garden may consist of the garden being littered with empty tin cans and whiskey bottles and used papers of various descriptions thrown around the garden at random. Having arrived at this point, we realize that we have lost our way somehow. Let us then make a fresh start …« 35 .

VII. Der Neubeginn, den Leo Strauss hier verspricht, scheint auf den ersten Blick gar nicht allzu »frisch«. Er besteht in einem Rückgang auf die klassische Antike. Es kommt nun alles darauf an, diesen Schritt nicht mißzuverstehen und ihn nicht mit zunächst ähnlich anmutenden Bewegungen in der Geistesgeschichte zu verwechseln, von denen er sich in der Motivation, der Durchführung und seinem Ziel unterscheidet. Dieser Rückgang auf die klassische Antike ist nicht ein Rückzug in die Philosophiehistorie, nicht eine Flucht vor den Sachproblemen, mit denen wir heute in der Frage von Bildung konfrontiert sind. Und er unterscheidet sich ebenso von der Antikenrezeption, die von der Generation um 1800 initiiert worden war und aus der dann die für Erziehung und Bildung in Deutschland bedeutende pädagogische Bewegung des Neuhumanismus erwuchs. Der von Strauss vorgeschlagene Rekurs auf die klassische Antike ist vielmehr eine Reflexion auf das Scheitern des Humanismus. Die Antikerezeption um 1800 entwarf im klassischen Altertum ein idealisiertes, verklärtes Gegenbild zu Fehlentwicklungen des Aufklärungszeitalters. Das Abhängigwerden von den materiellen Sachzwängen, denen es sich anzupassen gilt, zeichnete sich bereits deutlich ab. »Die Kultur, weit entfernt, uns in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfnis, die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender zu, so daß die Furcht, zu verlieren, selbst den feurigen Trieb nach Verbesserung erstickt und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste WeisStrauss, Leo, Liberal Education and Mass Democracy. The Crisis of the Few and Many. In: Goldwin, Robert A., Higher Education and Modern Democracy, Chicago, 1967, p. 73–96. Da dieser Sammelband schwer zugänglich ist, zitiere ich nach der im Internet greifbaren Fassung: http://www.ditext.com/strauss/lib2.html, hier p. 2.

35

180

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

heit des Lebens gilt« 36 . Die griechische Antike wird der eigenen Zeit als der »Kontrast« gegenübergestellt. In ihr seien Sinnlichkeit und Vernunft, Privates und Öffentliches, Denken und Erfahrung, die Wissenschaften untereinander, die Arbeitsprozesse in sich usw. noch nicht strikt voneinander geschieden gewesen, so daß die Harmonie der Kräfte und die Totalität der Gattung in jedem Individuum repräsentiert gewesen sei 37 . Die Hinwendung zur Antike geschieht hier aber gleichwohl im sicheren Wissen um die Überlegenheit der Moderne, die gegenüber der Antike die »Reflektiertheit« voraushat. Der Antagonismus der Kräfte, die »Entzweiungen«, die Ausdifferenzierung und Spezialisierung des Wissens werden als notwendige Durchgangsstadien zur Wiederherstellung der Totalität auf der höheren Ebene der Reflexion verstanden. Nachdem spätestens mit dem 20. Jahrhundert diese geschichtsphilosophischen Versprechungen verblaßt sind und es sich zeigte, daß die darin ausgegebenen Wechsel nicht gedeckt waren, muß die Ausgangslage einer Zuwendung zur klassischen antiken Aufklärung eine andere sein. Die Neuorientierung setzt in dem Eingeständnis ein, daß wir heute unmittelbar und »systematisch« gar nicht mehr gehaltvoll sagen können, was Bildung ist – »we have lost our way somehow«. Einige der Gründe, Zwänge, sachlichen und moralischen Dilemmata, die zu diesem Eingeständnis führen müssen, wurden in den obigen Überlegungen skizziert. Der Rückgang auf die klassische Antike steht deshalb bei Strauss im Zusammenhang einer Wiederholung der Querelle des Anciens et des Modernes 38. Die Hinwendung zur Antike geschieht Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 5. Brief. Analog diagnostiziert Friedrich Immanuel Niethammer vom Zeitalter Friedrichs des Großen, daß »die Forderung realer Nützlichkeit (…) an der Tagesordnung war (…). In der Erziehung, in der Religion, in der Philosophie, in dem ganzen Umkreise der Geistesthätigkeit, war ›praktisch‹ jetzt das allgemeine Losungswort; nur was (…) in der Anwendung förderlich war, wurde geachtet«. Und die Wissenschaft wurde »zur Pulsmacherin erniedrigt« (Niethammer, Friedrich Immanuel, Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit, Jena, 1808, p. 15–18). 37 Cf. Schiller, Über die ästhetische Erziehung …, 6. Brief. Cf. auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Nürnberger Gymnasialkurse und Gymnasialreden (1808–1816). In: id., Gesammelte Werke, Bd. 10.1, ed. Grotsch, Klaus, Hamburg, 2006, p. 498 ff. (Rede vom 02. 09. 1813). 38 Zu Strauss’ Ausdehnung der Tragweite der Querelle des Anciens et des Modernes, von der gemeinhin im engeren Sinn nur in bezug auf die literarische Debatte um die 36

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

181

Markus Kartheininger

hier nicht im Gestus der Überlegenheit; vielmehr will die Moderne sich in der Konfrontation mit der Antike bezüglich ihrer Maßstäbe selbst überprüfen, um so zu einer nüchternen Selbsteinschätzung zu gelangen. Denn die Maßstäbe, das Ziel der Bildung ist es, welches fragwürdig geworden ist und worüber Auskunft zu geben, im modernen Kontext zur Verlegenheit geworden ist. Ohne Maßstab ist aber keine Selbstprüfung möglich; eine »Bildung«, die eine Selbstprüfung nicht impliziert, kann schwerlich den Anspruch auf Rationalität erheben und verdient den Namen nicht. Natürlich ist darin zunächst explizit und ganz bewußt von einer direkten Anwendung auf die Gegenwart abzusehen 39 . Es kommt sogar zunächst alles auf die Abstinenz von der Anwendungsfrage an, bei der ja die primäre Frage nach dem Maßstab je schon stillschweigend als beantwortet vorausgesetzt ist. Denn die primäre Fixierung auf die sekundäre Anwendungsdimension – das nach Niethammer allgemeine Losungswort »praktisch« – ist das Gift, das dazu geführt hat, daß die Gegenwart sich immer mehr in die Abhängigkeit von den Umständen und Zwängen verrennt, um dann letztlich in einer nur noch pragmatisch orientierten Anwendung ohne Maßstab zu münden. »Man geht nie weiter, als wenn man nicht mehr weiß, wohin man geht« 40 .

VIII. Vor den jüngeren Bildungsreformen an Schulen und Universitäten hätte wohl kaum jemand bestritten, daß ein dringender Reformbedarf bestand. Allein, eine tiefgreifende Reform hätte eine Verständigung über die grundsätzlichen inhaltlichen Maßstäbe und Zwecke von Bildung erforderlich gemacht. Da aber diesbezüglich weitgehend VerAntike-Rezeption in der französischen Klassik gesprochen wird cf. Verf., Heterogenität. Politische Philosophie im Frühwerk von Leo Strauss, München, 2006. 39 »This leads to dangerous consequences. The teaching of the classics can have no immediate practical effect, because presentday society is not a polis« (Strauss, Leo, On a New Interpretation of Plato’s Political Philosophy. In: Social Research, Vol. 13, No. 3, Sept. 1946, p. 326–367, p. 332). 40 Goethe, Johann Wolfgang von, Maximen und Reflexionen; hier zitiert nach Spaemann, Grenzen, l. c., p. 7. Zum »Weitergehen« cf. auch Kierkegaard, Sören, Furcht und Zittern. In: id., Gesammelte Schriften, ed. Schrempf, Christoph, Bd. 3, Jena, 1923, p. 3 ff. u. 114 ff. (Vorrede und Epilog).

182

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

legenheit vorherrscht, hat man sich in den Reformen von der Anwendungsdimension führen lassen. Die leitenden Gesichtspunkte waren die Verkürzung von Schul- und Studienzeiten, die Anpassung der Curricula an den globalisierten, internationalen Arbeitsmarkt, die Senkung der Quote der Studienabbrüche, die Erhöhung der Zahl der Hochschulabsolventen, die Förderung der Mobilität der Studierenden und die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes. Diese Gesichtspunkte sind nicht von vornherein abzulehnen. Es ist im Interesse aller, daß Ressourcen nicht verschwendet werden und daß mit ihnen möglichst effizient gewirtschaftet wird. Und mit längeren Studienzeiten ist keineswegs eine bessere Qualität garantiert. Jedoch sagen diese Gesichtspunkte allesamt nichts über die Inhalte von Bildung. Die Reformen verdecken im Streit um den kleinsten gemeinsamen Nenner und um dessen Präsentation den Kern der Bildungskrise. Denn in dieser konzentriert sich alles auf die Frage nach dem Ziel und dem Zweck von Bildung. Die nicht mehr explizierbare und deshalb offen bleibende kulturelle Einbindung der Fachqualifikationen entspricht der Verselbständigung der sekundären Frage nach den Mitteln gegenüber der primären Frage nach dem Zweck. Dies ist der Gesichtspunkt, mit Blick auf den in unserem Zusammenhang die Querelle zu wiederholen ist; und über ihn gilt es sich vorab zu verständigen. Stellt man die Frage nach dem Zweck, so berührt man wieder das punctum saliens von Bildung: daß sie auf das Sein des Menschen geht – mithin ihr im Rahmen des Weberschen Begriffs von Rationalität »irrationales Moment«. Rationalisierung als die methodische Disziplinierung der Lebensführung durch Wissen betrifft bei Weber nicht das letzte Ziel menschlichen Handelns, sondern die Mittel zu vorgegebenen Zwecken. Die Qualität der Lebensführung, die Ziel der Kultivierung ist, bezeichnet nach Weber das, was einer politischen Gemeinschaft als kultiviert gilt. Solche substantielle Bestimmtheit, die ihrerseits nicht mehr rational ausgewiesen ist, ist aber durch den Allgemeinheitsanspruch des Wissens und das Eindringen der Universalismen der europäischen Aufklärung in das politische Selbstverständnis irritiert und als partikular desavouiert worden. Und eine verlorene Unmittelbarkeit kann nicht wider besseres Wissen bejaht, oder gar willentlich herbeigeführt werden – dies widerspricht ihrem Begriff. Nun richtet sich aber philosophische Bildung und Selbsterkenntnis wesentlich auch auf die Ziele des Menschen. Der Mensch ist nicht A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

183

Markus Kartheininger

nur ein körperliches Ding, das dann auch noch Wissen hat, sondern Geist und Körper sind ineinander verschlungen und die Leidenschaften sind von Meinungen geführt. Das heißt, das, was der Mensch ist, wie er handelt, sein Leben führt, hängt entscheidend davon ab, was er weiß, was er für wahr, richtig, autoritativ hält, kurz: von den Meinungen, mit denen er sich identifiziert hat. Meinungen, mit denen man sich identifiziert hat, sind solche, zu denen wir in einem unmittelbaren Verhältnis stehen, die uns mithin je schon im Rücken liegen. Gewiß können wir diese oder jene Überzeugungen in ihrer Geltung suspendieren und überprüfen; aber dies doch je nur auf Grundlage von Meinungen, mit denen wir uns identifiziert haben. Ein wesentliches Moment der platonischen Dialoge geht allerdings darauf, nicht nur Sätze als solche, sondern in den Sätzen den jeweiligen Gesprächspartner zu prüfen 41 . Ziel ist es mithin, die unmittelbaren Identifikationen des Gesprächspartners zu thematisieren, ihn auf eine Erfahrung von sich selbst zu führen, ihm selbst sich als denjenigen zu zeigen, der er ist, als der er aber (auch vor sich selbst) nicht gerne erscheinen will; kurz: der Dialog geht darauf, daß der Gesprächspartner »sich umkehrt« 42 . Im Konflikt des Sokrates mit der Polis Athens, der schließlich im Tod des Sokrates kulminiert, ist natürlich das bei Weber festgestellte Dilemma zwischen der substantiellen Bestimmtheit des Kulturmenschentums und dem Universalismus des Wissens schon präformiert. Und es zeigt sich, daß das Grundproblem der heutigen Bildungskrise letztlich nur im Rahmen der klassischen politischen Philosophie adäquat zu beschreiben ist. Der Grundkonflikt kristallisiert sich in der Spannung von Philosophie und Politik. Die philosophische Aufklärung des Sokrates irritiert die substantielle Bestimmtheit der Polis. Denn die politische Gemeinschaft basiert auf gemeinsam geteilten Meinungen und Überzeugungen. Im Praktischen müssen Entscheidungen getroffen werden, man steht unter Handlungsdruck; und vieles muß festgelegt sein, damit Menschen gemeinsam leben können. Die substantiellen Überzeugungen, auf denen das gemeinsame Zusammenleben basiert, werden aber durch die philosophische Aufklärung des Sokrates

Cf. Wieland, Wolfgang, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen, 19992 , p. 78/ 79, 248/249 u. 317. 42 Cf. Politeia, 518c u. 521c. Der Sokratiker Kierkegaard antwortet daher auf die Frage »Was ist Bildung?« damit, daß er »glaubte, es wäre der Kursus, den der einzelne durchläuft, um sich selbst einzuholen« (Kierkegaard, Furcht und Zittern, l. c., p. 42). 41

184

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

thematisiert und in Frage gestellt. Und die Querelle des Anciens et des Modernes wird sich deshalb darauf fokussieren, wie die Moderne im Gegensatz zur Antike mit dieser Spannung von Philosophie und Politik umgeht (sh. IX). Es ist in gewissem Sinne paradox, die Bildung nicht nur der Fähigkeiten und Mittel zu gegebenen Zwecken, sondern darüber hinaus die Formierung der letzten Zwecke selbst anstreben zu wollen. Denn das Intendieren von Bildung ist je schon von einem Zweck geführt; dieser soll ja aber gerade zur Disposition stehen und formiert werden. Es ist daher gesagt worden, daß Bildung nicht direkt Ziel sein kann, da das Sein der Person und das Wissen, das dieses Sein bestimmt, je entzogen ist und nur schwer sich thematisieren läßt. Man kann sich daher nur auf Bildungsprozesse einlassen, nicht aber direkt sie anstreben. Bekanntlich gibt auch die sokratische Hebammenkunst den Gesprächspartnern nicht einen letzten Zweck vor, den es diesen etwa zu »übermitteln« gälte. Denn die »Jugendbildung« ist »nicht von der Art, wofür sie einige Lehrer von Profession ausgeben. Nach ihrem Vorgeben gibt es ganz und gar kein in der Seele ursprünglich gelegenes Wissen, und sie setzen es hinein, als wenn sie blinden Augen ein Gesichtsvermögen einsetzten« 43 . Daß das Wissen aber bereits ursprünglich in der Seele des zu Bildenden selbst liegt, ist hingegen die Grundannahme sokratischer Bildung. Diese Grundannahme reflektiert die oben bereits angezeigte Verschränkung von Leidenschaften und Wissen, Körper und Geist. Denn nicht nur sind die Leidenschaften des Menschen je schon von den Meinungen, die er für wahr hält, geführt; vielmehr gilt auch umgekehrt, daß der Zweck und das Wissen schon in den Leidenschaften präformiert sind, weil das Individuum von sich aus je schon teleologisch ausgerichtet ist. »Wir können Zwecke überhaupt nur setzen unter der Voraussetzung, daß wir vor der Zwecksetzung schon etwas wollen, und zwar etwas, was wir nicht setzen. Ich kann gar nicht wollen, wenn ich mich nicht immer schon wollend vorfinde« 44 . Diese Zielgerichtetheit erfährt der Mensch im Trieb, platonisch gesprochen: im Eros. Der Eros ist Ausdruck des Mangels und der Unzufriedenheit; er verweist das Individuum auf die anderen und die Welt, Politeia 518 b/c. Spaemann, Robert/Löw, Reinhard, Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdekkung des teleologischen Denkens, Stuttgart, 2005, p. 35.

43 44

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

185

Markus Kartheininger

deren er bedarf, um ganz zu werden. Der Eros steht im Griechischen für alle Antriebe und Impulse, die alle Wesen zu dem ihnen Zugehörigen, zu ihren Zielen treiben. Beim Menschen schließt dies auch die Impulse des Begreifens ein. Der Eros gilt Platon daher als der »Mittler« zwischen Sinnlichem und Geistigem. In ihm ist das Verlangen nach Bildung, die Ausrichtung auf Vollkommenheit vital in der Selbsterfahrung und den Leidenschaften verankert. Die Aufmerksamkeit auf die natürliche Verbindung von Sexualität und Bildung verlangt es daher, nicht auf die »Ausrottung«, sondern auf die »Zähmung« der Leidenschaften zu gehen. Die Leidenschaften, der vitale Antrieb zur Bildung, sind aufzunehmen und (nicht im Sinne Freuds) zu sublimieren. Die Musik spielt daher in der platonischen Erziehung eine prominente Rolle. Die Leidenschaften sind nicht auszutrocknen, sondern einem höheren Ideal zuzuführen; sie sind durch die Vernunft und den Text zu in-formieren. 45 Nun wird in den gegenwärtigen Debatten von seiten des Humanismus gerne auf Sokrates verwiesen, um die »Selbstzweckhaftigkeit« von Bildung zu untermauern, die beim Menschen in der Tat schon im Eros angelegt ist. Die am wirtschaftlichen Wachstum ausgerichteten, technokratisch orientierten Bildungsvorstellungen übertrügen zu unrecht naturwissenschaftliche Verfahren auf das Erziehungswesen. Denn, so etwa Anton Hügli, während bei der Konstruktion einer Maschine sich der Zweck eindeutig festlegen lasse, ginge das beim Menschen nicht an. Die »Würde der Menschen« »bestehe darin, selber sagen zu können, wozu sie da sein wollen«. Die »Konstrukteure von PISA« hingegen legten über die Köpfe der Menschen hinweg die Zwecke von außen fest. Sie behandelten Bildung als »technische[s] Zur platonischen Verankerung von Bildung im Eros cf. Bloom, The Closing of the American Mind, l. c., p. 68–81 u. 132–137. Zu beachten sind hier vor allem auch die Analysen der »Rock music«, die nach Bloom die in der platonischen Musikerziehung angezielte Kontinuität und Harmonie zwischen dem, was wir fühlen, und dem, was wir sein sollen und im späteren Leben sein könnten, gerade nicht realisiert, sondern auf »Entlastung« abzweckt. Dieses Phänomen moderner Gesellschaften hat dann in der »Kompensationstheorie« der Ritter-Schule Ausdruck gefunden, ist aber im Grunde in Max Webers »Zwischenbetrachtung« schon diagnostiziert – sowohl in bezug auf die Erotik (Cf. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, l. c., p. 556 ff.) als auch in bezug auf die moderne »Ästhetik«: Die Kunst »übernimmt die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus« (l. c., p. 555).

45

186

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

Problem, wie man Menschen auf Zwecke hin verändern kann, die zunächst nicht die ihren sind und die sie nicht selbst gewählt haben würden«. Der Zweck des Menschen werde in diesen sozialtechnologischen Bildungsvorstellungen nicht länger offen gehalten, sondern dogmatisch fixiert. »Denn welchen anderen Daseinszweck könnte es noch geben, als den, ein gutes Funktionieren des Räderwerks von Gesellschaft und Wirtschaft zu ermöglichen und mitzuwirken bei der Erhöhung des Bruttosozialprodukts?« 46 Sosehr das Festhalten an der »Selbstzweckhaftigkeit« des Individuums ein entscheidendes Moment von Bildung trifft, so ist diese humanistische Position doch eine Abstraktion und perpetuiert die fruchtlose Polemik, die die Bildungsdiskussion seit Niethammers »Streit des Philanthropinismus und Humanismus« beherrscht. Die humanistische Position ist eine Abstraktion, weil sie das eigentliche Problem der Frage nach dem Zweck von Bildung, das in der Spannung von Philosophie und Politik kulminiert, ignoriert und statt dessen diesen Konflikt – wie Heinz-Elmar Tenorth von der anderen Seite her wohl sagen würde (sh. VI) – »wieder einmal« durch ein »Bildungspathos« überdeckt. Und weil das einseitige Insistieren auf die »Selbstzweckhaftigkeit« von Bildung die Spannung von Philosophie und Politik nicht reflektiert, wird es auch der sokratisch-platonischen Philosophie, auf die es sich berufen zu können glaubt, nicht gerecht 47 . Zumindest zeigen Hüglis Überlegungen, daß die Zwecke von Bildung unter der Decke des Pluralismus keineswegs »offen« bleiben, sondern unweigerlich Festlegungen erfolgen müssen (cf. VI). Der Pluralismus kann die »Offenheit«, die er verspricht, gerade nicht garantieren. Auch noch die Verselbständigung der bürokratischen Organisationen gegenüber den Zwecken ihrer Mitglieder ist Ausdruck der grundlegenHügli, Anton, Die Bedeutsamkeit der Philosophie für das Geschäft der Bildung. In: Philosophie und Bildung. Bildung durch Philosophie. Studia Philosophica. Jahrbuch der schweizerischen philosophischen Gesellschaft, Vol. 65/2006, Basel, 2006, p. 13–34, hier p. 20/21 u. 26. 47 Dasselbe gilt für Rekonstruktionen der sokratisch-platonischen Bildungsvorstellungen, die die gegenwärtigen marktstrategisch orientierten Bildungskonzepte denunziatorisch der Sophistik zuordnen, um sie dann der Sokratik gegenüberzustellen (z. B. Rehn, Rudolf, (Philosophische) Bildung und Macht. Aktuelle Überlegungen zu einem alten (Streit-)Thema. In: Rehn, Rudolf/Schües, Christina (ed.), Bildungsphilosophie, Freiburg, 2008, p. 21–35). Auch hier wird die Polemik, die seit Niethammers Streit zwischen Philanthropinismus und Humanismus von beiden Seiten geschürt wird, fortgesetzt. 46

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

187

Markus Kartheininger

den Spannung von Philosophie und Politik. Wie die Polis der Geschlossenheit und der Festlegungen bedarf, um handlungsfähig zu sein, beruht die großartige technische Leistungsfähigkeit der bürokratischen Apparate auf ihrer Fixierung auf einen partikularen Zweck. »Hielten sie sich nach unten, ihren Mitgliedern und deren unmittelbaren Ansprüchen gegenüber, stets ganz offen, so wären sie nicht aktionsfähig (…). Ihre Wirksamkeit nach außen ist Funktion ihrer Geschlossenheit nach innen (…). Ihre Verselbständigung wird der Organisation von der Selbsterhaltung aufgezwungen, während sie gleichzeitig durch diese Verselbständigung ihren Zwecken und den Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt, sich entfremdet« 48 . Die Organisationen entfremden sich notwendig gegenüber den Menschen wegen der von Max Weber betonten »Heteronomie der Zwecke«. Denn freilich hat etwa der »wirtschaftende Mensch« im Handeln nicht nur wirtschaftliche Interessen und Zwecke, auf die die Organisation und die ihr zugrundeliegenden theoretischen Modelle fixiert sind. Diese arbeiten mit und unterstellen den konstruierten Idealtypus des ökonomisch rational agierenden Wirtschaftssubjekts, in dem von allen nicht der Vorsorge für die materiellen Bedürfnisse entspringenden Motiven des empirischen, konkreten Menschen abgesehen ist 49 .

IX. Die Krise der Bildung konzentriert sich auf die Frage nach dem Zweck. Die Frage nach dem Zweck von Bildung ist aber durch die Spannung von Philosophie und Politik bestimmt. Die Redeweise von der Spannung von Philosophie und Politik ist eine Abbreviatur. Was meint sie? Sie ist Ausdruck des Menschen als einer in sich heterogenen leiblichseelischen Einheit. Als leibliches Wesen ist der Mensch auf das Zusammenleben mit anderen angewiesen. Aufgrund dieser seiner Endlichkeit vollzieht sich das menschliche Leben notwendig in partikularen politischen Zusammenhängen und muß partikularen Zwecken folgen. »Philosophie« aber steht hier für das Überpolitische – dafür, daß der Mensch diese partikularen Kontexte transzendiert. Es ist klar, daß beiAdorno, Theodor W., Kultur und Verwaltung. In: id., Soziologische Schriften I, l. c., p. 122–146, p. 125. 49 Cf. Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung, l. c., p. 135/136. 48

188

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

den Momenten genüge getan werden muß – und deswegen ist Bildung »Mittel und Selbstzweck«. Es ist daher dafür Sorge zu tragen, daß Bildung weder auf das eine, noch auf das andere Moment reduziert werden darf. Denn wie gesehen, impliziert die Verabsolutierung der »Selbstzweckhaftigkeit« des Menschen nicht weniger eine Verengung und Abstraktion als die Verabsolutierung des Mittelcharakters. Die Querelle des Anciens et des Modernes, die Leo Strauss um der Neuorientierung willen zu wiederholen unternimmt, muß sich in unserem Zusammenhang auf die alternativen Umgangsweisen der »Alten« und der »Neuen« mit dieser Spannung von Philosophie und Politik fokussieren. Der Sinn der Wiederholung der Querelle ist die Selbstkonfrontation der Moderne mit der Antike bzgl. ihrer Maßstäbe, die – unter expliziter Absehung von der »praktischen« Frage der Anwendung – zu überprüfen sind. Strauss spricht von der klassischen Erziehung des griechischen Polisbürgers als der »liberal education« des »gentleman«. Die Lebensweise des Gentlemans ist in dem Sinne »freiheitlich«, als sie sich gegenüber der des Sklaven abgrenzt. Der Gentleman lebt nicht um eines anderen, sondern um seiner selbst willen. Voraussetzung dafür ist neben dem Bürgerrecht Besitz – und zwar eine bestimmte Form von Besitz, die Muße erlaubt, deren Geschäfte einen nicht voll in Anspruch nehmen und die man daher an einen Verwalter delegieren kann: also Landbesitz. Man wird ein Gentleman durch Bildung, durch die Beschäftigung mit den Dingen, die um ihrer selbst willen ernst zu nehmen sind: Philosophie und Politik, die gute Ordnung der Seele wie der Stadt. Die Erziehung des Jugendlichen besteht in einer spielerischen Antizipation des Lebens des Gentlemans. Ziel ist die Formierung des Charakters und des Geschmacks. Die Quellen der Erziehung sind zunächst die Dichter; außerdem sind natürlich durch Unterricht, Reisen und durch Teilhabe am Leben der Erwachsenen Fähigkeiten anzueignen: Rechnen, Lesen, Schreiben, die Verwaltung des Haushalts und der Angelegenheiten der Stadt, Reiten, Ringen, militärische Übungen usw. All dies setzt sowohl bei den Jugendlichen als auch ihren Familien Muße voraus. Die Erziehung des Gentlemans ist ein Privileg der Wohlhabenden; und es nützt nichts, darum herum zu reden: nicht nur die Erziehung, sondern auch die Lebensform des Gentlemans ist abhängig von »Mitbürgern«, die nicht Gentlemen sind. Die Lebensform des Gentlemans ist daher nur zu sichern in einer A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

189

Markus Kartheininger

Ordnung, deren moralischer Geschmack aristokratisch ist. »By being what they are, the gentlemen are meant to set the tone of society in the most direct, the least ambigious and the most unquestionable way: by ruling it in broad daylight« 50 . Die Gentlemen bedürfen, wie gesehen, auch der Kompetenzen und Fähigkeiten, kurz: der Fachqualifikationen. Aber diese qualifizieren sie nicht schon zur Herrschaft. Sie herrschen kraft dessen, was sie sind. Die Ordnung ist inhaltlich qualifiziert. Da die Qualität der Lebensführung im Gegensatz zu den Fachqualifikationen aber nicht ohne weiteres übertragbar ist und von sozialen Zusammenhängen abhängt, die sich nicht verfügen lassen (sh. III), ist die Lebensform des Gentlemans nach unten gegenüber den NichtGentlemen geschlossen. Darauf muß sich unsere Aufmerksamkeit zunächst richten. Aristoteles betont zu Beginn seiner »Nikomachischen Ethik«, daß sie dem, der nicht schon ein Phronimos ist, nicht zugänglich sein und höchstens eine »Erkenntnis ohne Frucht« abwerfen wird. Aber nicht nur dies: Platon und Aristoteles lehnen darüber hinaus auch eine Herrschaft der Gentlemen, die von der Wahl durch den Demos abhinge, als contra naturam ab. »The gentlemen regard virtue as choiceworthy for its own sake, whereas the others praise virtue as a means for acquiring wealth and honor. (…) they disagree regarding first principles. Hence they cannot have genuinely common deliberations. The gentlemen cannot possibly give a sufficient or intelligible account of their way of life to the others«51 . Die Klassiker argumentieren auf der Basis einer Ökonomie des Mangels. Die Erziehung und Lebensform des Gentlemans setzen Muße und deshalb Wohlstand voraus. Die Polis aber ist nicht reich genug, um allen eine angemessene Bildung zu ermöglichen. Wegen der natürlichen Güterknappheit sind die Armen in der Mehrzahl; die Armen aber – das sind die Ungebildeten. Die Rechtfertigung des Ausschlusses der Nicht-Gentlemen von der Lebensform der Gentlemen erfolgt mit Blick auf den Zweck der Polis: dieser besteht im guten Leben der Bürger, in der Tugend bzw. Perfektion der menschlichen Natur. Das Prinzip der Demokratie ist aber nicht die Tugend, sondern die Freiheit – im Sinne der Freiheit, so zu leben, wie man will. Solange die Demokratie nicht durch ein qualitatives Moment ergänzt wird, ist sie indifferent gegen die Qualität der Lebensführung. Sie ist 50 51

190

Strauss, Liberal Education and Mass Democracy, l. c., p. 7. L. c., p. 6.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

daher in den Augen der Klassiker abzulehnen. In der Feststellung, daß die Gentlemen gegenüber den Nicht-Gentlemen keine hinlängliche Rechenschaft über ihre Lebensweise abgeben können, ist aber auch alles entscheidend: die Einsicht in die Grenzen der Überzeugung durch Argumente und damit auch in die Grenzen der Philosophie bezüglich der Regulierung des Lebens der politischen Gemeinschaft. Daß die Überzeugung durch die Rede Grenzen hat, ist Grund dafür, daß es über die Ethik hinaus die Politik gibt. Die Grenze der Überzeugung durch die Rede markiert den Übergang von der Ethik zur Politik. Die Frage des Umgangs mit der Spannung von Philosophie und Politik wird allerdings eigentlich erst berührt, wenn die Abgrenzung der Lebensform der Gentlemen auch nach oben in den Blick genommen wird. Die Zwecke, denen der Gentleman sein Leben widmet, sind Philosophie und Politik. Die Philosophie ist aber von höherem Rang als die Politik. Entgegen Webers Sicht auf die klassische Antike besteht Platon und Aristoteles zufolge das höchste Ideal nicht im »Herrenmenschen«; das höchste Gut liegt vielmehr in einem der Tugend gewidmeten Leben – und das heißt letztlich in der Weisheit. Der Grund für die Rangüberlegenheit der Philosophie resultiert daraus, daß »politics is the pursuit of certain ends; decent politics is the decent pursuit of decent ends. The responsible and clear distinction between ends which are decent and ends which are not is in a way presupposed by politics. It surely transcends politics« 52 . Der Zweck der Philosophie ist überpolitisch. Sie betrachtet die vergänglichen, menschlichen Dinge im Lichte des Unvergänglichen und erlaubt so allererst die begründete Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Handlungen. Die Feststellung der Rangüberlegenheit der Philosophie gegenüber der Politik bedeutet freilich nicht schon, daß diese Rangordnung von den Gentlemen auch de facto anerkannt würde. Die Koinzidenz von Weisheit und Macht ist bekanntlich nach Platon das beste; sie ist aber äußerst unwahrscheinlich, ja, in der Regel ist sie vielmehr nicht gegeben. (Und dies ist natürlich auch der Grund, warum Max Weber das philosophische Ideal der Perfektion in seiner Beschreibung der klassischen Antike vernachlässigen zu dürfen und sich auf den »Herrenmenschen« konzentrieren zu müssen glaubte.) Daß die Philosophie als Überpolitisches und damit nur negativ, in Abgrenzung zur Politik charakterisiert ist, hat seinen Grund in der Sa52

L. c., p. 7. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

191

Markus Kartheininger

che. Denn Philosophie ist ein Streben, ein Wissen um das Nichtwissen. Der Mensch muß sich im Lichte des Ganzen bzw. des Ursprungs des Ganzen, der nicht menschlich ist, verstehen; d. h. der Mensch transzendiert sich notwendig. Aber streng genommen, weiß man das Ganze nicht. Natürlich wird, wer wirklich mit Leidenschaft nach dem Ganzen fragt, auch je einer Antwort zuneigen; aber letztlich behalten die Fragen doch stets die größere Evidenz als die Antworten, so daß die Philosophie das Politische, die Sphäre der Meinungen, nicht abschließend überwinden kann. Aber die Bewegung des Transzendierens, die Frage nach dem Ganzen, erlaubt es der Philosophie zumindest, das Ganze der Stadt, die Natur des Politischen und seine Grenzen zu begreifen. Daß die philosophische Lebensform die beste ist und die Perfektion ausmacht, weiß der Philosoph daher streng genommen nur in Abgrenzung gegen die politische Lebensform des Gentlemans. Denn die philosophische Erkenntnis ist unabschließbar. »Indem wir erkennen, daß wir die wichtigsten Dinge nicht wissen, erkennen wir zugleich auch, daß das Wichtigste für uns, das eine, was not tut, die Suche nach Erkenntnis der wichtigsten Dinge oder die Philosophie ist« 53 . Da die philosophische Erkenntnis unabschließbar ist, unterscheidet sich die philosophische Lebensform von der politischen, die der Festlegungen bedarf. Für den Gentleman ist die Philosophie – wie Kallikles im »Gorgias« ausführt – eine spielerische Antizipation des Lebens, die vom Ernst desselben zu unterscheiden ist. Das Philosophieren steht Kallikles zufolge daher dem Jugendlichen wohl an und schmückt ihn; es wird aber in der Sicht des Gentlemans »kindisch« bei Erwachsenen, die Verantwortung für die Stadt zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen haben. Beim Philosophen hingegen entfällt die Differenz zwischen Spiel und Ernst. Denn Philosophie ist aufgrund ihrer Unabschließbarkeit die Erwachsenenbildung par excellence. Das höchste Strauss, Leo, Über Tyrannis, Neuwied, 1963, p. 225. Cf. auch Apologie, 37e ff. Zum Verhältnis von Philosophie und Politik cf. v. a. Strauss, Leo, The City and Man, Chicago, 1978, p. 20/21, 27 ff., 138. Es ist klar, daß Aristoteles bezüglich der Erkenntnis des Ewigen mehr als ein Wissen des Nichtwissens beansprucht und deshalb »erste« und »zweite« Philosophie unterscheiden kann (Cf. l. c., p. 21 u. 28). Aber diese Unterscheidung bedingt, daß in der »Politik« von der Lebensform der Theorie abstrahiert wird – denn worin bestünde im Politischen das Pendant zum Bios theoretikos? – und diese von der Politik aus ebenfalls nur als Grenze, als Überpolitisches in den Blick kommt. Der Dissens zwischen Platon und Aristoteles kann daher für unseren Zusammenhang vernachlässigt werden.

53

192

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

Wissen, das Wissen um das eigene Nichtwissen, steht nie schlechthin zur Verfügung; es muß stets neu erworben werden. Die philosophische Lebensform unterscheidet sich auch in anderer Hinsicht von der politischen. Der Philosoph muß im Gegensatz zum Gentleman nicht reich sein; er bedarf für seine genuine Tätigkeit auch nicht der Fähigkeit der Selbstbehauptung und der Verteidigung vor Gericht. Zwar ist die politische Tugend des Gentlemans ein Reflex der philosophischen Tugend – und dies ist die letztliche Rechtfertigung der politischen Tugend; die Stadt bedarf der Philosophie aber nur in höchst vermittelter, indirekter und »verwässerter« Form. Denn die Ziele der Stadt als einer bestimmten sind notwendig partikular. »The end of the city is then not the same as the end of philosophy (…). What was observed regarding the gentleman in his relation to the vulgar applies even more to the philosopher in his relation to the gentleman and a fortiori to all other non-philosophers: the philosopher and the non-philosopher cannot have genuinely common deliberations« 54 . Die Analogie zwischen der Tugend des einzelnen und der Tugend der Stadt, mit der Platon und Aristoteles beide arbeiten, ist eben – wie beide wohl wissen – nur eine Analogie, die hinkt. Denn die Polis ist im Gegensatz zum einzelnen nur per Analogie der Perfektion fähig. Das »beste Regime« besteht eben eher in der Rede 55, als in der Tat. Die natürliche Selbstliebe der vielen kann rhetorisch nicht auf Dauer überwunden werden; darin besteht die Grenze der Philosophie in bezug auf die Reglementierung des Lebens der politischen Gemeinschaft. Die Lebensform des Gentlemans ist zwar teils fähig, von der Philosophie affiziert zu werden; letztlich ist die Stadt als Ganze aber gegenüber der Philosophie geschlossen – und nur aufgrund dieser Geschlossenheit ist sie handlungsfähig. »Plato has presented this state of things by comparing the city to a cave from which only a rough and steep ascent leads to the light of the sun: the city as city is more closed to philosophy than open to it« 56 . Gewiß formuliert Platon in der Politeia den Bestfall: die Koinzidenz von Weisheit und Macht in der Herrschaft des Philosophen. Das »beste Regime«, das Platon den Sokrates in der Rede gründen läßt, Strauss, Liberal Education and Mass Democracy, l. c., p. 8. Dies wird von Platon v. a. auch im »Kriton« deutlich gemacht (cf. Kriton 49d). 55 Cf. Strauss, The City and Man, l. c., p. 121. Cf. Politeia, z. B. 472b-473b. 56 Strauss, Liberal Education and Mass Democracy, l. c., p. 9. 54

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

193

Markus Kartheininger

zielt darauf, das Leben der politischen Gemeinschaft gegenüber der Verengung auf partikulare Zwecke offen zu halten. Wie gesehen, strebt der moderne Pluralismus solche Offenheit richtigerweise auch an; er verfehlt sie jedoch, weil das Universale hier je von den partikularen Interessen unterlaufen wird (sh. III, IV, VI, VIII). Das »beste Regime« dagegen garantiert die Offenheit, sofern in ihm alle partikularen Zwecke in einem harmonischen Gleichgewicht stehen, so daß kein endlicher Zweck die Stelle des Guten einnimmt, um dessen willen alle anderen Zwecke zu bloßen Mitteln degradiert und funktionalisiert würden. Das Gute selbst, die schöne Ordnung des Ganzen, wird von Platon bewußt im Gleichnis vorgestellt; eine begriffliche Bestimmung müßte es notwendig gegen anderes bestimmen und damit verendlichen. Aber letztlich formuliert Platon das »beste Regime« freilich, um die Grenzen der Stadt, die Natur des Politischen einsichtig zu machen und zu benennen. »… to state this in a manner which is perhaps more easily intelligible today; the Republic conveys the broadest and deepest analysis of political idealism ever made« 57 . Denn Platon türmt regelrecht die Schwierigkeiten und Bedingungen auf, die für die Realisierung des »besten Regimes« vorausgesetzt sind und die sich nicht herstellen lassen, sondern vielmehr vom Zufall abhängen 58 . Die Realisierung der Gerechtigkeit im Politischen hat Grenzen; das Heil ist in der Politik nicht zu suchen – und gleichwohl muß man sie treiben und sich, mit innerer Distanz, um die Politik kümmern. »Man is more than the citizen or the city«. Darin stimmen die Klassiker mit dem modernen Liberalismus überein, demzufolge die höchsten Zwecke des Menschen nicht im Staat sondern in der Gesellschaft, oder im Privaten verwirklicht werden. Aber bei Platon und Aristoteles erfährt dasjenige, was das Politische übersteigt, eine Qualifizierung: der Mensch transzendiert das Politische nur, sofern er nach der wahren Glückseligkeit strebt, nicht sofern er überhaupt nach Glück strebt, überhaupt dem »pursuit of happiness« nachgeht. »Man transcends the city only by what is best in him« 59 . Strauss, The City and Man, l. c., p. 127. U. a. müßten die Philosophen, die ja als solche nicht herrschen wollen, die Nicht-Philosophen, die nicht weise sind und daher die Weisheit der Philosophen nicht erkennen können, überreden, damit diese die Philosophen zwängen zu herrschen. 59 Strauss, Leo, The City and Man, l. c., p. 49. Selbstverständlich weiß Strauss, daß die Dimension des Überpolitischen, das Transzendieren des Politischen, nicht den »Philosophen« vorbehalten ist. Mit der Offenbarungsreligion ist sie in Form der Religion allen 57 58

194

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

Bevor nun der alternative Umgang der Modernen mit der Spannung von Philosophie und Politik in den Blick zu nehmen ist, muß betont werden, daß die Einsicht der antiken Klassiker in die Grenzen der Philosophie nicht bedeutet, daß sie in bezug auf die Lebensführung einem politischen Partikularismus bzw. Kontextualismus das Wort geredet hätten. Philosophie geht, sofern sie auf Wahrheit geht, notwendig auf einen universalen Anspruch. Aber der Universalismus hat bei Platon und Aristoteles seinen Ort eben auf der Ebene der Perfektion, auf der Ebene des Überpolitischen. Diese Verortung des Universalismus auf der Ebene der Perfektion entspringt der Einsicht in die Komplexität und die unendliche Vielfalt der menschlichen Dinge auf der Ebene des tatsächlichen Verhaltens. Auf dieser erlauben die menschlichen Dinge daher keine universal gültigen Definitionen – es sei denn um den Preis einer massiven Reduktion der qualitativen Bestimmungen. Platon und Aristoteles geben daher eine universell gültige Formel für die vollkommene Manifestation des menschlichen Lebens, in bezug auf welche die mannigfachen Formen des tatsächlichen Verhaltens als defiziente Modi zu beschreiben sind. Anders als die moderne Sozialwissenschaft blicken die antiken Klassiker mithin nicht auf die ärmste Manifestation, das Minimum, das sich am leichtesten in Umfragen bestätigen und reproduzieren läßt, sondern auf die höchste Manifestation, im Lichte derer alle anderen Erscheinungsformen sich allererst adäquat verstehen lassen und sich als das zeigen, was sie sind. »Es ist sicherer, das Niedrige im Lichte des Hohen zu verstehen zu suchen als das Hohe im Lichte des Niedrigen. Tut man das letztere, verzerrt man das Hohe notwendigerweise, während man, tut man das erstere, das Niedrige nicht der Freiheit beraubt, sich voll und ganz als das zu zeigen, was es ist« 60 .

zugänglich. Die Offenbarungsreligion ist auch keine intellektuell minderwertige, oder tiefer stehende Form des Überpolitischen. Denn Philosophie und Offenbarungsreligion vermögen sich gegenseitig nicht zu widerlegen (Cf. Strauss, Leo, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. In: id., Gesammelte Schriften, ed. Meier, Heinrich, Bd. 1, Stuttgart, 1996, p. 15 ff. u. 50 ff.; oder: id., Jerusalem and Athens. In: id., Studies in Platonic Political Philosophy, Chicago, 1983, p. 147–173.) Hinsichtlich dieser Alternative von Jerusalem und Athen, die ein Lebensthema des Strauss’schen Werkes ausmacht und von der hier abstrahiert werden muß, kommt auch Strauss über den Weberschen Bildungsbegriff (sh. V) nicht hinaus: über das Klarwerden der letzten Alternative bzgl. der praktischen Stellungnahme in ihren inneren Konsequenzen. 60 Strauss, Die Religionskritik Spinozas …, l. c., p. 6/7. Zu dem auf der Ebene des ÜberA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

195

Markus Kartheininger

Dieser auf der Ebene der Perfektion bzw. im Überpolitischen angesiedelte Universalismus stellt aber eine Norm vor, die im tatsächlichen Verhalten der Menschen fast immer gerissen wird; sie wird in der Realität äußerst selten erreicht. Und sie stellt ein Maximum vor, dessen Realisierung an Voraussetzungen gebunden ist, die nicht jeder erreichen kann. Eine Minimalbestimmung wie die Unterlassung von Mord ist eine Norm, die jeder einhalten kann und die von jedem zu verlangen ist. Die Realisierung der Perfektion im Bios theoretikos hingegen stellt hohe Anforderungen an den einzelnen und verlangt eine natürliche Gabe und Ausstattung. Die Klassiker machen sich daher keine Illusion bezüglich der Realisierung einer Aristokratie, in der die politische Lebensform des Gentlemans die philosophische Tugend gebrochen reflektierte. Sie leugnen nicht, »that the nature of man is enslaved in many ways so that only very few, and even there not always, can achieve happiness (…) of which man is by nature capable, so that the city actually dedicated to human excellence is, to say the least, very rare, and so that chance rather than human reason seems to be responsible for the various laws laid down by man« 61 . Diese Haltung im Umgang mit der Spannung von Philosophie und Politik, die die Spannung als solche akzeptiert und die Koinzidenz von Weisheit und Macht vom Zufall abhängig weiß, wird von der Moderne – angefangen mit Machiavelli – als unrealistisch und als Ausdruck der Ohnmacht abgelehnt. Im Versuch, den Zufall zu kontrollieren, sucht die Moderne daher Garantien für die Verwirklichung des besten Regimes zu schaffen und die Wahrscheinlichkeit seiner Realisierung zu erhöhen. Sie sucht nach einem Universalismus, den jeder realisieren kann und der deshalb in der Wirklichkeit durchgesetzt zu werden vermag. Während die antiken Klassiker auf die Grenzen der Überzeugung durch Argumente insistieren und eine gemeinsame Beratung sowohl der Gentlemen mit den Nicht-Gentlemen, als auch der Gentlemen mit den Philosophen in Frage stellen, dehnt die Moderne die Grenzen der Aufklärung aus. »Modern democracy (…) presupposes a fundamental harmony between philosophy and the people, a harmony brought about by universal enlightenment, or by philosophy politischen positionierten Universalismus cf. auch id., On Plato’s Symposium, ed. Benardete, Seth, Chicago, 2001, p. 211 u. 214/215 u. id., The City and Man, l. c., p. 44. 61 Strauss, Leo, The City and Man, l. c., p. 41/42. Cf. Aristoteles, Metaphysik 982b, EN, 1154b und v. a. Platon, Nomoi, 709a/b.

196

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

(science) relieving man’s estate through inventions and discoveries recognizable as salutary by all …« 62 . Ergreift man nicht Gegenmaßnahmen, die die Qualität der Lebensführung sichern, so impliziert diese Identifizierung der Ziele der Philosophie mit den Zielen der vielen eine Herabsetzung der Standards. Machiavelli orientiert sich explizit nicht mehr an dem unrealistischen Ideal der Perfektion, das kaum jemand im Handeln bestimmt, sondern an Zielen, die die meisten Menschen tatsächlich anstreben und verfolgen; Hobbes baut den Staat auf die elementare Leidenschaft der Selbsterhaltung auf, Locke »verbürgerlicht« diese Orientierung, indem er das Interesse an Eigentum und Erwerb in den Vordergrund stellt. Kant und die noble Bewegung des deutschen Idealismus protestieren zwar in der Nachfolge Rousseaus gegen diese Degradierung des Menschen; sie setzen aber auf eine Geschichtsphilosophie, die die Notwendigkeit der Aktualisierung der Vernunft bzw. der richtigen Ordnung nachweisen soll, so daß auch hier der Zufall in den entscheidenden Aspekten ausgeschaltet sein soll. Und die richtige Ordnung wird auch hier nicht platonisch durch Tugend, sondern machiavellistisch: als Nebenprodukt der partikularen Interessenverfolgung erreicht. Die moderne Politik ersetzt die aufwendige Formierung des Charakters (Tugend) durch Institutionen, die mit den Leidenschaften und Affekten der Bürger rechnen und die so einzurichten sind, daß ein das Gemeinwohl schädigendes Verhalten unprofitabel wird. Der Grund hierfür liegt, wie zu sehen sein wird, u. a. in der gegenüber der Antike veränderten ökonomischen Basis. Ohne qualifizierende Gegenmaßnahmen muß die Unterstellung der Harmonie zwischen den Zielen der Philosophie und denen des Volkes zur Dominanz eines Verständnisses von Philosophie führen, wie es den Nicht-Gentlemen eigen ist: Philosophie nicht mehr als Zweck in sich selbst, sondern als Mittel im Dienst menschlicher Macht. Und diese Wandlung ist nicht nur eine Episode, die sich im vielgeschmähten »Elfenbeinturm« der Philosophen abspielt; sie greift auf die ganze Ordnung der Gemeinschaft über: »… the ultimate justification for the distinction between gentlemen and non-gentlemen is the distinction between philosophers and non-philosophers. If this is true, it follows that by causing the purpose of the philosophers, or more generally the purpose which essentially transcends society, to collapse into the pur62

Strauss, Leo, The City and Man, l. c., p. 37/38. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

197

Markus Kartheininger

pose of the non-philosophers, one causes the purpose of the gentlemen to collapse into the purpose of the non-gentlemen« 63 . Es wäre allerdings höchst ungerecht, die Motive der Modernen, die Kluft zwischen Philosophie und Politik überbrücken zu wollen, auf das Interesse an der Realisierung und Anwendbarkeit zu reduzieren. Denn im Interesse an der Realisierung und der Verpflichtung der Philosophie auf Zwecke, die von allen erreicht werden können, legt die Moderne den Finger in die wunde Stelle der Antike. Sie unternimmt die noble Anstrengung, die Ungerechtigkeit, die zweifellos in der antiken Konzeption impliziert ist, zu beseitigen. Ist die Aristokratie, die den Klassikern als Ideal vorschwebt, nicht höchst instabil und je auf dem Weg, zu einer Oligarchie zu degenerieren? Ja, zeigten sich die existierenden Aristokratien nicht eher als Oligarchien, in denen die soziale Hierarchie wenig mit einer natürlichen Ungleichheit zu tun hatte? Und ist der Ausschluß der Nicht-Gentlemen von der Teilhabe an der Lebensform der Gentlemen, den Aristoteles notdürftig mit seiner Konstruktion des »Sklaven von Natur« zu rechtfertigen suchte, nicht höchst ungerecht? Denn die Gentlemen sind vielleicht in der Tat den Nicht-Gentlemen überlegen, aber diese Überlegenheit beruht offenbar großenteils auf ihrer Erziehung und Bildung, deren die große Mehrheit der Nicht-Gentlemen nicht minder fähig wäre. »Only the accident of birth decides whether a given individual has a chance of becoming a gentleman or will necessarily become a villain: hence aristocracy is injust« 64 . Die Griechen hatten einen treffenden Begriff von »Vulgarität«. Sie sprachen von »apeirokalia«, vom Mangel an Erfahrung in schönen Dingen. Und will man die Marge der Überzeugung durch Argumente und Gründe mit den Modernen ausdehnen, ohne dadurch alle qualitativen Bestimmungen der Lebensführung preisgeben zu wollen, dann müssen die Argumente und Gründe auf die Erfahrung in schönen Dingen rekurrieren können – andernfalls behalten die Antiken recht und es gibt keine gemeinsame Beratung zwischen den Gentlemen und den Nicht-Gentlemen. Andernfalls muß die Überdehnung der Reichweite der Überzeugung durch Gründe letztlich dazu führen, daß nur noch die Gehalte und Zwecke Anspruch auf allgemeine Geltung erheben können, die sich auf die empirische Bedürfnisnatur beziehen und sich im 63 64

198

Strauss, Leo, Liberal Education and Mass Democracy, l. c., p. 14. L. c., p. 15.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

Rekurs auf diese rechtfertigen lassen. Denn die Rechtfertigung über die empirische Bedürfnisnatur stellt möglichst geringe Anforderungen an den, der sie einsehen soll. Nur solche Argumente können daher auf allgemeine Geltung Anspruch erheben. Alle anderen Gehalte, die sich nicht funktional im Rekurs auf die elementaren Bedürfnisse rechtfertigen lassen, werden zum Verschwinden gebracht. Das heißt aber, daß die Ausdehnung der Reichweite der Überzeugung durch die Rede und die Orientierung an Zielen, die von allen und jedem erreicht werden können sollen, einhergehen müssen mit einer unerhörten Form der Bildung und Aufklärung für alle. Durch die Verbesserung der Erziehungsmethoden, die Popularisierung der Aufklärung und die Mitteilung zumindest der Forschungsresultate sollten die natürlichen und die durch die Sozialisation in benachteiligten Milieus bedingten Ungleichheiten ausgeglichen werden. Erziehung und Lebensform der Gentlemen, die nun universalisiert werden sollten, setzen aber Muße und Wohlstand voraus. Das heißt, daß die Ökonomie des Mangels, die stillschweigende Voraussetzung des antiken politischen Denkens war, durch eine Ökonomie des Überflusses und des Wachstums ersetzt werden mußte, um eine universelle Erziehung gewährleisten zu können. Aber in der Überflußökonomie ist das Problem nicht nur, daß die Armut schlicht exportiert wird; die Überflußökonomie setzt die Emanzipation der Technik von der moralisch-politischen Kontrolle, die Freigabe der Leidenschaften und des »Wettbewerbs« voraus 65. Die Elite des Landadels war von einer industriellen Elite zu ersetzen, die von ihren Geschäften ganz in Anspruch genommen ist und selbst keinen Raum für Muße hat. Die Popularisierung der Aufklärung führte zu ihrer »Verwässerung«, zur Verwandlung der Erkenntnis in Meinungen und Vorurteile. Die moderne Demokratie fand kein Mittel gegen den schleichenden Konformismus und die Überhandnahme des Privaten bzw. Ökonomischen. Oder um mit Adorno zu sprechen: die Schließung der Kluft zwischen Philosophie und Politik und die »Integration« der ehedem Ausgeschlossenen führte zur »Halbbildung«, zur »Integration der gleichwohl weiter Nichtintegrierten«. Durch die Kulturindustrie werden »die Massen (…) durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefert. (…) Das gelingt, indem die Gehalte von Bildung, über den Marktmechanismus, dem Bewußtsein derer angepaßt werden, die vom 65

Cf. Strauss, Über Tyrannis, l. c., p. 214. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

199

Markus Kartheininger

Bildungsprivileg ausgesperrt waren und die zu verändern erst Bildung wäre« 66 . Und die Ersetzung der Ökonomie des Mangels durch die Überflußökonomie, die Freigabe der Leidenschaften und des »Wettbewerbs«, führte, wie bei Max Weber gesehen, zur Verselbständigung der sachlichen Ordnungen und »Systeme«: »die äußeren Güter dieser Welt [gewannen] zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte« 67 . Damit schließt sich der Kreis unserer Überlegungen wieder an den Punkt, von dem ausgegangen worden war: an die in der modernen Welt nicht mehr explizierbare kulturelle Einbindung der Fachqualifikationen, an die Verweigerung der ethischen Ausdeutbarkeit, an einen Pragmatismus ohne Maßstab, da dieser aufgrund der vielfachen existentiellen Abhängigkeiten von den empirischen Bedingungen entzogen ist und sich nicht mehr gehaltvoll bestimmen läßt. Der Mensch muß sich eben vom Ganzen verstehen, das nicht menschlich ist. Er muß sich notwendig transzendieren: »he must transcend humanity in the direction of the subhuman if he does not transcend it in the direction of the superhuman. Tertium; i. e. humanism, non datur« 68 . Die existentielle Abhängigkeit vom Subpolitischen bzw. Ökonomischen ist heute nicht nur überall mit Händen zu greifen; sie zeigt sich auch daran, daß die großartige Bewegung der modernen Aufklärung, die im 17. und 18. Jahrhundert noch von den Philosophen-Wissenschaftlern geführt und kontrolliert werden sollte, sich von dieser Führung, der nichts weniger als die Rechtfertigung des Zwecks des ganzen Unternehmens oblag, emanzipiert hat: »in the meantime philosophy and science have become divorced (…). Of the two henceforth divorced faculties of the mind, science has acquired supremacy: science is the only authority in our age of which one can say that it enjoys universal recognition. It is a mere accident if a scientist, even a great scientist, happens to be a wise man politically or privately« 69 . Die Wissenschaften als solche sind aber unfähig, die Ziele und Zwecke zu rechtfertigen. Sie stellen die Mittel zu vorgegebenen Zwecken bereit. Und behielten nicht die alten Traditionen noch etwas von ihrer, wenn66 67 68 69

200

Adorno, Theorie der Halbbildung, l. c., p. 100 u. 103. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, l. c., p. 203/204. Strauss, Leo, Thoughts on Machiavelli, Chicago, 1978, p. 78. Strauss, Liberal Education and Mass Democracy, l. c., p. 18.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

gleich korrodierenden, Kraft, so bliebe »hardly more than the interplay of mass taste with high-grade but strictly speaking unprincipled efficiency. The technicians are, if not responsible, at any rate responsive to the demands of the mass: but a mass as mass cannot be responsible to anyone or to anything for anything. (…) In this situation the insufficiently educated are bound to have an unreasonably, strong, influence on education – on the determination of both the ends and the means of education« 70 . Die »Halbbildung« macht vor den Schichten der »Gebildeten« nicht Halt; sie betrifft, wie Adorno feststellte, alle. Die geistige Proletarisierung des Akademischen, die damit angesprochen ist, resultiert aus der Verschiebung des Universalismus von der Ebene des Überpolitischen in den Bereich des Politischen, der Schließung der Kluft zwischen Philosophie und Politik. Die Klassiker hatten in ihrer qualitativ differenzierten Ordnung die Zwecke von Philosophie und Politik nicht zusammengezwungen; sie respektierten sowohl die Grenzen der Politik im Hinblick auf die Realisierung der Gerechtigkeit, als auch die Grenzen der Macht der Philosophie in bezug auf die Regulierung des Lebens der politischen Gemeinschaft. Sie ließen in ihrer differenzierten, elastischen Ordnung Raum sowohl für die partikularen Zwecke, denen der Mensch als endliches Wesen zwangsläufig folgen muß, als auch für das Transzendieren dieser partikularen Kontexte und den bedingt möglichen Einfluß und Ausdruck dieser Selbstzweckhaftigkeit im Leben der Polis. Die Modernen suchten hingegen die Spannung von Philosophie und Politik zu überbrücken. Aber die Anwendungsfixierung und die Politisierung von Philosophie und Wissenschaft führte dazu, daß die Philosophie in ihren Maßstäben von den Kontexten, auf die sie einwirken wollte, abhängig wurde: »the university, in a society ruled by public opinion, was to have been an island of intellectual freedom where all views were investigated without restriction. Liberal democracy in its generosity made this possible, but by consenting to play an active or ›positive‹, a participatory role in society the university has become inundated and saturated with the backflow of society’s ›problems‹. Preoccupied with questions of Health, Sex, Race, War, academics make their reputations and their fortunes and the university has become society’s conceptual warehouse of often harmful influen-

70

L. c., p. 18/19. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

201

Markus Kartheininger

ces (…). Increasingly, the people ›inside‹ are identical in their appetites and motives with the people ›outside‹ the university«71 . Die Querelle sollte Antike und Moderne bezüglich der Frage des Maßstabs konfrontieren. Das Resultat faßt Strauss so zusammen: »Die klassische Lösung ist utopisch in dem Sinn, daß ihre Verwirklichung unwahrscheinlich ist. Die moderne Lösung ist utopisch in dem Sinn, daß ihre Verwirklichung unmöglich ist. Die klassische Lösung führt zu einem festen Wertmaßstab, an dem jede tatsächliche Ordnung gemessen werden kann. Die moderne Lösung zerstört am Ende selbst die Idee eines Wertmaßstabs, der von den Gegebenheiten unabhängig wäre« 72 . Bei der Antike wurde der Maßstab deutlich herausgearbeitet. Es ist das überpolitische Ideal der Perfektion in der Weisheit, das allerdings als überpolitisches gerade auf der politischen Ebene nicht als solches realisiert werden kann; vielmehr kann es das Leben einer politischen Gemeinschaft nur vermittelt in-formieren, in diesem als Reflex präsent sein und als Maßstab dienen, über den sich das menschliche Leben vom »Hier« und »Jetzt« zu distanzieren und adäquat zu verstehen vermag. Die Modernen hingegen lassen sich von dem nicht nur unwahrscheinlichen, sondern unmöglichen Maßstab der gleichen Bildungschancen für alle leiten. Dieser Maßstab, der auf der überpolitischen Ebene der christlichen Religion, wo er letztlich wohl seinen Ursprung hat, durchaus nobel ist, wird zum unmöglichen, wenn er auf die Ebene des Politischen übertragen und als mit menschlichen Mitteln zu garantierender präsentiert wird. Es haben nicht alle die gleichen Chancen und Ausgangsbedingungen; und solche lassen sich – selbst im Modell »Sparta«, von dem wir von vornherein absehen – nicht politisch herstellen. Die Einziehung des Überpolitischen ins Politische, die die Lage der Benachteiligten erst recht trostlos macht, weil es keinen Raum mehr läßt, über den man sich von den Bedingungen, in die man gestellt ist, distanzieren könnte, »will merely bring about a state of universal drabness. But only on the ground of a narrow conception of justice, owing its evidence to the power of the ignoble passion of envy, must one prefer a flat buildung which is everywhere equally drab to a structure which from a broad base of drabness rises to a narrow plateau of

71 72

202

Bloom, The Closing of the American Mind, l. c., p. 18 (Foreword by Saul Bellow). Strauss, Über Tyrannis, l. c., p. 235.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

distinction and of grace, and which therefore gives some grace and some distinction to its very base« 73 .

X. Es wurde betont, daß die Wiederholung der Querelle des Anciens et des Modernes bewußt und explizit von der Anwendungsdimension abzusehen hat. Der Gewinn dieser Abstinenz ist zunächst der Abbau von überzogenen Ansprüchen und Erwartungen an Bildung, die angesichts der menschlichen Endlichkeit nicht zu erfüllen sind. Dies betrifft sowohl die überzogenen Gerechtigkeitsansprüche, die an die Bildungspolitik gestellt werden und von dieser bereitwillig akzeptiert, versprochen und rückwirkend wieder geweckt werden, als auch die Überdehnung dessen, was Philosophie und Wissenschaft in bezug auf die Regelung des Lebens der politischen Gemeinschaft und der Bildung zu leisten vermögen. Ein nüchterner, rationaler Umgang mit dem Problem der Bildung muß zunächst auf der wiedergewonnenen Einsicht in die Grenzen sowohl der Philosophie als auch der Politik fußen. Zugleich wurde aber auch in einer Situation, in der ein Pragmatismus ohne Maßstab vorherrscht, wieder ein solcher freigelegt. Aber ist dieser Maßstab der antiken Klassiker, dessen Realisierung äußerst unwahrscheinlich ist, überhaupt ein solcher, wenn er der Gegenwart und den modernen Bedingungen auch noch historisch entrückt ist und offenbar das Grundkriterium der Anwendbarkeit nicht gegeben ist, durch das heute alle Wissenschaft sich rechtfertigen muß? In letzterem Sinne ist der Maßstab der antiken Klassiker in der Tat nicht anwendbar. Denn die moderne Gesellschaft ist keine Polis; außerdem war der Maßstab der antiken Klassiker schon in der Polis kein in diesem Sinne »anwendbarer«. Und man würde die wiedergewonnene Einsicht in die Spannung von Philosophie und Politik ja geradezu wieder verspielen, wenn man mit groben Händen nun wieder zur praktischen, politischen Umsetzung schritte, wodurch ja nur der Fehler der Modernen, die Spannung von Philosophie und Politik durch eine Politisierung der Philosophie überwinden zu wollen, perpetuiert würde. Man würde wie Max Weber in Reaktion auf die öffentliche Unverbindlichkeit die Frage doch wieder zu einer politischen erklären und bei den Gewaltsamkeiten 73

Strauss, Liberal Education and Mass Democracy, l. c., p. 5. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

203

Markus Kartheininger

einer nachgeahmten Substantialität, die keine ist, enden. Die Einsicht, auf die es ankam, war, daß der universale Maßstab seinen Ort im Wissen, im Überpolitischen hat. Diese Dimension galt es wiederzugewinnen. Die Transformation des Universalismus ins Politische würde die Heterogenität der leiblich-seelischen Einheit des Menschen, die in der Spannung von Philosophie und Politik zum Ausdruck kommt, wieder einmal nicht achten und Seelisches und Leibliches über einen Kamm scheren. Und da die Popularisierung der Aufklärung auch nicht zum Ziel zu führen scheint, stellt sich die Frage nach dem Bezug des faktischen Horizonts gegenwärtiger Thematisierung von Bildung zum wiedergewonnenen Maßstab. Worin bestünde »liberal education« heute? Das Problem besteht ja darin, daß sich die systematische Integration der Mittel in eine inhaltlich bestimmte Zweckeinheit unmittelbar und systematisch nicht mehr denken läßt 74 . Nichts anderes besagt ja die Feststellung der Emanzipation der Fachqualifikationen von der Einbettung in qualitativ differenzierte Lebensformen, die nicht mehr explizierbare inhaltlich-bestimmte systematische Einheit der Wissenschaften, die Verselbständigung der sachlichen Ordnungen gegenüber einer Qualität der Lebensführung und das Auseinandertreten von einem leer gewordenen humanistischen Bildungsbegriff und den gesellschaftlichen Funktionen, die dieser nicht mehr zu integrieren und zu beschreiben vermag. Diese wohl kaum zu bestreitende Diagnose der gegenwärtigen Situation war allererst das Motiv für die Wiederholung der Querelle. Die Wiedergewinnung des überlegenen, festen Maßstabes der Antike ermöglicht es nun zumindest, den faktischen Horizont gegenwärtiger Thematisierung von Bildung historisch gebrochen auf einen Maßstab, der standhält, zu beziehen. Mit anderen Worten: systematische Philosophie, die eine solche nur zu nennen ist, wenn sie eine inhaltlich bestimmte Zweckeinheit zu denken vermag, ist in der Gegenwart nurmehr im Modus der Erinnerung bzw. historisch vermittelt möglich. Wenn dieser historisch vermittelte Bezug auf eine Zweckeinheit über einen bloßen Historismus hinausgehen und vielmehr eine systematische Option vorstellen soll, muß sie nichts weniger leisten, Im richtigen Motiv der Abstoßung vom Elend des Historismus redet sich die Philosophie unserer Tage wieder ein, »systematisch« zu philosophieren. Dies gelingt – durch die Umdefinition dessen, was »systematische Philosophie« heißt: durch die Anpassung und Assimilation von Philosophie an die »Systematik« der wissenschaftlichen »Forschung«, worin »Forschung« – anders als bei Humboldt – objektivistisch und entpersönlicht, vom Forschungssubjekt unabhängig gefaßt wird.

74

204

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

als die beiden Momente im Bildungsbegriff, nämlich Mittel und Selbstzweck, zueinander in Bezug zu setzen. Denn in der Verklammerung dieser beiden Momente stellte sich die Aufgabe, die nach beiden Seiten drohende Verengung des Bildungsbegriffs abzuwehren. Diese Verklammerung ist keine Flucht in die geschichtliche Antike; und sie ist eine Verklammerung nur, sofern der faktische Horizont gegenwärtiger Thematisierung von Bildung und die damit gestellten Probleme im Blick bleiben. Das Eigenrecht der »Politik« gegenüber der »Selbstzweckhaftigkeit« von Bildung ist zu wahren. Die Einsicht, daß die »Politik«, um handlungsfähig zu sein, großenteils gegenüber der »Philosophie« geschlossen sein muß, ist zu beachten. Das heißt aber klarerweise: es gibt keine Bildung ohne Ausbildung. Die existentielle Abhängigkeit von den ökonomischen Zwängen ist nicht behoben, wenn man sich der Lektüre der klassischen Texte zuwendet. Vom Fachwissen hängt der Wohlstand, die ökonomische und politische Macht der Gemeinschaft und deshalb auch des einzelnen ab. Man muß »ja« sagen zur Macht! Aber die Frage ist, im Lichte welcher Zwecke sie gebraucht werden soll. Anders gesagt: es gibt keine Bildung ohne Ausbildung, weil wir in einer hoch abstrakten und vielfach vermittelten Alltagspraxis der von den Wissenschaften und der technischen Arbeitsteilung geprägten Zivilisation leben. Und auch hier ist der Punkt: wir müssen die Wissenschaften und ihre »Sprachen« beherrschen, aber ohne von ihnen beherrscht zu werden. In der Einstellung der wissenschaftlichen Selbstobjektivierung wird sich die Frage nach dem richtigen Gebrauch der Macht nicht beantworten lassen. Die Statistiken sagen darüber nämlich recht wenig. Es geht daher darum, den »Status wissenschaftlichen Modelldenkens im Gesamtzusammenhang unserer Existenz zu bestimmen, und zwar nicht wiederum in Kategorien der Wissenschaft« 75 . Dies ist nicht zu leisten, wenn man Bildung und Ausbildung gegeneinander ausspielt. Denn der »Gebildete« ist in der modernen Welt, wie Max Weber richtig feststellte, schlicht »weltfremd« und ein »Dilettant«, sofern er nicht über das Fachwissen verfügt. Der »Gebildete« als solcher kann die bürokratischen Apparate bestimmt nicht beherrschen. Denn »stets ist die Frage: wer beherrscht den bestehenden bürokratischen Apparat? Und stets ist seine Beherrschung dem Nicht-FachSpaemann, Robert, Über den Mut zur Erziehung. In: id., Grenzen, l. c., p. 490–502, p. 499.

75

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

205

Markus Kartheininger

mann nur begrenzt möglich: der Fach-Geheimrat ist dem Nichtfachmann als Minister auf die Dauer meist überlegen in der Durchsetzung seines Willens« 76 . Die Bestimmung des Status’ wissenschaftlichen Modelldenkens im Gesamtzusammenhang unserer Existenz wird nur gelingen, wenn man mit der Antike Philosophie und Politik, die Frage nach dem Maßstab und die jeweiligen Umstände und Bedingungen, unter denen der Mensch sein Leben zu führen hat, entkoppelt und Politisches und Überpolitisches nicht in eine Einheit zusammenzwingt, in der beide Schaden nehmen. Und auf der Grundlage dieser Entkoppelung von Überpolitischem und Politischem sind dann beide, soweit als möglich, aufeinander zu beziehen. Platon etwa hat sich ja nie wie die Modernen eingebildet, durch die Philosophie unvermittelt Politik treiben zu können. Er formuliert eine universal gültige Hierarchie der Zwecke, jedoch nicht allgemein gültige Regeln für das Handeln. Im Handeln ist nämlich je abzuwägen, sowohl welcher Zweck der höhere, als auch welcher in bezug auf die gegebenen Umstände der dringlichste ist. Die Hierarchie der Zwecke und Lebensformen gibt folglich einen Maßstab für die Beurteilung von Menschen, Handlungen und Institutionen an die Hand; keineswegs ist diese Hierarchie ausreichend für die Anleitung zum Handeln 77 . Was philosophische Bildung folglich letztlich leisten kann, scheint sehr bescheiden. Gemessen an den modernen Erwartungen ist es wenig; Machiavelli würde es als Ausdruck der Ohnmacht kennzeichnen. Aber in Wahrheit vermag philosophische Bildung sehr viel zu leisten. Sie gibt einen Maßstab an die Hand, vermittels dessen der Mensch sich vom »Hier« und »Jetzt« distanzieren und einschätzen kann 78 . Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, l. c., p. 128/129. Cf. Strauss, Leo, Naturrecht und Geschichte, Frankfurt, 1977, p. 167/168. Cf. nochmals Nomoi 709a/b: »Ich wollte sagen, daß eigentlich niemals irgend ein Mensch Gesetze macht. Schicksale und Ereignisse von mancherlei Art in allen möglichen Fällen sind’s: die machen uns alle Gesetze«. Die große Rolle der Umstände im menschlichen Handeln bedeutet nun aber nicht, daß man sich dem Defaitismus anheimgeben sollte: »denn feiner ist es sicherlich, wenn man zugibt, daß auch noch ein Drittes hinzukommen muß, nämlich die Kunst. Im Augenblick eines Sturmes die Kunst des Steuermanns zu Hilfe nehmen zu können, das möcht’ ich doch weit höher anschlagen, als wenn man’s nicht kann«. 78 Um ein Beispiel für die Differenz aus dem Bereich des politischen Denkens zu geben: Der Cäsarismus wurde von manchen Denkern in bezug auf die Umstände gerechtfertigt, die in bestimmten historischen Situationen gegeben sein mögen: wenn nämlich die 76 77

206

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Aristokratisierung des Geistes

Daß philosophische Bildung in den Augen Machiavellis ohnmächtig ist, hängt unmittelbar damit zusammen, daß sie nicht funktional gerechtfertigt werden kann. Und man tut ihr – genauso wie der Moral – nichts Gutes, wenn man dies versucht. Der Rang einer politischen Gemeinschaft bemißt sich daran, inwiefern sich in ihrem Zusammenleben Geist manifestiert bzw. sich in ihm darstellt. Aber die Gesellschaft braucht den Geist nicht – sie funktioniert auch so. Der »Gebildete« ist nicht nützlicher; und er hat auch keine besseren Karrierechancen. Bildung hat ihre Rechtfertigung, genauso wie moralisches Handeln und Akte der Liebe, darin, daß sie schön ist. Sie muß sich gegen das Vulgäre abgrenzen. Es gibt keine »gemeinsame Beratung« mit ihm. »Liberal education is the counter-poison to mass culture, (…) is the necessary endeavour to found an aristocracy within democratic mass society« 79 . Gewiß ist die Spannung zwischen Philosophie und Politik in bezug auf die moderne Gesellschaft noch weit schwieriger als in der Antike. Denn während der politischen Lebensform der Gentlemen aufgrund ihres personalen Charakters eine gewisse Elastizität eignete, die zwar gegenüber dem Überpolitischen großenteils geschlossen sein mußte, jedoch von ihm affiziert zu werden vermochte, ist solche Affektion und somit der bedingte Reflex der »Selbstzweckhaftigkeit« im Leben der modernen Gesellschaft mit ihren versachlichten Ordnungen, die auf partikulare Zwecke fixiert sind, weit schwieriger. Aber die Spielräume, die es gibt, sind zu nutzen. »While we are not permitted to remain silent on the dangers to which democracy exposes itself as well as human excellence, we cannot forget the obvious fact that by giving freedom to all, democracy also gives freedom to those who care for human excellence. No one prevents us from cultivating our garden or from

Gesellschaft in einem korrupten Zustand ist, in dem Bürgertugend und das Verständnis für das Allgemeinwohl gesunken sind. Aber »Cato weigerte sich, die Anforderungen seiner Zeit anzuerkennen, weil er zu klar ihre niedrige und erniedrigende Natur erkannte. Es ist viel wichtiger, das Niedrige des Cäsarismus zu erkennen, als die Tatsache, daß der Cäsarismus unter bestimmten Umständen notwendig und daher legitim ist (…). Die wahre Lehre über die Legitimität des Cäsarismus ist gefährlich. Die rechte Unterscheidung zwischen dem Cäsarismus und der Tyrannis ist für den politischen Alltagsbedarf zu subtil. Es ist besser für das Volk, diese Unterscheidung nicht zu kennen und den potentiellen Cäsar für einen potentiellen Tyrannen zu halten« (Strauss, Über Tyrannis, l. c., p. 200). 79 Strauss, Liberal Education and Mass Democracy, l. c., p. 3. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

207

Markus Kartheininger

setting up outposts which may come to be regarded by many citizens as salutary to the republic and as deserving of giving to it its tone« 80 . Die Aristokratisierung des Geistes, die oberflächlich gesehen der modernen Demokratie widerstreitet, ist, wie Leo Strauss hier andeutet, in Wahrheit Voraussetzung einer guten demokratischen Ordnung. Dieser Zusammenhang mag abschließend durch einen Passus aus dem Briefwechsel von Screwtape mit seinem Neffen Wormwood in den Blick gerückt werden. Screwtape und Wormwood meinen es bekanntlich nicht gut mit den Menschen – denn es ist ein Briefwechsel unter »Teufeln«. Screwtape stellt in bezug auf den Umgang mit Menschen fest: »Democracy is the word with which you must lead them by the nose. The good work which our philological experts have already done in the corruption of human language makes it unnecessary to warn you that they should never be allowed to give this word a clear and definable meaning. (…) Nor, of course, must they ever be allowed to raise Aristotle’s question: whether ›democratic behaviour‹ means the behaviour that democracies like or the behaviour that will preserve democracy. For if they did, it could hardly fail to occur to them that these need not to be the same« 81 .

80 81

208

L. c., p. 19. Lewis, Clive Staples, The Screwtape Letters, London, 2001, p. 197.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung Axel Hutter (München)

1 Die Philosophie hat das Selbstverständliche zum Thema. Deshalb ist es Wittgenstein zufolge für eine philosophische Untersuchung »wesentlich, daß wir nichts Neues mit ihr lernen wollen«. Vielmehr geht es darum, etwas zu verstehen, »was schon offen vor unsern Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen«. 1 Die Philosophie untersucht also nicht (wie die Einzelwissenschaften) das Unvertraute, um es schrittweise vertraut zu machen, sondern das allzu Vertraute, um seine Fragwürdigkeit ins Bewußtsein zu heben. In diesem Sinne gehört der Begriff der »Bildung« zu den eigentümlich selbstverständlichen und zugleich opaken Grundbegriffen unseres Selbstverständnisses, die sich einer bündigen Definition, d. h. einer Rückführung auf einfachere Begriffe widersetzen. Was unter »Bildung« zu verstehen ist, meinen wir zu wissen, solange wir nicht gefragt werden; sobald sich jedoch die Frage stellt, werden wir rasch inne, daß sich der vermeintlich vertraute Begriff kaum befriedigend explizieren läßt. Grundbegriffe, die sich nicht direkt definieren lassen, nötigen das Nachdenken auf Umwege. Der Umweg, der von den folgenden Überlegungen beschritten werden soll, versucht eine indirekte Aufklärung des Bildungsbegriffs durch die kritische Analyse eines Gegenbegriffs zu leisten. Der auf diese Weise erhellende Gegenbegriff zur Bildung ist aber, wie sich zeigen wird, nicht einfach die Nichtbildung oder Unbildung, sondern die Scheinbildung, die Adorno vor genau fünfzig Jahren auf den kritischen Begriff der »Halbbildung« gebracht hat. 2 Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, § 89 (Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt, 1995, p. 291). 2 Adorno, Theodor W., Theorie der Halbbildung (1959). In: id., Gesammelte Schriften, 1

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

209

Axel Hutter

Der erinnernde Anschluß an Adorno macht gleich zu Beginn die Erfahrung, daß viele Motive der heutigen Bildungsdebatte bereits im Jahr 1959 so vertraut sind, daß sie Adorno nur in Form einer widerwilligen Ablehnung aufzählt. Die »allerorten bemerkbaren Symptome des Verfalls von Bildung, auch in der Schicht der Gebildeten selber, erschöpfen sich« für Adorno »nicht in den nun bereits seit Generationen bemängelten Unzulänglichkeiten des Erziehungssystems und der Erziehungsmethoden«. Deshalb sei es eine Illusion zu glauben, isolierte »pädagogische Reformen allein, wie unumgänglich auch immer«, wären in der Lage, eine nachhaltige Verbesserung zu erzielen. Im Gegenteil: Solche Reformen tendieren »im Nachlassen des geistigen Anspruchs an die zu Erziehenden« eher dazu, wie Adorno nüchtern anmerkt, die Krise zu »verstärken«. Ebensowenig wie die kurzsichtigen und kurzatmigen Bildungsreformen reichen freilich die unzähligen »Reflexionen und Untersuchungen über soziale Faktoren, welche die Bildung beeinflussen und beeinträchtigen«, an die epochale »Gewalt dessen heran, was sich vollzieht« (93). Die in immer neuen Anläufen unternommenen Bildungsreformen samt der sie begleitenden Bildungsforschung greifen notwendig zu kurz, weil all diesen Bemühungen der Begriff der Bildung selbst in naiver Selbstverständlichkeit vorgegeben bleibt; dadurch bewegen sie sich aber unbewußt »im Rahmen von Zusammenhängen, die selbst erst zu durchdringen wären« (93). Ein dergestalt nicht radikal genug ansetzendes Verständnis der Bildungskrise läßt den Begriff der Bildung unberührt, so daß das Krisenhafte der Bildungskrise in eine äußerliche und quantitative Perspektive rückt. Man mag darüber klagen, daß der Gebildete heute im Durchschnitt weniger gebildet ist als früher, oder darüber, daß immer weniger Menschen einen erfolgreichen Zugang zur Bildung gewinnen – all diesen Klagen ist gemeinsam, daß sie den Bildungsbegriff selbst als intakt und unproblematisch voraussetzen. Gegenüber solch einem naiven Bildungsvertrauen will Adorno deutlich machen, daß der Bildungsbegriff selbst in die Krise geraten ist und seine unproblematische Selbstverständlichkeit verloren hat. Bildung »ist zu sozialisierter Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes. Nach Genesis und Sinn geht sie nicht der Bildung voran, sondern folgt auf sie« (93). Die Halbbildung folgt der Bd. 8, Frankfurt, 1972, p. 93–121. (Die eingeklammerten Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.)

210

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung

Bildung freilich nicht in dem äußerlichen Sinn, daß aus der Bildung die Halbbildung irgendwie hervorginge, die Bildung selbst jedoch – davon unberührt – erhalten bliebe. So läßt sich ja bereits der Übergang von Nichtbildung zur Bildung nicht verstehen: Die Bildung tritt hier an die Stelle der Nichtbildung; bliebe die Nichtbildung unberührt erhalten, wäre die Bildung keine Bildung. Ebenso geht die Bildung selbst in Halbbildung über, so daß die Bildung nunmehr nicht länger »neben« oder »über« der Halbbildung zu finden ist, sondern allenfalls »in« der Halbbildung aufgesucht werden muß, indem der Schein dieser Scheinbildung kritisch beim Namen genannt wird. Damit zeichnen sich die konkreten Umrisse einer philosophischen Untersuchung ab: »Daß Halbbildung, aller Aufklärung und verbreiteten Information zum Trotz und mit ihrer Hilfe, zur herrschenden Form des gegenwärtigen Bewußtseins wird – eben das erheischt weiter ausgreifende Theorie« (94). Da die Halbbildung durch dieselben Mittel hervorgebracht wird, die nach dem geläufigen Verständnis Bildung hervorbringen (Aufklärung und Information), nimmt die Dialektik der Aufklärung hier die Gestalt einer Dialektik der Bildung an. Dieselben Mittel, die der Bildung einst zum historischen Durchbruch verhalfen, führen jetzt zur Herrschaft der Halbbildung. Deshalb ist es irreführend, von der naiven Steigerung der vertrauten Mittel erneut eine Steigerung der Bildung zu erwarten. Statt dessen tritt vielmehr das Gegenteil ein: Der Schein von Bildung, die Halbbildung, wird gesteigert. Die Bildungsreformen verstärken mithin die Bildungskrise. Diese Exposition des Begriffs der Halbbildung gibt die Anlage der weiteren Überlegung vor. Sie orientiert sich nicht zufällig an Kants Kritik des dialektischen Scheins, indem sie den Schein der Bildung in vier Antinomien analysiert, mit denen sich das heutige Nachdenken über Bildung konfrontiert sieht. Die anvisierte Erhellung dessen, was positiv unter »Bildung« zu verstehen ist, wird also nur im kritischen Ausgang von einer verzerrten, entfremdeten Gestalt der Bildung, d. h. im Ausgang von der modernen Halbbildung möglich sein. Erst am Ende wird deutlich werden können, warum das Nachdenken über Halbbildung eine antinomische Form annehmen muß und was dies im Umkehrschluß für einen angemessenen Begriff von Bildung bedeutet.

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

211

Axel Hutter

2 Die erste Antinomie der Bildung wird durch die Frage sichtbar gemacht: Ist »Bildung« als Mittel oder Selbstzweck zu begreifen? Dabei ist es für die innere Problematik der Bildungsidee kennzeichnend, daß mit dieser Frage auf den ersten Blick der Anschein verbunden ist, hier werde keine Schwierigkeit, sondern ganz im Gegenteil eine Lösung angedeutet. Denn die sogenannte »Bildungskrise« – so die auch heute noch verbreitete Auffassung – rührt scheinbar allein von einer verfremdenden Überformung der Bildungsidee her, die den Selbstzweckcharakter der Bildung unter äußerliche Imperative der Nützlichkeit stellt. Bildung gerät demnach nur dort in die Krise, wo sie als Ausbildung (zu diesen oder jenen Zwecken) mißverstanden wird. Die neuhumanistische Rede von der Bildung als Selbstzweck kann aber aus immanenten Gründen nicht überzeugen. Denn ganz offenkundig wird mit dem Lob einer Bildung, die allen Nützlichkeitserwägungen enthoben sein soll, ebenfalls ein Zweck und ein Nutzen verfolgt. Gesetzt nämlich, der konkrete Bildungserfolg wäre tatsächlich folgenlos für den Gebildeten und die Gesellschaft, die die Anstrengung unternimmt, ihre Mitglieder zu bilden – niemand käme auf den Gedanken, Bildung als Gut zu verstehen und sie als solches anzustreben. Ein Bildungsverständnis, das in der durchaus berechtigten Abwehr eines allzu engen Nützlichkeitskalküls dazu übergeht, den Bildungsgedanken von jeder Bindung an eine konkrete Praxis abzukoppeln, hat somit den inneren Sinn der Bildung bereits zerstört. Bildung, so Adorno, die »sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden« (95). Das Pathos der Rede von der Bildung als Selbstzweck ist demnach hohl, weil in ihrer wohlfeilen Hochherzigkeit die Resignation vor der eigentlichen Aufgabe verborgen liegt, die Dialektik der Bildungsidee wirklich zu lösen. Die Institutionalisierung dieser resignativen Verhärtung des Dualismus zwischen einem bornierten Nützlichkeitskalkül einerseits, einer in die Folgenlosigkeit eines »geistigen« Reiches geflüchteten Zweckfreiheit andererseits leistete im 19. Jahrhundert das Konzept der sogenannten »Geisteswissenschaften«. 3 Die heutzutage ebenfalls beliebte Klage über die »Krise« der Geisteswissenschaften ist Adorno verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die »Schriften Wilhelm Diltheys, der mehr wohl als jeder andere den Begriff von Geisteskultur als Selbstzweck

3

212

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung

also keineswegs identisch mit der Bildungskrise. Vielmehr ist die disziplinäre Einpferchung des Geistes in die geisteswissenschaftliche Isolation der Halbbildung bereits Ausdruck der Bildungskrise, so daß eine »Stärkung« der Geisteswissenschaften nicht etwa der Bildung, sondern allein der Halbbildung zugute kommt. Daher steht der kritische Einspruch gegen die fixierte Trennung der sogenannten Natur- und Geisteswissenschaften dem unverkürzten Bildungsbegriff näher als jede Apologie der Geisteswissenschaften. 4 Es wäre freilich zynisch, die berechtigte Kritik am neuhumanistischen Konzept des Selbstzweckcharakters der Bildung ummünzen zu wollen in die Rechtfertigung einer umstandslosen Zurückführung der Bildung auf eine bloße Ausbildung. Bildung verkäme auf diese Weise zu einer Form von erfolgreicher Anpassung an vorgegebene Anforderungen, während es zu den unveräußerlichen Momenten eines unverkürzten Bildungsbegriffs gehört, daß Bildung das wesentliche Vermögen impliziert, sich von jeder Einengung auf bloß pragmatische Gesichtspunkte kritisch distanzieren zu können. Die erste Antinomie der Bildung entspringt somit aus der Dialektik von Mittel und Zweck. Die schlechte Alternative, Bildung als Mittel oder Selbstzweck zu verstehen, führt in beiden Fällen – bleibt es bei der abstrakt dualistischen Entgegensetzung – in die Sackgasse der Ohnmacht. 5 Denn die nur scheinbare Souveränität einer Bildung als Selbstzweck entpuppt sich bei näherem Hinsehen als die Ohnmacht einer dem gehobenen deutschen Mittelstand schmackhaft gemacht und den Lehrern überantwortet hat« (95). 4 Der Angriff von C. P. Snow auf »Die zwei Kulturen« wurde genau zeitgleich mit Adornos »Theorie der Halbbildung« formuliert. Allerdings strebt Snow eine einfache Homogenisierung der Wissenschaften unter der Vorherrschaft der Naturwissenschaften an, während Adorno eine dialektische Lösung fordert, die beide »Kulturen« eingreifend verändert: »Sollen die Universitäten anderen Sinnes werden, so wäre in die Geisteswissenschaften nicht weniger einzugreifen als in die Fächer, vor denen jene zu Unrecht den Geist vorauszuhaben sich einbilden« (Adorno, Theodor W., Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung. In: id., Gesammelte Schriften, Bd. 10, Frankfurt, 1972, p. 498). 5 Der moderne Freiheitsbegriff, der mit dem Bildungsbegriff systematisch verwandt ist, weist eine entsprechende Dialektik auf, die sich des näheren als Dialektik zwischen Verbindlichkeit und Willkür, Bedingtheit und Unbedingtheit fassen läßt: »Die modernen Erörterungen der Freiheit, in denen Freiheit nie als eine objektiv feststellbare Art und Weise menschlicher Existenz erscheint, sondern entweder als ein unlösbares Problem der Subjektivität, nämlich eines Willens, der zwischen absoluter Bedingtheit und absoluter Unbedingtheit hin und her schwankt […], zeichnen sich ja gerade dadurch aus, daß sie gar nicht mehr imstande sind, den objektiv greifbaren Unterschied zwischen Freisein A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

213

Axel Hutter

Isolation von jeder konkreten Praxis, während die pragmatische Sorge um die möglichst geschickte Anpassung an vorgegebene Ausbildungsziele bei aller »Flexibilität« ebenfalls nur resignierte Unfreiheit gegenüber dem ist, dem man sich in seiner Ohnmacht möglichst effektiv anzupassen sucht. Bildung verkehrt sich auf diese Weise ins Gegenteil ihrer selbst, sobald sie zum Opfer der ihr immanenten Dialektik wird: »Der Traum der Bildung, Freiheit vom Diktat der Mittel, der sturen und kargen Nützlichkeit, wird verfälscht zur Apologie der Welt, die nach jenem Diktat eingerichtet ist« (98). Die dialektische Bildungsidee erstarrt zur Halbbildung.

3 Die zweite Antinomie betrifft die in der Bildungsidee implizierte Erziehung zur Autonomie. Insofern der Bildungsbegriff mit dem Freiheitsbegriff eng verwoben ist, teilt jener eine Schwierigkeit mit diesem, die häufig übersehen wird. Wird Freiheit als Selbstbestimmung oder Autonomie verstanden, so steht sie systematisch der Fremdbestimmung oder Heteronomie entgegen. Doch wie wird Autonomie erworben, wenn nicht durch Fremdbestimmung? Wie läßt sich die Selbständigkeit des Gebildeten vermittels eines Bildungsprozesses überhaupt erreichen, wenn die Entwicklung von der Unselbständigkeit des Ungebildeten auszugehen hat? Der häufig mit der Philosophie Kants assoziierte Gedanke einer gleichsam »reinen«, von aller Vermittlung zur Fremdbestimmung isolierten Freiheit als Selbstzweck muß angesichts des dialektischen Bildungsgeschehens zur Fiktion werden. Denn muß bereits die Vorstellung einer »angeborenen«, der innerzeitlichen Entwicklung überhobenen Freiheit abstrakt wirken, so wird die Vorstellung von einer der Zeit überhobenen Bildung vollends absurd, da der Bildung das Zeit- und Entwicklungsmoment wesentlich einbeschrieben ist. Die eigentümliche Autonomie der Bildung ist somit notwendig eine gewordene, d. h. eine erworbene Autonomie, und zwar eine durch äußeren, fremden Beistand erworbene Autonomie. Die zweite Bildungsantinomie entspringt also der Dialektik von Fremdbestimmung und Selbstbestimund der Notwendigkeit Unterstelltsein auch nur zu bemerken« (Arendt, Hannah, Vita activa, München, 1996, p. 86).

214

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung

mung, die in der gelingenden Bildung vermittels eines spezifischen Lernprozesses zu lösen wäre, der seine eigene Zeit benötigt und nicht beliebig verkürzt oder beschleunigt werden kann. Bildung verkehrt sich deshalb genau dann zur Halbbildung, sobald das eigentümliche Tempo der Bildungsprozesse, in deren Langsamkeit die dialektische Spannung von Fremd- und Eigenbestimmung produktiv zu werden vermag, der Ungeduld verfällt, für die alles Langwierige beschleunigt und als Beschwerliche erleichtert werden muß. Halbbildung ist mithin das Ergebnis jener zahlreichen modernen Techniken und Kunstgriffe, Zeit zu gewinnen. 6 Denn die Ungeduld, die keine Zeit verlieren will, schlägt unmittelbar in die gehetzte Kurzatmigkeit dessen um, der sich für nichts mehr Zeit lassen kann, da er stets Zeit gewinnen muß. Bildung ist der sich langsam entfaltenden Zeit befreundet; Halbbildung hingegen entspringt einer Feindschaft gegenüber dem Eigensinn der Zeit, einer Pathologie des Zeitbezugs. Der Schein, Bildung unter Knappheitsbedingungen handlich und in möglichst kurzer Zeit konsumierbar machen zu können, ist das glänzende Versprechen der modernen Kulturindustrie und Massenmedien. Adorno beobachtet ihre eigentümliche Wirkung auf »die ländlichen Bezirke«, die unter ihrem Einfluß zu »Brutstätten von Halbbildung« geworden sind: »Dort ist, nicht zuletzt dank der Massenmedien Radio und Fernsehen, die vorbürgerliche, wesentlich an der traditionellen Religion haftende Vorstellungswelt jäh zerbrochen. Sie wird verdrängt vom Geist der Kulturindustrie; das Apriori des eigentlich bürgerlichen Bildungsbegriffs jedoch, die Autonomie, hat keine Zeit gehabt, sich zu formieren. Das Bewußtsein geht unmittelbar von einer zur anderen Heteronomie über; anstelle der Autorität der Bibel tritt die des Sportplatzes, des Fernsehens« (99). Die entscheidende Pointe, die weit über das Gebiet der »ländlichen Bezirke« hinaus reicht, ist hier der Gedanke, daß die Angebote der Kulturindustrie dem modernen Bewußtsein keine Zeit lassen, jene Autonomie auszubilden, die das Apriori jeder Bildung ist. Freilich ist Adornos Formulierung, die Autonomie habe »keine Zeit gehabt, sich zu formieren«, keinesfalls so zu verstehen, daß »Zeit« in einem rein quantitativen Sinne fehlen würde – denn eine sogenannte »Freizeit« steht ja unter modernen Bedingungen mehr und mehr zur Verfügung. Die Pathologie des Zeitbezugs, die mit der Kulturindustrie und den Massen6

Cf. Blumenberg, Hans, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt, 1986. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

215

Axel Hutter

medien einhergeht, ist demnach mit einem simplen und naiven Zeitbegriff nicht zu fassen; auch Begriffe wie Zerstreuung oder Ablenkung würden viel zu kurz greifen. Auf die richtige Spur führt hingegen die Aufmerksamkeit auf das spezifische Tempo des Lesens: Der Sinn des Gelesenen wird gleichermaßen unzugänglich, wenn man zu schnell oder zu langsam liest. Das Buch und das Lesen sind mithin deshalb der Bildung wahlverwandt, weil das Lesen eine Einübung in die Kunst des sinnerschließenden Zeitbezugs ist, der verlorengeht, wenn das von jedem Sinn jeweils anders geforderte Tempo des Verstehens nicht getroffen wird. Die geforderte »Mitte« des angemessenen Tempos kann so nur eigenverantwortlich und je individuell gefunden werden. Denn jedes Buch, jeder Leser, jede Lesestunde fordern ein je eigenes Tempo. Demgegenüber ist es für die modernen Formen der Kulturindustrie – Kino, Radio, Fernsehen – gleichermaßen kennzeichnend, daß sie sich an ein ihnen passiv ausgeliefertes Kollektiv wenden, dem das Tempo des Mitvollzugs vorgegeben wird. Die modernen Kulturkonsumenten »sind einer wie der andere im gleichen Takte eingespannt wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv«. 7 Die moderne Pathologie des Zeitbezugs, die in der Kulturindustrie exemplarisch zum Ausdruck kommt und von ihr systematisch befördert wird, läßt auf diese Weise »jenen Typus von Erfahrung« gar nicht mehr aufkommen, »auf den die traditionellen Bildungsinhalte abgestimmt waren«, die nun von den Massenmedien zu ermäßigten Preisen »vorweg kommuniziert werden. Damit geht es der Bildung selbst, trotz aller Förderung, an den Lebensnerv« (100 f.). Unter den Bedingungen der modernen Zeitarmut kann sich nämlich die geistige Autonomie gar nicht erst entwickeln, die von jedem Bildungsprozeß vorausgesetzt und gefördert wird, so daß die heutige Bildungsindustrie die Freiheitsidee nur noch ideologisch konserviert, um die faktische Halbbildung mit einem Anschein von Bildung zu verdecken. Jede Kulturkritik, so berechtigt und hellsichtig sie auch sein mag, wird freilich vom Schatten der Larmoyanz verfolgt. Selbst Adornos Überlegungen zur Halbbildung sind nicht immer davor gefeit, zuweilen wie ein erbaulicher Traktat über die gute alte Zeit des Bildungsbürgertums zu klingen. Dem kann nur die nüchterne Aufmerksamkeit begegnen, die sich geduldig auf das eigentliche Sachproblem richtet, Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. In: Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt, 1972, p. 54.

7

216

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung

welches in der Bildungsidee selbst verborgen liegt. Denn der historische Umschlag von Bildung in Halbbildung geschieht nicht zufällig: Der Bildung widerfährt nur, was in ihr selbst als Problem und als pathologische Möglichkeit immer schon angelegt ist. Deshalb ist es für den hier verfolgten Gedankengang instruktiv zu beobachten, daß schon Kant, dessen Philosophie sicherlich einen Höhepunkt in der reflexiven Durchdringung der menschlichen Autonomie bildet, mit der Pathologie von Bildungsprozessen wohl vertraut ist. Kant weiß nämlich – als Lehrer – sehr genau, daß es ein höchst paradoxes und gefährdetes Unternehmen ist, die Autonomie des philosophischen Selbstdenkens durch äußere Beispiele im Unterricht vermitteln zu wollen. Die Antinomie der Bildung, eine fremdbestimmte Erziehung zur Selbstbestimmung voraussetzen zu müssen, tritt demnach in der eigentümlichen Schwierigkeit des philosophischen Unterrichts besonders deutlich hervor. Denn der noch unreife Schüler wird im Unterricht mit reifen Gedanken konfrontiert, zu deren kritischer Beurteilung seine eigene Vernunft in der Regel noch nicht entwickelt genug ist. »Alle Unterweisung der Jugend hat« daher, so Kant, »dieses Beschwerliche an sich, daß man genötigt ist, mit der Einsicht den Jahren vorzueilen, und, ohne die Reife des Verstandes abzuwarten, solche Erkenntnisse erteilen soll, die nach der natürlichen Ordnung nur von einer geübteren und versuchten Vernunft könnten begriffen werden«. 8 Diese Diskrepanz zwischen bloßen Kenntnissen, die äußerlich angeeignet werden können, und autonomer Erkenntnis, die das Ziel der Bildung im allgemeinen und des Philosophieunterrichts im besonderen ist, stellt Kant zufolge eine ernste Gefahr für die Möglichkeit einer Bildung des Menschen zur Autonomie dar. Denn die Diskrepanz kann leicht dazu verführen, die noch nicht vorhandene autonome Erkenntnis durch den möglichst raschen und »effektiven« Konsum von Kenntnissen nicht nur vorzubereiten, sondern einfach zu ersetzen, wodurch die Grundunterscheidung zwischen Heteronomie und Autonomie von Grund auf verwirrt wird. Aus solch einer Verwirrung entspringt aber Kant zufolge »die frühkluge Geschwätzigkeit junger Denker, die blinder ist als irgendein anderer Eigendünkel und unheilbarer als die Unwissenheit« 9 . Hier wird erneut der bereits für Adorno leitende GedanKant, Immanuel, Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765–1766, AA II, p. 305. 9 Ibid. 8

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

217

Axel Hutter

ke deutlich, daß die Idee der Bildung, d. h. die Idee einer von außen vermittelten Selbständigkeit, genau deshalb für den Menschen eine antinomische Form annimmt, weil er selbst historisch verfaßt ist, d. h. nur in einem zeitlichen Bildungsprozeß das werden kann, was er ist. 10

4 Die dritte Antinomie der Bildung ergibt sich aus der bereits angesprochenen Dialektik der Aufklärung, daß der moderne Fortschritt in der wissenschaftlichen und technischen Verfügungsgewalt über die Welt zu einem Schein von Freiheit führt, der die Bildung nicht befördert, sondern untergräbt. Die vom Schein der modernen Verfügungsmacht Geblendeten bilden sich nämlich nicht nur ein, frei zu sein, sondern sind gleichzeitig der Überzeugung, daß das Maß ihrer Freiheit mit einem entsprechenden Maß an »Bildung« übereinstimmen muß. Da jedoch die reale Voraussetzung jeder Bildung, Autonomie, durch Verfügungsgewalt nicht ersetzt werden kann, muß die Moderne dazu übergehen, die technisch nicht herzustellende, aber massenhaft nachgefragte Bildung durch ein Surrogat, d. h. durch Halbbildung zu ersetzen, die als Surrogat nicht auffällt, weil es ein wesentliches Kennzeichen der Halbbildung ist, zwischen Bildung und Halbbildung weder unterscheiden zu können noch unterscheiden zu wollen. Auf diese Weise treibt die in der Moderne nur unvollständig verwirklichte Aufklärung breite Bevölkerungsschichten dazu, so Adorno, »Bildung zu prätendieren, die sie nicht haben. Was früher einmal dem Protzen und dem nouveau riche vorbehalten war, ist Volksgeist geworden. Ein großer Sektor der kulturindustriellen Produktion lebt davon und erzeugt selbst wiederum das halbgebildete Bedürfnis […] Frischfröhliche Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen ist unmittelbar eins mit ihrer Vernichtung« (110). Dem objektiven Scheincharakter der Halbbildung entspricht also auf der Seite der Subjekte sehr genau der Wille zum Schein, d. h. die Entschlossenheit, anderen und sich selbst etwas vorzumachen. 11 Der in der Halbbildung erzielte Scheinerfolg ist der Erfolg eines kollektiven Bluffs. Cf. Verf., Kenntnis und Erkenntnis. Der innere Zusammenhang von Philosophiegeschichte und Geschichtsphilosophie. In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Bd. 11, Amsterdam, 2006, p. 3–24. 11 Mit dem Rückgang auf die Subjektivität geht eine Verschärfung des dialektischen 10

218

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung

Die Bildungsidee ist Adorno zufolge für diesen kollektiven Bluff »prädestiniert«, weil sie »vom Individuum bloß ein Minimum verlangt, damit es die Gratifikation des kollektiven Narzißmus gewinne«. Die »Attitüde« aber, »in der Halbbildung und kollektiver Narzißmus sich vereinen, ist die des Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, Dazu-Gehörens« (114 f.). Die halbgebildete Grundhaltung des behenden Bescheidwissens und abgeklärten Informiertseins, die sich gerne in Wette und Quiz zur Schau stellt, instrumentalisiert die Überreste der Bildung zur Waffe im Kampf um soziale Anerkennung. Der soziale Effekt ersetzt so die Erfahrung der Sache selbst, für die einmal der Begriff Wahrheit einstand. Die Lektüre eines Buches, der Besuch eines Konzerts gilt nicht länger der Kunst, geschweige denn ihrer Wahrheit, sondern allein der Möglichkeit, sich später über das jeweilige »Bildungsgut« im Kreis von Gleichgesinnten informiert zu zeigen und mitreden zu können. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, die den kollektiven Bluff der Halbbildung kennzeichnet, darf jedoch nicht mit einer Lüge verwechselt werden. Es ist zwar richtig, daß Bluff und Lüge zwei Formen der Täuschung sind, in der die Wahrheitsverpflichtung negiert wird. Doch eine Lüge ist nur möglich, wenn der Lügner selbst die Wahrheit zu wissen glaubt, gegen die er in seiner Lüge verstößt. Der Lügner ist also nur erfolgreich, wenn er selbst eine Einsicht in den Sachverhalt besitzt, über den er andere täuschen will. Diese Sorge und Schwierigkeit ist dem Bluff der Halbbildung fremd: er opponiert nicht der Wahrheit, sondern steht ihr völlig indifferent gegenüber. Die Lüge ist eine gezielte Ausnahme von den Regeln des Wahrheitsspiels; die Halbbildung nimmt an dem Spiel erst gar nicht teil. Deshalb ist die Lüge nicht verallgemeinerbar: Wenn alle lügen (und deshalb mit einer Lüge rechnen), ist die Täuschung der Lüge nicht länger möglich. Der kollektive Bluff der Halbbildung ist hingegen sehr wohl verallgemeinerbar: Die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit ist nicht nur möglich, wenn sie von allen anderen geteilt wird, sie nimmt in diesem Fall sogar eine besonders stabile Form an. Es ist sicher kein Zufall, daß das Phänomen des kollektiven Bluffs in jüngster Zeit zum Gegenstand einer eigenen philosophischen Untersuchung gemacht wurde. In ihr ersetzt Harry Frankfurt den mittlerCharakters der Bildung einher, die sich auch in einer veränderten Form der Antinomien niederschlägt. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

219

Axel Hutter

weile etwas antiquiert wirkenden Begriff der Halbbildung durch den zeitgemäß schnoddrigen Begriff »bullshit«: »Someone who lies and someone who tells the truth are playing on opposite sides, so to speak, in the same game. Each responds to the facts as he understands them, although the response of the one is guided by the authority of the truth, while the response of the other defies that authority and refuses to meet its demands. The bullshitter ignores these demands altogether. He does not reject the authority of the truth, as the liar does, and oppose himself to it. He pays no attention to it at all. By virtue of this, bullshit is a greater enemy of the truth than lies are«. 12 Diese feindliche Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit ist auch für Adorno das definierende Kennzeichen der Halbbildung: »Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts […] Das etwa entspräche ihrer Definition« (103). Bildung muß zur Halbbildung werden, sobald der Wahrheitsanspruch, der jeden Bildungsprozeß initiiert und in Atem hält, aufgegeben wird, weil er sich dem modernen Verfügungswillen und seinem Ziel der instrumentellen Optimierung notwendig entziehen muß. Die Schwierigkeit, die der modernen Halbbildung durch die Unverfügbarkeit der Wahrheit bereitet wird, muß daher verdrängt werden, indem der Wahrheitsbezug der menschlichen Bildung selbst verdrängt wird. Es ist geradezu das Erkennungsmerkmal der Halbbildung, daß sie stolz auf ihre vermeintlich überlegene Einsicht pocht, daß es so etwas wie »Wahrheit« nicht gibt, daß der Gegenbegriff zu jedem Schein selbst nur ein Schein ist, eine Illusion derer, die noch nicht so gebildet sind wie die wunderbar fortgeschrittene Jetztzeit. Auf diese Weise wähnt sich die Halbbildung ein für allemal gesichert gegen ihre Entlarvung als Schein.

5 Die vierte und letzte Antinomie entspringt der Schwierigkeit, für die immanente Dialektik des Bildungsbegriffs, die von den ersten drei Antinomien auf den Begriff gebracht wurde, eine angemessene Lösung zu finden. Denn es hat den Anschein, wie Adorno unumwunden ein12

220

Frankfurt, Harry G., On bullshit, Princeton, 2005, p. 60 ff.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung

räumt, als tauge »als Antithese zur sozialisierten Halbbildung kein anderer als der traditionelle Bildungsbegriff, der selber zur Kritik steht« (102). Dies würde aber die selbstzerstörerische Konsequenz haben, daß eine berechtigte Kritik der gegenwärtigen Halbbildung nur vermittels eines völlig unberechtigten Lobes der Vergangenheit möglich wäre, d. h. durch die reaktionäre Beschwörung einer verblichenen Bildungstradition, deren eigentümliche Dialektik überhaupt erst den Boden für die gegenwärtige Halbbildung bereitet hat. Zur Pathologie der Halbbildung tritt hier als weitere Verschärfung eine Pathologie zweiter Stufe, die aus den zu kurz greifenden Versuchen resultiert, die Pathologie erster Stufe zu heilen: Gegen das Schlechte wird nur das Schlechtere mobilisiert. Die Pathologie zweiter Stufe ergibt sich des näheren aus dem in sich widersprüchlichen Versuch, das Unverfügbare, dessen Verdrängung durch die Pathologie erster Stufe zu Recht kritisiert wird, gewaltsam restaurieren zu wollen, wobei allein dieses restaurative Verfügenwollen über das Unverfügbare schon hinreichend deutlich macht, daß solche Versuche – wie etwa die politische Inszenierung einer »Leitkultur« – zum Scheitern verurteilt sind und zum Gegenteil ihrer ursprünglichen Absicht führen müssen. »Das fatale Wort Leitbild«, so Adorno, »dem die Unmöglichkeit dessen einbeschrieben ist, was es meint, drückt das aus. Es zeugt vom Leiden unter der Absenz eines sozialen und geistigen Kosmos, der, nach Hegels Sprachgebrauch, ›substantiell‹, ohne Gewaltsamkeit, fürs Individuum fraglos verbindlich wäre, eines richtigen, mit den Einzelnen versöhnten Ganzen. Zugleich aber bekundet jenes Wort die Gier, dies Substantielle aus Willkür – so wie schon Nietzsche seine neuen Tafeln – aufzurichten, und das sprachliche Sensorium ist bereits zu abgestumpft, um zu fühlen, daß eben der Gewaltakt, auf den das Verlangen nach Leitbildern hindrängt, genau die Substantialität Lügen straft, nach der man die Hände ausstreckt« (104). Die Pathologie der Halbbildung wird so ständig vom Schatten einer Pathologie zweiter Stufe begleitet, von einem Jargon der Eigentlichkeit, der gegen den richtig erkannten Scheincharakter der verdinglichten Bildung nur den neuen, in sich potenzierten Schein einer vermeintlichen Authentizität ins Feld führt: die scheinbare Radikalität einer »existenziellen« Ernsthaftigkeit, der stets die Unerreichbarkeit dessen einbeschrieben bleibt, was sie als auf eigene Faust erreichbar vorgaukelt. A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

221

Axel Hutter

Der Jargon der Eigentlichkeit teilt mit der Halbbildung erster Stufe, die er kritisieren will, das Desinteresse am traditionellen Wahrheitsbegriff. Denn an die Stelle der objektiven Norm der Wahrheit tritt die »innerliche« Norm der Authentizität, die dem Leichtsinn des halbgebildeten Bewußtseins erneut Gewicht und Sinn verleihen soll. Statt sich dem Bildungsprozeß einer geduldigen Auseinandersetzung mit der Sache selbst am Leitfaden der Wahrheit zu widmen, leitet die Halbbildung zweiter Ordnung zu einer Ernsthaftigkeit »sich selbst gegenüber« an: Wahrheit wird durch Wahrhaftigkeit ersetzt. Doch was läßt eine nur inszenierte, scheinhafte Wahrhaftigkeit von einer »wahren« Wahrhaftigkeit unterscheiden, wenn nicht die Idee der Wahrheit? Die Idee der Wahrheit läßt sich daher im Rückgang auf die Innerlichkeit nicht neu und »tiefer« begründen, weil die innere Natur des Menschen ihrerseits nur einen stabilen Sinn durch ihre Ausrichtung an der Wahrheit erhält. Eben dies ist die Idee der Bildung. Deshalb ist jede Form des Rückzugs in eine »eigentliche« Innerlichkeit eine Form der Halbbildung. Und es gehört zu den bemerkenswerten Leistungen Frankfurts, daß er am Ende seiner Untersuchung »On bullshit« das scheinbare Gegenkonzept der »Ernsthaftigkeit« als eine Gestalt dessen entlarvt, was von ihm kritisiert werden soll. »Our natures are, indeed, elusively insubstantial – notoriously less stable and less inherent than the natures of other things. And insofar as this is the case, sincerity itself is bullshit«. 13 Die vierte Antinomie der Bildung läßt sich damit in den Satz zusammenfassen, daß die von der Sache her berechtigte Kultur- und Bildungskritik am Ende selbst nur eine weitere Form der Halbbildung zu werden droht, wenn sie das kritische Gegenmoment gegenüber dem kollektiven Bluff der Halbbildung isoliert und die Ernsthaftigkeit absolut setzt.

6 Die letzte Überlegung führt erneut die Notwendigkeit vor Augen, der Gefahr kulturkritischer Larmoyanz vorzubeugen, die sich allzu leicht mit dem illusionären Ruf nach mehr »Substanzialität«, »Ernst« oder »Wahrhaftigkeit« verbindet. Denn die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, die als Merkmal der Halbbildung herausgearbeitet wurde, 13

222

Frankfurt, l. c., p. 67.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung

ist sicherlich nicht das zweideutige Privileg des modernen Bewußtseins, so daß hier kein Anlaß zu einem romantisch verklärten Rückblick auf vermeintlich bessere Zeiten besteht. Der Sinn der bisherigen Überlegungen wäre also verstellt, wollte sich der Gedanke bei der so simplen wie bequemen Opposition beruhigen zwischen dem gleichgültigen Unernst der Halbbildung und einer angeblich authentischen Ernsthaftigkeit der Bildung. Statt dessen muß erneut sehr genau auf das dialektische Verhältnis von Bildung und Halbbildung geachtet werden: Die Pathologisierung zur Halbbildung widerfährt der Bildung nicht einfach von außen, sondern geht aus einer immanenten Gefährdung der Bildung selbst hervor. Gerade deshalb vermag die kritische Analyse der Halbbildung indirekt auch Licht auf die Idee der Bildung zu werfen. Die Einsicht, daß Halbbildung als Form des Bluffs zu verstehen ist, lenkt somit die Aufmerksamkeit darauf, daß auch in der Bildung ein Moment des Bluffs, des spielerischen Unernstes verborgen liegt. Die zeitliche Entwicklungslogik der Bildung macht es nämlich notwendig, dasjenige, was auf späteren Stufen der Bildung erzielt werden soll, vorab zu antizipieren, um das Spätere überhaupt erreichen zu können. Zu jedem Bildungsprozeß gehört daher ganz wesentlich die Möglichkeit, sich in geistigen Gestalten gleichsam zu erproben, die im Hier und Jetzt der erreichten Bildungsstufe gar nicht ernsthaft und »authentisch« nachvollzogen werden können. Deshalb gehört ein Moment der Unverantwortlichkeit, das sich der Kontrolle durchs Bewußtsein entzieht und entziehen muß, essentiell zu den Voraussetzungen gelingender Bildung. Wer sich zu früh auf das strikt Kontrollier- und Nachprüfbare beschränkt, dem bleiben die vagen Zwischenschichten des Geistes verschlossen, die später einer Wahrheit Gehalt verleihen, die über die buchstäbliche Richtigkeit hinausgeht. 14 Die vielleicht eindringlichsten Passagen seiner »Theorie der Halbbildung« widmet Adorno daher nicht zufällig gerade diesem »überschießenden« Aspekt der im Untergang begriffenen Bildung. »Der Sozialcharakter«, so Adorno, »den man mit einem selber höchst anrüchigen Wort auf deutsch geistiger Mensch nennt, stirbt aus. Der vermeintliche Realismus jedoch, der ihn beerbt, ist nicht näher zu den Sachen, sondern lediglich bereit, unter Verzicht auf toil and trouble, die Cf. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 172.

14

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

223

Axel Hutter

geistige Existenz komfortabel einzurichten und zu schlucken, was in ihn hineingestopft wird. Weil kaum mehr ein Junge sich träumt, einmal ein großer Dichter oder Komponist zu werden, darum gibt es wahrscheinlich, übertreibend gesagt, unter den Erwachsenen keine großen ökonomischen Theoretiker, am Ende keine wahrhafte politische Spontaneität mehr« (105 f.). Der »überschießende« Aspekt im Bildungsprozeß wird hier – sehr angemessen – durch eine Übertreibung kenntlich gemacht: Wahrheit ist niemals trivial; sie enthält zwar ganz wesentlich die Nüchternheit des Tatsächlichen, doch geht sie ebenso wesentlich über den Bereich dessen hinaus, was sich auf Anhieb und ohne geduldige Umwege feststellen läßt. Genau dieser Überschuß und nur er allein macht den zeitlich artikulierten Bildungsprozeß für die Wahrheitserfahrung nötig, aber auch möglich. Ein falscher Realismus, der ausschließlich auf dem Hier und Jetzt des unmittelbar Verfügbaren beharrt, erzeugt daher mit Notwendigkeit einen bornierten Positivismus und ruft – als Kompensation – die »bunten« Angebote der Kulturindustrie herbei. Die zeitliche Logik, die innere Historizität des Bildungsprozesses bildet die entscheidende Vermittlung zwischen der inneren Historizität des Einzelbewußtseins und der äußeren der Gattungsgeschichte. Jeder gehaltvolle Gedankengang bildet nämlich eine innerzeitlich fortschreitende Bewegung, die von Vergangenem motiviert ist und auf noch Ausstehendes ausgreift. In dieser mikrokosmischen Bewegung des Denkens wird aber die makrokosmische Bewegung der Geschichte assimiliert – eine Anverwandlung, die den Sinn und die Aufgabe der Bildung umschreibt. Die innere Historizität des Bewußtseins ist deshalb nicht bloß eine formale, sondern vor allem eine inhaltliche Bestimmung. Ein reines, vollendet bei sich selbst bleibendes Subjekt wäre daher in seiner zeitlosen Sterilität zu keiner gehaltvollen Erkenntnis fähig. Die alles durchherrschende Konsequenz der modernen Pathologie des Zeitbezugs, die im bisherigen Gedankengang bereits als zentrales Moment der Halbbildung herausgestellt wurde, wird damit vollends sichtbar. Denn durch die Verdrängung des vitalen Zeitbezugs, der jeden gehaltvollen Gedanken überhaupt erst ermöglicht, wird die pure Gegenwart, das vermeintlich »Gegebene« zum Fundament aller Erkenntnis, so daß die innere Historizität des Bewußtseins dort, wo sie überhaupt noch bemerkt wird, als Makel erscheinen muß, der möglichst zu eliminieren ist. Die Geschichte wird folgerichtig als Spezialität einer feststellenden Tatsachenwissenschaft innerhalb der sogenannten Gei224

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung

steswissenschaften zugewiesen, die insgesamt dadurch gekennzeichnet sind, daß sie die Bildungsmomente der Vergangenheit zwar noch verwalten, aber nicht mehr anverwandeln können. Nichts anderes ist mit Übergang von Bildung in Halbbildung gemeint. Die immanente Dialektik der Bildung ist demnach durch ihren wesentlichen Zeitbezug begründet. Denn keine innerzeitliche Bewegung ist ohne die dialektische Spannung zwischen Anfang, Mitte und Ende möglich. Diese Dialektik, die den Bildungsprozeß nicht behindert, sondern ganz im Gegenteil sinnvoll macht und ihm seinen spezifischen Gehalt verleiht, geht freilich in eine destruktive Dialektik über, sobald der Versuch unternommen wird, ihre produktive Unruhe zu verdrängen und festzustellen. Je genauer also der pathologische Zeitbezug der Halbbildung auf den Begriff gebracht wird, desto präziser läßt sich am Ende – als kritischer Gegenbegriff – die Idee gelingender Bildung denken.

7 Die moderne Pathologisierung des Zeitbezugs wird von Adornos »Theorie der Halbbildung« in einer beeindruckenden Passage, in der sich Konkretion und begriffliche Schärfe gegenseitig stützen, auf den Punkt gebracht: »Erfahrung, die Kontinuität des Bewußtseins, in der das Nichtgegenwärtige dauert, in der Übung und Assoziation im je Einzelnen Tradition stiften, wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit, der schon anzumerken ist, daß sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird. Anstelle des temps durée, des Zusammenhangs eines in sich relativ einstimmigen Lebens, das ins Urteil mündet, tritt ein urteilsloses ›Das ist‹, etwa so, wie im Schnellzug jene Fahrgäste reden, die bei jedem vorbeiflitzenden Ort die Kugellager- oder Zementfabrik oder die neue Kaserne nennen, bereit, jede ungefragte Frage konsequenzlos zu beantworten. Halbbildung ist eine Schwäche zur Zeit, zur Erinnerung, durch welche allein jene Synthesis des Erfahrenen im Bewußtsein geriet, welche einmal Bildung meinte« (115 f.). Die nähere Bestimmung der modernen Pathologie des Zeitbezugs als Schwäche zur Erinnerung kann nach den bisherigen Überlegungen nicht überraschen. Die kritische Distanzierung des Denkens gegenüber der bornierten Enge einer zum bloßen Jetzt geschrumpften Gegenwart ist auf die Möglichkeit einer erinnernden Bezugnahme auf VergangeA

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

225

Axel Hutter

nes angewiesen, da eine ähnlich gehaltvolle, lebendige Bezugnahme auf die Zukunft nicht möglich ist. Das wird schon daran deutlich, daß gerade das ständige Planen der Zukunft, wie es für das moderne Bewußtsein kennzeichnend ist, Ausdruck einer Schwäche zur Zeit ist, da die Zukunft des Projektemachens nur eine verkappte Fortschreibung der Gegenwart darstellt, weshalb durch eine unmittelbare Bezugnahme auf Zukünftiges das Bewußtsein zeitlich nicht erweitert, sondern in der Enge der eigenen Gegenwart gefangen gehalten wird. 15 Aus dieser Zeitenge vermag also nur die korrektive Erinnerung an Früheres herauszuführen, die das konkrete Gegenteil zur antiquarischen Haltung der Halbbildung darstellt. Das Frühere wird durch eine korrektive Erinnerung nicht als ein feststellbares Faktum aufgesucht, sondern die festgestellte Vergangenheit wird umgekehrt erneut dynamisiert. Der versteinerte Bildungsprozeß der Geschichte wird so an einem konkreten Punkt versuchsweise wieder in Gang gebracht, indem das Vergangene in der korrektiven Erinnerung so verstanden wird, daß es über sich selbst, aber auch über sein Verständnis in der Gegenwart hinausweist. In der kritischen Erinnerung werden also Vergangenheit und Gegenwart zugleich korrigiert. Deshalb kann die vierte Bildungsantinomie, die aus der Einsicht entspringt, daß als kritisches Maß der schlechten Gegenwart allein die Vergangenheit taugt, nunmehr aufgelöst werden. Der kritische Rückbezug auf den Bildungsbegriff der Vergangenheit muß nämlich nicht notwendigerweise im Geist der Restauration geschehen, der selbst eine Gestalt des pathologischen Zeitbezugs darstellt. Vielmehr versucht der Rückgang auf frühere Formen der Bildung die heutige Verdinglichung der Bildung erneut in einen geschichtlichen Prozeß zu stellen, der über die frühere Bildung wie über die gegenwärtige Halbbildung gleichermaßen hinausführt. Bildung ist dergestalt unter den heutigen Bedingungen nur noch in der Form einer bestimmten Negation der Halbbildung möglich, welche die fixierten Begriffe durch die Dynamisierung ihrer historisch gewachsenen Gehalte in Bewegung bringt. Wird hingegen die in jedem Begriff aufgespeicherte Geschichte stillgestellt, fallen die Momente des Bildungsprozesses gleichgültig auseinander. Bildung wird zur Halbbildung, indem sich die verdrängte Dynamik ins Destruktive wendet: »Das Halbverstandene und HalberCf. Verf., Metaphysik als Metachronik. In: Schweidler, Walter (ed.), Zeit – Anfang und Ende, St. Augustin, 2004.

15

226

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Halbbildung

fahrene ist« nämlich, so Adorno, »nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind: Bildungselemente, die ins Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Giftstoffe, tendenziell in Aberglauben, selbst wenn sie an sich den Aberglauben kritisieren« (111 f.). Die Wahrheit der Bildung zersetzt sich zur Halbwahrheit, die die ganze Unwahrheit ist. Dies hilft aber nicht nur zu verstehen, warum der bornierte Positivismus der Tatsachenwissenschaften stets auf dem Sprung ist, in die haltlosesten Mutmaßungen und Verdächtigungen umzukippen; es hilft am Ende auch zu verstehen, warum eine Dialektik der Aufklärung überhaupt möglich ist, d. h. die Bereitschaft moderner Demokratien, gleichsam über Nacht zur Diktatur zu werden. Im Gegenzug hierzu muß eine bestimmte Negation der Halbbildung das erstarrte Spannungsfeld der Begriffe, die einst in dialektischer Weise die Idee der Bildung konstituierten, erneut in Bewegung bringen. Die im modernen Bewußtsein fixierten Entgegensetzungen (Natur und Geist, Anpassung und Souveränität, Fremd- und Selbstbestimmung) sind durch die kritische Erinnerung an die in ihnen aufgespeicherten historischen Gehalte erneut miteinander zu vermitteln, da jeder vereinzelte Begriff, auch wenn er das Höchste bezeichnete, in seiner Isolation zur Unwahrheit wird. Die heute anzuvisierende Bildung ließe sich daher als Vermögen charakterisieren, sich dasjenige anverwandeln zu können, was in der Wirklichkeit nicht bündig auf Definitionen und Regeln gebracht werden kann, weil es Moment eines innerzeitlichen Entwicklungsprozesses ist. Für eine solche Bildung ist die kritische Erinnerung so wichtig wie das richtig eingesetzte Zitat. Denn als Zeugnisse der Tradition, die in der Bildung je neu anzuverwandeln ist, gehören Zitate notwendig – ganz unabhängig von schulischen und akademischen Gepflogenheiten – zur Textur von Bildungsprozessen, die in philosophischen Untersuchungen nachgebildet werden. Deshalb soll die vorliegende Untersuchung mit einem Zitat aus Adornos Hauptwerk, der »Negativen Dialektik« schließen: »Unter den Varianten der allzu engen Ausgangsfragen der Kritik der reinen Vernunft dürfte die nicht fehlen, wie Denken, das der Tradition sich entäußern muß, verwandelnd sie aufbewahren könne; nichts anderes ist geistige Erfahrung«. 16 Adorno, Theodor W., Negative Dialektik. In: id., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt, 1972, p. 64.

16

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

227

Danksagung

Der Großteil der hier gesammelten Beiträge ist erstmals in einem Symposion in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München am 12. u. 13. März 2008 von den Autoren vorgetragen worden. Wir danken dem Geschäftsführer der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Prof. Dr. Heinrich Meier, für die Bereitstellung des Hauses und die vielfache Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der Tagung. Ebenso möchten wir der Münchener Universitätsgesellschaft für die großzügige Förderung des Symposions danken. Die Herausgeber

228

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Zu den Autoren

Esser, Andrea Marlen; Professorin für praktische Philosophie an der Philipps-Universität Marburg; Veröffentlichungen: Kunst als Symbol. Die Struktur ästhetischer Reflexion in Kants Theorie des Schönen, Fink, München, 1997; Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2004; Respekt vor dem toten Körper. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (56) 1/2008, p. 119–134, u. a. m. Hoffmann, Thomas S.; Professor (apl.) für Philosophie an der Universität Bonn u. Kodirektor des Referenzzentrums für Bioethik Südosteuropa in Zagreb; Veröffentlichungen: Die absolute Form. Modalität, Individualität und das Prinzip der Philosophie nach Kant und Hegel, de Gruyter, Berlin, 1991; Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2003; G. W. F. Hegel. Eine Propädeutik, Marix, Wiesbaden, 2004, u. a. m. Hutter, Axel; o. Professor für Theoretische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Veröffentlichungen: Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings, suhrkamp, Frankfurt, 1996; Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Meiner, Hamburg, 2003; Die Wirklichkeit des Geistes. In: Philosophisches Jahrbuch 115 (2008); Kant und das Projekt einer Metaphysik der Aufklärung. In: Klemme, Heiner (ed.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, de Gruyter, Berlin, 2009, u. a. m. Kartheininger, Markus; Dr. phil.; Hegel-Forschungsstelle LMU München; Veröffentlichungen: Heterogenität. Politische Philosophie A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

229

Zu den Autoren

im Frühwerk von Leo Strauss, Fink, München, 2006, Naturrecht bei Spinoza. In: Hindrichs, Gunnar (ed.), Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, Winter, Heidelberg, 2006, p. 113– 138, u. a. m. Liessmann, Konrad Paul; Professor für Philosophie an der Universität Wien; Veröffentlichungen: Kierkegaard – Zur Einführung, Junius, Hamburg, 1993, 20064 ; Philosophie der modernen Kunst, UTB, Wien, 1993, 19994 ; Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Zsolnay, Wien, 2006, 200817 ; Ästhetische Empfindungen. Eine Einführung, UTB, Wien, 2008, Schönheit; UTB, Wien, 2009, u. a. m. Maier, Hans; o. Prof. em. für christliche Weltanschauung, Religionsund Kulturtheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus a. D.; Veröffentlichungen: Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, C. H. Beck, München, 1959, 20066 ; Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, C. H. Beck, München, 1966, 20094 ; Politische Religionen, C. H. Beck, München, 2007, u. a. m. Nida-Rümelin, Julian; o. Professor für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Staatsminister a. D.; Veröffentlichungen: Entscheidungstheorie und Ethik, Utz, München, 1987, 20052 ; Kritik des Konsequentialismus, Oldenburg, München/Wien, 1993, 19952 ; Ethische Essays, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002; Über menschliche Freiheit, Reclam, Stuttgart 2005; Demokratie und Wahrheit, C. H. Beck, München 2006; Philosophie und Lebensform, Suhrkamp, Frankfurt, 2009, u. a. m. Ziche, Paul; Professor für Philosophie an der Universität Utrecht; Veröffentlichungen: Mathematische und naturwissenschaftliche Modelle in der Philosophie Schellings und Hegels, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1996; Wissenschaftslandschaften um 1900. Philosophie, die Wissenschaften und der nichtreduktive Szientismus, Chronos, Zürich, 2008, u. a. m. Zöller, Günter; Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Veröffentlichungen: Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant. Zur systematischen Bedeutung der Termini 230

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Zu den Autoren

»objektive Realität« und »objektive Gültigkeit« in der »Kritik der reinen Vernunft«, de Gruyter, Berlin, 1984; Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will, Cambridge University Press, New York, 1998; (als Herausgeber mit Robert B. Louden) Immanuel Kant, Anthropology, History and Education, Cambridge University Press, Cambridge, 2007, u. a. m.

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

231

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Personenregister

Adorno, Theodor W. 146, 148, 166, 167, 188, 199–201, 209–227 Arendt, Hannah 214 Aristipp 104 Aristoteles 9, 38, 46, 178, 190–196, 198, 208 Asmuth, Christoph 58 Austin, John L. 125 Bacon, Stefano 54 Basedow, Johann Bernhard 21, 22, 27, 39, 68 Bellow, Saul 202 Bieri, Peter 152–155 Bloom, Allan 179, 186, 202 Blumenberg, Hans 215 Bock, Friedrich Samuel 22 Böhm, Laetitia 64 Borsche, Tilman 102 Bourdieu, Pierre 40 Bowman, Brady 70 Brandt, Reinhardt 16–18, 21, 22, 24 Brentano, Clemens 84, 85 Buchheim, Thomas 73, 77, 79 Cato, Marcus Porcius 207 Chomsky, Noam 102 Chruscˇev, Nikita S. 107–110 Cicero, Marcus Tullius 46 Comenius, Johann Amos 18

Dilthey, Wilhelm 119, 212 Döring, Tobias 56 Drilo, Kazimir 58 Düsing, Edith 61 Dzierzbicka, Agnieszka 146 Eckermann, Johann Peter 163 Meister Eckhard 98 Engelhard, Kristina 51 Fehér, István M. 42 Fichte, Johann Gottlieb 11, 42–62 Figal, Günter 53 Frankfurt, Harry 126, 219, 220, 222 Freud, Sigmund 186 Gabriel, Markus 58 Ganten, Detlev 130 Gardner, John 110 Gerhardt, Volker 46, 130 Görres, Joseph 85 von Goethe, Johann Wolfgang 48, 54, 68, 80, 116, 117, 119, 163, 182 Goldwin, Robert A. 180 Gooch, George Peabody 118 Grant, N. 110 Habermas, Jürgen 174 Halfwassen, Jens 58 Hammerstein, Notker 22 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 47, 54, 61, 65, 67, 82–104, 119, 127, 159, 166, 181, 221, 223 Heidemann, Dietmar H. 51 Hennis, Wilhelm 174, 188 Henrich, Dieter 160 Herder, Johann Gottfried 47, 48, 53, 119

Dahrendorf, Ralf 114 Dammköhler, Georg 67 Derthick, Lawrence 110 Descartes, René 97, 103 Dewey, John 112 Dickerhof, Harald 64

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

233

Personenregister Hermann, Ulrich 22 Hermanni, Friedrich 73, 77, 79 Herz, Marcus 16 Heydorn, Heinz Joachim 148 Hobbes, Thomas 197 Hölderlin, Friedrich 49 Hojer, Ernst 68 Homer 84 Horkheimer, Max 216 Horstmann, Rolf-Peter 47 Hügli, Anton 186, 187 von Humboldt, Wilhelm 27, 45, 47, 48, 54, 114–125, 128, 132, 142–144, 149, 204 Hutter, Axel 79 Jacobi, Friedrich Heinrich 157 Jaeger, Werner 46 Jencks, Christopher 111, 112 Jesus von Nazareth 58 Kallias 192 Kant, Immanuel 10, 11, 16–41, 44, 47– 49, 51–55, 60, 61, 63, 66, 71, 72, 76, 79, 103, 116, 124, 126, 127, 134, 155, 197, 211, 214, 217 Kerschensteiner, Georg 117 Kepler, Johannes 63 Kierkegaard, Sören 182, 184 Kittler, Friedrich A. 68 Klein, Hans-Dieter 61 Klemme, Heiner 10, 17, 18, 21, 45 Kline, George 110 Koch, Lutz 177 Kraus, Karl 152 Krautkrämer, Ursula 54 Lenzen, Dieter 87 Lessing, Gotthold Ephraim 47, 65, 66, 157 Lewis, Clive Staples 208 Liebrucks, Bruno 102 Locke, John 18, 197 Löw, Reinhard 185 Louden, Robert B. 19, 21, 22 Luhmann, Niklas 24 Machiavelli, Niccolo 196, 197, 206, 207

234

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Mannheim, Karl 118 von Manz, Hans Georg 52 Melanchthon, Philipp 83, 117, 120 Mendelssohn, Moses 47, 157 Merle, Jean-Christophe 49 Moog, Willy 91 Napoleon Bonaparte 55, 116 Natorp, Paul 40 Nicolin, Friedhelm 84 Nicolin, Günter 83, 85 Niethammer, Friedrich Immanuel 67–77, 80–84, 86, 181, 182, 187 Nietzsche, Friedrich 12, 42, 43, 61, 62, 117, 146, 149–153, 221 Nohl, Hermann 91, 92 Oesterreich, Peter L. 42 Ostermann, Rainer 122 Parow, Johann Ernst 17 Perger, Eduard von 64 Picht, Georg 113, 114 Platon 11, 42, 46, 57, 61, 84, 98, 102, 126, 162, 166, 178, 184–187, 190–197, 207 Plutarch 44 Popper, Karl 127 Racine, Jean 46 Rehn, Rudolf 187 Rickert, Heinrich 119 Rink, Friedrich Theodor 20, 22 Ritter, Joachim 186 Rosenkranz, Karl 82, 84 Rousseau, Jean-Jacques 18, 20, 25, 26, 174, 197 Seneca, Lucius Annaeus 46 Schadewaldt, Wolfgang 46 Schauer, Markus 68 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11, 42, 61, 63–81 Schiller, Friedrich 48, 66, 116, 154, 181 Schirlbauer, Alfred 146 Schleiermacher, Friedrich 54, 124 Schmidt, Gerhart 84 Schneider, Helmut 84 Schweidler, Walter 226

Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hg.)

https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

Personenregister Schöpsau, Klaus 42 Schorr, Karl Eberhard 24 Schües, Christina 187 Schumacher, Ralph 47 Schwarzmeier, Michael 68 Shibuya, Rie 72, 74, 77 Simmel, Georg 119 Simon, Josef 102 Snow, Charles Percy 213 Sokrates 9–11, 27, 30, 184–187, 193 Spaemann, Robert 165, 182, 185, 205 Spalding, Johann Joachim 47 Spörl, Johannes 64 Stark, Werner 21, 22 Strauss, Leo 180–182, 189, 190, 192, 193–200, 202, 203, 206–208 Süvern, Johann Wilhelm 115, 117 Swift, Jonathan 38 Sziborsky, Lucia 84

Tenorth, Heinz-Elmar 176–178, 187 Thukydides 57 Vinken, Barbara 56 Vorländer, Karl 17 Voss, Johann Heinrich 68, 80 Weber, Max 119, 161–165, 167–175, 179, 183, 184, 186, 188, 191, 195, 200, 203, 205, 206 Weisskopf, Traugott 20–22 Wenz, Gunther 67, 70, 75 Wieland, Wolfgang 184 Wilhelm, Theodor 122 Wirth, Johann Georg August 83 Wismayr, Joseph 86 Wittgenstein, Ludwig 125, 154, 209 Xenophon 57

A

Bildung als Mittel und Selbstzweck https://doi.org/10.5771/9783495998465 .

235